1. Der in verschiedenen Varianten auftretende Begriff der demokratischen Errungenschaften des Zonenregimes ist zwar vereinzelt schon in der ersten Phase der Sowjetisierung Mitteldeutschlands nachzuweisen, gehört jedoch erst von der zweiten, 1948/49 einsetzenden Phase ab zum festen Vokabular der SED. 2. Er drückt nicht in erster Linie die Befriedigung der SED über den durch die strukturverändernden Maßnahmen der ersten Jahre der sowjetischen Besetzung erreichten Grad der „Demokratisierung“ in der Zone aus, sondern erhält seinen charakteristischen Akzent dadurch, daß mit den demokratischen Errungenschaften von heute bereits die künftige Entwicklung der Verhältnisse unter dem SED-Regime präjudiziert erscheint, wobei in der Sprache der SED „Demokratisierung“ gleichzusetzen ist mit fortschreitender Sowjetisierung. Denn im Geltungsbereich der Sowjetideologie kann es nur einen, durch das Beispiel der sowjetrussischen Entwicklung vorgezeichneten Weg des Fortschritts geben. So sind auch die Formeln, die in den Volksdemokratien dem sowjetzonalen Begriff der demokratischen Errungenschaften entsprechen, in gleicher Weise zu interpretieren. Dabei postulieren alle diese Formeln von vornherein eine Überlegenheit der Staats-, Gesellschafts-und Wirtschaftsformen des Ostblocks über die der westlichen Welt. 3. Dieser allgemeine Überlegenheitsanspruch, der von der übergeordneten sowjetischen Überlegenheitsthese abgeleitet ist, die seinerzeit mit dem revolutionär-bolschewistischen Begriff der „Errungenschaften der Sowjetmacht“
Im Dienst der Planerfüllung
Ein charakteristisches Beispiel für diese Tendenz bietet der Beschluß des III. Parteitages der SED vom 20. bis 24. Juli 1950 über den „Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik (1951 bis 195 5)“, in dem es heißt: „Um den technischen Fortschritt in allen Zweigen der Volkswirtschaft zu fördern, müssen die Errungenschaften der Wissenschaft und Technik in den Dienst der Entwicklung der Friedenswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik und der Hebung des Wohlstandes des
Noch in verhältnismäßig ruhiger Tonart erklärt die Entschließung des Parteivorstandes der SED vom 11. Januar 1950 „Zum Volkswirtschaftsplan 1950“: „Es kommt besonders darauf an, die fortschrittlichen Errungenschaften, die in der Sowjetunion in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht erzielt wurden, zu studieren und daraus zu lernen.“
Die Entschließung des Zentralkomitees vom 20. Oktober des folgenden Jahres stellt hingegen abrupt fest: „In entscheidendem Maße hängt die Verwirklichung aller Aufgaben des Fünfjahrplans davon ab, wie schnell unsere Aktivisten, Arbeiter und Angestellten, unsere technische Intelligenz und unsere Wissenschaftler sich die Errungenschaften aller Zweige der Sowjetwissenschaft zu eigen machen, die fortgeschrittensten Arbeitsmethoden studieren und anwenden, ihr fachliches Wissen erhöhen und sich vor allem durch das Studium der Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin die Kenntnisse von den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft erwerben ...
Auf Grund der Lehre Lenins und Stalins gilt es, den Massen klarzumachen, daß mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eine neue Epoche in der Menschheitsgeschichte begonnen hat, die frei ist von Unterdrückung und Ausbeutung, von Krisen und Kriegen. Insbesondere gilt es, den Massen die weltgeschichtliche Bedeutung des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft in der UdSSR zu erklären und ihnen eine Vorstellung von den Stalinschen Großbauten des Kommunismus und den anderen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Er-
Fortschrittliche Kultur
Wenn in diesem Zusammenhänge die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Errungenschaften der Sowjetunion als eine unzerreißbare Einheit behandelt werden und die Einsicht der bolschewistischen Führer in die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft als das Fundament dieser Errungenschaften erscheint, so fällt von hier aus ein grelles Licht auf den offiziellen sowjetzonalen Begriff der Kultur im allgemeinen und den der kulturellen Errungenschaften im besonderen. Wie für die sowjetischen Kommunisten gibt es auch für die SED in der Kultur mit all ihren Äußerungen keine neutralen Bereiche. Sie ist vielmehr etwas durch und durch Parteiisches; und für den Grad ihrer Fortschrittlichkeit gibt es keinen anderen gültigen Wertmaßstab als die Elle der ideologischen Generallinie. Dem entspricht es, daß die Partei auch die Kultur in ihre totale Planung einbezieht. „Der Zweijahrplan", betont Ulbricht auf der 1. Parteikonferenz im Januar 1949, „ist der Plan des kulturellen Fortschrittes", und knüpft daran die Forderung, daß „die Errungenschaften der fortschrittlichen Kultur ,..den Werktätigen in den Betrieben und im Dorf nähergebracht werden" müßten. Es geht ihm dabei, wie er selbst in der Begründung seiner Forderung ausführt, um zweierlei, nämlich um die Verbesserung der rungenschaften der Sowjetvölker zu vermitteln."
Die Erkenntnis der sowjetischen Wissenschaft und der sowjetischen Ingenieurkunst, die sowjetischen Arbeitsmethoden — die den ganzen ökonomischen Prozeß unter die Peitsche eines immerwährenden Wettbewerbs und eines allgegenwärtigen Kontrollsystems zu zwingen suchen — und nicht zuletzt die Impulse des sowjetisierten Marxismus als einer totalitäre! ’ Staats-und Industrialisierungsideologie soller. also der SED dazu verhelfen, die Sowjetzone nach dem Muster des stalinistischen Rußlana der Fünfjahrpläne und der zukunftweisenden Großbauten des Kommunismus zu rekonstruieren. Es ist die gerade Konsequenz der sich bereits 1945 ankündigenden Tendenzen; die zeitweise genährten Träume von einem eigenen deutschen Weg zum Sozialismus sind ausradiert; die sowjetischen Errungenschaften, die dem deutschen Volk zunächst sehr allgemein als Spiegel vorgehalten worden waren, erscheinen jetzt in den Verlautbarungen der SED in konkreterer und differenzierteret Form. Das Programm der Sowjetisierung enthüllt seine Einzelzüge; und was dabei hervortritt, ist die weitgehend mechanische Übertragung der auf sowjetische Verhältnisse zugeschnittenen bolschewistischen Aufbauideologie aus einem noch vor kurzem wirtschaftlich rückständigen und unterentwickelten, sich mitten im Prozeß der Industrialisierung befindlichen Agrarland auf die gänzlich andersgearteten Verhältnisse Mittel-deutschlands. fachlichen Qualifikation der Werktätigen im Interesse der Planerfüllung und um ihre Erziehung zu dem „richtigen“ gesellschaftlichen Bewußtsein, zu einem Bewußtsein, das sie dazu veranlaßt, sich freiwillig den Forderungen der Partei und damit dem Gesetz des Fortschritts zu unterwerfen: „Durchführung des Zweijahrplans, das heißt Erziehung der Menschen zu bewußten Erbauern einer friedlichen dokumentarischen Ordnung und Entwicklung einer neuen humanistischen Kultur. Die großen Aufgaben des Plans können nur erfüllt werden, wenn das allgemeine Kultur-niveau und das fachliche, berufliche und auch künstlerische Schaffen entwickelt wird. Die Werktätigen in den Betrieben, die gewaltige Produktionsleistungen vollbringen, die die Arbeitsproduktivität erhöhen und neue Erfindungen machen, fordern mit Recht, daß die Schriftsteller und Tonkünstler, die Maler und Bildhauer, die Filmregisseure und Schauspieler sich durch hohes künstlerisches Schaffen auszeichnen und mit ihren Leistungen dem Volke dienen. Der arbeitende Mensch muß im Mittelpunkt des ganzen künstlerischen Schaffens stehen.
Ist es nicht von großer kultureller Bedeutung, das schaffende Volk, vor allem die Jugend, im Goethe-Jahr durch künstlerische Veranstaltungen, Vorlesungen usw. mit den Werken des großen deutschen Humanisten und Weltbürgers vertraut zu machen?
Ich habe bereits dargelegt, wieviel tausende Werktätige eine höhere berufliche Qualifikation erhalten müssen.
Die Fragen des Zweijahrplans sollen im Mittelpunkt des Studiums und der Forschung an den Universitäten und Hochschulen, in der Akademie der Wissenschaften und in den Berufsschulen und Volksschulen stehen ...
Es darf Ende 1949 keinen volkseigenen oder SAG-Betrieb und kein volkseigenes Gut oder keine MAS geben, wo nicht zumindest ein Kulturraum oder eine Kulturecke besteht ... In den Vorschlägen über die kulturellen Aufgaben im Rahmen des Zweijahrplans . . . wird hervorgehoben, daß es das kulturelle Ziel dieses Plans ist, Menschen mit einer neuen gesellschaftlichen Erkenntnis zu erziehen, wozu notwendig ist, daß alle Schriftsteller und Künstler ihre ganze Kraft und Begeisterung diesem Werk widmen.“
Es erübrigt sich, dieses seltsame Konglomerat von Forderungen einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, so reizvoll es beispielsweise auch wäre, den „fortschrittlichen", ja parteiischen Goethe der SED etwas näher kennen zu lernen. Hier kam es nur darauf an, den roten Faden sichtbar werden zu lassen, der auch in den Entschließungen der Parteikonferenz nicht minder deutlich zum Vorschein kommt, in denen es heißt: „Durch die demokratischen Umwandlungen in der sowjetischen Besatzungszone wurden die Bedingungen für die Entfaltung einer fortschrittlichen Kultur geschaffen.
Es sind alle erforderlichen Maßnahmen zur Heranbildung qualifizierter Facharbeiter entsprechend den Erfordernissen des Zweijahrplans zu treffen. An den Stätten der Produktion, vor allem in den großen volkseigenen Betrieben, wie auch unter der werktätigen Landbevölkerung ist eine breite kulturelle Massenarbeit zu entwickeln, für die die Gesamtpartei die Verantwortung trägt. Wissenschaft und Kunst sind allseitig zu fördern. Ihre Errungenschaften sind dem ganzen Volk zugänglich zu machen."
Die Funktion der kulturellen Errungenschaften in der Planideologie hat sich seither nicht geändert. So bringen auch die einschlägigen Ausführungen Ulbrichts in seinem Referat über den Fünfjahrplan auf dem III. Parteitag der SED inhaltlich kaum Neues. Der Plan, so verheißt er großspurig, solle „der Entwicklung einer wahren Volkskultur dienen“, und: „Zum erstenmal in der deutschen Geschichte sollen die Errungenschaften der Kultur den Massen des Volkes vermittelt werden.“
Dabei versäumt er nicht, besonders darauf hinzuweisen, daß die Partei alles in ihren Kräften stehende tun werde, „um die früher von den Großgrundbesitzern und ihrer reaktionären Staatsmacht systematisch aufrechterhaltene Rückständigkeit im Dorfe zu überwinden und den werktätigen Bauern und allen Dorfbewohnern die Errungenschaften der Kultur zu vermitteln.“
Das alles erinnert penetrant an das Pathos der russischen Bolschewisten, die einst auszogen, um den Analphabetismus auszurotten, um dadurch die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Erschließung ihres Landes zu schaffen, nur daß der Kampf der SED dem weit schwerer zu überwindenden ideologischen Analphabetismus einer kulturell bereits hochentwickelten pluralistischen Gesellschaft gilt, die es trotz aller Anstrengungen der Partei bis heute nicht gelernt hat, den russischen Weg als den selbstverständlichen, einzig möglichen Weg des Fortschritts für ihr eigenes Land anzuerkennen.
Mit den vorstehend behandelten, ineinander-greifenden und sich überschneidenden Komplexen ist die Stellung des Errungenschaftsbegriffes in der Planideologie der SED, wie sie sich in der zweiten Phase der Sowjetisierung herauskristallisiert, im wesentlichen umrissen, wenn sich daneben der Begriff auch noch in zahlreichen anderen Kombinationen nachweisen ließe. So wird, wieder ganz nach sowjetischer Manier, die Versorgung mit Brot als Errungenschaft gepriesen
Im Zeichen des „Aufbaus des Sozialismus"
Die Tatsache, daß sich die Errungenschaften 1952 als geläufiger, ja bevorzugt gebrauchter terminus technicus der propagandistischen „Massenarbeit“ durchsetzen, ist wesentlich auf zwei Faktoren zurückzuführen. Einmal auf den Übergang zur dritten Phase der Sowjetisierung Mitteldeutschlands im Zeichen des „Aufbaus des Sozialismus"; zum anderen auf das Bedürfnis nach einer effektiven Wehr-und Verteidigungsideologie, das sich seit Mai 1952 bemerkbar macht. Noch vor der Unterzeichnung der Bonner und Pariser Verträge erklärt Ulbricht es für unbestreitbar, „daß der wiedererstehende Militarismus in Westdeutschland die Errungenschaften unseres friedlichen Aufbauwerks in der DDR bedroht", und er betont „die Verantwortung der Arbeiterklasse und der ganzen friedliebenden Bevölkerung, selber die Errungenschaften unserer jungen Republik zu sichern und zu schützen".
Die relative Zurückhaltung, von der sich die sowjetische Politik bisher im Hinblick auf die besondere Situation des gespaltenen Deutschland hatte leiten lassen, wird in dem neuen Stadium der sowjetischen Deutschlandpolitik als überflüssig erachtet. Sowohl die Sowjets selbst als auch die SED hatten bis in das Jahr 1952 hinein peinlich an der Sprachregelung festgehalten, daß die Sowjetzonenrepublik noch nicht die Entwicklungsstufe einer Volksdemokratie erreicht habe. Auf der II. Parteikonferenz deklariert Ulbricht nunmehr offiziell „die volksdemokratischen Grundlagen der Staatsmacht“ der Sowjetzonenrepublik
Wie planmäßig das Regime dazu übergeht, den Errungenschaften hinfort einen hervorragenden Platz in seiner Propaganda einzuräumen, geht aus der von Pieck gestellten Forderung hervor, es sei „eine umfassende Aufklärungsarbeit über unsere demokratischen Errungenschaften, über den sozialistischen Aufbau, die sozialen Rechte, die wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten aller Bürger unserer Republik zu entfalten und die Aktionseinheit der werktätigen Massen herzustellen. Dabei wird uns der neue Großsender eine wirksame Hilfe sein."
Das Schlagwort von der Aktionseinheit und der Hinweis auf den neuen Großsender zeigen, in welchem Grade die SED von vornherein beabsichtigt, die Errungenschaften in ihre nach Westdeutschland zielenden Propagandakampagnen einzubeziehen, während die weitere Forderung Piecks, „die Aufklärungsarbeit über die Notwendigkeit der bewaffneten Verteidigung der Errungenschaften unserer Republik in den breitesten Massen der Bevölkerung energisch zu verstärken"
Wie nicht anders zu erwarten, enthält auch der von der II. Parteikonferenz angenommene Beschluß „Zur gegenwärtigen Lage und zu den Aufgaben im Kampf für Frieden, Einheit, Demokratie und Sozialismus" als notwendiges Requisit die zur Generallinie erhobene Forderung nach bewaffneten Streitkräften, „die mit der neuesten Technik ausgerüstet und imstande sind, die Errungenschaften der Werktätigen vor einem imperialistischen Angriff zu schützen".
„Bei der Durchführung aller unserer wirtschaftlichen Aufgaben dürfen wir nicht übersehen, daß es in der Welt noch starke feindliche Kräfte gibt, die den Vormarsch des Sozialismus aufhalten und die bisherigen sozialistischen Errungenschaften rückgängig machen möchten."
Daran ist bemerkenswert, daß auch Rau — wie vor ihm schon Ulbricht auf der Parteikonferenz — jetzt von sozialistischen Errungenschaften spricht statt, wie es bis dahin üblich war, von demokratischen Errungenschaften. Beide Begriffe werden fortan auswechselbar gebraucht, als Synonyme für ein und dieselbe Sache. So erklärt Rau bei anderer Gelegenheit, der „Staat der Werktätigen" müsse „ein starker Staat sein, der willens und fähig ist, den sozialistischen Aufbau und unsere demokrati-sehen Errungenschaften zu schützen und zu sichern“.
Es wäre ermüdend, die endlose Liste der Beispiele noch weiter zu verlängern und im einzelnen zu zeigen, wie sich der ganze monopolisierte Propagandaapparat des Systems auf die von Pieck angekündigte Aufklärungskampagne einstellt, in der die totalitären Methoden der Bewußtseinsvergewaltigung unverkennbar hervortreten. Charakteristisch ist es, wenn das Politbüro in seinen Richtlinien für eine „fortschrittliche Filmkunst“ die DEFA rügt, daß in ihrer Produktion, besonders in den Spielfilmen, „unsere Errungenschaften ... nicht genügend zum Ausdruck“
„Unsere Errungenschaften wollen wir uns nicht durch Machenschaften kapitalistischer Aggressoren zerstören lassen. Darum wird Wachsamkeit auch in unserem Kindergarten immer wieder höchstes Gebot sein."
Systematische Erzeugung einer Massenpsychose
So absurd das klingt, der Wahnsinn hat Methode. Und zumindest eines wird klar: wie verfehlt es wäre, in dieser Errungenschaftskampagne zuvorderst die Reaktion auf eine reale Bedrohung von außen durch interventionsdurstige kapitalistische Imperialisten zu sehen. Genau so wenig handelt es sich primär um die ideologische Rechtfertigung und die massenpsychologische Zementierung der Remilitarisierung in der Zone, obwohl diesen Motiven ohne Zweifel entscheidende Bedeutung beizumessen ist. Es geht aber dem Regime um etwas viel Umfassenderes. Es geht um die künstliche Erzeugung einer überhitzten, alle Lebensbereiche durchdringenden militanten Atmosphäre, einer Massenpsychose des Kriegszustandes, in der es nur Freunde und Feinde geben kann und in der die durch das Gesetz der Geschichte zum Sieg prädestinierten Kräfte des Fortschritts — an welcher „Front“ auch immer sie kämpfen: an der Front der Industriepoduktion oder der Landwirtschaft, an der Front der Erziehung, der Wissenschaft oder der Kultur usw. — eine gigantische „Schlacht“ für den „Aufbau des Sozialismus" schlagen und die Feinde niederringen. Ein scheinbar abseitiges Beispiel mag diese Tendenz belegen. Am 20. Juli 1952 setzte sich in der „Jungen Welt"
„Seit Jahren schon“, so beginnt er, „finden wir unter den Traktoristen der Maschinen-Aus-leih-Stationen zahlreiche Frauen, die hier un-mittelbar am entscheidendsten Kettenglied der Vorwärtsentwicklung auf dem Lande ihre Maschinen von einer friedlichen Schlacht zur anderen, von Herbst-und Frühjahrsbestellung zur Ernte führen und damit einen großen Beitrag für die Festigung unserer jungen Republik leisten. Die Traktoristinnen der MTS in der Sowjetunion sind ihnen leuchtende Vorbilder bei ihrer Arbeit.
Was wundert es uns, wenn angesichts dieser Entwicklung die Feinde des Fortschritts sich erheben und einzudringen versuchen in die Reihen derjenigen, deren Elan dem Lande fortschrittliche Arbeitsmethoden bringt und damit Motor allen Werdens ist...
Ein neues, widerliches Mittel ist nun den Feinden des Fortschritts eingefallen, um zu versuchen, die geschlossene Front unserer Mädchen und Jungen auf den Traktoren ins Wanken zu bringen. Sie behaupten, Traktorfahren ist für Mädchen und Frauen gesundheitsschädigend. Ihr aber, Mädchen und Jungen, habt damit wieder ein Mittel, die Feinde des Fortschritts an diesem . Argument'zu entlarven.“
Nach dieser Einleitung entlarvt unser medizinischer Autor die gesundheitlichen Bedenken gegen die Betätigung von Frauen und Mädchen als Traktoristinnen als ein gegenstandsloses Gerücht, das wie „jede Form menschenfeindlicher Propaganda" auf die Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge spekuliere und sich auf der gleichen Höhe bewege wie die seinerzeit auch von „manch einem Medikus“ geteilten Bedenken derjenigen, die, als vor mehr als hundert Jahren die erste Eisenbahn ratternd und puffend ihre Strecke dahinschlich, bedenklich die Köpfe geschüttelt und den Eisenbahn-benutzern wegen der angeblich für den menschlichen Organismus unerträglich hohen Geschwindigkeiten Tod und Verderben prophezeit hätten. „Damals wie heute", schließt der Artikel, die eingangs bereits vorweggenommene Moral von der Geschicht’ nochmals bekräftigend, „werden die Wortführer solcher Gedanken bewußt oder unbewußt zu Werkzeugen im Interesse fortschrittsfeindlicher Menschengruppierungen. Sehen wir in unserem Kampf um die Verwirklichung der Losung . FDJlerinnen auf die Traktoren! 1 neben der notwendigen Erfüllung einer Tagesförderung ein Mittel zur Entlarvung und Bekämpfung fortschrittsfeindlicher Tenden-zen und zur Überwindung von Resten bürgerlicher Fäulnis, die unseren Mädchen das Recht einer freien Entwicklung ihrer Fähigkeiten im Interesse der Erhaltung sexual-patriarchalischer Privilegien absprechen möchten. Kämpfen wir gegen die Störversuche der Imperialisten durch Gerücht-und Meinungsmache, für die Entwicklung eines neuen Verhältnisses zwischen Mann und Frau. — Für die Steigerung der Hektarerträge im Interesse der Festigung unserer Deutschen Demokratischen Republik.“
Der kapitalistische Universalfeind
Es kommt in unserem Zusammenhang nicht darauf an, wie sich das Traktorfahren auf den weiblichen Organismus auswirkt; und es darf eingeräumt werden, daß die Mediziner bei der Beantwortung dieser Frage zu verschiedenen Resultaten gelangen können. Entscheidend ist, daß es im Bereich des totalitären Sowjetzonenregimes nur eine Antwort geben darf und daß jeder, der es sich erlaubt, eine andere Auffassung zu vertreten, gleichgültig, ob es sich dabei um das fachmännische Gutachten eines Arztes oder um das Urteil eines Laien handelt, Gefahr läuft, als Feind des Fortschritts und als Parteigänger oder Helfershelfer des imperialistischen Kapitalismus denunziert zu werden. Der vorliegende Artikel, der die von den Sowjets entlehnte vulgäre Fortschrittsideologie mit Virtuosität handhabt, zeigt mit besonderer Eindringlichkeit, wie die Propaganda den inneren und den äußeren Feind des Regimes miteinander identifiziert. Dieser allgegenwärtige kapitalistische Universalfeind ist für das kommunistische System in Sowjetrußland selbst und im gesamten Ostblock genau so unentbehrlich wie der jüdisch-bolschewistische es für die Hitler-diktatur war. Ein derartiger Universalfeind gehört zu den lebensnotwendigen Voraussetzungen totalitärer Propaganda und totalitären Gesinnungsterrors; auch in Staatswesen mit demokratischer Grundstruktur taucht er fast unweigerlich dann auf, wenn mehr oder minder ausgeprägte totalitäre Tendenzen sich anschicken, die Demokratie von innen heraus in ihrer Funktionsfähigkeit zu bedrohen. Gibt es ihn nicht oder erscheint seine Existenz nicht von vornherein einleuchtend, so ist es die Aufgabe der Propaganda, den Teufel so lange an die Wand zu malen, bis ihn alle leibhaftig vor sich sehen.
Diese Methode ist also nicht neuartig; und das SED-Regime hatte sich in ihrer Handhabung bis zum Sommer 1952 schon eine beträchtliche Erfahrung erworben; aber erst von diesem Zeitpunkt ab bedient es sich ihrer mit der gleichen Intensität und der gleichen Perfektion wie die Führung der Sowjetunion seit dem ersten Fünfjahrplan Stalins. Der Vergleich mit dem Ruß-land der Fünfjahrpläne drängt sich zwar bereits seit dem Übergang zur Totalplanung nach sowjetischem Muster in der zweiten Phase der Sowjetisierung Mitteldeutschlands auf Schritt und Tritt. auf; doch erst jetzt, nachdem die SED und ihre Moskauer Protektoren glauben, auch die letzten Rücksichten fallen lassen zu können, wird er vollends schlüssig. „Aufbau des Sozialismus“ — das bedeutet ein engmaschiges Geflecht ineinandergreifender Maßnahmen, um Mitteldeutschland nunmehr unwiderruflich in die Schablone der sowjetischen Staats-und Gesellschaftsordnung hineinzuzwingen. Es bedeutet den forcierten Ausbau der Schwerindustrie und den Generalangriff auf das Privateigentum der Bauern und der bisher von der Enteignung verschont gebliebenen Gewerbetreibenden; es bedeutet straffste Zentralisierung des gesamten Staatsapparates und neue Säuberungen innerhalb der Partei, es bedeutet Remilitarisierung und Verschärfung des Druckes auf alle Kreise der Bevölkerung, wobei nicht zuletzt der Versuch gemacht wird, auch die Kirche als die einzige große Institution, die sich der Gleichschaltung zu entziehen vermochte, unter die Botmäßigkeit des Staates zu zwingen
In dieser Situation des von oben dekretierten „verschärften Klassenkampfes" sind die Errungenschaften als hervorragender Bestandteil der sowjetischen Fortschrittsideologie und als Kernbegriff der Vulgärdialektik für die SED-Propaganda genau so unentbehrlich wie für die Sowjetpropaganda seit Ende der zwanziger Jahre; und wie damals in der Sowjetunion
Fortschrittsideologie Um der patriotisierten die nötige Überzeugungskraft zu verleihen, bedarf es der Behauptung, daß die Errungenschaften der Sowjetzonenrepublik und der Werktätigen bedroht seien; es bedarf ihrer ebenso sehr wie die Sowjetunion der „kapitalistischen Einkreisung“ bedurfte, und zwar als eines Mittels der innersowjetischen Propaganda, um den patriotischen Eifer der Sowjetbürger so anzustacheln, daß sie, ohne offen zu rebellieren, alle Entbehrungen und Anstrengungen, die das Stalinsche Programm der Industrialisierung und Kollektivierung ihnen abforderte, auf sich nehmen sollten, um mit dem „Fortschritt“ auch zugleich dem „sozialistischen Vaterland" Rußland zu dienen. Der äußere kapitalistische Feind hat den Beweis dafür zu liefern, wie gefährlich der Feind im Innern, der „Klassenfeind" ist, mit dem ihn die totalitäre Propaganda identifiziert.
Synthese von Terror und Propaganda
Im gleichen Sinne sieht auch die SED-Führung die in der Sowjetunion erprobte und bewährte Synthese von Terror und Propaganda als das geeignete Mittel an, um den „Aufbau des Sozialismus" mit größtmöglicher Beschleunigung voranzupeitschen. Die Propaganda rechtfertigt den Terror und gibt zugleich den Rhythmus des geplanten Fortschritts an. Sie bietet nicht nur die Möglichkeit, denjenigen, der sich dem Regime nicht gutwillig fügt, als Feind des Fortschritts und damit auch als Landesverräter zu brandmarken, sondern sie erlaubt es auch, ganze soziale Gruppen, die dank ihrer „objektiven“ Klassenlage den Feinden zugerechnet werden, zu diskriminieren. Selbst die linientreuesten Funktionäre sind nie sicher davor, eines guten Tages nicht als angebliche Saboteure, Diversanten, Spione oder Agenten des Kapitalismus zu erwachen, wenn das Regime einen Sündenbock für seine Mißerfolge benötigt. So gehört es einerseits zu der bereits geschilderten Atmosphäre des permanenten Kriegszustandes, daß die Errungenschaften des Regimes ständig auch von innen her bedroht sind. Auf der anderen Seite suggeriert die Errungenschaftspropaganda die Illusion, daß die große Schlacht von Sieg zu Sieg voranschreitet und daß in den Errungenschaften die paradiesische Zukunft schon Gestalt angenommen hat. Diese scheinbar greifbar nahe Zukunft, die Zukunft, die schon begonnen hat, rechtfertigt nach russisch-bolschewistischer Manier das Elend der Gegenwart. Hier wie dort sind die Errungenschaften in erster Linie die uneingelösten Wechsel auf die Zukunft; und es erscheint charakteristisch, daß in der SED-Propaganda zumeist sehr allgemein von ihnen die Rede ist. Die „demokratischen Errungenschaften", die „sozialistischen Errungenschaften", die „Errungenschaften der Werktätigen" oder einfach „die Errungenschaften“
schlechthin sind es, die die werktätige Bevölkerung der Sowjetzone dazu animieren sollen, ihre Arbeitsproduktivität zu steigern oder sonst zu tun, was das Regime immer von ihnen verlangt. Will man sich darunter konkret etwas vorstellen, so bleiben im wesentlichen nur die grundlegenden Elemente des sowjetzonalen Staatsaufbaus — also die angebliche Herrschaft der Arbeiterklasse in Gestalt der Parteidiktatur der SED und die Eingriffe in die wirtschaftliche, soziale und politische Struktur, auf die sie sich gründet.
Die SED versucht jedoch schon in dieser Phase, zu psychologisch größeren Erfolg versprechenden Mitteln zu greifen, um bei den „Werktätigen" die Vorstellung zu erwecken, daß die „Deutsche Demokratische Republik" ihr Staat sei und daß diesem Staat nichts mehr am Herzen läge als ihre sozialen Errungenschaften, die von der parteioffiziellen Propaganda jetzt mehr und mehr herausgestellt werden.
So bezeichnet das „Neue Deutschland“ vom 6. Mai 1953 den „Feriendienst der Gewerkschaften" als „eine der sozialen und kulturellen Errungenschaften unserer Republik, die immer wieder die Bewunderung der westdeutschen Arbeiter und Angestellten erregen, die als Gäste in einem der FDGB-Heime weilen. Sie können es kaum fassen, daß in den schönen und prächtigen Häusern in Kühlungsborn oder Ahlbeck an der Ostsee, in Oberhof im Thüringer Wald oder in Bad Schandau in der Sächsischen Schweiz Menschen wie sie, Arbeiter und Angestellte, ihren Urlaub verbringen. Kein westdeutscher Berg-oder Metallarbeiter verdient genug, um sich einen Urlaub an der Nord-Trotz der Selbstkritik, die das Sowjetzonenregime beim Übergang zum „Neuen Kurs" geleistet hatte, war es weit davon entfernt, seine eigenen Fehler als Ursache der Empörung anzuerkennen. Zwar wurden die selbstkritischen Eingeständnisse nach der Niederschlagung des Auf-standes durch die sowjetischen Besatzungstruppen fortgesetzt, und die SED scheute selbst vor der Feststellung nicht zurück, wenn „Massen von Arbeitern" die Partei nicht verstünden, sei die Partei schuld und nicht die Arbeiter
Der Masse der westdeutschen Werktätigen ist ein Urlaubsaufenthalt, wie ihn die Arbeiter und Angestellten in der Deutschen Demokratischen Republik schon für selbstverständlich halten, ein unerfüllbarer Wunsch, weil sie kein Geld dafür haben. Sehr rasch begreifen sie, daß das Bestehen eines billigen, organisierten Feriendienstes in der Deutschen Demokratischen Republik in engem Zusammenhang damit steht, daß hier die Werktätigen die Herren der sozialistischen Betriebe sind und das entscheidende Wort in Staat und Wirtschaft sprechen. In Westdeutschland aber sind die Imperialisten wieder obenauf. Sie haben auch die Kur-und Badeorte für ihre Vergnügungszwecke mit Beschlag belegt." Es gehört wenig Phantasie dazu, um sich auszumalen, mit welchen Gefühlen mitteldeutsche Arbeiter im Mai 1953 derartige verzerrte und verlogene Vergleiche ihrer Lebensbedingungen mit denen ihrer westdeutschen Kollegen ausgenommen haben. Zu dieser Zeit konnte selbst die Staatspartei kaum noch die Augen davor verschließen, in was für ein Chaos der mit großartigen Versprechungen begonnene „Aufbau des Sozialismus" eingemündet war. Die Lebensmittelversorgung hatte einen Tiefstand erreicht, während die Zahl der Republikflüchtigen unaufhaltsam anwuchs. Wenige Wochen später sah sich die SED gezwungen, ihre Fehler einzugestehen und den „Neuen Kurs“ einzuleiten, nachdem sie noch kurz zuvor, am 28. Mai, eine Anordnung der Regierung veranlaßt hatte, die Arbeitsnormen in den volkseigenen Betrieben um mindestens 10 Prozent zu erhöhen. Diese Anordnung, die die ausgebeuteten Arbeiter bis
Vom 17. Juni 1953 zur Ungarischen Oktoberrevolution 1956
ste des amerikanischen und westdeutschen Groß-kapitalismus angezettelt worden sei, die sich die in der Bevölkerung herrschende Mißstimmung zunutze gemacht hätten
In diesem Sinne erklärte das Zentralkomitee der SED am 21. Juni 1953
Die SED hatte geglaubt, sich dieses Begriffes im russischen Sinne bedienen zu dürfen. Aber die Sowjetzonenbevölkerung war nicht bereit, den Wechsel auf die Zukunft zu kreditieren. Die vielgepriesenen Errungenschaften erinnerten sie nur an die unerträgliche Diskrepanz zwischen Propaganda und Wirklichkeit. Bereits im Mai hatte ein Arbeiter in einer Betriebsversammlung, über die das hallensische Parteiorgan mit dem Namen „Freiheit"
„Kollegen, was sich jetzt bei uns tut, ist für uns als Arbeiter beschämend. 70 Jahre nach dem Tode von Karl Marx müssen wir noch über die elementarsten Lebensbedürfnisse debattieren. Wenn Karl Marx dieses ahnte, würde er sich im Grabe umdrehen. Es gibt nur einen Verbesserungsvorschlag, und der heißt: Zurück zur Vernunft!“
Und ein anderer Arbeiter fügte hinzu: „Wir wollen leben wie die Menschen, weiter wollen wir nichts!" Besser und eindringlicher lassen sich die Motive, die zum Juni-Aufstand führten, nicht darlegen. Er wurde aus sozialer Empörung geboren und hinter dieser Empörung stand von Anfang an der elementare Wille zur Freiheit
„Ihnen sind die Zusammenhänge noch nicht klar, daher haben sie nur ihre örtlichen und betrieblichen Forderungen im Auge. Und daher verlieren sie die entscheidende Tatsache aus dem Auge, daß die faschistische Provokation einsetzte, weil und nachdem die Regierung eine Kette von Maßnahmen beschlossen hatte — nicht nur, um berechtigte Forderungen der Werktätigen zu befriedigen, sondern um — das ist der neue Kurs! — ein solches Wirtschaftsleben und solche Verhältnisse in den Betrieben und in der ganzen Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen, die verhindern, daß berechtigte Forderungen ein zweites Mal übersehen werden. Diese Arbeiter erkennen vor allem nicht, daß ihr schlimmster Feind, der amerikanische und deutsche Großkapitalist, der bei sich die Arbeiter tritt, Millionen auf die Straße setzt, verhungern läßt und demoralisiert, ihre Forderungen ausnutzt, um seine Ziele zu verwirklichen und zwar Ziele, die unweigerlich dazu führen müßten, daß die Sicherheit, das Leben der Arbeiter in der Deutschen Demokratischen Republik bedroht ist. Der großen Mehrheit der Arbeiter, die sich von den Provokateuren täuschen ließen, ist das blitzartig klar geworden, als sie einsahen, wie unter den Händen der Provokateure ihre mit Schweiß erarbeiteten Errungenschaften, Klubhäuser, Lehrlings-heime, Betriebskantinen durch Benzin und Phosphor in Flammen aufgingen. , Das ist nicht unser Wille', sagten sie. , Hier sind wir auf dem falschen Wege.'Die Partei wird in diesem Augenblick, der Taten fordert, dem Gegner nicht dadurch in die Hände spielen, daß sie ihre Kräfte in Erörterungen darüber erschöpft, wie es zu solchen Mißverständnissen bei einem Teil der Werktätigen kommen konnte.“ Bereits diese erste offizielle Stellungnahme des Zentralkomitees nach dem 17. Juni zeigt deutlich, daß die von der SED notgedrungen geübte Selbstkritik keinen grundsätzlichen Charakter hat und sich im wesentlichen auf das Eingeständnis eines psychologischen Versagens reduziert, während die Richtung der Gesamt-politik der Partei nicht in Frage gestellt wird. Die SED bedauert im Grunde lediglich, daß sie ihre politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zu unvorsichtig dosiert hat, daß sie, wie Otto Grotewohl zugab, „zu einem Teil zu hastig, zu sprunghaft nach vorn gelaufen" sei und so die Verbindung zu den Massen verloren habe
Konzessionen im Rahmen des „Neuen Kurses"
So sollen die Konzessionen, die im Rahmen des sich schon hier als eine rein taktische Schwenkung entpuppenden „Neuen Kurses“ gemacht werden, einem doppelten Zweck dienen, nämlich einerseits die aufgeregte und aufsässige Bevölkerung möglichst schnell beschwichtigen und andererseits durch materielle Anreize ein besseres psychologisches Klima für die Erfüllung der Forderungen des Regimes an die „Werktätigen" schaffen. Die materiellen Erleichterungen und Versprechungen werden ergänzt durch den propagandistischen Versuch, die Bevölkerung und vor allem die Arbeiter davon zu überzeugen, daß sich der Aufstand gegen ihr ureigenstes Interesse gerichtet habe, wobei den Errungenschaften die Funktion zufällt, die sichtbar gewordene Diskrepanz zwischen den subjektiven Interessen der Arbeiter und ihrem angeblichen objektiven Klasseninteresse, das von der SED mit dem Staatsinteresse und der Staatsraison gleichgesetzt wird, zu überbrücken. Es darf allerdings füglich bezweifelt werden, ob der Hinweis auf solche, auch unter kapitalistischen keineswegs ungewöhnlichen Verhältnissen Errungenschaften wie Betriebskantinen und Lehrlingsheime, auf die es die Provokateure, wie das Zentralkomitee sich nicht entblödete zu behaupten, besonders abgesehen hatten, dazu angetan war, die durch die sowjetischen Bajonette in Schach gehaltenen Arbeiter mit dem SED-Regime auszusöhnen und ihren Zorn von ihren leibhaftigen Unterdrückern auf den imaginären „Klassenfeind“ abzulenken. Dieser Zweifel erscheint um so berechtigter, als das Bild, das die gleichzeitigen selbstkritischen Auslassungen von dem Zustand der sozialen Einrichtungen in den sowjetzonalen Betrieben zeichnen, alles andere als rosig ist: „Ob es sich um unzureichende Umkleideräume, falsche Regelung der Pausen, um fehlendes warmes Wasser zum Waschen, um schlechte Entlüftung, um die unzureichende und meist minderwertige Arbeitskleidung handelt, oder ob die Arbeiter vorschlugen, ihre An-und Abfahrt zum Betrieb besser zu regeln, so daß sie nicht vor und nach Schichtschluß mehrere Stunden auf der Bahn verbringen müssen — diese und viele andere Fragen des täglichen Lebens, der Versorgung, der Wohnung usw. bedrückten sie seit langem und wirkten sich auf ihre Arbeitsfreude lähmend aus.“ So heißt es jedenfalls in einem Artikel des „Neuen Deutschland“ vom 3. Juli 1953
Generallinie war und bleibt richtig
Die „Generallinie war und bleibt richtig“, betonte die Entschließung und berief sich dabei auf die „großen historischen Erfolge“, die von der SED in ihrer kurzen Geschichte errungen worden seien: „Das Verdienst um diese wahrhaft großen Errungenschaften, die für immer in die Geschichte des deutschen Volkes eingezeichnet sind, kann niemand und nichts der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nehmen.“ Es sei richtig gewesen, „daß unsere Partei sich auf die Arbeiterklasse und die werktätigen Bauern orientierte, daß sie kein Monopolkapital, keine Junker, keine faschistischen Organisationen und keine Kriegshetze zugelassen“ habe, daß sie „Deutschland auf den Weg des Sozialismus führte und in der Deutschen Demokratischen Republik mit der Errichtung des Sozialismus begann". Derartige Ruhmreden auf die eigenen Verdienste der diskreditierten Machthaber, die nur durch das Eingreifen der Besatzungsmacht ihrem Schicksal entgangen waren, konnten von der Bevölkerung nicht anders denn als Zeugnisse für einen beispiellosen Zynismus empfunden werden. Besonders aber die Arbeiter, von denen die offene Empörung ausgegangen war, weil sich das Regime über ihre „elementarsten Lebensbedürfnisse“
Aber die Unverfrorenheit der Juli-Entschließung wird noch weit übertroffen von den Ausführungen, mit denen Walter Ulbricht am 17. September 1953 auf der 16. Plenartagung des Zentralkomitees der SED die politischen und ökonomischen Aufgaben des Staates und der Partei im „neuen Kurs" erläuterte. In dieser aggressiven Rede
Die wichtigste Aufgabe nach den Wahlen (in der Bundesrepublik) ist die Gewinnung der Arbeiterklasse für das Programm der Nationalen Front ... Es wird um so eher gelingen, die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und die Zusammenarbeit der Arbeiterschaft Westdeutschlands und der DDR zu erreichen, je mehr das Beispiel der Arbeiter-un
Die wichtigste Aufgabe nach den Wahlen (in der Bundesrepublik) ist die Gewinnung der Arbeiterklasse für das Programm der Nationalen Front ... Es wird um so eher gelingen, die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und die Zusammenarbeit der Arbeiterschaft Westdeutschlands und der DDR zu erreichen, je mehr das Beispiel der Arbeiter-und Bauernmacht in der DDR, die Überlegenheit der Planwirtschaft und die Errungenschaften unserer Werktätigen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bevölkerung Westdeutschlands bewußt werden. Deshalb ist die konsequente Durchführung des neuen Kurses ... von so großer Bedeutung für die Gewinnung der werktätigen Bevölkerung in Westdeutschland. . . “
Versucht man die zitierten Kundgebungen der SED seit dem 17. Juni im Zusammenhang zu beurteilen, so schält sich die Tendenz heraus, den immer sichtbarer in die alten Bahnen zurücklenkenden „Neuen Kurs" als das folgerichtige, von bürokratischen Verzerrungen befreite Ergebnis der grundlegenden Errungenschaften des Regimes hinzustellen, wobei jede direkte Beziehung zwischen dem Fiasko der SED-Politik, das die Empörung auslöste, und dem Einschwenken auf die scheinbar neue Linie schließlich geleugnet wird. Doch so klar die Absicht hervortritt, mit Hilfe der Errungenschaften die Kontinuität der SED-Politik ideologisch zu untermauern und die Generallinie wieder in ihr altes Recht einzusetzen — als ob es niemals einen Bruch und niemals einen spontanen Aufstand der Bevölkerung gegen den verhaßten Unterdrückungsapparat gegeben hätte, so berechtigt sind die Zweifel an der propagandistischen Wirksamkeit des Verfahrens. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß in einem totalitären Staatswesen wie der Sowjetzonenrepu-blik Propaganda und Terror eine untrennbare Einheit bilden und daß die Propaganda, weit davon entfernt, sich auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente zu verlassen, selbst als ein Teil des Terrorsystems verstanden werden muß, in dem physischer Zwang und psychischer Druck ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen.
Harich erregt Anstoß
Die Bedeutung aber, die den Errungenschaften in diesem an anderer Stelle bereits geschilderten Zusammenhang zukommt, zeigt sich nach dem 17. Juni noch eindringlicher als vorher. Die bedrohten Errungenschaften sind das Standard-argument, mit dem die Unterdrückung aller selbständigen und selbstverantwortlichen Bestrebungen gerechtfertigt wird, die, ermutigt durch die Unsicherheit und das zeitweilige Zurückweichen der Machthaber, auf den verschiedensten Lebensgebieten auftraten, So hatten sich beispielsweise der Kulturbund und die Deutsche Akademie der Künste unterstanden, ein Mindestmaß schöpferischer Bewegungsfreiheit für die Künstler in der Zone zu fordern. Dabei ist es interessant, daß sich die vorsichtige Kritik an der Parteilinie ebenfalls, wenn auch in einem anderen Sinne, des Schlagwortes von den Errungenschaften bediente: Durch die staatliche Reglementierung der Kunst, erklärte der kommunistische Schöngeist Wolfgang Harich — der inzwischen trotz seiner loyalen Absichten zum Partei-und Staatsfeind gestempelt worden ist 14) und es schon damals wagte, sich selbständiger Gedanken verdächtig zu machen —, sei „das Ansehen der kulturellen Errungenschaften unserer Republik in ganz Deutschland geschädigt“ worden 15).
Trotz der Harmlosigkeit der hier gestellten Forderungen und der dazu noch mit Verbeugungen vor der Partei verbrämten Kritik fühlte sich die SED bemüßigt, mit Kanonen auf Spat-zen zu schießen. Was gefordert worden sei, betonte ein von Walter Besenbruch verfaßter und offensichtlich parteiamtlich inspirierter Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 19. Juli 1953 16), sei die „Liquidierung der kulturell-erzieherischen Funktion des Staates". Die Folge sei, „daß opportunistische Tendenzen an die Oberfläche kommen und alle diejenigen Bestrebungen ermutigt werden, die darauf gerichtet sind, alle unsere bisherigen Errungenschaften im Kampf für eine nationale realistische Kunst zu beseitigen“. Der — oben zitierte — Artikel Harichs gebe dafür ein Beispiel: „Harichs Kritik ist eine Kritik, die alle errungenen Erfolge liquidieren würde, die die Schwierigkeiten unseres Kampfes mit den feindlichen Strömungen (Formalismus, Konstruktivismus usw.) sozusagen mit der linken Hand abtut, die die Schwierigkeiten unserer Lage nicht in erster Linie aus dem Fortleben und Fortwirken des Rückschrittlichen und der feindlichen Tätigkeit der Propagandisten des amerikanischen Imperialismus erklärt. Dem Verfasser dieser Kritik erscheinen als der Hauptfeind die Funktionäre unserer Partei und ihre Fehler.“ Damit aber sei der „objektiv feindliche Charakter seiner Ausführungen“ als erwiesen anzusehen, denn die Kunstpolitik der SED sei „trotz aller mit Recht zu kritisierenden Mißstände und Verzerrungen im Prinzip richtig" gewesen.
Ablehnung der Arbeiterforderungen
Peinlicher noch als das Verlangen nach künstlerischer Freiheit war für das Regime, daß aus den Kreisen der Arbeiter heraus, die während der Tage des Aufstandes ihre solidarische Kraft erprobt hatten, immer wieder unüberhörbar die Neutralität der Gewerkschaften gefordert wurde. Dieser Forderung trat Ulbricht selbst einen Monat nach dem 17. Juni entgegen, indem er behauptete, Neutralität heiße nichts anderes, „als daß die Arbeiterklasse auf die führende Rolle in der Deutschen Demokratischen Republik verzichten solle", Neutralität sei gleichbedeutend mit „sich passiv verhalten gegenüber den Agenten der Konzernherren, Bank-herren und der westlichen Kriegstreiber". Zwar könnten die Gewerkschaften „stolz auf ihre großen Errungenschaften hinweisen. Die Gewerkschaften waren es, die mitgeholfen haben, daß die Macht der Konzernherren, Bank-herren und Großagrarier beseitigt wurde, daß eine krisenlose Wirtschaft geschaffen werden konnte, daß heute die Arbeiterklasse die führende Kraft im Staate ist. Wenn jetzt die faschistischen Untergrundorganisationen im Auftrage amerikanischer und westdeutscher Konzern-und Bankherren die Gewerkschaften zersetzen wollen, und wenn diese Feinde sich durch vorbereitete Neuwahlen in die Betriebsgewerkschaftsleitungen einzuschleichen gedenken, so wird es höchste Zeit, daß die Gewerkschaftsmitglieder ihre Gewerkschaften schützen." Aus den Ereignissen der Junitage hätten die „Werktätigen" vor allem eines zu lernen, nämlich in welch hohem Maße sie selbst verantwortlieh seien „für die Sicherung ihrer demokratischen Errungenschaften“
Mit der gleichen Begründung verweigerte die SED auch den Arbeitern das Streikrecht, das ihnen die Verfassung formal garantierte und das sie im Juni für sich in Anspruch genommen hatten. So versuchte eine Funktionärin der SED-Bezirksleitung in Halle Anfang September 1953 im schönsten Stile kommunistischer Vulgärdialektik zu beweisen, daß die Arbeiter „ihr wichtigstes Kampfmittel gegen den Kapitalismus“ nicht gegen eine „Arbeiter-und Bauern-regierung", wie sie in der Sowjetzone bestehe, anwenden dürften: „Wenn ein Arbeiter gegen eine solche Regierung streikt, dann streikt er im Grunde gegen sich selbst, gegen seine eigene Klasse. Alle Er-rungenschaften unserer Arbeiterklasse werden durch einen solchen Streik gefährdet. Ein Streik in unserer Republik gefährdet nicht nur die Errungenschaften unserer Arbeiter-und Bauernmacht, sondern er gefährdet auch den Frieden unseres Landes und den Frieden in ganz Europa. Der 17. Juni war der sichtbarste Beweis dafür. .. Einen Streik in der Deutschen Demokratischen Republik zu proklamieren, ist eine Losung der Feinde, eine Losung der Kriegstreiber, ist ein Verbrechen an der Arbeiterklasse. Das muß von jedem Streik in der DDR gesagt werden. Auch wenn die Arbeiter meinen, damit nur wirtschaftliche Forderungen durchsetzen zu wollen. Die Errungenschaften in unserer Republik, für die die Arbeiter in den kapitalistischen Ländern heute noch einen erbitterten Kampf führen, sind das Ergebnis des Kampfes und der Arbeit unserer Werktätigen unter der Führung von Partei und Regierung. Der neue Kurs, der diese Errungenschaften festigt und weiter ausbaut, kann nur mit der Unterstützung aller Werktätigen verwirklicht werden ... Unsere Werktätigen müssen deshalb im festen Vertrauen zu unserer Partei und Regierung jeden Angriff auf die Macht der Arbeiter und Bauern entschlossen abwehren.“
Atmosphäre der Rechtsunsicherheit
Die SED konnte kaum erwarten, daß durch derartige Argumente die Einsicht in „die absolute und letztliche Einheit von Tagesinteressen der Arbeiter und Staatsinteressen“
Weil der „Arbeiter-und Bauernstaat" sich durch nichts so sehr bedroht fühlte wie durch die Solidarität der Arbeiter, die sich am 17. Juni gezeigt hatte, lieferte er Arbeiter der Terrorjustiz aus und forderte von den „Richtern aus dem Volke“, wie er seine abhängigen Schergen betitelte, sie müßten „auf der Wacht stehen wie Soldaten, die die Errungenschaften der Arbeiterklasse schützen"
Kampf gegen die „Konterrevolution 7 in Ungarn
Vom 17. Juni 1953, der die im ganzen sowjetischen Satellitenbereich schwelende Glut zum erstenmal mächtig zum Aufflammen brachte, bis zu den Ereignissen des Jahres 1956 in Polen und Ungarn führt ein gerader Weg. Während es jedoch in Polen gelang, einerseits durch das Einschwenken auf einen reformistischen Kurs die Empörung abzufangen, andererseits durch vorbildliche nationale Selbstdisziplin und geschicktes Taktieren gegenüber den Moskauer Machthabern einer sowjetischen Intervention zu entgehen, wurde die von einem ungeheuren Elan beflügelte ungarische Revolution durch die eingreifenden Sowjettruppen in einem Blutbad erstickt.
Es unterstreicht die paradigmatische Bedeutung der ideologischen und propagandistischen Reaktion des mitteldeutschen SED-Regimes auf den Juniaufstand, daß sowohl von sowjetischer Seite als auch von den ungarischen Statthaltern der Sowjetunion, deren vornehmste Aufgabe darin bestand, den von den Revolutionären zerschlagenen Terrorapparat zu rekonstruieren, die brutale Vergewaltigung des ungarischen Volkes mit der Begründung gerechtfertigt wurde: es gehe um nichts anderes als um die Verteidigung der Errungenschaften eben dieses Volkes. In diesem Sinne erklärte Suslow auf der Festsitzung des Moskauer Sowjet am 6. November 1956, durch einen Sieg der Aufständischen hätten „die ungarischen Werktätigen alle von ihnen im Kampfe gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten erzielten Errungenschaften" verloren; die sowjetischen Truppen seien eingeschritten, um „dem ungarischen Volk zu helfen, die finsteren Kräfte der Reaktion und der Konterrevolution zu zerschlagen" und „die sozialistische Volksordnung wiederzuerrichten". Sie hätten, gemeinsam mit den „sozialistischen Kräften Volksungarns“, nicht zugelassen, „daß die Kon-terrevolution die Errungenschaften des Sozialismus mit Füßen tritt".
So klingen die sowjetischen Stimmen wie ein Echo auf die ersten Verlautbarungen der Marionettenregierung Kadar, die am 4. November mit zwei durch den Rundfunk ausgestrahlten, aber nicht von ungarischem Boden ausgesendeten Aufrufen
Die These von dem gegenrevolutionären Charakter der ungarischen Erhebung wird von dem Bericht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen schlagend widerlegt, der auf Grund einer gewissenhaften, unparteiischen Untersuchung zu dem Schluß kommt, daß weder die Regierung der UdSSR noch die Regierung Kadar irgendetwas vorzubringen wußten, was „als objektive Darstellung der Tatsachen, die hinter dem ungarischen Aufstand standen, hätte angesehen werden können"; ihre Beweisführung habe sich vielmehr darin erschöpft, „die Ereignisse in ein vorgefaßtes Schema einzupassen.“
Der UNO-Bericht
Der Bericht stellt fest, daß die Regierung Imre Nagys vom Vertrauen aller Kreise des ungarischen Volkes getragen war und hauptsächlich das ausführte, was die Revolutionsund Arbeiterräte, in denen kommunistische Arbeiter und kommunistische Intellektuelle eine führende Rolle spielten, von Anbeginn des Auf-standes gewollt hatten
Kein Bürgerkriegscharakter der Kämpfe
Die überwältigende Kraft dieses Freiheitswillens geht schon daraus hervor, daß trotz der Aufforderung der Regierung Kadar an die ungarischen „Arbeiter, Bauern und Soldaten", den Kampf mit den „Mächten der Reaktion“ aufzunehmen, die Kämpfe in Ungarn vom 4. bis 11. November 1956 keinen Bürgerkriegscharakter hatten, sondern sich ausschließlich zwischen Ungarn einerseits und sowjetischen Streitkräften andererseits abspielten
Da die Kadar-Regierung, die ihre Existenz einzig und allein der zweiten sowjetischen Intervention verdankte, auf die einmütige Ablehnung des ungarischen Volkes stieß, sah sie sich zunächst veranlaßt, in ihren Erklärungen von den Praktiken der durch die Revolution gestürzten Machthaber abzurücken und weitgehende Reformen zu versprechen
Restauration des totalen Regimes
Unter dem Vorwand der Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften wurde das ungarische Volk der demokratischen Errungenschaften, für die es einen blutigen Verzweiflungskampf geführt hatte, beraubt, um die Aufrechterhaltung der sowjetischen Oberherrschaft über das nach Freiheit und Unabhängigkeit verlangende Land zu sichern. Eines der wesentlichsten Ergebnisse dieser Politik der Restaurierung des totalitären Regimes war die Entmachtung der Arbeiterräte
Die Feststellung der polnischen Publizistin Edda Werfel, daß die Absage an den Stalinismus „eine neue revolutionäre Errungenschaft unserer Partei in der Arbeiterbewegung“
Die Lage in Polen
Wenn Kadar — auf die gleiche Weise wie drei Jahre zuvor Ulbricht — die Empörung des Volkes und der Arbeiterschaft mit der Vergewal-tigung der Freiheit im Namen des „Fortschritts“ beantwortete, so zeigt sich vor diesem Hintergrund besonders eindringlich, was demgegenüber der Sieg der reformistischen Kräfte in Polen bedeutet. nahm nämlich nach und nach die Merkmale einer idealen Welt an, die unmittelbar zu verwirklichen war. Einerseits hieß es, daß es jetzt schon so sei, wie es sein soll. Dies blieb freilich ohne Wirkung, da die lebendige Praxis des Menschen trotz allem immer stärker als die Propaganda ist. Andererseits aber gebar jene Verwechselung des . Seins'mit dem , Seinsollenden'— eine Verwechslung, die es unmöglich machte, nach Wegen zu suchen, die zu dem Zustand, wie er faktisch .sein sollte', hinführen — ein reales sozialpsychologisches Phänomen: den Glauben an die Möglichkeit der sofortigen Verwirklichung jenes . Seinsollenden'auf gewaltsame Art und Weise durch irgendeinen, aber einmaligen Coup oder durch ein Wunder. Man kann den Menschen nicht dauernd ungestraft von Idealen predigen, die mit der Praxis in auffälliger Weise kollidieren. Die Illusionen, von denen hier die Rede ist, haben eine kollossale Reichweite. In der Ideologie drücken sie sich durch den Verlust des historischen Denkvermögens aus. Viele Jahre hindurch haben wir uns und anderen einzureden versucht, daß wir sehr bald, sofort nach diesem einen Fünfjahrplan, ein Land der ewigen Glückseligkeiten sein würden . .. Die Staatsräson unseres Landes, eines sozialistischen Landes, ist ein Werkzeug zur Realisierung einer besseren Welt. Das ist sehr viel. Das ist sogar etwas ganz Sauberes, obwohl sie zum Ausgangspunkt keine hochtrabenden Worte, sondern die manchmal nicht gerade saubersten Realia der Welt von Anno Domini 1956 nimmt."
Ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit
Das Bemerkenswerteste an diesem Artikel ist das ernsthafte Bemühen um ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, das zugleich als neues Verhältnis zum Menschen aufgefaßt sein will. Indem die Verwechslung des Seins mit dem Sein-sollenden und die Rechtfertigung der gegenwärtigen Verhältnisse durch die ideologisch in die Gegenwart hineinprojizierte Zukunft ausdrücklieh zurückgewiesen werden, erhält die Gegenwart ihr eigenes Recht zurück, und „die lebendige Praxis des Menschen" in dieser seiner Gegenwart wird zum entscheidenden Kriterium sozialistischen Handelns und sozialistischer Politik. In jener „verbrämten Wirklichkeit der Propaganda, Literatur und ideologischen Schulung" aber, die „die Merkmale einer idealen Welt“ angenommen habe, ist unschwer die verzerrte Wirklichkeit der sowjetkommunistischen Vulgärdialektik wiederzuerkennen, in der die Errungenschaften das noch nicht Erreichte vorweg-nehmen
Autofabrik, die „bei übermäßig hohen Produktionskosten eine verschwindend kleine Anzahl von Kraftwagen eines veralteten Typs herstellt, die viel Brennstoff fressen und die heute kein Mensch mehr produziert", „als Errungenschaft und als Erhöhung der Produktionskapazität unserer Industrie" bezeichnen könne. In beiden Fällen, bei Gomulka wie bei Putrament, hat der Begriff der Errungenschaften den zentralen Ort verloren, den er im Koordinatensystem der Sowjetideologie noch heute beansprucht. Er tritt uns vielmehr in einer entsowjetisierten und damit weitgehend entideologisierten Form entgegen. Daß auch Gomulka ihn keineswegs zufällig in dieser Weise verwendet, zeigt beispielsweise die Rede, die er ein Jahr später, Ende Oktober 1957, vor dem X. Plenum des Zentralkomitees hielt
Die Haltung der Satellitenparteien
Nachdem oben geschildert worden ist, daß sowohl von den Sowjets als auch von Kadar die Intervention und die Unterdrückung der revolutionären Kräfte in Ungarn mit dem immer wiederkehrenden Hinweis auf die bedrohten Errungenschaften gerechtfertigt wurden, verwundert es nicht, daß das gleiche Argument auch als Leitmotiv für die ideologische Begleitmusik zu dem umfassenderen Restaurationsprozeß im sowjetischen Machtbereich lieferte, in den sich die innerungarische Entwicklung unter dem Kadar-Regime einordnet. So steht der Begriff der Errungenschaften inmitten des Ringens zwischen den emanzipatorischen und den restaurativen Tendenzen im kommunistischen Lager. Vor allem von der ungarischen revolutionären Bewegung, die bewußt an die Traditionen der Freiheitskämpfe von 1848/49 anknüpfte und für die die sowjetische militärische Intervention des Jahres 1956 in einer Linie mit dem damaligen Eingreifen der Armee des Zaren stand, war der ursprüngliche freiheitliche Inhalt dieses Begriffes wieder belebt worden, während die polnische Entwicklung bemerkenswerte Ansätze dazu zeitigte, ihn in einer für den kommunistischen Sprachgebrauch ungewohnt sachlichen Weise zu verwenden und ihn dadurch aus seiner ideologischen Überhöhung und Erstarrung zu lösen. Als ideologische Waffe der Restauration hingegen erwuchs dem orthodoxen sowjetkommunistischen Errungenschaftsbegriff gerade die Aufgabe, von den tatsächlichen sachlichen Gegebenheiten abzulenken, sie zu verzerren und zu verschleiern, um um so besser die Begründung für die Diskriminierung und Verdammung aller freiheitlichen Bestrebungen liefern zu können. In dieser Funktion beherrschte er auch die Stellungnahmen der Satellitenparteien zu den ungarischen und polnischen Ereignissen; und er drängte sich bezeichnenderweise überall dort besonders stark in den Vordergrund der Agitation, wo die Ansteckungsgefahr am meisten zu fürchten war. Als Beispiel dafür sei hier eine Rede angeführt, die der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei, Gheorghe Gheorghiu-Dej, in Tirgu Mures, dem Zentrum des Ungarischen Autonomen Gebiets in der rumänischen Volksrepublik, vor einer Gebietsparteikonferenz hielt
Loblied auf die Diktatur
Wenn auch dieser Passus schon unmißverständlich genug zeigt, wo ihn selbst der Schuh drückte, so hielt er es doch für notwendig, noch deutlicher zu werden, als er auf die geplanten „Maßnahmen zur weiteren Demokratisierung unserer Staatsmacht" zu sprechen kam: „Doch wir können uns nie und nimmer mit einer solchen . Liberalisierung'einverstanden erklären, die den Feinden der Werktätigen die Freiheit läßt, Schläge gegen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes zu führen. Die Stärke und Festigkeit der volksdemokratischen Ordnung ergibt sich aus der Tatsache, daß diese Ordnung eine der Formen der Diktatur des Proletariats verkörpert ... Die Diktatur des Proletariats — das ist das Wichtigste im Leninismus, das ist die wichtigste Errungenschaft der Werktätigen in den sozialistischen Ländern, die Garantie für den Aufbau des Sozialismus.“
Wer würde Gheorghui-Dej nach diesen ermüdenden Deklamationen nicht Glauben schenken, wenn er mit Genugtuung feststellt, die rumänische Arbeiterklasse, „die führende Klasse in der volksdemokratischen Ordnung" (deren größte Errungenschaft also in der Unterordnung unter die in ihrem Namen ausgeübte Diktatur besteht), habe gleich zu Anfang begriffen, „daß in Ungarn die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen bedroht wurden", und bewiesen, daß sie „unerschütterlich und kämpferisch um die Partei zusammengeshlossen“ sei? Auf der gleichen Linie liegt auch die angebliche Sorge der SED um die „revolutionären sozialistischen Errungenschaften der polnischen Arbeiterklasse“
HERAUSGEBER: BUNDESZENTRALE FÜR HEIMATDIENST BONN/RHE 1N, KON 1GSTRASSE
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DERNÄCHSTEN BEILAGEN:
Oskar Anweiler:
Indira Gandhi:
Frederic Lilge:
Otto Schiller:
Karl Seidelmann:
Karl C. Thalheim:
Egmont Zechlin: „Gesellschaftliche Probleme der sowjetischen Erziehung" „Indien heute" „Makarenko " „Das Wesen der kommunistischen Gefahr"; „Die »Verbürgerlichung'in der Sowjetunion" „Der Generationsprotest derJugendbewegung in gegenwärtiger Betrachtung" „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft" „Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche" (IV. Teil)