Bemühen, das erstarrte Lehrgebäude des Kommunismus sowjetischer Prägung unbefangen neu zu durchdenken und auf seine Tragfähigkeit zu prüfen. Und hier wie dort fand sich die Kritik der Intellektuellen mit dem Widerstand der Arbeiterklasse gegen ein verhaßtes, ausbeuterisches System. So schienen Polen und Ungarn zu Kristallisationszentren einer Emanzipationsbewegung im „sozialistischen Lager“ zu werden, die alle oppositionellen Unterströmungen in den Staatsparteien der übrigen Satellitenländer ermutigen mußte. Daher ist es nur zu gut zu verstehen, daß bereits die Rüdekehr Gomulkas in die Führung der polnischen kommunistischen Partei in Moskau alarmierend wirkte und daß sich die sowjetischen Machthaber wenige Tage später, als es in Ungarn zur offenen Revolte kam und die Ereignisse sich überstürzten, mit der Gefahr eines plötzlichen Auseinanderbrechens des europäischen Satellitenreiches konfrontiert glaubten. Aus dieser Lage entsprang der Entschluß zur Intervention in Ungarn, die wiederum nur den Auftakt zu einer gesteuerten restaurativen Gegenbewegung im gesamten Ost-blöde gab, in deren Dienst sich die linientreuen Statthalter und Spitzenfunktionäre um so lieber stellten, als die Ausstrahlung der polnischen und ungarischen Vorgänge ihre eigene Machtstellung unmittelbar bedrohte.
Die Haltung der Satellitenparteien
Nachdem oben geschildert worden ist, daß sowohl von den Sowjets als auch von Kadar die Intervention und die Unterdrückung der revolutionären Kräfte in Ungarn mit dem immer wiederkehrenden Hinweis auf die bedrohten Errungenschaften gerechtfertigt wurden, verwundert es nicht, daß das gleiche Argument auch als Leitmotiv für die ideologische Begleitmusik zu dem umfassenderen Restaurationsprozeß im sowjetischen Machtbereich lieferte, in den sich die innerungarische Entwicklung unter dem Kadar-Regime einordnet. So steht der Begriff der Errungenschaften inmitten des Ringens zwischen den emanzipatorischen und den restaurativen Tendenzen im kommunistischen Lager. Vor allem von der ungarischen revolutionären Bewegung, die bewußt an die Traditionen der Freiheitskämpfe von 1848/49 anknüpfte und für die die sowjetische militärische Intervention des Jahres 1956 in einer Linie mit dem damaligen Eingreifen der Armee des Zaren stand, war der ursprüngliche freiheitliche Inhalt dieses Begriffes wieder belebt worden, während die polnische Entwicklung bemerkenswerte Ansätze dazu zeitigte, ihn in einer für den kommunistischen Sprachgebrauch ungewohnt sachlichen Weise zu verwenden und ihn dadurch aus seiner ideologischen Überhöhung und Erstarrung zu lösen. Als ideologische Waffe der Restauration hingegen erwuchs dem orthodoxen sowjetkommunistischen Errungenschaftsbegriff gerade die Aufgabe, von den tatsächlichen sachlichen Gegebenheiten abzulenken, sie zu verzerren und zu verschleiern, um um so besser die Begründung für die Diskriminierung und Verdammung aller freiheitlichen Bestrebungen liefern zu können. In dieser Funktion beherrschte er auch die Stellungnahmen der Satellitenparteien zu den ungarischen und polnischen Ereignissen; und er drängte sich bezeichnenderweise überall dort besonders stark in den Vordergrund der Agitation, wo die Ansteckungsgefahr am meisten zu fürchten war. Als Beispiel dafür sei hier eine Rede angeführt, die der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei, Gheorghe Gheorghiu-Dej, in Tirgu Mures, dem Zentrum des Ungarischen Autonomen Gebiets in der rumänischen Volksrepublik, vor einer Gebietsparteikonferenz hielt
Loblied auf die Diktatur
Wenn auch dieser Passus schon unmißverständlich genug zeigt, wo ihn selbst der Schuh drückte, so hielt er es doch für notwendig, noch deutlicher zu werden, als er auf die geplanten „Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung unserer Staatsmacht" zu sprechen kam: „Doch wir können uns nie und nimmer mit einer solchen . Liberalisierung'einverstanden erklären, die den Feinden der Werktätigen die Freiheit läßt, Schläge gegen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes zu führen. Die Stärke und Festigkeit der volksdemokratischen Ordnung ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Ordnung eine der Formen der Diktatur des Proletariats verkörpert ... Die Diktatur des Proletariats — das ist das Wichtigste im Leninismus, das ist die wichtigste Errungenschaft der Werktätigen in den sozialistischen Ländern, die Garantie für den Aufbau des Sozialismus.“
Wer würde Gheorghui-Dej nach diesen ermüdenden Deklamationen nicht Glauben schenken, wenn er mit Genugtuung feststellt, die rumänische Arbeiterklasse, „die führende Klasse in der volksdemokratischen Ordnung" (deren größte Errungenschaft also in der Unterordnung unter die in ihrem Namen ausgeübte Diktatur besteht), habe gleich zu Anfang begriffen, „daß in Ungarn die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen bedroht wurden", und bewiesen, daß sie „unerschütterlich und kämpferisch um die Partei zusammengeshlossen“ sei? Auf der gleichen Linie liegt auch die angebliche Sorge der SED um die „revolutionären sozialistischen Errungenschaften der polnischen Arbeiterklasse“
HERAUSGEBER: BUNDESZENTRALE FÜR HEIMATDIENST BONN/RHE 1N, KON 1GSTRASSE
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:
Oskar Anweiler:
Indira Gandhi:
Frederic Lilge:
Otto Schiller:
Karl Seidelmann:
Karl C. Thalheim:
Egmont Zechlin: „Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung" „Indien heute" „Makarenko " „Das Wesen der kommunistischen Gefahr"; „Die »Verbürgerlichung'in der Sowjetunion" „Der Generationsprotest derJugendbewegung in gegenwärtiger Betrachtung" „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft" „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil)