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Artikel 11 | APuZ 36/1961 | bpb.de

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Artikel 11

die vornehmsten Errungenschaften pries, die der Einheitspartei zu verdanken seien

Aber die Unverfrorenheit der Juli-Entschließung wird noch weit übertroffen von den Ausführungen, mit denen Walter Ulbricht am 17. September 1953 auf der 16. Plenartagung des Zentralkomitees der SED die politischen und ökonomischen Aufgaben des Staates und der Partei im „neuen Kurs" erläuterte. In dieser aggressiven Rede stellte Ulbricht, unbekümmert um das Geschehene, wieder den Gedanken in den Vordergrund, daß es darum gehe, durch die werbende Wirkung der Errungenschaften auch die Arbeiter und die übrigen „demokratischen“ Kräfte in Westdeutschland von der Vorbildlichkeit der sowjetzonalen Ordnung zu überzeugen: „Niemals wird das deutsche Volk die großen demokratischen Errungenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik aufgeben und die Rückkehr der Großkapitalisten und Großgrundbesitzer in der DDR zulassen. Im Gegenteil, das Beispiel der neuen Ordnung in der DDR wird der Arbeiterklasse und allen demokratischen Kräften in Westdeutschland ... die Kraft geben, gestützt auf die DDR, Westdeutschland von der Diktatur der Konzernherren, Bank-herren und Großgrundbesitzer zu befreien . . .

Die wichtigste Aufgabe nach den Wahlen (in der Bundesrepublik) ist die Gewinnung der Arbeiterklasse für das Programm der Nationalen Front ... Es wird um so eher gelingen, die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und die Zusammenarbeit der Arbeiterschaft Westdeutschlands und der DDR zu erreichen, je mehr das Beispiel der Arbeiter-un Plenartagung des Zentralkomitees der SED die politischen und ökonomischen Aufgaben des Staates und der Partei im „neuen Kurs" erläuterte. In dieser aggressiven Rede 13) stellte Ulbricht, unbekümmert um das Geschehene, wieder den Gedanken in den Vordergrund, daß es darum gehe, durch die werbende Wirkung der Errungenschaften auch die Arbeiter und die übrigen „demokratischen“ Kräfte in Westdeutschland von der Vorbildlichkeit der sowjetzonalen Ordnung zu überzeugen: „Niemals wird das deutsche Volk die großen demokratischen Errungenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik aufgeben und die Rückkehr der Großkapitalisten und Großgrundbesitzer in der DDR zulassen. Im Gegenteil, das Beispiel der neuen Ordnung in der DDR wird der Arbeiterklasse und allen demokratischen Kräften in Westdeutschland ... die Kraft geben, gestützt auf die DDR, Westdeutschland von der Diktatur der Konzernherren, Bank-herren und Großgrundbesitzer zu befreien . . .

Die wichtigste Aufgabe nach den Wahlen (in der Bundesrepublik) ist die Gewinnung der Arbeiterklasse für das Programm der Nationalen Front ... Es wird um so eher gelingen, die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und die Zusammenarbeit der Arbeiterschaft Westdeutschlands und der DDR zu erreichen, je mehr das Beispiel der Arbeiter-und Bauernmacht in der DDR, die Überlegenheit der Planwirtschaft und die Errungenschaften unserer Werktätigen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bevölkerung Westdeutschlands bewußt werden. Deshalb ist die konsequente Durchführung des neuen Kurses ... von so großer Bedeutung für die Gewinnung der werktätigen Bevölkerung in Westdeutschland. . . “

Versucht man die zitierten Kundgebungen der SED seit dem 17. Juni im Zusammenhang zu beurteilen, so schält sich die Tendenz heraus, den immer sichtbarer in die alten Bahnen zurücklenkenden „Neuen Kurs" als das folgerichtige, von bürokratischen Verzerrungen befreite Ergebnis der grundlegenden Errungenschaften des Regimes hinzustellen, wobei jede direkte Beziehung zwischen dem Fiasko der SED-Politik, das die Empörung auslöste, und dem Einschwenken auf die scheinbar neue Linie schließlich geleugnet wird. Doch so klar die Absicht hervortritt, mit Hilfe der Errungenschaften die Kontinuität der SED-Politik ideologisch zu untermauern und die Generallinie wieder in ihr altes Recht einzusetzen — als ob es niemals einen Bruch und niemals einen spontanen Aufstand der Bevölkerung gegen den verhaßten Unterdrückungsapparat gegeben hätte, so berechtigt sind die Zweifel an der propagandistischen Wirksamkeit des Verfahrens. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß in einem totalitären Staatswesen wie der Sowjetzonenrepu-blik Propaganda und Terror eine untrennbare Einheit bilden und daß die Propaganda, weit davon entfernt, sich auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente zu verlassen, selbst als ein Teil des Terrorsystems verstanden werden muß, in dem physischer Zwang und psychischer Druck ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen.

Harich erregt Anstoß

Die Bedeutung aber, die den Errungenschaften in diesem an anderer Stelle bereits geschilderten Zusammenhang zukommt, zeigt sich nach dem 17. Juni noch eindringlicher als vorher. Die bedrohten Errungenschaften sind das Standard-argument, mit dem die Unterdrückung aller selbständigen und selbstverantwortlichen Bestrebungen gerechtfertigt wird, die, ermutigt durch die Unsicherheit und das zeitweilige Zurückweichen der Machthaber, auf den verschiedensten Lebensgebieten auftraten, So hatten sich beispielsweise der Kulturbund und die Deutsche Akademie der Künste unterstanden, ein Mindestmaß schöpferischer Bewegungsfreiheit für die Künstler in der Zone zu fordern. Dabei ist es interessant, daß sich die vorsichtige Kritik an der Parteilinie ebenfalls, wenn auch in einem anderen Sinne, des Schlagwortes von den Errungenschaften bediente: Durch die staatliche Reglementierung der Kunst, erklärte der kommunistische Schöngeist Wolfgang Harich — der inzwischen trotz seiner loyalen Absichten zum Partei-und Staatsfeind gestempelt worden ist 14) und es schon damals wagte, sich selbständiger Gedanken verdächtig zu machen —, sei „das Ansehen der kulturellen Errungenschaften unserer Republik in ganz Deutschland geschädigt“ worden 15).

Trotz der Harmlosigkeit der hier gestellten Forderungen und der dazu noch mit Verbeugungen vor der Partei verbrämten Kritik fühlte sich die SED bemüßigt, mit Kanonen auf Spat-zen zu schießen. Was gefordert worden sei, betonte ein von Walter Besenbruch verfaßter und offensichtlich parteiamtlich inspirierter Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 19. Juli 1953 16), sei die „Liquidierung der kulturell-erzieherischen Funktion des Staates". Die Folge sei, „daß opportunistische Tendenzen an die Oberfläche kommen und alle diejenigen Bestrebungen ermutigt werden, die darauf gerichtet sind, alle unsere bisherigen Errungenschaften im Kampf für eine nationale realistische Kunst zu beseitigen“. Der — oben zitierte — Artikel Harichs gebe dafür ein Beispiel: „Harichs Kritik ist eine Kritik, die alle errungenen Erfolge liquidieren würde, die die Schwierigkeiten unseres Kampfes mit den feindlichen Strömungen (Formalismus, Konstruktivismus usw.) sozusagen mit der linken Hand abtut, die die Schwierigkeiten unserer Lage nicht in erster Linie aus dem Fortleben und Fortwirken des Rückschrittlichen und der feindlichen Tätigkeit der Propagandisten des amerikanischen Imperialismus erklärt. Dem Verfasser dieser Kritik erscheinen als der Hauptfeind die Funktionäre unserer Partei und ihre Fehler.“ Damit aber sei der „objektiv feindliche Charakter seiner Ausführungen“ als erwiesen anzusehen, denn die Kunstpolitik der SED sei „trotz aller mit Recht zu kritisierenden Mißstände und Verzerrungen im Prinzip richtig" gewesen.

