Der UNO-Bericht
Der Bericht stellt fest, daß die Regierung Imre Nagys vom Vertrauen aller Kreise des ungarischen Volkes getragen war und hauptsächlich das ausführte, was die Revolutionsund Arbeiterräte, in denen kommunistische Arbeiter und kommunistische Intellektuelle eine führende Rolle spielten, von Anbeginn des Auf-standes gewollt hatten Von keiner Gruppe seinen dabei restaurative Pläne verfolgt worden. Die kommunistischen Schriftsteller und Studenten, die sich die Forderungen des Volkes zu eigen machten, beabsichtigten nicht, mit ihrer Kritik die Prinzipien des Kommunismus zu erschüttern, sondernbemühten sich zu zeigen, „daß das Regierungssystem, das in Ungarn bestand, eine Verdrehung dessen war, was sie den wahren Marxismus nannten." Die Arbeiter wehrten sich zwar gegen das ausbeuterische „Normensystem", aber niemand dachte daran, den sozialistischen Aufbau der Volkswirtschaft anzutasten Die Bauern lehnten sich gegen die Zwangskollektivierung und die andauernden Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, auf; doch die Rüdegabe der Ländereien an die ehemaligen Gutsbesitzer scheint nirgendwo zur Debatte gestanden zu haben Auch die nichtkommunistischen Parteien, die im Verlauf der Erhebung wieder erstanden, wiesen jeden Gedanken an eine Restauration strikt zurück. „Laßt niemanden von der Rückkehr der alten Zeit träumen", erklärte Bela Kovacs, der Führer der Partei der Kleinen Landwirte am 31. Oktober, „die Welt der Grafen, Bankiers und Kapitalisten ist für immer vergangen." Die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Anna Kethly, betonte am 1. November: „Die Fabriken, die Bergwerke und das Land sollen in den Händen des Volkes bleiben." Und der Generalsekretär der Petöfi-Partei, Staatsminister Ferenc Farkas, faßte am 3. November die gemeinsame Auffassung der vier Parteien, die in der an diesem Tage umgebildeten Regierung Nagy vertreten waren, in dem Satz zusammen: „Von den sozialistischen Errungenschaften und Ergebnissen wird alles beibehalten, was in einem freien, demokratischen und sozialistischen Land den Wünschen des Volkes entspricht." Im gleichen Sinne äußerte der kommunistische Staatsminister Losoncy, ebenfalls am 3. November, auf einer Pressekonferenz für ungarische und ausländische Journalisten: „Die Regierung hat einstimmig erklärt, daß sie die positiven Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre nicht schmälern lassen wird. Das bezieht sich zum Beispiel auf die Bodenreform, die Nationalisierung der Fabriken und auf gewisse soziale Leistungen. In gleicher Weise besteht aber die Regierung darauf, daß die Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution unangetastet bleiben, vor allem die nationale Unabhängigkeit, die Gleichberechtigung und der Aufbau des Sozialismus auf der Grundlage der Demokratie und nicht der Diktatur. Die Regierung ist jedoch entschlossen, eine Wiederherstellung des Kapitalismus in Ungarn nicht zu dulden .. Die „positiven Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre“ wurden also von keiner Seite in Frage gestellt. Und wenn sich sowohl die Sowjets als auch die von ihnen eingesetzte Regierung Kadar, die — abgesehen von „einigen Mitgliedern der ehemaligen AVO (Staatssicherheitspolizei), einigen höheren Offizieren der ungarischen Armee und einigen wenigen früheren Funktionären der kommunistischen Partei, die während des Aufstandes entlassen worden waren" — über keine Gefolgschaft im Lande verfügte, auf die gefährdeten sozialistischen Er-rungenschaften beriefen, um die Niederschlagung der Revolution zu rechtfertigen, so gaben sie vor, etwas zu verteidigen, was überhaupt nicht bedroht war. Denn alle Repräsentanten der revolutionären Kräfte, auch die aus dem nichtkommunistischen Lager, hatten sich eindeutig für die Beibehaltung der sozialistischen Errungenschaften eingesetzt. Worum es in Wirklichkeit ging, das waren die freiheitlichen „Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution“ die „wiedergewonnenen demokratischen Errungenschaften“ die immer wieder als die „Errungenschaften der Revolution“ schlechthin angesprochen wurden. Von diesen demokratischen Errungenschaften aber war in den Verlautbarungen der Regierung Kadar vom 4. November und in den sowjetischen Stellungnahmen keine Rede. Das Bekenntnis der ungarischen Revolution zum Sozialismus vermochte den Sowjets nicht zu genügen, weil es sich mit dem Willen zu demokratischer Freiheit und Unabhängigkeit nach innen und nach außen verband.
