Humboldts durch lebendige Besinnung und Rückkehr zu dem Geiste echter Mitverantwortung im perikleischen Staate auszulöschen. Unsere gebildeten Kreise sollten endlich zu der Einsicht kommen, daß persönliche Freiheit nur in einem freien Staate möglich ist und daß diese Freiheit nicht durch ein individualistisches A 0e ßtco oder überhebliches Abseitsstehen, sondern durch politische Mitarbeit und Verantwortungsbewußtsein verwirklicht werden kann.
Das Zweite, das wir heute aus der geistigen Begegnung mit der perikleischen Epoche lernen können, ist die Einsicht, daß die liberale Demokratie unter allen Staatsformen diejenige ist, die die größte Chance zur Verwirklidtung der persönlidien Freiheit bietet. Wir haben nach 1945 das Wagnis der politischen Freiheit wieder auf uns genommen und stehen erneut vor der Alternative: Demokratie und Freiheit oder Totalitarismus und Versklavung! Für unsere Bemühungen, ein neues Staatsleben in Freiheit aufzubauen, kann uns die perikleische Zeit ein geprägtes Wort mit auf den Weg geben, in dem sie das Wesen ihrer demokratischen Lebensform auf eine kurze Formel gebracht hat. Sie sieht die Freiheit der Polis und ihrer Bürger garantiert in der Bereitschaft eines jeden, abwechselnd zu befehlen und zu gehorchen. Diese Formulierung taucht zuerst in der Tragödie, in Sophokles’ Antigone (669), und in der staatstheoretischen Diskussion über die Verfassungsformen bei Herodot (III, 8?) auf. Sie hat sich dann in der Folgezeit zum Sprichwort entwickelt und ist sogar von Aristoteles in seine Staatslehre ausgenommen worden. In der Politik 1317 a 40 ff. heißt es: „Grundlage der deiuokratisdien Verfassung ist die Freiheit . . . Ein Merkmal der Freiheit aber ist es, abwechselnd sich beherrschen zu lassen und zu herrschen.“ * An Aristoteles hat die moderne Staats-theorie angeknüpft und seine Definition wieder aufgegriffen. Das Wesen der Demokratie besteht nach ihrer Meinung in dem Zustand, daß hier Herrscher und Beherrschte identisch sind 16).
Der perikleische Staat gibt uns auch Veranlassung über das Verhältnis von Freiheit und Kultur nachzudenken. Wir wissen, daß gerade Perikies’ liberale Demokratie der rechte Boden war, aus dem große Geister und Künstler hervorgegangen sind, die wir heute als Lehrmeister unserer abendländischen Kultur verehren. Die großartigen Bauten der Akropolis und die Tragödien eines Sophokles bekunden indes nicht den Geist des Liberalismus, sondern den freier Geistesentfaltung bei politischer und religiöser Bindung. Der Staat des Perikies garantiert jedem künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich oder sonstwie begabten Bürger Athens gleiche Vorbedingungen und Chancen. Er läßt ihm jede Bewegungsfreiheit, seine Fähigkeiten vielseitig und in letzter Vollkommenheit zu entfalten. Man hat die untrennbare Zusammengehörigkeit von Freiheit und Kultur zu bestreiten versucht mit dem Hinweis, daß einige der größten Kulturen (z. B. Ägyptens, Assurs und Babylons) ohne Freiheit zustandegekommen seien. Das ist das Trugbild einer sehr oberflächlichen Betrachtung, die nicht berücksichtigt, daß die Staatsformen des Despotismus und der absoluten Monarchie, ja selbst der Tyrannis nicht in jedem Falle totalitär zu sein brauchen. LInter solchen politischen Systemen haben in der Vergangenheit immer wieder schöpferische Menschen den notwendigen Spielraum gesucht und gefunden, um unkontrolliert große Werke freiheitlicher Gesinnung schaffen zu können. Erst der moderne Totalitarismus, der das gesamte politische und geistige Leben eines Volkes mit den hinterhältigsten Mitteln der Überwachung und allen technischen Errungenschaften der Wort-und Bildsuggestion dirigiert und gleichschaltet, erstickt jede Regung freiheitlicher Kultur.
Ein lehrreiches Beispiel aus der griechischen Geschichte bietet der „Totalitarismus“ Spartas, der in der Mitte des 6. Jahrhunderts einsetzte und wenige Jahrzehnte nach einer kulturellen Blütezeit einen rapiden Kulturverfall zur Folge hatte, und zwar so sehr, daß man Mühe hat, auch nur einen bedeutenden Dichter oder bildenden Künstler aus den folgenden Generationen zu nennen. Von Fritz (a. O. 56 ff.) weist mit Recht darauf hin, daß das totalitäre Sparta Athen erst nach Perikles'Tod und nach Entartung seiner liberalen Demokratie besiegen konnte, daß aber selbst das besiegte Athen Sparta später wieder zeitweise an politischer Bedeutung überholt hat und noch Jahrhunderte hindurch gegenüber seiner kulturell bedeutungslosen Rivalin das Kulturzentrum Griechenlands und der gesamten alten Welt gewesen ist. Perikies’ Wort von Athen als der „Hohen Schule Griechenlands“ (II, 41) ist eine Realität bis in die Zeit des Untergangs der Antike geblieben. Das Problem des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kultur kann also in dem Sinne entschieden werden, daß echte Kultur ohne ein gewisses Maß politischer Freiheit nicht möglich ist. Totalitarismus und Kultur schließen sich gegenseitig aus.
Wir wollen uns davor hüten, das perikleische Staatsideal mit den Augen zu sehen, mit denen der Klassizismus alles Antike vorbehaltlos bewundert und bejaht hat. Auch die Demokratie des Perikies hat in der Zuerkennung der persönlichen Freiheit eine Grenze, die wir Modernen eigentlich als unvereinbar mit echter politischer Freiheit bezeichnen müssen. Es ist der bereits erwähnte Tatbestand der Sklaverei. Die Freiheit gilt nur für eine Oberschicht, für die Vollbürger, während die große Masse der Sklaven keine Rechte und Möglichkeiten zu politischer Mitbestimmung hat. Trotz der fortschreitenden Humanisierung des Verhältnisses zwischen Herrn und Sklaven und Metöken hat niemand im perikleischen Athen — und auch niemand sonstwo in Griechenland oder zu einer späteren Zeit — ernsthaft versucht, die Sklaverei abzuschaffen, um so volle politische Freiheit zu verwirklichen. Doch dürfen und wollen wir dabei nicht übersehen, daß der Humanitätsgedanke des Hellenismus und des stoisch beeinflußten Römertums zusammen mit dem hellenistischen Begriff der geistigen Freiheit aller Weltbürger den Unterschied zwischen Freien und Sklaven theoretisch bereits aufgehoben hat (vgl. Seneca, ep. 47). Die generelle Beseitigung der Sklaverei in der Neuzeit konnte sich auf die von der Antike und vom Christentum geleistete Vorarbeit stützen und berufen.
Thukydides’ Nachruf auf Perikies (II, 65) regt uns nicht zuletzt auch zu einem Vergleidi zwisdien edtter und entarteter Freiheit an. Thukydides sieht die Gründe für die Niederlage Athens einmal darin, daß die Athener die Politik des Perikies aufgegeben und sich auf den Weg einer hemmungslosen, ehrgeizigen Machtpolitik begeben haben, die selbst die Bündner ausbeutete, andererseits in der Entartung der Demokratie zur Demagogenherrschaft, im Verfall der echten Freiheit zur Zügellosigkeit und Willkürherrschaft des Demos. Es empfiehlt sich, diese Darstellung zu verbinden mit der Kritik des Aristokraten Platon an der demokratischen Freiheit (Staat VIII, 5 57 ff.), die im Grunde nur auf die entartete Freiheit der nachperikleischen Demokratie und auf die Verhältnisse seiner Gegenwart zutrifft (Vgl. ep. VII, 324, b 8 ff.) 17). Persönliche Freiheit im Übermaß führt seiner Meinung nach in die absolute LInfreiheit der Tyrannis. Wenn Platon in diesem Zusammenhang auch vor einer Persiflage des perikleischen Ideals nicht zurückscheut, so zeigt dies deutlich, daß er gegen die Staatsform der Demokratie auf Grund schwerer persönlicher Enttäuschungen voreingenommen ist. Sein Idealstaat ist in erster Linie wegen der Rolle, die die Gerechtigkeit als Prinzip und Ziel staatlichen Lebens spielt, vorbildlich zu nennen. Aber dieses Prinzip ist in unmenschlicher Weise verabsolutiert worden. Platon hat seine Staatskonstruktion so eng an das pythagoreische und vor allem an das spartanische Vorbild angelehnt, daß wir auf Schritt und Tritt den gedanklichen Grundlagen und Organisationsformen des modernen Totalitarismus begegnen. Der platonische Staat opfert die individiuelle Freiheit des Geistes den Zwecken des übergeordneten Ganzen; er verstößt auch gegen das Prinzip der Gleichheit, da er die unteren Schichten, die auf Broterwerb und Handarbeit angewiesen sind, von der politischen Führung ausschließt. Selbst in Platons Alterswerk, den Nomoi, ist die überraschende Anerkennung der Demokratie doch nur sehr eingeschränkt. Die für die perikleische Demokratie bezeichnende Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung wird auch hier dem Staatszweck untergeordnet 18). Demgegenüber hat Aristoteles das Recht auf individuelle Entfaltung anerkannt und seiner Ethik die bürgerliche Freiheit als selbstverständliche Voraussetzung zugrundegelegt.