Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, Berliner Freiheit 7, 5300 Bonn/Rhein.
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Die Veröffentlichungen in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" stellen keine Meinungsäußerung des Herausgebers dar; sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung.
Vorbemerkung
Mit dem XX. Parteitag der KPdSU von 1956 lassen sich die folgenden Prozesse in Verbindung bringen, die einen deutlichen Einfluß auf die Weltpolitik gehabt haben und die besonders für die Zukunft der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Belang sind: 1. Der Abbau des terroristischen Gewaltapparates in der Sowjetunion war eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Entstehen eines intellektuellen Klimas im Westen, das eine Überwindung der Gräben des Kalten Krieges durch eine Entspannungspolitik auf der Basis des machtpolitischen Status quo ermöglichte. 2. Die — wenn auch nur halbherzige — Selbstkritik der sowjetischen Führung auf dem XX. Parteitag 1956 verursachte im nach außen scheinbar fest und monolithisch auf Moskau ausgerichteten Weltkommunismus eine tiefe Glaubenskrise, die sich von der Ideologie bis zur praktischen Politik erstreckte. Diese Krise des Weltkommunismus hat Moskaus unbestrittene Hegemonie beseitigt. Vom Weltkommunismus kann im Singular nicht mehr gesprochen werden; neben Moskau sind Peking, Belgrad, Havanna, Hanoi und Rom getreten. 3. Der XX. Parteitag symbolisiert zum einen die Versöhnung Moskaus mit Tito, dem ersten erfolgreichen Abweichler aus Stalins „sozialistischem Lager", und den Bruch mit Maos China, der Zweiten Großmacht des „Lagers". Die innere Entwicklung im „sozialistischen Lager" ist seit dem XX. Parteitag gekennzeichnet durch die Konfrontation des immer wieder aufbrechenden Nationalkommunismus — Polen, Ungarn 1956, Rumänien in den sechziger Jahren, CSSR 1968 — mit dem Hegemonialan-Spruch der Sowjetunion. 4. Der XX. Parteitag ist auch die Geburtsstunde einer Kraft, deren Geschichtsträchtigkeit noch nicht abzusehen ist: der inneren Opposition in der Sowjetunion.
Das sind Gründe genug, die es rechtfertigen, sich intensiver mit diesem Parteitag, — der mittlerweile in der Geschichte der KPdSU eine Umbewertung erfahren hat *) — auseinander-zusetzen. Gründe genug auch, die es verständlich machen, daß die 20. Wiederkehr des XX. Parteitages im Februar 1976 in der Sowjetunion nicht gefeiert, ja kaum registriert wurde, obwohl ansonsten in der UdSSR und in Osteuropa Jahrestage historischer Ereignisse mit ritualisierten Gedenkreden und Artikeln „abgefeiert" werden.
Für uns in Westeuropa ist die Auseinandersetzung mit dem XX. Parteitag besonders wichtig wegen seiner Bedeutung für das Verhältnis zwischen „realem Sozialismus" und dem „wirklichen Sozialismus". Seit 1917 ist der Begriff Sozialismus untrennbar verbunden mit der Geschichte der Sowjetunion und der KPdSU. Was hat der „reale Sozialismus" dort mit den Kämpfen um die Durchsetzung eines „wirklichen Sozialismus" in Westeuropa zu tun? Diese Frage ist auch in den westeuropäischen kommunistischen Parteien — spätestens seit Prag 1968 — unüberhörbar geworden; begonnen hat dieses Fragen aber bereits nach dem XX. Parteitag 1956.
In der Bundesrepublik engagierten sich bislang für die Frage nach der qualitativen Differenz zwischen „realem" und zu erkämpfendem Sozialismus , nur intellektuelle Minderheiten, obwohl es dabei sowohl um die Zukunft der westeuropäischen Arbeiterbewegung als auch um die Entwicklungsrichtung der europäischen Gesellschaften in Ost und West geht, um die Frage, ob der Sozialismus noch Die hier veröffentlichten Beiträge von Roy Medwedew und Hermann Weber beschreiben und analysieren den Prozeß der Entstalinisierung in der Sowjetunion und seine Vorgeschichte, den Stalinismus. Sie bieten die Grundinformation des von Reinhard Crusius, Herbert Kuehl, Jan Skala und Manfred Wilke herausgegebenen Sammelbandes „Entstalinisierung in der Sowjetunion. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen". Der Band enthält ferner Beiträge von Ernst Bloch, Isaac Deutscher, Robert Havemann, Hans Mayer, Jochen Steffen, Jiri Pelikan u. a. Der Vorabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlages, Frankfurt. eine geschichtsträchtige Kraft ist, die fähig sei, die menschliche Gesellschaft humaner zu machen, oder ob seine Verwirklichung zwangsläufig in einem „bürokratischen Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber) endet. Sollte das letztere der Fall sein, so muß der Sozialismus als Bewegung zur Beförderung der menschlichen Freiheit, als Traum des 19. Jahrhunderts, zu den Akten gelegt werden.
Diese Fragen werden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit oft verschleiert, besonders augenfällig z. B. durch den Slogan „Freiheit statt Sozialismus". Damit wird schlicht die Tatsache vom Tisch gewischt, daß dieselbe „Rote Fahne", die bei Revolten und Streiks in Osteuropa und der Sowjetunion als Zeichen der Unterdrückung verbrannt und zertreten wurde, in Spanien, Italien, Frankreich und Chile den Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten um mehr soziale Gerechtigkeit, um politische Rechte symbolisiert. Dieser Widerspruch, daß Begriffe wie „Sozialismus", „Kommunismus" und Symbole wie „Hammer und Sichel" oder die „Rote Fahne" sowohl Unterdrückung als auch den Kampf gegen Unterdrückung kennzeichnen, ist nun einmal das Ergebnis der bisherigen Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Der XX. Parteitag ist ein Datum, das sowohl die Verbindung wie auch den Bruch zwischen dem „realen Sozialismus" und der sozialistischen Bewegung dokumentiert, mit dem sich ferner im Westen Hoffnungen auf eine Veränderung im sozialistischen Lager verbanden. Realpolitisch wurden zwar diese Erwartungen 1956/57 und danach mannigfaltig enttäuscht, doch blieben sie trotzdem nicht ohne Wirkung: Sowohl der Reformkommunismus nach dem Muster des Prager Frühlings 1968 im sozialistischen Lager wie auch der Eurokommunismus außerhalb des „Lagers" sind von diesem Parteitag der sowjetischen Kommunisten herzuleiten. Das Entstehen dieser — sieht man von den Chinesen einmal ab — gefährlichsten Abweichungen von der Moskauer Generallinie innerhalb der kommunistischen Weltbewegung war wohl für Moskau der Hauptgrund, den Jahrestag dieses Partei-tages ungefeiert vorübergehen zu lassen, ja ihn fast auf den Tag genau zwanzig Jahre danach durch den XXV. Parteitag zuzudecken.
Manfred Wilke