Kein Bürgerkriegscharakter der Kämpfe
Die überwältigende Kraft dieses Freiheitswillens geht schon daraus hervor, daß trotz der Aufforderung der Regierung Kadar an die ungarischen „Arbeiter, Bauern und Soldaten", den Kampf mit den „Mächten der Reaktion“ aufzunehmen, die Kämpfe in Ungarn vom 4. bis 11. November 1956 keinen Bürgerkriegscharakter hatten, sondern sich ausschließlich zwischen Ungarn einerseits und sowjetischen Streitkräften andererseits abspielten Auch die „echten ungarischen Kommunisten" sahen ihren Platz „auf den Barrikaden, auf denen unsere ungarischen Brüder den fast hoffnungslosen Kampf gegen einen brutalen Imperialismus fortsetzten“ Es ist bezeichnend, daß die sowjetischen Truppen in den Hochburgen der ungarischen Arbeiterschaft wie auf der Budapester Donauinsel Csepel und in den Stahlwerken von Dunapentele auf den stärksten und hartnäckigsten bewaffneten Widerstand trafen und daß es nach der Niederschlagung des Aufstandes wiederum die Arbeiter waren, „die durch Massenstreiks und passiven Widerstand den Kampf gegen das Regime fortsetzten, zu dessen Unterstützung die Sowjettruppen eingegriffen hatten" So beschlossen beispielsweise Mitte November die rund vierzigtausend Arbeiter der großen Eisenwerke von Csepel, im Ausstand zu verharren, um ihre Forderung nach der Wieder-einsetzung Imre Nagys Nachdruck zu verleihen, der, wie Mitglieder des dortigen Arbeiterrates erklärten, der einzige sei, „dem sie zutrauten, die Errungenschaften der Revolution zu erhalten"
Da die Kadar-Regierung, die ihre Existenz einzig und allein der zweiten sowjetischen Intervention verdankte, auf die einmütige Ablehnung des ungarischen Volkes stieß, sah sie sich zunächst veranlaßt, in ihren Erklärungen von den Praktiken der durch die Revolution gestürzten Machthaber abzurücken und weitgehende Reformen zu versprechen Auf dieser Linie lag es, daß Kadar noch Ende November eine mögliche Erweiterung der Regierung durch Nichtkommunisten in Aussicht stellte, wobei er — wie er es bereits am 4. November in seiner ersten Kundgebung getan hatte — zur Bedingung machte, daß diese nichtkommunistischen Persönlichkeiten „die sozialistische Ordnung anerkennen und bereit sind, für die Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften und den Aufbau des Sozialismus zu arbeiten“ Daraufhin stellten die nichtkommunistischen Parteien und andere Organisationen in einer Denkschrift vom 8. Dezember ein 10-Punkte-Programm auf und umrissen ihrerseits die Bedingungen für eine Teilnahme an der Regierung. Das Ziel sei, so hieß es in dieser Denkschrift, „die Freiheit und die Unabhängigkeit des Landes zu schützen; die Ergebnisse, die der Sozialismus bis heute gezeigt habe, zu sichern; die demokratischen Errungenschaften der Revolution zu festigen und gesetzlich zu verankern; unter ihnen die Arbeiterräte und ihre Autonomie, das Streikrecht, die Freiheit der Entscheidung für die Bauern; die Abschaffung der Ernteablieferungen und schließlich dem Einparteisystem ein Ende zu machen" Wie schon in den Verlautbarungen der nichtkommunistischen Gruppen aus den Tagen vor dem Eingreifen der Sowjettruppen ist in der Denkschrift keinerlei antisozialistische oder antikommunistische Tendenz festzustellen. Es wird vielmehr ohne weiteres anerkannt, daß die kommunistische Partei eine wichtige Rolle spielen müsse und für das politische Leben in Ungarn notwendig sei; denn die Revolution habe bewiesen, „daß die große Masse der ungarischen Kommunisten den oben erwähnten Prinzipien zustimmte". Schließlich erklärt es das