Ablehnung der Arbeiterforderungen

Peinlicher noch als das Verlangen nach künstlerischer Freiheit war für das Regime, daß aus den Kreisen der Arbeiter heraus, die während der Tage des Aufstandes ihre solidarische Kraft erprobt hatten, immer wieder unüberhörbar die Neutralität der Gewerkschaften gefordert wurde. Dieser Forderung trat Ulbricht selbst einen Monat nach dem 17. Juni entgegen, indem er behauptete, Neutralität heiße nichts anderes, „als daß die Arbeiterklasse auf die führende Rolle in der Deutschen Demokratischen Republik verzichten solle", Neutralität sei gleichbedeutend mit „sich passiv verhalten gegenüber den Agenten der Konzernherren, Bank-herren und der westlichen Kriegstreiber". Zwar könnten die Gewerkschaften „stolz auf ihre großen Errungenschaften hinweisen. Die Gewerkschaften waren es, die mitgeholfen haben, daß die Macht der Konzernherren, Bank-herren und Großagrarier beseitigt wurde, daß eine krisenlose Wirtschaft geschaffen werden konnte, daß heute die Arbeiterklasse die führende Kraft im Staate ist. Wenn jetzt die faschistischen Untergrundorganisationen im Auftrage amerikanischer und westdeutscher Konzern-und Bankherren die Gewerkschaften zersetzen wollen, und wenn diese Feinde sich durch vorbereitete Neuwahlen in die Betriebsgewerkschaftsleitungen einzuschleichen gedenken, so wird es höchste Zeit, daß die Gewerkschaftsmitglieder ihre Gewerkschaften schützen." Aus den Ereignissen der Junitage hätten die „Werktätigen" vor allem eines zu lernen, nämlich in welch hohem Maße sie selbst verantwortlieh seien „für die Sicherung ihrer demokratischen Errungenschaften“

Mit der gleichen Begründung verweigerte die SED auch den Arbeitern das Streikrecht, das ihnen die Verfassung formal garantierte und das sie im Juni für sich in Anspruch genommen hatten. So versuchte eine Funktionärin der SED-Bezirksleitung in Halle Anfang September 1953 im schönsten Stile kommunistischer Vulgärdialektik zu beweisen, daß die Arbeiter „ihr wichtigstes Kampfmittel gegen den Kapitalismus“ nicht gegen eine „Arbeiter-und Bauern-regierung", wie sie in der Sowjetzone bestehe, anwenden dürften: „Wenn ein Arbeiter gegen eine solche Regierung streikt, dann streikt er im Grunde gegen sich selbst, gegen seine eigene Klasse. Alle Er-rungenschaften unserer Arbeiterklasse werden durch einen solchen Streik gefährdet. Ein Streik in unserer Republik gefährdet nicht nur die Errungenschaften unserer Arbeiter-und Bauernmacht, sondern er gefährdet auch den Frieden unseres Landes und den Frieden in ganz Europa. Der 17. Juni war der sichtbarste Beweis dafür. .. Einen Streik in der Deutschen Demokratischen Republik zu proklamieren, ist eine Losung der Feinde, eine Losung der Kriegstreiber, ist ein Verbrechen an der Arbeiterklasse. Das muß von jedem Streik in der DDR gesagt werden. Auch wenn die Arbeiter meinen, damit nur wirtschaftliche Forderungen durchsetzen zu wollen. Die Errungenschaften in unserer Republik, für die die Arbeiter in den kapitalistischen Ländern heute noch einen erbitterten Kampf führen, sind das Ergebnis des Kampfes und der Arbeit unserer Werktätigen unter der Führung von Partei und Regierung. Der neue Kurs, der diese Errungenschaften festigt und weiter ausbaut, kann nur mit der Unterstützung aller Werktätigen verwirklicht werden ... Unsere Werktätigen müssen deshalb im festen Vertrauen zu unserer Partei und Regierung jeden Angriff auf die Macht der Arbeiter und Bauern entschlossen abwehren.“

Atmosphäre der Rechtsunsicherheit

Die SED konnte kaum erwarten, daß durch derartige Argumente die Einsicht in „die absolute und letztliche Einheit von Tagesinteressen der Arbeiter und Staatsinteressen“ gefördert werden würde. Aber ihr ging es auch weniger darum, die Arbeiter zu überzeugen als ihnen zu drohen. Die Drohung mit dem Terror war schon in den ersten offiziellen Stellungnahmen zu den Juniereignissen nicht zu verkennen gewesen. Denn die Einheitspartei hatte zwar zwischen den „ehrlichen" Arbeitern, die sich täuschen ließen, einerseits und den „Provokateuren“ und „Feinden" andererseits unterschieden: jedoch keiner der am Aufstand Beteiligten durfte aus dieser Unterscheidung schließen, daß ihm Generalpardon erteilt worden sei. Die Partei behielt sich vielmehr vor, den Einzelnen nach Gutdünken in die eine oder in die andere Gruppe einzureihen und erzeugte so ganz bewußt eine Atmosphäre der Rechtsunsicherheit und des »schlechten Gewissens“. Selbst wer sich noch so sehr mühte, das Regime durch Wohlverhalten und Arbeitsleistung von seiner Loyalität zu überzeugen, durfte sich nicht in Sicherheit wiegen. Wer es aber wagte, sich auch noch so vorsichtig für eine wirksame Vertretung der Arbeiterinteressen in der Sowjetzonenrepublik einzusetzen, mußte sehenden Auges Gefahr laufen, sich als „Feind“ klassifizieren zu lassen. Diese Gewißheit vermittelte die Propaganda des Regimes den „Werktätigen": und sie tat es um so deutlicher, je mehr der durch den Aufstand in seiner Funktionsfähigkeit erschütterte staatliche Zwangsapparat sich wieder zu festigen vermochte. Hinzu kam, daß das Regime nicht bei den Drohungen stehen blieb, sondern sehr bald zeigte, daß es gewillt war, ohne Hemmungen und Gewissensbisse zuzuschlagen. Schon im Juli wurde den Justizorganen der Zone, die zunächst nur zögernd eingegriffen hatten und geneigt gewesen waren, die vor Gericht gestellten Teilnehmer des Aufstandes verhältnismäßig milde zu beurteilen, bedeutet, daß den angeblichen Provokateuren gegenüber keinerlei humanitäre Rüdesichten angebracht seien In der Folge inszenierte die SED besonders in den Betrieben ein wahre Entlarvungshysterie, mit der eine großangelegte Säuberung der Parteiorganisationen Hand in Hand ging, die selbst vor den Spitzenfunktionären nicht halt machte und der bezeichnenderweise ein besonders hoher Prozentsatz von alten KPD-Mitgliedern aus der Zeit vor 1933 zum Opfer fiel Ein eindringliches Beispiel für die sich bis zum Herbst ständig steigernde terroristische Verschärfung des „Neuen Kurses" gibt ein Artikel, den das Gewerkschaftsorgan „Die Arbeit" im Oktober 1953 unter der Überschrift: „Rechnet ab mit Provokateuren und Agenten!" veröffentlichte. Am 17. Juni habe sich gezeigt, heißt es dort, „daß Teile der Arbeiterschaft den Charakter unserer Staatsmacht ungenügend erkennen und ihnen das Gefühl der Verantwortung für unseren Arbeiter-und Bauernstaat fehlt"; es gebe „sogar Gewerkschaftsfunktionäre, die sich irreführen ließen, die objektiv die Zersetzungsversuche des Gegners unterstüzten, indem sie z. B. unerfüllbare ultimative . Forderungen" einfach nach oben weiterleiteten bzw. sich mit Provokateuren an einen Tisch setzten, mit ihnen verhandelten, anstatt sie öffentlich zu entlarven". Auch heute, wo die „Feinde" versuchten, „neue willfährige Werkzeuge für ihre verbrecherischen Ziele zu werben", bestehe unter den Gewerkschaftsfunktionären und „Werktätigen" noch vielfach Unklarheit darüber, welche Stellung sie gegenüber „Agenten und Provokateuren“ einzunehmen hätten. Das sei um so gefährlicher, als die westlichen Monopolisten mit der „sogenannten Pakethilfe“ eine „Erpressungsaktion großen Stils“ vorbereiteten: „Wir können nicht abwartend beiseite stehen, bis unbelehrbare Menschen den Preis ihrer Bettelpakete mit Wühlarbeit und Sabotageakten gegen unsere Republik teuer bezahlen. Wir dürfen nicht untätig zusehen, wie sich unsere Tod-feinde vorbereiten, um eines Tages unsere volks-eigenen Betriebe zu rauben, unsere großen Errungenschaften zunichte zu machen. Es steht zuviel auf dem Spiel, als daß wir auch nur einen Augenblick mit dem Zuschlägen zögern könnten!" Die innere, Schwäche des SED-Staates, dessen „große Errungenschaften" als so wenig attraktiv hingestellt werden, daß schon westliche Lebensmittelspenden das Fundament der Staatsmacht zum Einsturz zu bringen drohen, ließe sich durch keine gegnerische Polemik und durch keine noch so tief eindringende wissenschaftliche Analyse schlagender belegen als durch derartige Selbstenthüllungen der sowjetzonalen Publizistik. Wichtiger aber noch als dieser Sachverhalt ist es, daß die SED kein Mißverständnis darüber aufkommen läßt, wo die „Provokateure und Agenten der westdeutschen und amerikanischen Kriegstreiber" zu suchen sind, mit denen sie erbarmungslos abrechnet: diejenigen, die „in den letzten Tagen und Wochen" als „Feinde unseres jungen Arbeiter-und Bauernstaates gebrandmarkt" wurden, mußten „aus den Betrieben entfernt" und „aus den Ge-werkschaften ausgeschlossen" werden Das Ziel der Hexenjagd sind also Arbeiter und Angestellte der volkseigenen Industrie und Gewerkschaftsfunktionäre, die noch nicht jedes Gefühl für die Nöte der Arbeiter verloren und es gewagt hatten, sich für ihre Interessen einzusetzen.

Weil der „Arbeiter-und Bauernstaat" sich durch nichts so sehr bedroht fühlte wie durch die Solidarität der Arbeiter, die sich am 17. Juni gezeigt hatte, lieferte er Arbeiter der Terrorjustiz aus und forderte von den „Richtern aus dem Volke“, wie er seine abhängigen Schergen betitelte, sie müßten „auf der Wacht stehen wie Soldaten, die die Errungenschaften der Arbeiterklasse schützen" — in erster Linie gegen die Arbeiter selbst, so können wir hinzufügen, und mit ihnen gegen den größten Teil der Sowjetzonenbevölkerung. Bei der Terror-justiz aber war das, was die SED mit der Sicherung der Errungenschaften umschrieb und womit in Wirklichkeit die Aufrechterhaltung des diktatorisch-bürokratischen Regimes gemeint war, in entschieden besseren Händen als bei den unzuverlässigen Arbeitern, denen es nach wie vor schwerfiel einzusehen, daß sie sich um der -para diesischen Zukunft willen gegen ihre eigenen handgreiflichen Interessen schützen müßten. So erscheint es keineswegs zufällig, daß die Errungenschaften auch in Urteilsbegründungen sowjetzonaler Gerichte Eingang fanden und daß beispielsweise die Zurückweisung eines Kassationsantrages u. a. damit begründet wurde, die Angeklagten hätten sich „nicht mit den fortschrittlichen Errungenschaften unserer Gesellschaftsordnung abfinden" können

Kampf gegen die „Konterrevolution 7 in Ungarn

Vom 17. Juni 1953, der die im ganzen sowjetischen Satellitenbereich schwelende Glut zum erstenmal mächtig zum Aufflammen brachte, bis zu den Ereignissen des Jahres 1956 in Polen und Ungarn führt ein gerader Weg. Während es jedoch in Polen gelang, einerseits durch das Einschwenken auf einen reformistischen Kurs die Empörung abzufangen, andererseits durch vorbildliche nationale Selbstdisziplin und geschicktes Taktieren gegenüber den Moskauer Machthabern einer sowjetischen Intervention zu entgehen, wurde die von einem ungeheuren Elan beflügelte ungarische Revolution durch die eingreifenden Sowjettruppen in einem Blutbad erstickt.

Es unterstreicht die paradigmatische Bedeutung der ideologischen und propagandistischen Reaktion des mitteldeutschen SED-Regimes auf den Juniaufstand, daß sowohl von sowjetischer Seite als auch von den ungarischen Statthaltern der Sowjetunion, deren vornehmste Aufgabe darin bestand, den von den Revolutionären zerschlagenen Terrorapparat zu rekonstruieren, die brutale Vergewaltigung des ungarischen Volkes mit der Begründung gerechtfertigt wurde: es gehe um nichts anderes als um die Verteidigung der Errungenschaften eben dieses Volkes. In diesem Sinne erklärte Suslow auf der Festsitzung des Moskauer Sowjet am 6. November 1956, durch einen Sieg der Aufständischen hätten „die ungarischen Werktätigen alle von ihnen im Kampfe gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten erzielten Errungenschaften" verloren; die sowjetischen Truppen seien eingeschritten, um „dem ungarischen Volk zu helfen, die finsteren Kräfte der Reaktion und der Konterrevolution zu zerschlagen" und „die sozialistische Volksordnung wiederzuerrichten". Sie hätten, gemeinsam mit den „sozialistischen Kräften Volksungarns“, nicht zugelassen, „daß die Kon-terrevolution die Errungenschaften des Sozialismus mit Füßen tritt". Chruschtschow selbst argumentierte in der gleichen Weise. Es sei, so betonte er ausgerechnet bei einem Empfang in der Moskauer polnischen Botschaft, eine gefährliche Situation entstanden, „in der alle Errungenschaften der volksdemokratischen Ordnung Ungarns bedroht waren. Die Revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung Ungarns wandte sich an uns mit der Bitte, ihr im Kampf gegen die zügellosen Konterrevolutionäre zu Hilfe zu kommen, um die Errungenschaften des Sozialismus in Ungarn zu verteidigen, und wir waren gezwungen, ihr diese Hilfe zu gewähren. Wir glauben, daß das ungarische Volk die wirklichen Ziele der Unruhestifter in Ungarn verstehen wird. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die Konterrevolution in Ungarn endgültig zerschlagen und die ungarische Arbeiterklasse ihren Sieg feiern wird.“ Wie sorgfältig die sowjetischen Instanzen die offizielle Sprachregelung beachteten, geht auch daraus hervor, daß der Militärbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Budapest seinen Befehl Nr. 1 vom 6. November mit der Präambel einleitete: „Auf die Bitte der Ungarischen Arbeiter-und Bauernregierung sind die sowjetischen Truppen vorübergehend in Budapest einmarschiert, um dem ungarischen Volk zu helfen, seine sozialistischen Errungenschaften zu schützen, die Konterrevolution zu unterdrücken und die Drohung des Faschismus zu beseitigen.“

So klingen die sowjetischen Stimmen wie ein Echo auf die ersten Verlautbarungen der Marionettenregierung Kadar, die am 4. November mit zwei durch den Rundfunk ausgestrahlten, aber nicht von ungarischem Boden ausgesendeten Aufrufen an die Öffentlichkeit getreten war. Zunächst war eine Erklärung von Ferenc Münnich verbreitet worden, in der es hieß, die unterzeichneten ehemaligen Minister der Regierung Imre Nagy hätten die Initiative zur Bildung einer Gegenregierung — der „Ungarischen Revolutionären Arbeiter-und Bauernregierung“ — ergriffen, um die „konterrevolutionäre Gefahr" zu bannen, „welche eine stetige Bedrohung darstellt für unsere Volksrepublik, für die Arbeiterschaft sowie für unsere sozialistischen Errungenschaften". Kurze Zeit darauf, um sechs Uhr früh, folgte eine Ansprache Kadars, die vermutlich vom Tonband gesendet wurde; denn es scheint festzustehen, daß sich der neue Ministerpräsident am 4. November weit ab von den Ereignissen in Moskau befand und erst am 6. oder 7. wieder in Budapest eintraf Diese Ansprache, in der sich Kadar wiederholt auf die bedrohten Errungenschaften berief, gipfelte in der Aufforderung: „Ungarn, Brüder, Patrioten, Soldaten und Bürger! Wir müssen den Exzessen der konterrevolutionären Elemente ein Ende setzen. Die Stunde des Handelns ist gekommen! Wir werden die Arbeiter-und Bauernmacht und die Errungenschaften der Volksdemokratie verteidigen."

Die These von dem gegenrevolutionären Charakter der ungarischen Erhebung wird von dem Bericht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen schlagend widerlegt, der auf Grund einer gewissenhaften, unparteiischen Untersuchung zu dem Schluß kommt, daß weder die Regierung der UdSSR noch die Regierung Kadar irgendetwas vorzubringen wußten, was „als objektive Darstellung der Tatsachen, die hinter dem ungarischen Aufstand standen, hätte angesehen werden können"; ihre Beweisführung habe sich vielmehr darin erschöpft, „die Ereignisse in ein vorgefaßtes Schema einzupassen.“ Die Gegenrevolution, die wirklich stattgefunden habe, sei durch die sowjetischen Machthaber durchgeführt worden, „als sie mit Hilfe überwältigender Streitkräfte ein sozialistisches, aber demokratisches Regime, das im Begriff war, sich in Ungarn zu bilden, durch einen Polizeistaat ersetzten."

Der UNO-Bericht

Der Bericht stellt fest, daß die Regierung Imre Nagys vom Vertrauen aller Kreise des ungarischen Volkes getragen war und hauptsächlich das ausführte, was die Revolutionsund Arbeiterräte, in denen kommunistische Arbeiter und kommunistische Intellektuelle eine führende Rolle spielten, von Anbeginn des Auf-standes gewollt hatten Von keiner Gruppe seinen dabei restaurative Pläne verfolgt worden. Die kommunistischen Schriftsteller und Studenten, die sich die Forderungen des Volkes zu eigen machten, beabsichtigten nicht, mit ihrer Kritik die Prinzipien des Kommunismus zu erschüttern, sondernbemühten sich zu zeigen, „daß das Regierungssystem, das in Ungarn bestand, eine Verdrehung dessen war, was sie den wahren Marxismus nannten." Die Arbeiter wehrten sich zwar gegen das ausbeuterische „Normensystem", aber niemand dachte daran, den sozialistischen Aufbau der Volkswirtschaft anzutasten Die Bauern lehnten sich gegen die Zwangskollektivierung und die andauernden Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, auf; doch die Rüdegabe der Ländereien an die ehemaligen Gutsbesitzer scheint nirgendwo zur Debatte gestanden zu haben Auch die nichtkommunistischen Parteien, die im Verlauf der Erhebung wieder erstanden, wiesen jeden Gedanken an eine Restauration strikt zurück. „Laßt niemanden von der Rückkehr der alten Zeit träumen", erklärte Bela Kovacs, der Führer der Partei der Kleinen Landwirte am 31. Oktober, „die Welt der Grafen, Bankiers und Kapitalisten ist für immer vergangen." Die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Anna Kethly, betonte am 1. November: „Die Fabriken, die Bergwerke und das Land sollen in den Händen des Volkes bleiben." Und der Generalsekretär der Petöfi-Partei, Staatsminister Ferenc Farkas, faßte am 3. November die gemeinsame Auffassung der vier Parteien, die in der an diesem Tage umgebildeten Regierung Nagy vertreten waren, in dem Satz zusammen: „Von den sozialistischen Errungenschaften und Ergebnissen wird alles beibehalten, was in einem freien, demokratischen und sozialistischen Land den Wünschen des Volkes entspricht." Im gleichen Sinne äußerte der kommunistische Staatsminister Losoncy, ebenfalls am 3. November, auf einer Pressekonferenz für ungarische und ausländische Journalisten: „Die Regierung hat einstimmig erklärt, daß sie die positiven Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre nicht schmälern lassen wird. Das bezieht sich zum Beispiel auf die Bodenreform, die Nationalisierung der Fabriken und auf gewisse soziale Leistungen. In gleicher Weise besteht aber die Regierung darauf, daß die Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution unangetastet bleiben, vor allem die nationale Unabhängigkeit, die Gleichberechtigung und der Aufbau des Sozialismus auf der Grundlage der Demokratie und nicht der Diktatur. Die Regierung ist jedoch entschlossen, eine Wiederherstellung des Kapitalismus in Ungarn nicht zu dulden .. Die „positiven Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre“ wurden also von keiner Seite in Frage gestellt. Und wenn sich sowohl die Sowjets als auch die von ihnen eingesetzte Regierung Kadar, die — abgesehen von „einigen Mitgliedern der ehemaligen AVO (Staatssicherheitspolizei), einigen höheren Offizieren der ungarischen Armee und einigen wenigen früheren Funktionären der kommunistischen Partei, die während des Aufstandes entlassen worden waren" — über keine Gefolgschaft im Lande verfügte, auf die gefährdeten sozialistischen Er-rungenschaften beriefen, um die Niederschlagung der Revolution zu rechtfertigen, so gaben sie vor, etwas zu verteidigen, was überhaupt nicht bedroht war. Denn alle Repräsentanten der revolutionären Kräfte, auch die aus dem nichtkommunistischen Lager, hatten sich eindeutig für die Beibehaltung der sozialistischen Errungenschaften eingesetzt. Worum es in Wirklichkeit ging, das waren die freiheitlichen „Errungenschaften der gegenwärtigen Revolution“ die „wiedergewonnenen demokratischen Errungenschaften“ die immer wieder als die „Errungenschaften der Revolution“ schlechthin angesprochen wurden. Von diesen demokratischen Errungenschaften aber war in den Verlautbarungen der Regierung Kadar vom 4. November und in den sowjetischen Stellungnahmen keine Rede. Das Bekenntnis der ungarischen Revolution zum Sozialismus vermochte den Sowjets nicht zu genügen, weil es sich mit dem Willen zu demokratischer Freiheit und Unabhängigkeit nach innen und nach außen verband.

Kein Bürgerkriegscharakter der Kämpfe

Die überwältigende Kraft dieses Freiheitswillens geht schon daraus hervor, daß trotz der Aufforderung der Regierung Kadar an die ungarischen „Arbeiter, Bauern und Soldaten", den Kampf mit den „Mächten der Reaktion“ aufzunehmen, die Kämpfe in Ungarn vom 4. bis 11. November 1956 keinen Bürgerkriegscharakter hatten, sondern sich ausschließlich zwischen Ungarn einerseits und sowjetischen Streitkräften andererseits abspielten Auch die „echten ungarischen Kommunisten" sahen ihren Platz „auf den Barrikaden, auf denen unsere ungarischen Brüder den fast hoffnungslosen Kampf gegen einen brutalen Imperialismus fortsetzten“ Es ist bezeichnend, daß die sowjetischen Truppen in den Hochburgen der ungarischen Arbeiterschaft wie auf der Budapester Donauinsel Csepel und in den Stahlwerken von Dunapentele auf den stärksten und hartnäckigsten bewaffneten Widerstand trafen und daß es nach der Niederschlagung des Aufstandes wiederum die Arbeiter waren, „die durch Massenstreiks und passiven Widerstand den Kampf gegen das Regime fortsetzten, zu dessen Unterstützung die Sowjettruppen eingegriffen hatten" So beschlossen beispielsweise Mitte November die rund vierzigtausend Arbeiter der großen Eisenwerke von Csepel, im Ausstand zu verharren, um ihre Forderung nach der Wieder-einsetzung Imre Nagys Nachdruck zu verleihen, der, wie Mitglieder des dortigen Arbeiterrates erklärten, der einzige sei, „dem sie zutrauten, die Errungenschaften der Revolution zu erhalten"

Da die Kadar-Regierung, die ihre Existenz einzig und allein der zweiten sowjetischen Intervention verdankte, auf die einmütige Ablehnung des ungarischen Volkes stieß, sah sie sich zunächst veranlaßt, in ihren Erklärungen von den Praktiken der durch die Revolution gestürzten Machthaber abzurücken und weitgehende Reformen zu versprechen Auf dieser Linie lag es, daß Kadar noch Ende November eine mögliche Erweiterung der Regierung durch Nichtkommunisten in Aussicht stellte, wobei er — wie er es bereits am 4. November in seiner ersten Kundgebung getan hatte — zur Bedingung machte, daß diese nichtkommunistischen Persönlichkeiten „die sozialistische Ordnung anerkennen und bereit sind, für die Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften und den Aufbau des Sozialismus zu arbeiten“ Daraufhin stellten die nichtkommunistischen Parteien und andere Organisationen in einer Denkschrift vom 8. Dezember ein 10-Punkte-Programm auf und umrissen ihrerseits die Bedingungen für eine Teilnahme an der Regierung. Das Ziel sei, so hieß es in dieser Denkschrift, „die Freiheit und die Unabhängigkeit des Landes zu schützen; die Ergebnisse, die der Sozialismus bis heute gezeigt habe, zu sichern; die demokratischen Errungenschaften der Revolution zu festigen und gesetzlich zu verankern; unter ihnen die Arbeiterräte und ihre Autonomie, das Streikrecht, die Freiheit der Entscheidung für die Bauern; die Abschaffung der Ernteablieferungen und schließlich dem Einparteisystem ein Ende zu machen" Wie schon in den Verlautbarungen der nichtkommunistischen Gruppen aus den Tagen vor dem Eingreifen der Sowjettruppen ist in der Denkschrift keinerlei antisozialistische oder antikommunistische Tendenz festzustellen. Es wird vielmehr ohne weiteres anerkannt, daß die kommunistische Partei eine wichtige Rolle spielen müsse und für das politische Leben in Ungarn notwendig sei; denn die Revolution habe bewiesen, „daß die große Masse der ungarischen Kommunisten den oben erwähnten Prinzipien zustimmte". Schließlich erklärt es das Memorandum für unerläßlich, dem ungarischen Volk das Vertrauen und die Unterstützung der Sowjetunion zu gewinnen. Viele der bestehenden Schwierigkeiten seien auf Fehlinformationen über den Zweck und den Charakter der ungarischen Revolution zurückzuführen, die die Regierung der UdSSR daran gehindert hätten, zu erkennen, daß die revolutionären Kräfte einmütig auf der Seite des Sozialismus standen und bereit waren, die sozialistischen Errungenschaften gegen jeden konterrevolutionären Angriff zu verteidigen Die Hauptbedingung Kadars, nämlich die Bereitschaft zur Verteidigung der sozialistischen Nachkriegserrungenschaften, war also ausdrücklich akzeptiert worden Aber diese Bedingung verschleierte nur die wirklichen Ziele, die die ungarische Satellitenregierung im Auftrage Moskaus zu verfolgen hatte. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, um mit der Regierungserklärung über die wichtigsten Aufgaben vom 6. Januar 1957 zu sprechen, „die verlogene Forderung nach . Demokratie und Freiheit’ “ zum Verstummen zu bringen. Und wenn es in der zitierten Regierungserklärung weiter heißt: „Zu dieser Frage haben wir klar und unzweideutig erklärt; In Ungarn besteht die Diktatur des Proletariats“, so kommentiert dieser Satz am besten, welche Vorstellungen sich für das Regime mit der Formel von der Verteidigung der „Errungenschaften der sozialistischen Revolution", der „Errungenschaften der vergangenen zwölf Jahre“ oder der „seit der Befreiung erreichten sozialistischen Errungenschaften“ verknüpften.

Restauration des totalen Regimes

Unter dem Vorwand der Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften wurde das ungarische Volk der demokratischen Errungenschaften, für die es einen blutigen Verzweiflungskampf geführt hatte, beraubt, um die Aufrechterhaltung der sowjetischen Oberherrschaft über das nach Freiheit und Unabhängigkeit verlangende Land zu sichern. Eines der wesentlichsten Ergebnisse dieser Politik der Restaurierung des totalitären Regimes war die Entmachtung der Arbeiterräte für deren Rechte das ungarische Proletariat einen erbitterten Kampf führte und die es als die wichtigste der freiheitlichen Errungenschaften der Revolution zu behaupten versuchte. Erst die Unterdrückung der Arbeiter schuf die Voraussetzung für eine Wiederbefestigung der angeblichen „Diktatur des Proletariats“, die sich einmal mehr als Diktatur gegen das Proletariat erwies. Wie in der „Deutschen Demokratischen Republik" Walter Ulbrichts nach dem 17. Juni 1953 wurde auch in Ungarn das Interesse des sowjethörigen Re-gimes in dialektischer Verdrehung der Tatsachen mit den Interessen der Arbeiterklasse gleichgesetzt. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen, die Kadar im Mai 1957 in der ungarischen Nationalversammlung machte, als eine geradezu klassische Definition der Merkmale einer proletarischen Diktatur nach sowjetischem Vorbild zu werten: „Meiner Meinung nach ist es nicht die Aufgabe der Führung, die Wünsche und den Willen der Massen zu erfüllen... Meiner Meinung nach ist es die Aufgabe der Führung, das Interesse der Massen in die Tat umzusetzen ... In der jüngsten Vergangenheit ist uns das Phänomen begegnet, daß gewisse Kategorien von Arbeitern gegen ihre eigenen Interessen handelten. In diesem Falle ist es die Pflicht des Führers, das Interesse der Massen zu vertreten und nicht mechanisch ihre falschen Ideen auszuführen. Wenn der Wunsch der Massen nicht mit dem Fortschritt übereinstimmt, muß man die Massen in eine andere Richtung lenken."

Die Feststellung der polnischen Publizistin Edda Werfel, daß die Absage an den Stalinismus „eine neue revolutionäre Errungenschaft unserer Partei in der Arbeiterbewegung“ darstelle, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Geist, in dem sich die Auseinandersetzungen in den Reihen der kritischen intellektuellen Vorhut der kommunistischen Partei Polens vollzogen. Diese Auseinandersetzungen dauerten, als Gomulka im Oktober 1956 an die Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gerufen wurde, schon über ein halbes Jahr an. Die Ergebnisse des XX. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatten in Polen ein besonders nachhaltiges Echo gefunden; und nachdem der Posener Aufstand vom Sommer 1956 jeden Zweifel über die wirkliche Stimmung des Volkes beseitigt hatte, strebte die Diskussion ihrem Höhepunkt zu. Dabei wurde immer deutlicher, daß es nicht nur um eine Verdammung der stalinistischen Entartungen, sondern um eine radikale Kritik an den grundlegenden Prinzipien des sowjetisierten Kommunismus ging. So heißt es in einem Ende 1956 erschienenen Artikel des Journalisten Krzystof Wolicki: „Man kann sich nicht vom Stalinismus los-sagen, wenn man sich nicht gleichzeitig von gewissen Illusionen freimacht, die er nicht allein im Hirn der Kommunisten, sondern aller Menschen heraufbeschworen hatte. Wir haben mehr als einen schmutzigen Kübel auf die . Agitation und Propaganda'jener Epoche ausgeschüttet, und das mit Recht. Ich befürchte aber, daß wir zumindest in einem Punkt ihre Wirksamkeit unterschätzt haben. Die sogenannte Schönfärberei der Wirklichkeit hatte nämlich einen tieferen Sinn als nur den, die Wahrheit zu verbergen. Jene verbrämte Wirklichkeit der Propaganda, Literatur und ideologischen Schulung

Die Lage in Polen

Wenn Kadar — auf die gleiche Weise wie drei Jahre zuvor Ulbricht — die Empörung des Volkes und der Arbeiterschaft mit der Vergewal-tigung der Freiheit im Namen des „Fortschritts“ beantwortete, so zeigt sich vor diesem Hintergrund besonders eindringlich, was demgegenüber der Sieg der reformistischen Kräfte in Polen bedeutet. nahm nämlich nach und nach die Merkmale einer idealen Welt an, die unmittelbar zu verwirklichen war. Einerseits hieß es, daß es jetzt schon so sei, wie es sein soll. Dies blieb freilich ohne Wirkung, da die lebendige Praxis des Menschen trotz allem immer stärker als die Propaganda ist. Andererseits aber gebar jene Verwechselung des . Seins'mit dem , Seinsollenden'— eine Verwechslung, die es unmöglich machte, nach Wegen zu suchen, die zu dem Zustand, wie er faktisch .sein sollte', hinführen — ein reales sozialpsychologisches Phänomen: den Glauben an die Möglichkeit der sofortigen Verwirklichung jenes . Seinsollenden'auf gewaltsame Art und Weise durch irgendeinen, aber einmaligen Coup oder durch ein Wunder. Man kann den Menschen nicht dauernd ungestraft von Idealen predigen, die mit der Praxis in auffälliger Weise kollidieren. Die Illusionen, von denen hier die Rede ist, haben eine kollossale Reichweite. In der Ideologie drücken sie sich durch den Verlust des historischen Denkvermögens aus. Viele Jahre hindurch haben wir uns und anderen einzureden versucht, daß wir sehr bald, sofort nach diesem einen Fünfjahrplan, ein Land der ewigen Glückseligkeiten sein würden . .. Die Staatsräson unseres Landes, eines sozialistischen Landes, ist ein Werkzeug zur Realisierung einer besseren Welt. Das ist sehr viel. Das ist sogar etwas ganz Sauberes, obwohl sie zum Ausgangspunkt keine hochtrabenden Worte, sondern die manchmal nicht gerade saubersten Realia der Welt von Anno Domini 1956 nimmt."

Ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit

Das Bemerkenswerteste an diesem Artikel ist das ernsthafte Bemühen um ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, das zugleich als neues Verhältnis zum Menschen aufgefaßt sein will. Indem die Verwechslung des Seins mit dem Sein-sollenden und die Rechtfertigung der gegenwärtigen Verhältnisse durch die ideologisch in die Gegenwart hineinprojizierte Zukunft ausdrücklieh zurückgewiesen werden, erhält die Gegenwart ihr eigenes Recht zurück, und „die lebendige Praxis des Menschen" in dieser seiner Gegenwart wird zum entscheidenden Kriterium sozialistischen Handelns und sozialistischer Politik. In jener „verbrämten Wirklichkeit der Propaganda, Literatur und ideologischen Schulung" aber, die „die Merkmale einer idealen Welt“ angenommen habe, ist unschwer die verzerrte Wirklichkeit der sowjetkommunistischen Vulgärdialektik wiederzuerkennen, in der die Errungenschaften das noch nicht Erreichte vorweg-nehmen Zwar sollte nicht verkannt werden, daß die sehr differenzierte polnische Entwicklung kaum auf einen eigentlichen Nenner zu bringen und ihr Ende noch nicht abzusehen ist. Schon weil der politische Kurs Gomulkas, der nicht nur Rückfällen in den als stalinistisch abgestempelten sowjetkommunistischen „Konservatismus“, sondern auch außenpolitisch gefährlichen Zugeständnissen an den betonten „Revisionismus“ der avantgardistischen Intellektuellen in den Reihen seiner Partei aus dem Wege zu gehen sucht, durch vielfache Rücksichten, besonders auf die verzweifelte Wirtschaftslage des Landes und auf den übermächtigen sowjetischen Nadibarn, beeinflußt wird, muß er in sich widerspruchsvoll erscheinen. Trotz aller Vorsicht jedoch, die bei der Beurteilung der polnischen Entwicklung geboten ist, schält sich das neue Verhältnis zur Wirklichkeit, das der oben zitierte Artikel so eindrucksvoll demonstriert, als wesentlicher Zug der Gesamtbewegung heraus. Ein wichtiges Indiz dafür ist in der Sinnveränderung zu sehen, den der Begriff der Errungenschaften in Äußerungen polnischer Politiker und in polnischen Pressestimmen erfahren hat. Wenn man auch an dem schnellen Aufstieg der polnischen Industrie in den letzten Jahren kaum Zweifel hegen könne, schrieb der Publizist Jerzy Putrament im Oktober 1956, so seien doch „die Kosten dieses Aufstiegs ungleich höher gewesen als die Errungenschaften", zumal das bisherige System nur unter bestimmten politischen Voraussetzungen habe existieren können, „z. B. nur mit Unterdrückung der Kritik und Polizeiterror, also unter den Voraussetzungen eines Ausnahmezustandes, der in unserem Lande zu Stalins Zeiten herrschte." Gomulka selbst setzte sich um die gleiche Zeit in seiner großen Programmrede vor dem VIII. Plenum des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiter-Partei in der er es begrüßte, daß nach dem XX. Parteitag der KPdSU die „stummen versklavten Gemüter“ in Polen begonnen hätten, „das Gift der Lüge, Falschheit und Heuchelei auszuscheiden", mit den „bisherigen Errungenschaften" auseinander. Es stehe ihm fern, erklärte er, „die Errungenschaften unseres Landes in irgendeiner Weise schmälern zu wollen", doch halte er es für nötig, „die Entwicklung unserer wirtschaftlichen Errungenschaften im letzten Sechsjahrplan einer Prüfung zu unterziehen“. Im einzelnen stellte Gomulka u. a. die Frage, ob man wohl die Errichtung einer neuen

Autofabrik, die „bei übermäßig hohen Produktionskosten eine verschwindend kleine Anzahl von Kraftwagen eines veralteten Typs herstellt, die viel Brennstoff fressen und die heute kein Mensch mehr produziert", „als Errungenschaft und als Erhöhung der Produktionskapazität unserer Industrie" bezeichnen könne. In beiden Fällen, bei Gomulka wie bei Putrament, hat der Begriff der Errungenschaften den zentralen Ort verloren, den er im Koordinatensystem der Sowjetideologie noch heute beansprucht. Er tritt uns vielmehr in einer entsowjetisierten und damit weitgehend entideologisierten Form entgegen. Daß auch Gomulka ihn keineswegs zufällig in dieser Weise verwendet, zeigt beispielsweise die Rede, die er ein Jahr später, Ende Oktober 1957, vor dem X. Plenum des Zentralkomitees hielt Wenn er feststellt, daß ein beträchtlicher Teil der Arbeiter durch ihre berechtigte Enttäuschung dazu gebracht worden sei, „selbst die großen wirtschaftlichen Errungenschaften des Planes zu übersehen“, so geht zwar daraus hervor, daß er diese Errungenschaften, also vornehmlich die Erhöhung der polnischen Produktionskapazität in der Periode des Sechsjahrplans ab 1950, als entscheidende Schritte auf dem Wege der polnischen Wirtschaftsentwicklung und als Bausteine des Sozialismus gewertet sehen will; aber nicht minder deutlich wird es, daß er ihnen nicht die absolute Beweiskraft beilegt, die sie in der sowjetischen Vulgärdialektik scheinbar haben: als Garantie für die Erreichung des kommunistischen Endziels, als Rechtfertigung des Polizeiterrors, als undiskutierbarer Beweis für die Richtigkeit der Generallinie und für die angebliche Einheit von Theorie und Praxis. Darf man Gomulkas eigenen Worten glauben, so erläutert die gleiche Rede, daß er eine andere Vorstellung von den Methoden hat, mit denen diese Einheit herzustellen ist: Trotz der beträchtlich gestiegenen Reallöhne, heißt es dort, sei es dem Regime nicht gelungen, den Bedürfnissen eines großen Teils der polnischen Arbeiter gerecht zu werden; aber „heute haben wir das volle Recht zu behaupten, daß unsere Taten unseren Worten entsprechen“. Wie verschieden die Erneuerungsbewegung in Polen, die sich, wenn auch mit mancherlei Kompromissen und Konzessionen, bisher zu behaupten vermochte, und die blutig niedergeschlagene und mit den Mitteln des Polizeistaates schließlich zum Verstummen gebrachte ungarische Bewegung auch verliefen, so ähnlich waren ihre Voraussetzungen gewesen. Beide waren nach dem XX. Parteitag aus der kommunistischen Partei selbst erwachsen, um im Herbst 1956 ihren Höhepunkt zu erreichen. In Polen wie in Ungarn verband sich das Ringen um nationale Unabhängigkeit und ein größeres Maß innerer demokratischer Freiheit mit dem intellektuellen Bemühen, das erstarrte Lehrgebäude des Kommunismus sowjetischer Prägung unbefangen neu zu durchdenken und auf seine Tragfähigkeit zu prüfen. Und hier wie dort fand sich die Kritik der Intellektuellen mit dem Widerstand der Arbeiterklasse gegen ein verhaßtes, ausbeuterisches System. So schienen Polen und Ungarn zu Kristallisationszentren einer Emanzipationsbewegung im „sozialistischen Lager“ zu werden, die alle oppositionellen Unterströmungen in den Staatsparteien der übrigen Satellitenländer ermutigen mußte. Daher ist es nur zu gut zu verstehen, daß bereits die Rüdekehr Gomulkas in die Führung der polnischen kommunistischen Partei in Moskau alarmierend wirkte und daß sich die sowjetischen Machthaber wenige Tage später, als es in Ungarn zur offenen Revolte kam und die Ereignisse sich überstürzten, mit der Gefahr eines plötzlichen Auseinanderbrechens des europäischen Satellitenreiches konfrontiert glaubten. Aus dieser Lage entsprang der Entschluß zur Intervention in Ungarn, die wiederum nur den Auftakt zu einer gesteuerten restaurativen Gegenbewegung im gesamten Ost-blöde gab, in deren Dienst sich die linientreuen Statthalter und Spitzenfunktionäre um so lieber stellten, als die Ausstrahlung der polnischen und ungarischen Vorgänge ihre eigene Machtstellung unmittelbar bedrohte.

Die Haltung der Satellitenparteien

Nachdem oben geschildert worden ist, daß sowohl von den Sowjets als auch von Kadar die Intervention und die Unterdrückung der revolutionären Kräfte in Ungarn mit dem immer wiederkehrenden Hinweis auf die bedrohten Errungenschaften gerechtfertigt wurden, verwundert es nicht, daß das gleiche Argument auch als Leitmotiv für die ideologische Begleitmusik zu dem umfassenderen Restaurationsprozeß im sowjetischen Machtbereich lieferte, in den sich die innerungarische Entwicklung unter dem Kadar-Regime einordnet. So steht der Begriff der Errungenschaften inmitten des Ringens zwischen den emanzipatorischen und den restaurativen Tendenzen im kommunistischen Lager. Vor allem von der ungarischen revolutionären Bewegung, die bewußt an die Traditionen der Freiheitskämpfe von 1848/49 anknüpfte und für die die sowjetische militärische Intervention des Jahres 1956 in einer Linie mit dem damaligen Eingreifen der Armee des Zaren stand, war der ursprüngliche freiheitliche Inhalt dieses Begriffes wieder belebt worden, während die polnische Entwicklung bemerkenswerte Ansätze dazu zeitigte, ihn in einer für den kommunistischen Sprachgebrauch ungewohnt sachlichen Weise zu verwenden und ihn dadurch aus seiner ideologischen Überhöhung und Erstarrung zu lösen. Als ideologische Waffe der Restauration hingegen erwuchs dem orthodoxen sowjetkommunistischen Errungenschaftsbegriff gerade die Aufgabe, von den tatsächlichen sachlichen Gegebenheiten abzulenken, sie zu verzerren und zu verschleiern, um um so besser die Begründung für die Diskriminierung und Verdammung aller freiheitlichen Bestrebungen liefern zu können. In dieser Funktion beherrschte er auch die Stellungnahmen der Satellitenparteien zu den ungarischen und polnischen Ereignissen; und er drängte sich bezeichnenderweise überall dort besonders stark in den Vordergrund der Agitation, wo die Ansteckungsgefahr am meisten zu fürchten war. Als Beispiel dafür sei hier eine Rede angeführt, die der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei, Gheorghe Gheorghiu-Dej, in Tirgu Mures, dem Zentrum des Ungarischen Autonomen Gebiets in der rumänischen Volksrepublik, vor einer Gebietsparteikonferenz hielt und in der er die Bedrohung der „sozialistischen Errungenschaften" in Ungarn durch „offenkundige Faschisten“ usw. bis zum Überdruß strapazierte. Gefährlicher noch als die faschistischen, imperialistischen und aristokratischen Elemente, denen er zu Unrecht einen entscheidenden Einfluß auf die ungarische Entwicklung zuschrieb, erschienen ihm jedoch offenbar die ungarischen kommunistischen Intellektuellen, die das Verbrechen begangen hatten, sich mit dem Freiheitssehnen des ungarischen Volkes und der ungarischen Arbeiter zu identifizieren: „Besonderes Unheil", so betonte er, „richteten diese Intellektuellenkreise durch die Erbitterung an, mit der sie unter der Losung der . Freiheit'und der . Demokratie'die Errungenschaften“ der Volksmacht verleumdeten, die Partei und die revolutionären Errungenschaften der Massen schmähten und in Mißkredit zu bringen versuchten.“

Loblied auf die Diktatur

Wenn auch dieser Passus schon unmißverständlich genug zeigt, wo ihn selbst der Schuh drückte, so hielt er es doch für notwendig, noch deutlicher zu werden, als er auf die geplanten „Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung unserer Staatsmacht" zu sprechen kam: „Doch wir können uns nie und nimmer mit einer solchen . Liberalisierung'einverstanden erklären, die den Feinden der Werktätigen die Freiheit läßt, Schläge gegen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes zu führen. Die Stärke und Festigkeit der volksdemokratischen Ordnung ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Ordnung eine der Formen der Diktatur des Proletariats verkörpert ... Die Diktatur des Proletariats — das ist das Wichtigste im Leninismus, das ist die wichtigste Errungenschaft der Werktätigen in den sozialistischen Ländern, die Garantie für den Aufbau des Sozialismus.“

Wer würde Gheorghui-Dej nach diesen ermüdenden Deklamationen nicht Glauben schenken, wenn er mit Genugtuung feststellt, die rumänische Arbeiterklasse, „die führende Klasse in der volksdemokratischen Ordnung" (deren größte Errungenschaft also in der Unterordnung unter die in ihrem Namen ausgeübte Diktatur besteht), habe gleich zu Anfang begriffen, „daß in Ungarn die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen bedroht wurden", und bewiesen, daß sie „unerschütterlich und kämpferisch um die Partei zusammengeshlossen“ sei? Auf der gleichen Linie liegt auch die angebliche Sorge der SED um die „revolutionären sozialistischen Errungenschaften der polnischen Arbeiterklasse“ und der Applaus, mit dem sie die Sowjetunion für die Niederwerfung der ungarischen Revolution bedachte. Erklärte doch das Zentralkomitee am 6. 11. 1956 in einer Entschließung, daß es sich „in Ehrfurcht vor den Helden des Sozialismus“ verneige, die in Ungarn für den Schutz der „Errungenschaften des Volkes“ gefallen seien Das wichtigste Zeugnis aber für die Folgerungen, die von der Einheitspartei aus den Vorgängen in Polen und Ungarn gezogen wurden, ist der von Schirdewan Mitte November 1956 erstattete Bericht des Politbüros auf der 29. Tagung des Zentral-komitees der die SED als nur allzu williges Werkzeug der Restauration erweist. So widerstrebend sich das Ulbricht-Regime, das die moralische Niederlage des 17. Juni 1953 keineswegs überwunden hatte und sich keiner Täuschung über seine innere Schwäche hingeben durfte, mit den ihm gefährlich erscheinenden Beschlüssen des XX. Parteitags der KPdSU abgefunden hatte, so sehr beeilte es sich jetzt, sich einmal mehr als Musterschüler der Sowjetunion hervorzutun. Der Bericht Schirdewans spiegelt die tiefe Abneigung der maßgebenden Partei-instanzen vor den liberalen Methoden der „polnischen Freunde“ und ihre Furcht vor den sprengkräftigen Argumenten der polnischen und ungarischen Intellektuellen, die als Entartungserscheinungen im kommunistischen Lager gekennzeichnet werden: „Diese Entartung wird natürlich nicht grob vor sich gehen, und sie ging auch in gewissen Ländern zunächst nicht grob vor sich. Sie kommt, wie man so sagt, auf Taubenfüßen. Sie beginnt nicht mit dem groben Angriff auf die Grundsätze des Marxismus-Leninismus, sondern mit der Diskussion über die Taktik, über die Demokratisierung, über die Methoden und Formen.“ Demgegenüber wird der Vorsatz der SED betont, „keinen Jota von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus“ abzuweichen. Dieser Vorsatz bedeutet für die Führer der Einheitspartei zugleich „die Pflicht, allen Erscheinungen der Liberalisierung im bürgerlichen Sinne, der Einschränkung der sozialistischen Perspektive, entschieden entgegenzutreten". „Dabei", fährt Schirdewan fort, müssen wir die Arbeit zur Festigung der Justiz-und der Staatssicherheitsorgane als wichtige Staatsinstrumente des Schutzes der demokratischen Rechte und der Errungenschaften der Arbeiterklasse und aller Bürger der Deutschen Demokratischen Republik bessern.“ Womit gezeigt wäre, daß sich der mitteldeutsche SED-Staat 1956 so wenig wie 1953 auf die Anziehungskraft seiner Errungenschaften verlassen konnte und daß der Hauptfeind nach wie vor für ihn im eigenen Lande stand. wird fortgesetzt Nachforderungen der Beilagen aus Politik und Zeitgeschichte sind an die Vertriebsabteilung DAS PARLAMENT, Hamburg 36, Gänsemarkt 21/23, zu richten. Abonnementsbestellungen der Wochenzeitung DAS PARLAMENT zum Preis von DM 1, 89 monatlich bei Postzustellung einschließlich Beilage ebenfalls nur an die Vertriebsabteilung Bestellungen von Sammelmappen für die Beilage zum Preise von DM 6, — pro Stück einschließlich Verpackung zuzüglich Portokosten an die Vertricbsnbtellung Hamburg 36 GänSemarkt 21/23. Telefon 34 12 51

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Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:

Oskar Anweiler:

Indira Gandhi:

Frederic Lilge:

Otto Schiller:

Karl Seidelmann:

Karl C. Thalheim:

Egmont Zechlin: „Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung" „Indien heute" „Makarenko " „Das Wesen der kommunistischen Gefahr"; „Die »Verbürgerlichung'in der Sowjetunion" „Der Generationsprotest derJugendbewegung in gegenwärtiger Betrachtung" „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft" „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil)

Fussnoten

Fußnoten

  1. S. Anm. 10.

  2. Zitiert nach „Neues Deutschland" vom 19. 9. 1953.

  3. Unter dem Titel: über berechtigte Kritik und über Erscheinungen des Opportunismus in Fragen der Kunst.

  4. Zitiert nach „Neues Deutschland" vom 18. 7. 1953 (Walter Ulbricht bei den Werktätigen der Großkokerei „Matyas Rakosi“).

  5. „Freiheit“ vom 6 9 1953 (Warum schadet der Arbeiter in der Deutschen Demokratischen Republik mit Streiks sich selbst, von Gerta Haak, Sekretärin der Bezirksleitung der SED).

  6. „Neues Deutschland'vom 26. 7. 1953 (Die Erfahrungen der Massen und die Entwicklung ihres Bewußtseins, von Walter Besenbruch).

  7. Der Justizminister Max Fechner wurde, kurz nachdem er sich In einem Interview gegen jede Rachepolitik ausgesprochen und darüber hinaus erklärt hatte, das Streikrecht sei verfassungsmäßig garantiert (vgl „Neues Deutschland'vom 30. 6. und 2 7 1953), durch Hilde Benjamin abgelöst Für die Verschärfung des Kurses vql die Einführungsrede Hilde Benjamins vor der Belegschaft des Justizministeriums („Neues Deutschland'vom 21. 7. 1953) sowie die vorausgegangene Pressekampagne (u. a. „Freiheit* 14 7 1953: Wir fordern gerechte Urteile; „Freiheit'17 7. 1953: Müssen solche Urteile nicht die Provokateure ermuntern?; „Sächsische Zeitung'11 7 1953: Görlitzer Provokateure ihren gerechten Strafen zugeführt).

  8. Vgl. SBZ-Archiv, Jg. 1953, S. 305 f.

  9. „Die Arbeit”, Jg. 1953, S. 685 f. (Rechnet ab mit Provokateuren und Agenten).

  10. So in einem aus dem Tschechischen übersetzten Artikel von Josef Streit „Die Arbeit der . Richter aus dem Volk’ in der Tschechoslowakisehen Volksrepublik", in: „Neue Justiz", Jq. 1953, S. 639 ff.

  11. Vgl. Unrecht als System, Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen in der Sowjetzone Deutschlands, zusammengestellt vom Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen, hsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1955, Teil II, Dokument Nr. 102, S. 83 f.

  12. „Pravda" vom 7. 11. 1956; deutsch in: „OstProbleme“, Jg. 1956, S. 1737 ff (Zitate auf S. 1745 s.).

  13. „Pravda" vom 19. 11. 1956; deutsch in: „Neues Deutschland" vom 20. 11. 1956 (Chruschtschow zu Fragen der internationalen Arbeiterbewegung).

  14. Abgedruckt in: Der Volksaufstand in Ungarn, Bericht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen, hsg. von der „Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen", Bonn 1957, S. 179 f. Zitiert: UNO.

  15. Vgl. UNO S. 87.

  16. Die Volkserhebung in Ungarn, Sonderheft der Zeitschrift „Hinter dem Eisernen Vorhang“, München Dezember 1956, S. 70. Zitiert: Volkserbung.

  17. Vgl. UNO S. 87.

  18. Zitiert nach Volkserhebung S. 70 f. Vgl. UNO S. 86 f. sowie das von der SBZ aus in der Bundesrepublik verbreitete Flugblatt: „Was verschweigt die bürgerliche Presse den westdeutschen Arbeitern", mit dem ersten Aufruf der Regierung Kadar.

  19. Vgl. UNO S. 30 f.

  20. Vgl. UNO S. 41.

  21. UNO S. 24.

  22. UNO S. 121.

  23. UNO S. 121.

  24. UNO S. 127.

  25. UNO S. 40; vgl. S. 174.

  26. UNO S. 174.

  27. Zitiert nach Volkserhebung S. 67, Vgl. UNO

  28. Zitiert nach Volkserhebung S. 64.

  29. UNO S. 25.

  30. Siehe oben.

  31. Volkserhebung S 64 („ 14. 14 Uhr").

  32. Volkserhebung S 35 f. (Nagy, Erdei), 58 (Aufruf der jüdischen Organisationen).

  33. UNO S. 178.

  34. Volkserhebung S. 75.

  35. UNO S. 24. 34.

  36. UNO S. 34.

  37. „Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 19. 11. 1956 (Kadar will die Streikenden aushungern).

  38. Uber die widerspruchsvolle Haltung Kadars In der Zeit seiner Zugehörigkeit zur Regierung Nagy, vgl. UNO S 82 ff.

  39. UNO S. 204.

  40. UNO S. 204 f.

  41. UNO S. 205.

  42. Vgl. auch UNO S. 207.

  43. Veröffentlicht in „Pravda" vom 2. 1. 1957 (Erklärung der Ungarischen Revolutionären Arbeiter-und Bauernregierung über die wichtigsten Aufgaben); deutsch in: „Aus der Presse der Sowjetunion", Beilage „Die Länder der Volksdemokratie", Jg. 1957, S. 153 ff.

  44. Für die entscheidende Rolle der Räte in der ungarischen und in der polnischen Revolution 1956; vgl. UNO S. 19, 147 ff,; Oskar Auweiler, Die Räte in der ungarischen Revolution 1956, in: „Osteuropa“, Jg. 1958, S. 393 f.; ders., Die Arbeiterselbstverwaltung in Polen, a. a. O. S. 224 ff.; W. Eggers, Das System der Arbeiterräte im kommunistischen Bereich, in: „Osteuropa-Wirtschaft", Jg. 1957, S. 81 ff.; K. Grzybowski, Worker's Councils in Po-land, in: „Problems of Communism", Jg. 1957, S. 16 ff.; G. Scheuer, Von Lenin bis . . ., Die Geschichte einer Konterrevolution, Berlin und Hannover o. J. (1958).

  45. Zitiert nach UNO S. 199 ff.

  46. Edda Werfel, Do towarzyszy z bratnich partii (An die Genossen der Bruderparteien), in: Przeglad kulturalny", Jg. 1956, Nr. 44; deutsch in: „OstProbleme", Jg. 1956, S. 1720 ff.

  47. Der Aufstand begann am Morgen des 28. Juni 1956 mit einer Demonstration der Arbeiter der Lokomotivfabrik Cegielski (heute Stalinwerke) gegen die herrschenden Arbeits-und Lebensbedingungen. Die-Bevölkerung schloß sich den demonstrierenden Arbeitern rasch an. Am frühen Nachmittag kam es zu Schießereien, die in den Abendstunden des gleichen Tages ihren Höhepunkt erreichten, und am Morgen des folgenden Tages teilweise wieder auflebten. Am Abend des 29. Juni war die Regierung soweit wieder Herr der Lage, als Ruhe in der Stadt herrschte. Armee und Polizei hatten sich bei der Verteidigung der von den Aufständischen aufgegriffenen Objekte als wenig zuverlässig erwiesen Lediglich die bewaffnete Geheimpolizei, von außen herbeigeholten Truppen der Armee und teilweise auch der Luftwaffe folgten dem Schießbefehl ohne Zögern. Die Anzahl der Toten betrug rund 50, die der Verwundeten über 300. Mehr als 1 000 Personen wurden verhaftet, die meisten jedoch bald wieder entlassen. Der Aufstand war für die oppositionellen Kräfte der Intelligenz inner-und außerhalb der Partei, die sich schon seit dem Tode Stalins zunehmend geregt hatten, das Signal zum „Polnischen Oktober". Unter diesem Namen versteht man in Polen heute die Oppositionsbewegung, die schließlich zu den War-schauer Unruhen vom Oktober 1956 und den anschließenden Umwälzungen führte. Die Regierung lenkte unter dem Druck der Opposition, die die öffentliche Meinung hinter sich hatte, bald ein. Die im Oktober ausgesprochenen Urteile gegen einzelne Aufständische von Posen ahndeten nur Gewalttaten. Der Prozeß wurde objektiv geführt und brachte deutlich zum Ausdruck, daß das Regime selbst die Schuld für den Ausbruch des Auf-standes traf.

  48. Krzysztof Wolicki, Kommunizm i raeja stanu (Kommunismus und Staatsraison), in: „Przeglad kulturalny“, Jg. 1956, Nr. 49, deutsch in: „Ost-Probleme“, Jg. 1957, S. 46 ff.

  49. Vgl. besonders oben S. 49 ff.

  50. J. Putrament, Sedno Sprawy, (Der Kern des Problems), in: „Zycie Warszawy“ vom 19. 10. 1956; deutsch in: „Ost-Probleme“, Jg. 1956, S. 1584 f.

  51. „Trybuna Ludu“ vom 21. Oktober 1956; deutsch in: „Ost-Probleme“, Jg. 1956, S. 1553 ff.

  52. „Trybuna Ludu“ vom 26. 10 1957; nach „Hinter dem Eisernen Vorhang“ (München), Jg. 1958, Heft 4, S. 31.

  53. „Pravda" vom 24. 12. 1956 (Narodno-demokraticeskidi stroj — velikoje zavoevanie trudjaichsja; Der volksdemokratische Aufbau — eine große Errungenschaft der Werktätigen); deutsch in: „Aus der Presse der Sowjetunion", Beilage „Die Länder der Volksdemokratie", Jg. 1957, S. 61 ff. — Gheorghiu-Dej zitiert in dieser Rede 13 mal die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus (im russischen Text stets mit „zavoevanie" wiedergegeben).

  54. So Hermann Axen in seiner Stellungnahme zu dem in Anm. 59 zitierten Artikel der polnischen Journalistin Edda Werfel; vgl. „Neues Deutschland" vom 27. 11. 1956 (Gegen die Verfälschung des Marxismus-Leninismus und Tendenzen der Spaltung der Arbeiterbewegung).

  55. „Neues Deutschland“ vom 6. 11. 1956 (Brüderlich verbunden auf Friedenswacht, Erklärung des Zentralkomitees der SED zum Sieg der ungarischen Werktätigen über die Konterrevolution). Entsprechend auch W. Pieck in einem Telegramm an Kadar vom 4. 11. 1956 (laut „Radio DDR", 4. 11. 1956, 22. 40 Uhr).

  56. Die Ironie des Schicksals ließ Schirdewan im Februar 1958 über die gleichen Vorwürfe stürzen, die er im November 1956 den Polen gemacht hatte. Er wurde aus seinen Partei-und Regierungsämtern verdrängt und ist heute in der Archivverwaltung tätig. Ulbricht sagte darüber auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958: „Die Gruppe Schirdewan wollte das Schiff der Partei auf einen falschen Kurs bringen. Dazu wandte sie fraktionelle Methoden an. Dank der marxistisch-leninistischen Einheit der Partei konnte eine ernste Gefahr abgewendet werden. Die Genossen Schirdewan, Wollweber, Ziller, Oelßner und Selbmann haben die opportunistischen Schwankungen widergespiegelt, die bei solchen Genossen auftraten, die nicht genügend mit der Arbeiterklasse verbunden waren, die glaubten, durch das Abbremsen des sozialistischen Aufbaus bestimmte Schwierigkeiten vermeiden zu können . . .". Vgl. „Neues Deutschland" vom 12. 7. 1958.

  57. »Neues Deutschland" vom 28. 11. 1956 (Auszüge aus dem Bericht des Politbüros auf der 29. Tagung des ZK der SED. Berichterstatter Genosse Karl Schirdewan, Mitglied des Politbüros).

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