Memorandum für unerläßlich, dem ungarischen Volk das Vertrauen und die Unterstützung der Sowjetunion zu gewinnen. Viele der bestehenden Schwierigkeiten seien auf Fehlinformationen über den Zweck und den Charakter der ungarischen Revolution zurückzuführen, die die Regierung der UdSSR daran gehindert hätten, zu erkennen, daß die revolutionären Kräfte einmütig auf der Seite des Sozialismus standen und bereit waren, die sozialistischen Errungenschaften gegen jeden konterrevolutionären Angriff zu verteidigen Die Hauptbedingung Kadars, nämlich die Bereitschaft zur Verteidigung der sozialistischen Nachkriegserrungenschaften, war also ausdrücklich akzeptiert worden Aber diese Bedingung verschleierte nur die wirklichen Ziele, die die ungarische Satellitenregierung im Auftrage Moskaus zu verfolgen hatte. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, um mit der Regierungserklärung über die wichtigsten Aufgaben vom 6. Januar 1957 zu sprechen, „die verlogene Forderung nach . Demokratie und Freiheit’ “ zum Verstummen zu bringen. Und wenn es in der zitierten Regierungserklärung weiter heißt: „Zu dieser Frage haben wir klar und unzweideutig erklärt; In Ungarn besteht die Diktatur des Proletariats“, so kommentiert dieser Satz am besten, welche Vorstellungen sich für das Regime mit der Formel von der Verteidigung der „Errungenschaften der sozialistischen Revolution", der „Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre“ oder der „seit der Befreiung erreichten sozialistischen Errungenschaften“ verknüpften.
Restauration des totalen Regimes
Unter dem Vorwand der Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften wurde das ungarische Volk der demokratischen Errungenschaften, für die es einen blutigen Verzweiflungskampf geführt hatte, beraubt, um die Aufrechterhaltung der sowjetischen Oberherrschaft über das nach Freiheit und Unabhängigkeit verlangende Land zu sichern. Eines der wesentlichsten Ergebnisse dieser Politik der Restaurierung des totalitären Regimes war die Entmachtung der Arbeiterräte für deren Rechte das ungarische Proletariat einen erbitterten Kampf führte und die es als die wichtigste der freiheitlichen Errungenschaften der Revolution zu behaupten versuchte. Erst die Unterdrückung der Arbeiter schuf die Voraussetzung für eine Wiederbefestigung der angeblichen „Diktatur des Proletariats“, die sich einmal mehr als Diktatur gegen das Proletariat erwies. Wie in der „Deutschen Demokratischen Republik" Walter Ulbrichts nach dem 17. Juni 1953 wurde auch in Ungarn das Interesse des sowjethörigen Re-gimes in dialektischer Verdrehung der Tatsachen mit den Interessen der Arbeiterklasse gleichgesetzt. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen, die Kadar im Mai 1957 in der ungarischen Nationalversammlung machte, als eine geradezu klassische Definition der Merkmale einer proletarischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild zu werten: „Meiner Meinung nach ist es nicht die Aufgabe der Führung, die Wünsche und den Willen der Massen zu erfüllen... Meiner Meinung nach ist es die Aufgabe der Führung, das Interesse der Massen in die Tat umzusetzen ... In der jüngsten Vergangenheit ist uns das Phänomen begegnet, daß gewisse Kategorien von Arbeitern gegen ihre eigenen Interessen handelten. In diesem Falle ist es die Pflicht des Führers, das Interesse der Massen zu vertreten und nicht mechanisch ihre falschen Ideen auszuführen. Wenn der Wunsch der Massen nicht mit dem Fortschritt übereinstimmt, muß man die Massen in eine andere Richtung lenken."
Die Feststellung der polnischen Publizistin Edda Werfel, daß die Absage an den Stalinismus „eine neue revolutionäre Errungenschaft unserer Partei in der Arbeiterbewegung“ darstelle, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Geist, in dem sich die Auseinandersetzungen in den Reihen der kritischen intellektuellen Vorhut der kommunistischen Partei Polens vollzogen. Diese Auseinandersetzungen dauerten, als Gomulka im Oktober 1956 an die Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gerufen wurde, schon über ein halbes Jahr an. Die Ergebnisse des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatten in Polen ein besonders nachhaltiges Echo gefunden; und nachdem der Posener Aufstand vom Sommer 1956 jeden Zweifel über die wirkliche Stimmung des Volkes beseitigt hatte, strebte die Diskussion ihrem Höhepunkt zu. Dabei wurde immer deutlicher, daß es nicht nur um eine Verdammung der stalinistischen Entartungen, sondern um eine radikale Kritik an den grundlegenden Prinzipien des sowjetisierten Kommunismus ging. So heißt es in einem Ende 1956 erschienenen Artikel des Journalisten Krzystof Wolicki: „Man kann sich nicht vom Stalinismus los-sagen, wenn man sich nicht gleichzeitig von gewissen Illusionen freimacht, die er nicht allein im Hirn der Kommunisten, sondern aller Menschen heraufbeschworen hatte. Wir haben mehr als einen schmutzigen Kübel auf die . Agitation und Propaganda'jener Epoche ausgeschüttet, und das mit Recht. Ich befürchte aber, daß wir zumindest in einem Punkt ihre Wirksamkeit unterschätzt haben. Die sogenannte Schönfärberei der Wirklichkeit hatte nämlich einen tieferen Sinn als nur den, die Wahrheit zu verbergen. Jene verbrämte Wirklichkeit der Propaganda, Literatur und ideologischen Schulung
Die Lage in Polen
Wenn Kadar — auf die gleiche Weise wie drei Jahre zuvor Ulbricht — die Empörung des Volkes und der Arbeiterschaft mit der Vergewal-tigung der Freiheit im Namen des „Fortschritts“ beantwortete, so zeigt sich vor diesem Hintergrund besonders eindringlich, was demgegenüber der Sieg der reformistischen Kräfte in Polen bedeutet. nahm nämlich nach und nach die Merkmale einer idealen Welt an, die unmittelbar zu verwirklichen war. Einerseits hieß es, daß es jetzt schon so sei, wie es sein soll. Dies blieb freilich ohne Wirkung, da die lebendige Praxis des Menschen trotz allem immer stärker als die Propaganda ist. Andererseits aber gebar jene Verwechselung des . Seins'mit dem , Seinsollenden'— eine Verwechslung, die es unmöglich machte, nach Wegen zu suchen, die zu dem Zustand, wie er faktisch .sein sollte', hinführen — ein reales sozialpsychologisches Phänomen: den Glauben an die Möglichkeit der sofortigen Verwirklichung jenes . Seinsollenden'auf gewaltsame Art und Weise durch irgendeinen, aber einmaligen Coup oder durch ein Wunder. Man kann den Menschen nicht dauernd ungestraft von Idealen predigen, die mit der Praxis in auffälliger Weise kollidieren. Die Illusionen, von denen hier die Rede ist, haben eine kollossale Reichweite. In der Ideologie drücken sie sich durch den Verlust des historischen Denkvermögens aus. Viele Jahre hindurch haben wir uns und anderen einzureden versucht, daß wir sehr bald, sofort nach diesem einen Fünfjahrplan, ein Land der ewigen Glückseligkeiten sein würden . .. Die Staatsräson unseres Landes, eines sozialistischen Landes, ist ein Werkzeug zur Realisierung einer besseren Welt. Das ist sehr viel. Das ist sogar etwas ganz Sauberes, obwohl sie zum Ausgangspunkt keine hochtrabenden Worte, sondern die manchmal nicht gerade saubersten Realia der Welt von Anno Domini 1956 nimmt."
Ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit
Das Bemerkenswerteste an diesem Artikel ist das ernsthafte Bemühen um ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, das zugleich als neues Verhältnis zum Menschen aufgefaßt sein will. Indem die Verwechslung des Seins mit dem Sein-sollenden und die Rechtfertigung der gegenwärtigen Verhältnisse durch die ideologisch in die Gegenwart hineinprojizierte Zukunft ausdrücklieh zurückgewiesen werden, erhält die Gegenwart ihr eigenes Recht zurück, und „die lebendige Praxis des Menschen" in dieser seiner Gegenwart wird zum entscheidenden Kriterium sozialistischen Handelns und sozialistischer Politik. In jener „verbrämten Wirklichkeit der Propaganda, Literatur und ideologischen Schulung" aber, die „die Merkmale einer idealen Welt“ angenommen habe, ist unschwer die verzerrte Wirklichkeit der sowjetkommunistischen Vulgärdialektik wiederzuerkennen, in der die Errungenschaften das noch nicht Erreichte vorweg-nehmen Zwar sollte nicht verkannt werden, daß die sehr differenzierte polnische Entwicklung kaum auf einen eigentlichen Nenner zu bringen und ihr Ende noch nicht abzusehen ist. Schon weil der politische Kurs Gomulkas, der nicht nur Rückfällen in den als stalinistisch abgestempelten sowjetkommunistischen „Konservatismus“, sondern auch außenpolitisch gefährlichen Zugeständnissen an den betonten „Revisionismus“ der avantgardistischen Intellektuellen in den Reihen seiner Partei aus dem Wege zu gehen sucht, durch vielfache Rücksichten, besonders auf die verzweifelte Wirtschaftslage des Landes und auf den übermächtigen sowjetischen Nadibarn, beeinflußt wird, muß er in sich widerspruchsvoll erscheinen. Trotz aller Vorsicht jedoch, die bei der Beurteilung der polnischen Entwicklung geboten ist, schält sich das neue Verhältnis zur Wirklichkeit, das der oben zitierte Artikel so eindrucksvoll demonstriert, als wesentlicher Zug der Gesamtbewegung heraus. Ein wichtiges Indiz dafür ist in der Sinnveränderung zu sehen, den der Begriff der Errungenschaften in Äußerungen polnischer Politiker und in polnischen Pressestimmen erfahren hat. Wenn man auch an dem schnellen Aufstieg der polnischen Industrie in den letzten Jahren kaum Zweifel hegen könne, schrieb der Publizist Jerzy Putrament im Oktober 1956, so seien doch „die Kosten dieses Aufstiegs ungleich höher gewesen als die Errungenschaften", zumal das bisherige System nur unter bestimmten politischen Voraussetzungen habe existieren können, „z. B. nur mit Unterdrückung der Kritik und Polizeiterror, also unter den Voraussetzungen eines Ausnahmezustandes, der in unserem Lande zu Stalins Zeiten herrschte." Gomulka selbst setzte sich um die gleiche Zeit in seiner großen Programmrede vor dem VIII. Plenum des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiter-Partei in der er es begrüßte, daß nach dem XX. Parteitag der KPdSU die „stummen versklavten Gemüter“ in Polen begonnen hätten, „das Gift der Lüge, Falschheit und Heuchelei auszuscheiden", mit den „bisherigen Errungenschaften" auseinander. Es stehe ihm fern, erklärte er, „die Errungenschaften unseres Landes in irgendeiner Weise schmälern zu wollen", doch halte er es für nötig, „die Entwicklung unserer wirtschaftlichen Errungenschaften im letzten Sechsjahrplan einer Prüfung zu unterziehen“. Im einzelnen stellte Gomulka u. a. die Frage, ob man wohl die Errichtung einer neuen
Autofabrik, die „bei übermäßig hohen Produktionskosten eine verschwindend kleine Anzahl von Kraftwagen eines veralteten Typs herstellt, die viel Brennstoff fressen und die heute kein Mensch mehr produziert", „als Errungenschaft und als Erhöhung der Produktionskapazität unserer Industrie" bezeichnen könne. In beiden Fällen, bei Gomulka wie bei Putrament, hat der Begriff der Errungenschaften den zentralen Ort verloren, den er im Koordinatensystem der Sowjetideologie noch heute beansprucht. Er tritt uns vielmehr in einer entsowjetisierten und damit weitgehend entideologisierten Form entgegen. Daß auch Gomulka ihn keineswegs zufällig in dieser Weise verwendet, zeigt beispielsweise die Rede, die er ein Jahr später, Ende Oktober 1957, vor dem X. Plenum des Zentralkomitees hielt Wenn er feststellt, daß ein beträchtlicher Teil der Arbeiter durch ihre berechtigte Enttäuschung dazu gebracht worden sei, „selbst die großen wirtschaftlichen Errungenschaften des Planes zu übersehen“, so geht zwar daraus hervor, daß er diese Errungenschaften, also vornehmlich die Erhöhung der polnischen Produktionskapazität in der Periode des Sechsjahrplans ab 1950, als entscheidende Schritte auf dem Wege der polnischen Wirtschaftsentwicklung und als Bausteine des Sozialismus gewertet sehen will; aber nicht minder deutlich wird es, daß er ihnen nicht die absolute Beweiskraft beilegt, die sie in der sowjetischen Vulgärdialektik scheinbar haben: als Garantie für die Erreichung des kommunistischen Endziels, als Rechtfertigung des Polizeiterrors, als undiskutierbarer Beweis für die Richtigkeit der Generallinie und für die angebliche Einheit von Theorie und Praxis. Darf man Gomulkas eigenen Worten glauben, so erläutert die gleiche Rede, daß er eine andere Vorstellung von den Methoden hat, mit denen diese Einheit herzustellen ist: Trotz der beträchtlich gestiegenen Reallöhne, heißt es dort, sei es dem Regime nicht gelungen, den Bedürfnissen eines großen Teils der polnischen Arbeiter gerecht zu werden; aber „heute haben wir das volle Recht zu behaupten, daß unsere Taten unseren Worten entsprechen“. Wie verschieden die Erneuerungsbewegung in Polen, die sich, wenn auch mit mancherlei Kompromissen und Konzessionen, bisher zu behaupten vermochte, und die blutig niedergeschlagene und mit den Mitteln des Polizeistaates schließlich zum Verstummen gebrachte ungarische Bewegung auch verliefen, so ähnlich waren ihre Voraussetzungen gewesen. Beide waren nach dem XX. Parteitag aus der kommunistischen Partei selbst erwachsen, um im Herbst 1956 ihren Höhepunkt zu erreichen. In Polen wie in Ungarn verband sich das Ringen um nationale Unabhängigkeit und ein größeres Maß innerer demokratischer Freiheit mit dem intellektuellen Bemühen, das erstarrte Lehrgebäude des Kommunismus sowjetischer Prägung unbefangen neu zu durchdenken und auf seine Tragfähigkeit zu prüfen. Und hier wie dort fand sich die Kritik der Intellektuellen mit dem Widerstand der Arbeiterklasse gegen ein verhaßtes, ausbeuterisches System. So schienen Polen und Ungarn zu Kristallisationszentren einer Emanzipationsbewegung im „sozialistischen Lager“ zu werden, die alle oppositionellen Unterströmungen in den Staatsparteien der übrigen Satellitenländer ermutigen mußte. Daher ist es nur zu gut zu verstehen, daß bereits die Rüdekehr Gomulkas in die Führung der polnischen kommunistischen Partei in Moskau alarmierend wirkte und daß sich die sowjetischen Machthaber wenige Tage später, als es in Ungarn zur offenen Revolte kam und die Ereignisse sich überstürzten, mit der Gefahr eines plötzlichen Auseinanderbrechens des europäischen Satellitenreiches konfrontiert glaubten. Aus dieser Lage entsprang der Entschluß zur Intervention in Ungarn, die wiederum nur den Auftakt zu einer gesteuerten restaurativen Gegenbewegung im gesamten Ost-blöde gab, in deren Dienst sich die linientreuen Statthalter und Spitzenfunktionäre um so lieber stellten, als die Ausstrahlung der polnischen und ungarischen Vorgänge ihre eigene Machtstellung unmittelbar bedrohte.
Die Haltung der Satellitenparteien
Nachdem oben geschildert worden ist, daß sowohl von den Sowjets als auch von Kadar die Intervention und die Unterdrückung der revolutionären Kräfte in Ungarn mit dem immer wiederkehrenden Hinweis auf die bedrohten Errungenschaften gerechtfertigt wurden, verwundert es nicht, daß das gleiche Argument auch als Leitmotiv für die ideologische Begleitmusik zu dem umfassenderen Restaurationsprozeß im sowjetischen Machtbereich lieferte, in den sich die innerungarische Entwicklung unter dem Kadar-Regime einordnet. So steht der Begriff der Errungenschaften inmitten des Ringens zwischen den emanzipatorischen und den restaurativen Tendenzen im kommunistischen Lager. Vor allem von der ungarischen revolutionären Bewegung, die bewußt an die Traditionen der Freiheitskämpfe von 1848/49 anknüpfte und für die die sowjetische militärische Intervention des Jahres 1956 in einer Linie mit dem damaligen Eingreifen der Armee des Zaren stand, war der ursprüngliche freiheitliche Inhalt dieses Begriffes wieder belebt worden, während die polnische Entwicklung bemerkenswerte Ansätze dazu zeitigte, ihn in einer für den kommunistischen Sprachgebrauch ungewohnt sachlichen Weise zu verwenden und ihn dadurch aus seiner ideologischen Überhöhung und Erstarrung zu lösen. Als ideologische Waffe der Restauration hingegen erwuchs dem orthodoxen sowjetkommunistischen Errungenschaftsbegriff gerade die Aufgabe, von den tatsächlichen sachlichen Gegebenheiten abzulenken, sie zu verzerren und zu verschleiern, um um so besser die Begründung für die Diskriminierung und Verdammung aller freiheitlichen Bestrebungen liefern zu können. In dieser Funktion beherrschte er auch die Stellungnahmen der Satellitenparteien zu den ungarischen und polnischen Ereignissen; und er drängte sich bezeichnenderweise überall dort besonders stark in den Vordergrund der Agitation, wo die Ansteckungsgefahr am meisten zu fürchten war. Als Beispiel dafür sei hier eine Rede angeführt, die der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei, Gheorghe Gheorghiu-Dej, in Tirgu Mures, dem Zentrum des Ungarischen Autonomen Gebiets in der rumänischen Volksrepublik, vor einer Gebietsparteikonferenz hielt und in der er die Bedrohung der „sozialistischen Errungenschaften" in Ungarn durch „offenkundige Faschisten“ usw. bis zum Überdruß strapazierte. Gefährlicher noch als die faschistischen, imperialistischen und aristokratischen Elemente, denen er zu Unrecht einen entscheidenden Einfluß auf die ungarische Entwicklung zuschrieb, erschienen ihm jedoch offenbar die ungarischen kommunistischen Intellektuellen, die das Verbrechen begangen hatten, sich mit dem Freiheitssehnen des ungarischen Volkes und der ungarischen Arbeiter zu identifizieren: „Besonderes Unheil", so betonte er, „richteten diese Intellektuellenkreise durch die Erbitterung an, mit der sie unter der Losung der . Freiheit'und der . Demokratie'die Errungenschaften“ der Volksmacht verleumdeten, die Partei und die revolutionären Errungenschaften der Massen schmähten und in Mißkredit zu bringen versuchten.“
Loblied auf die Diktatur
Wenn auch dieser Passus schon unmißverständlich genug zeigt, wo ihn selbst der Schuh drückte, so hielt er es doch für notwendig, noch deutlicher zu werden, als er auf die geplanten „Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung unserer Staatsmacht" zu sprechen kam: „Doch wir können uns nie und nimmer mit einer solchen . Liberalisierung'einverstanden erklären, die den Feinden der Werktätigen die Freiheit läßt, Schläge gegen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes zu führen. Die Stärke und Festigkeit der volksdemokratischen Ordnung ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Ordnung eine der Formen der Diktatur des Proletariats verkörpert ... Die Diktatur des Proletariats — das ist das Wichtigste im Leninismus, das ist die wichtigste Errungenschaft der Werktätigen in den sozialistischen Ländern, die Garantie für den Aufbau des Sozialismus.“
Wer würde Gheorghui-Dej nach diesen ermüdenden Deklamationen nicht Glauben schenken, wenn er mit Genugtuung feststellt, die rumänische Arbeiterklasse, „die führende Klasse in der volksdemokratischen Ordnung" (deren größte Errungenschaft also in der Unterordnung unter die in ihrem Namen ausgeübte Diktatur besteht), habe gleich zu Anfang begriffen, „daß in Ungarn die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen bedroht wurden", und bewiesen, daß sie „unerschütterlich und kämpferisch um die Partei zusammengeshlossen“ sei? Auf der gleichen Linie liegt auch die angebliche Sorge der SED um die „revolutionären sozialistischen Errungenschaften der polnischen Arbeiterklasse“ und der Applaus, mit dem sie die Sowjetunion für die Niederwerfung der ungarischen Revolution bedachte. Erklärte doch das Zentralkomitee am 6. 11. 1956 in einer Entschließung, daß es sich „in Ehrfurcht vor den Helden des Sozialismus“ verneige, die in Ungarn für den Schutz der „Errungenschaften des Volkes“ gefallen seien Das wichtigste Zeugnis aber für die Folgerungen, die von der Einheitspartei aus den Vorgängen in Polen und Ungarn gezogen wurden, ist der von Schirdewan Mitte November 1956 erstattete Bericht des Politbüros auf der 29. Tagung des Zentral-komitees der die SED als nur allzu williges Werkzeug der Restauration erweist. So widerstrebend sich das Ulbricht-Regime, das die moralische Niederlage des 17. Juni 1953 keineswegs überwunden hatte und sich keiner Täuschung über seine innere Schwäche hingeben durfte, mit den ihm gefährlich erscheinenden Beschlüssen des XX. Parteitags der KPdSU abgefunden hatte, so sehr beeilte es sich jetzt, sich einmal mehr als Musterschüler der Sowjetunion hervorzutun. Der Bericht Schirdewans spiegelt die tiefe Abneigung der maßgebenden Partei-instanzen vor den liberalen Methoden der „polnischen Freunde“ und ihre Furcht vor den sprengkräftigen Argumenten der polnischen und ungarischen Intellektuellen, die als Entartungserscheinungen im kommunistischen Lager gekennzeichnet werden: „Diese Entartung wird natürlich nicht grob vor sich gehen, und sie ging auch in gewissen Ländern zunächst nicht grob vor sich. Sie kommt, wie man so sagt, auf Taubenfüßen. Sie beginnt nicht mit dem groben Angriff auf die Grundsätze des Marxismus-Leninismus, sondern mit der Diskussion über die Taktik, über die Demokratisierung, über die Methoden und Formen.“ Demgegenüber wird der Vorsatz der SED betont, „keinen Jota von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus“ abzuweichen. Dieser Vorsatz bedeutet für die Führer der Einheitspartei zugleich „die Pflicht, allen Erscheinungen der Liberalisierung im bürgerlichen Sinne, der Einschränkung der sozialistischen Perspektive, entschieden entgegenzutreten". „Dabei", fährt Schirdewan fort, müssen wir die Arbeit zur Festigung der Justiz-und der Staatssicherheitsorgane als wichtige Staatsinstrumente des Schutzes der demokratischen Rechte und der Errungenschaften der Arbeiterklasse und aller Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bessern.“ Womit gezeigt wäre, daß sich der mitteldeutsche SED-Staat 1956 so wenig wie 1953 auf die Anziehungskraft seiner Errungenschaften verlassen konnte und daß der Hauptfeind nach wie vor für ihn im eigenen Lande stand. wird fortgesetzt Nachforderungen der Beilagen aus Politik und Zeitgeschichte sind an die Vertriebsabteilung DAS PARLAMENT, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, zu richten. Abonnementsbestellungen der Wochenzeitung DAS PARLAMENT zum Preis von DM 1, 89 monatlich bei Postzustellung einschließlich Beilage ebenfalls nur an die Vertriebsabteilung Bestellungen von Sammelmappen für die Beilage zum Preise von DM 6, — pro Stück einschließlich Verpackung zuzüglich Portokosten an die Vertricbsnbtellung Hamburg 36 GänSemarkt 21/23. Telefon 34 12 51
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Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:
Oskar Anweiler:
Indira Gandhi:
Frederic Lilge:
Otto Schiller:
Karl Seidelmann:
Karl C. Thalheim:
Egmont Zechlin: „Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung" „Indien heute" „Makarenko " „Das Wesen der kommunistischen Gefahr"; „Die »Verbürgerlichung'in der Sowjetunion" „Der Generationsprotest derJugendbewegung in gegenwärtiger Betrachtung" „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft" „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil)