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Der „Cardiff-Prozeß“ zur Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken | APuZ 48/1999 | bpb.de

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APuZ 48/1999 Politikinnovation auf der globalen Ebene. Eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung Der „Cardiff-Prozeß“ zur Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken Die Osterweiterung der Europäischen Union: Herausforderung und Chance für eine gesamteuropäische Umweltpolitik Die EG-Öko-Audit-Verordnung im verflixten siebten Jahr. Geschichte und Zukunft einer ungewöhnlichen Ehe zwischen staatlicher Regulierung und freiwilligem betrieblichen Umweltschutz.

Der „Cardiff-Prozeß“ zur Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken

Matthias Buck/R. Andreas Kraemer/David Wilkinson

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine erfolgreiche Umweltpolitik setzt voraus, daß Umweltschutzbelange auf allen Handlungsebenen in Tätigkeitsfelder eingeführt werden, in denen dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen regelmäßig keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt (Energiepolitik, Verkehrspolitik, Wirtschaftspolitik etc.). In der Fachdiskussion wird dieses Erfordernis zur Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken unter den Begriff der „Politikintegration“ gefaßt. Durch den neuen Artikel 6 EG-Vertrag wird Politikintegration nunmehr zu einem allgemeinen Handlungsziel der EU erhoben. Vor diesem Hintergrund verpflichtete sich der Europäische Rat in Cardiff im Juni 1998 zu einer schnellen Umsetzung von Artikel 6 EG-Vertrag. Der sogenannte „Cardiff-Prozeß“ zur Politikintegration stellt eine mehrere Ratspräsidentschaften überspannende Politikinitiative auf höchster politischer Ebene dar. Sein größtes Entwicklungspotential besteht in dem staatenübergreifenden Austausch über positive und negative Erfahrungen von Umwelt-und Fachressorts mit unterschiedlichen Ansätzen und Strategien zur Politikintegration. Der Beitrag benennt anhand von Beispielen aus einzelnen europäischen Staaten verschiedene zukunftsweisende Praktiken für eine bessere Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken. Insgesamt betrachtet fehlt es in Europa nicht an den notwendigen „Werkzeugen“ für eine verbesserte Politikintegration, sondern vor allem an dem politischen Willen, hergebrachte politische Frontlinien und fest in politischen Institutionen verankerte Widerstände zu überprüfen und sich für zukunftsfähige Entwicklungspfade zu entscheiden. Inwieweit die durch den Cardiff-Prozeß eröffneten zusätzlichen Handlungsspielräume genutzt werden, hängt nicht zuletzt ab von dem Interesse der Öffentlichkeit für die wenig spektakuläre, aber überlebenswichtige „kleine Münze“ von Politikintegration in der täglichen und administrativen Praxis.

I. Einführung

Seit die Bedrohung und Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu einem „Politikum“ geworden ist, also seit fast 30 Jahren, gibt es in der Europäischen Union (EU) und in den Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen der EU-Mitgliedstaaten eine rege Tätigkeit zum Schutze der Umwelt. Trotz dieser Aktivitäten und trotz der in Europa vorhandenen technischen, finanziellen und administrativen Kapazitäten sind die bisherigen Erfolge von Umweltpolitik jedoch auf wenige überschaubare Gebiete beschränkt geblieben Die Belastung und Zerstörung von Ökosystemen und der Schwund von Artenvielfalt hat sich insgesamt betrachtet allenfalls verlangsamt -eine Umkehr dieser beunruhigenden Entwicklung ist derzeit nicht in Sicht

Worauf läßt sich diese enttäuschende Bilanz bisheriger Umweltpolitik zurückführen? Im Kern darauf, daß es ein eigenständiges Handlungsfeld „Umweltpolitik“ gar nicht gibt. Umweltpolitik ist Energiepolitik, VerkehrspoMtik, Agrarpolitik, Wirtsc/zti/hpolitik, Steuer-und Subventionspohük etc. Das Handlungsziel Umweltschutz wird deshalb oft als „Querschnittsaufgabe“ bezeichnet. Praktisch bedeutet dies, daß eine erfolgversprechende Umweltpolitik darauf angewiesen ist, Belange des Umweltschutzes auf allen Handlungsebenen in Tätigkeitsfelder einzuführen, in denen dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen regelmäßig keine oder aber nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Dieses Erfordernis zur Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken wird in der wissenschaftlichen und politischen Fachdiskussion unter den Begriff der „Politikintegration“ gefaßt *Maßnahmen zur Politikintegration aber stehen sowohl auf der Ebene der europäischen Institutionen wie auch in den EU-Mitgliedstaaten noch ganz am Anfang.

Bemühungen der Europäischen Umweltagentur, den Status quo von Politikintegration für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu quantifizieren, verdeutlichen die Dringlichkeit einer verbesserten Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken. So werden beispielsweise im Verkehrssektor, selbst bei sehr konservativen Annahmen über die mit dem Straßenverkehr verbundenen Kosten (Infrastrukturkosten; negative Umweltauswirkungen), im EU-Durchschnitt nur zirka 30 Prozent der tatsächlich entstehenden Kosten durch die Straßenverkehrsteilnehmer selbst in Form von KFZ-Steuern, Benzinsteuern, Straßenbenutzungsgebühren oder Parkgebühren getragen^. Falsche Preissignale über die Kosten von Mobilität aber tragen erheblich zur schleichenden Umweltzerstörung durch das „ganz normale“ Mobilitätsverhalten vieler einzelner bei.

In diesem Beitrag skizzieren wir zunächst einige typische Charakteristika, welche sich aus dem Handlungsziel Politikintegration für den Charakter politischer Steuerung ergeben. Sodann gehen wir auf Hintergrund und Stellenwert des soge-nannten „Cardiff-Prozesses“ zur Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken ein. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf einem Überblick über Ansatzpunkte, Strategien und Beispiele für Politikintegration in verschiedenen europäischen Staaten und der EU.

II. Politikintegration als politisches Handlungsziel

In der Frühphase staatlicher Umweltpolitik ging es zunächst um die rasche Eindämmung besonders gravierender Umwelt-und Gesundheitsbelastungen. Umweltpolitische Steuerung war vor allem geprägt durch punktuelle Maßnahmen, die dort ansetzten, wo eine bestimmte Substanz in die Umwelt gelangte oder eine bestimmte Tätigkeit die Umwelt belastete Die der Umweltbelastung zugrundeliegenden Produktions-und Konsummuster (Energieverbrauch, Mobilitätsverhalten etc.) blieben jedoch weitgehend unverändert. Für eine Integration von Umweltschutzbelangen in Bereiche wie Industrie, Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Tourismus reicht die nur punktuelle Einschränkung umweltbelastender Tätigkeiten dagegen nicht aus. Nach einer von Christian Hey vorgeschlagenen Begriffsbestimmung erfordert Politikintegration vielmehr eine frühe Koordination zwischen sektoralen Handlungszielen und Umweltschutzinteressen, damit bestehende Synergien zwischen diesen Zielsetzungen genutzt und falls erforderlich Prioritäten zugunsten des Umweltschutzes gesetzt werden können Aus dem so verstandenen Handlungsziel Politikintegration ergeben sich verschiedene Konsequenzen für den Charakter (umweitjpolitischer Steuerung: 1. In dem Maße, in dem die einer Umweltbelastung zugrundeliegenden Produktions-und Konsummuster beeinflußt werden sollen, muß eine große Bandbreite von Tätigkeiten und eine große Vielfalt von Personen in umweltpolitische Maßnahmen eingebunden werden. 2. Es werden Verhaltensanpassungen weit im Vorfeld einer Umweltbelastung erforderlich. Deshalb muß umweltpolitische Steuerung stärker Verhal­ tens-und tätigkeitsbezogen erfolgen und kann selten an einem bestimmten Ergebnis anknüpfen. 3. Da zum Zeitpunkt staatlicher Intervention regelmäßig noch keine Umweltschädigung eingetreten ist, spielt der Gedanke der Gefahren-und Risikovorsorge eine erhebliche Rolle. Damit steigt auch die Argumentationslast für die Umweltpolitik: Warum werden gerade hier und nicht an einer anderen Stelle Verhaltensänderungen eingefordert? Hinzu tritt, daß sich Entlastungen der Umwelt durch eine verbesserte Politikintegration kaum auf die Verhaltensänderungen einzelner Akteure zurückführen lassen und dementsprechend Erfolge von Politikintegration nur schwer zurechenbar sind. 4. Die Verschiebung des Ansatzpunktes staatlicher Intervention führt zu Änderungen in der Art der verwendeten Regelungsinstrumente. Neben den klassischen Instrumenten in Form gesetzlicher Ver-und Gebote wird ein breiteres Spektrum an „weichen“ Steuerungsinstrumenten eingesetzt (unter anderem Abgaben und Steuern, Subventionen, freiwillige Absprachen). Eine neue Herausforderung für politische Steuerung stellt sich damit in der Wahl eines situationsangemessenen und kosteneffizienten Instrumentenmixes. 5. Die Verlagerung von im Kern umweltpolitischen zu sektorpolitischen Maßnahmen erfordert auf politischer und administrativer Ebene eine Überprüfung von Kompetenzkreisen sowie eine verbesserte Abstimmung zwischen Umwelt-und Fach-ressorts. Fortschritte bei der Politikintegration sind ohne Veränderungen in den Verfahren und Instrumenten politischer und administrativer Steuerung in den EU-Institutionen und innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nicht vorstellbar. Mit anderen Worten, es besteht ein erheblicher Bedarf an institutioneller Innovation. Institutioneile Innovationen sind auf klare politische Richtungssignale und auf einen Fundus an Erfahrungen mit unterschiedlichen Ansätzen und Strategien zur Politikintegration angewiesen. In beiderlei Hinsicht enthält der sogenannte „Cardiff-Prozeß“ zur Politikintegration zukunftsweisende Elemente für die europäische Umweltpolitik. Auf diesen Prozeß sowie auf erkennbare Ansatzpunkte und Strategien für eine verbesserte Politikintegration gehen wir im folgenden vertieft ein.

III. Der „Cardiff-Prozeß“ zur Politikintegration

1. Rechtlicher und politischer Hintergrund

„Politikintegration“ als Handlungsziel europäischer Umweltpolitik wurde erstmalig im Jahre 1987 durch die Einheitliche Europäische Akte in das Europäische Primärrecht aufgenommen und im Jahre 1992 durch den Vertrag von Maastricht in seiner Bedeutung verstärkt. Das Fünfte EU-Umweltaktionsprogramm (1992-1998) hob die Bereiche Industrie, Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Tourismus als Zielsektoren für eine verbesserte Integration von Umweltschutzbelangen hervor. Zuletzt hat das Handlungsziel Politikintegration durch das Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1. Mai 1999 eine weitere Aufwertung erfahren Durch den neuen Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft (EG-Vertrag) wird Politikintegration zu einem allgemeinen Handlungsziel der Europäischen Institutionen erhoben. Artikel 6 EG-Vertrag lautet: „Die

Erfordernisse des Umweltschutzes müssen bei der Festlegung und Durchführung der in Artikel 3 genannten Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden. “

Artikel 3 EG-Vertrag listet als „Gemeinschaftspolitiken“ einen Katalog von Politikfeldern auf, der aus umweltpolitischer Sicht folgende wichtige Bereiche beinhaltet: gemeinsame Handelspolitik, Binnenmarkt, Landwirtschaft und Fischerei, Verkehr, Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, Forschung und Entwicklung, transeuropäische Netze, Entwicklungszusammenarbeit, Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr. Die nunmehr klare Verankerung des Handlungsziels Politikintegration in den rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union steht in einem deutlichen Gegensatz zu der oben beschriebenen enttäuschenden Bilanz bisheriger europäischer Umweltpolitik.

Vor diesem Hintergrund und auf Initiative der schwedischen Regierung forderte der Europäische Rat in Luxemburg im Dezember 1997 die Europäische Kommission auf, eine Strategie zur Umsetzung von Artikel 6 EG-Vertrag zu erarbeiten

Die Kommission schlug daraufhin in einer Mitteilung an den Europäischen Rat in Cardiff im Juni 1998 verschiedene „Leitlinien für eine Partnerschaft zur Einbeziehung des Umweltschutzes in andere Politikbereiche“ vor Zwar blieben diese Leitlinien über weite Strecken vage und allgemein. Gleichwohl hervorzuheben ist die darin enthaltene Forderung nach einer Umweltfolgenabschätzung für wichtige politische Initiativen nebst Mechanismen um sicherzustellen, daß die Ergebnisse solcher Abschätzungen im politischen Entscheidungsprozeß von Relevanz sind. Weiterhin wird die Erarbeitung sektoraler Integrationsstrategien gefordert und angeregt, eine Bestandsaufnahme bisheriger Erfahrungen und der jeweils besten Praxis einzelner Mitgliedstaaten bei der Politikintegration („best practices“) vorzunehmen. Als Maßstab für künftige Fortschritte bei der Politikintegration sollen nach Auffassung der Kommission vorrangig die Bereiche Klimaschutz und Reform der EU-Agrarpolitik (Agenda 2000) herangezogen werden.

Basierend auf der Kommissionsmitteilung verpflichtete sich der Europäische Rat von Cardiff zu einer schnellen Umsetzung von Artikel 6 EG-Vertrag. Zugleich wurden die Fachministerräte für Verkehr, Landwirtschaft und Energie aufgefordert darzulegen, welche Maßnahmen in ihrem Bereich zur Integration von Umweltschutzbelangen unternommen werden. Der nachfolgende Europäische Rat von Wien im Dezember 1998 richtete eine solche Aufforderung zusätzlich an die Fachminister-räte für Entwicklungspolitik, Binnenmarkt und Industrie. Entsprechend der Anregung in der Kommissionsmitteilung beauftragte der Europäische Rat von Cardiff die Europäische Kommission zudem damit, eine Bestandsaufnahme von „best 1p 1ractices“ in den Mitgliedstaaten durchzuführen. Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme waren noch während der Deutschen Ratspräsidentschaft im Mai 1999 Gegenstand einer Expertenkonferenz in Bonn.

Als nächster Schritt im sogenannten „Cardiff-Prozess“ zur Politikintegration ist vorgesehen, daß bis zum Europäischen Rat von Helsinki im Dezember 1999 eine Evaluation der durch die einzelnen Fachministerräte vorgelegten sektoralen Integrationsstrategien erfolgt und letztere sodann zu einer europäischen Gesamtstrategie zur Politikintegration zusammengeführt werden. 2. Vorläufige Einschätzung der Ergebnisse

Die zwischenzeitlich durch verschiedene Fachministerräte vorgelegten Berichte über die Bemühungen einzelner Sektoren (Landwirtschaft, Industrie, Energie, Verkehr) zur Integration von Umweltschutzbelangen sind in den Augen von Umweltschutzverbänden und Umweltpolitikern weithin enttäuschend ausgefallen -vor allem, weil es in diesen Berichten an Aussagen zu zukunftsgerichteten Strategien für eine verbesserte Politikintegration fehlt Auch die stark schwankende Qualität der Antworten einzelner Mitgliedstaaten in den Kommissions-Fragebögen zu „best practices“ zeigt, daß die Dringlichkeit der Handlungsherausforderung Politikintegration in einigen EU-Mitgliedstaaten noch nicht ernst genommen wird.

Trotz dieser Zwischenbilanz sind verschiedene Aspekte des Cardiff-Prozesses zur Politikintegration erwähnenswert und markieren seine besondere Bedeutung für die europäische Umweltpolitik:

1. Es handelt sich um eine mehrere Ratspräsidentschaften überspannende Politikinitiative auf höchster politischer Ebene, die vom Herbst 1997 über die luxemburgische, englische, österreichische, deutsche, finnische, portugiesische, französische bis zur schwedischen Ratspräsidentschaft im Frühjahr 2001 angelegt ist

2. Der Cardiff-Prozeß führt auf nationaler und Europäischer Ebene zu einer Überprüfung von lange etablierten Entscheidungspraktiken in Politik und Verwaltung und damit zu einer Verschiebung der „Rechtfertigungs-und Argumentationslast“ für die Berücksichtigung von Umweltschutzaspekten in Entscheidungsprozessen von Umweitzu Fachressorts.

3. Dadurch, daß Politikintegration zum Handlungsziel Europäischer Umweltpolitik erhoben wird, rücken die institutionellen Voraussetzungen effektiven Umweltschutzes in das Zentrum des Interesses

4. Durch den im Cardiff-Prozeß angelegten staatenübergreifenden Austausch über positive und negative Erfahrungen von Umwelt-und Fachressorts mit verschiedenen Ansätzen und Strategien zur Politikintegration zeichnen sich die Stärken und Schwächen verschiedener institutioneller Arrangements zur Politikintegration in den EU-Institutionen und in den EU-Mitgliedstaaten deutlicher ab. Hieraus ergeben sich wichtige Argumentationshilfen in politischen Auseinandersetzungen, die dazu beitragen können, festgefahrene Positionen aufzubrechen und neue Wege für eine verbesserte Politikintegration zwischen Umwelt-und Fachressorts aufzuzeigen. Neben dem Richtungssignal von höchster politischer Ebene, welches die europäischen Staats-und Regierungschefs in Cardiff gegeben haben, liegt das größte Entwicklungspotential des Cardiff-Prozesses nach unserer Auffassung in dem zuletzt genannten Aspekt des staatenübergreifenden Erfahrungsaustausches. Institutioneile Innovationen in Politik und Verwaltung werden erleichtert, treffsicherer und politisch besser vermittelbar, wenn auf einen breiten Fundus an positiven und negativen Erfahrungen mit unterschiedlichen Ansätzen und Strategien zur Politikintegration zurückgegriffen werden kann.

IV. Ansätze und Strategien zur Politikintegration

Welche erfolgversprechenden Ansätze und Strategien gibt es in verschiedenen europäischen Staaten und den Europäischen Institutionen zur Überwindung von Hindernissen für eine verbesserte Politik-integration? Der folgende Überblick kann angesichts des knappen Raumes nur kursorisch sein Er sollte gleichwohl den Eindruck vermitteln, daß es in Europa nicht an den notwendigen „Werkzeugen“ für eine verbesserte Politikintegration fehlt, sondern vor allem an dem politischen Willen, hergebrachte politische Frontlinien und fest in politischen Institutionen verankerte Spezial-interessen zu überprüfen und sich für zukunftsfähige Entwicklungspfade zu entscheiden.

1. Institutionelle Strategien zur Politikintegration

Politikintegration bedarf als ressortübergreifendes Handlungsziel der Unterstützung durch die jeweiligen politischen Führungsgremien. Vor diesem Hintergrund bemühen sich einzelne EU-Mitgliedstaaten um eine Institutionalisierung von Koordinationsmechanismen zur Politikintegration auf allerhöchster politischer Ebene. In Großbritannien beispielsweise wurde zur Koordination der britischen „Greening Governmenf-Initiative ein „Green Ministers Committee“ unter Beteiligung aller Fachressorts und mit Vorsitz des Umweltministers gegründet. Jährlich vorzulegende Tätigkeitsberichte dieses Komitees und die begleitende Bewertung der „Greening Government“ -Initiative durch eine unabhängige Parlamentskommission machen Fortschritte und Mißerfolge von Politikintegration transparent. Ähnliche Bemühungen gibt es auch in Dänemark, Irland, Norwegen und Schweden. Das Ziel einer verbesserten Abstimmung zwischen Umwelt-und Fachressorts in der täglichen politischen und administrativen Praxis läßt sich durch verschiedenste Ansätze verfolgen. In Portugal beispielsweise werden im Landwirtschaftsministerium und im Ministerium für Raumplanung „Umweltschutzinspektoren“ eingesetzt, welche auch ministeriumsinterne Prüfungen der Verfahren zur Politikintegration („Umweltaudits“) durchführen. Es bedurfte eines Zeitraums von fast zwei Jahren, bis die weitgehende Unkenntnis über Umweltschutz-belange und das bestehende Mißtrauen überwunden waren und es zu Verbesserungen bei der Integration von Umweltschutzbelangen in die portugiesische Landwirtschaftspolitik kam. Bei komplexeren umweltpolitischen Aufgabenstellungen, die mehrere Fachressorts betreffen, wie beispielsweise die Erarbeitung von Maßnahmen-bündeln zur Reduktion von Treibhausgasemissionen, hat sich die Einrichtung von projektbezogenen Arbeitsgruppen mit Vertretern verschiedener Ministerien als sinnvoll erwiesen. Einzelne EU-Mitgliedstaaten haben versucht, durch einen neuen Zuschnitt von Ressortkompetenzen die Bedeutung von Umweltschutzbelangen in politischen Entscheidungsverfahren aufzuwerten. Für umweltpolitisch besonders bedeutsame Bereiche wie Verkehrspolitik und Energiepolitik kann ein solches Vorgehen sinnvoll sein. In Dänemark beispielsweise wurde vor einigen Jahren das Ministerium für Energie mit dem Umweltministerium zusammengefaßt. Heute befindet sich die dänische Energiepolitik auf einem zukunftsfähigen Kurs In Großbritannien gab die Zusammenlegung von Verkehrs-und Umweltressort durch die Blair-Regierung neuen Bewegungsspielraum für die britische Verkehrspolitik. Im Juli 1998 legte die Regierung den Entwurf eines ambitionierten verkehrspolitischen Reformpakets mit wichtigen Weichenstellungen für eine umweltverträglichere Mobilität vor

Dem Ziel einer verbesserten Politikintegration dienen auch externe Beratungsgremien, welche in den meisten EU-Mitgliedstaaten geschaffen wurden. Im einzelnen gibt es allerdings erhebliche Unterschiede bei Zielen, Kompetenzen und Zusammensetzung solcher Gremien. Der deutsche Sachverständigenrat für Umweltfragen beispielsweise bemüht sich vor allem um die zeitnahe Aufbereitung wissenschaftlicher Erkenntnisse über komplexe ökologische, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, um so eine verbesserte Informationsgrundlage für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu schaffen. In anderen europäischen Staaten mit einer stärker konsensorientierten Verwaltungstradition (unter anderem Dänemark, Niederlande, Schweden) besteht eine wichtige Funktion externer Beratungsgremien in der Möglichkeit zu frühzeitigen Konsultationen zwischen Politik. Verwaltung und unterschiedlichen Interessenvertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft. Neben Veränderungen in den institutioneilen Rahmenbedingungen politischen und administrativen Entscheidens ist ein Bündel weiterer Maßnahmen denkbar und erforderlich, um Fortschritte bei der Politikintegration auf eine tragfähige Grundlage zu stellen.

2. Klare Zielvorgaben: Nationale, regionale und lokale Umweltpläne

Klare umweltpolitische Zielvorgaben sind eine wesentliche Erfolgsbedingung für Politikintegration. Deshalb haben fast alle EU-Mitgliedstaaten sowie einzelne EU-Beitrittskandidaten nationale Umweltpläne beziehungsweise sogenannte nationale „Nachhaltigkeitsstrategien“ erarbeitet Im einzelnen bestehen allerdings erhebliche Unterschiede in der Genauigkeit von Zielvorgaben und den zugrundegelegten Zeithorizonten. Positiv hervorzuheben ist die nationale Nachhaltigkeitsstrategie von Schweden. Deren Ziel ist, die heute bekannten Umweltprobleme bis spätestens zum Jahr 2025 zu bewältigen und Schweden damit zu einem internationalen Vorreiter für eine nachhaltige Entwicklung zu machen. Vor dem Hintergrund eines detaillierten Katalogs von Umweltqualitätszielen (u. a. für die Bereiche Luft, Grundwasser, Küstenlandschaften, städtische Umwelt) erarbeiten die einzelnen Fachressorts sektorale Zielsetzungen sowie darauf bezogene jährliche Maßnahmenpläne. Im Jahre 1997/98 beinhalteten letztere 93 verschiedene Einzelmaßnahmen (u. a. Ökologieunterricht in Schulen, Umweltfolgenabschätzungen bei Infrastrukturinvestitionen, Umweltdialog mit der Industrie). In den meisten europäischen Staaten gibt es nicht nur nationale, sondern auch regionale und lokale Nachhaltigkeitsstrategien; erarbeitet durch die jeweiligen Regionen und Gemeinden. Diese soge-nannten „Lokale Agenda 21“ -Initiativen werden teilweise durch regionale oder nationale Netzwerke und Koordinationsstellen unterstützt (so beispielsweise in Großbritannien, Irland, Norwegen, Schweden) In anderen Staaten, wie beispielsweise in Spanien oder den baltischen Staaten, bahnen „Lokale Agenda 21 " -Initiativen dagegen politisch den Weg für nationale Nachhaltigkeitsstrategien.

3. Sichtbarkeit von Umweltschutzbelangen in Entscheidungsprozessen

Einer der wesentlichen Gründe für eine mangelhafte Politikintegration ist die Unkenntnis von Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung über die Umweltrelevanz ihres Handelns. Eine erhöhte Sichtbarkeit für Umweltschutzbelange in Entscheidungsprozessen wird vor allem durch strategische Umweltverträglichkeitsprüfungen und Indikatorensysteme erreicht. Der Begriff „strategische Umweltverträglichkeitsprüfung“ (kurz: strategische UVP) wird für Verfahren verwendet, durch die während eines laufen­ den politischen und administrativen Entscheidungsprozesses die voraussichtlichen Umweltauswirkungen von Gesetzesentwürfen, politischen Programmen, Plänen sowie von möglichen Entscheidungsalternativen identifiziert und gewichtet werden. Auf der Ebene der EU waren verschiedene Entwürfe der Europäischen Kommission zu einer Richtlinie über die gemeinschaftsweite Einführung einer strategischen UVP für Pläne und politische Programme in der Vergangenheit nicht konsensfähig. Im Gegensatz hierzu gibt es in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten wie Dänemark, Großbritannien, Niederlande, Norwegen und Schweden bereits langjährige Erfahrungen mit diesem Instrument. In den Niederlanden beispielsweise obliegt die Durchführung der strategischen UVP dem jeweiligen Fachressort. Ein interministerielles Büro gibt -falls erforderlich -fachliche Hilfestellung und überprüft die Ergebnisse anhand einer vorgegebenen Checkliste. Andere Fachressorts können die Ergebnisse einer strategischen UVP kommentieren. Kommt es zu unterschiedlichen Bewertungen über die voraussichtlichen Umweltauswirkungen eines Vorhabens, so muß hierüber durch einen gemeinsamen Rat der Fachministerien kollektiv entschieden werden. Die Erfahrungen in den Niederlanden und in anderen EU-Mitgliedstaaten zeigen, daß die Wirksamkeit der strategischen UVP vor allem von einem transparenten und offenen Bewertungsverfahren abhängig ist. In dem Maße, in dem die Umweltauswirkungen eines Vorhabens für das Umweltressort und eine interessierte Öffentlichkeit sichtbar werden, steigt der Rechtfertigungsbedarf aus Sicht des federführenden Fachressorts. Die infolge einer strategischen UVP möglicherweise entstehenden Konflikte mit anderen Ressorts und mit der Öffentlichkeit sind in den Fachressorts unerwünscht. Deshalb wird meist bereits im Vorfeld einer strategischen UVP die weniger umweltbelastende Entscheidungsalternative gewählt. Der für eine strategische UVP erforderliche administrative Aufwand läßt sich durch möglichst klare umweltpolitische Zielvorgaben sowie durch die Einrichtung von Datenpools mit den Ergebnissen durchgeführter strategischer UVPs erheblich verringern. Sind solche Datenpools öffentlich zugänglich, steigt zudem die öualität der öffentlichen Diskussion und Kontrolle und damit auch der Selbstdisziplinierungseffekt innerhalb der einzelnen Fachressorts. Indikatorensysteme sind der zweite wichtige Ansatz, um eine erhöhte Sichtbarkeit von Umweltschutzbelangen in Entscheidungsprozessen zu erreichen Durch ihre Verwendung lassen sich umweltpolitische Zielsetzungen und tatsächliche Entwicklungen mit geringem Aufwand gegeneinander abgleichen. Umweltpolitische Erfolge, Mißerfolge und Entwicklungstrends werden so sichtbar und politisch besser kommunizierbar. Seit dem positiven Signal des Europäischen Rats in Cardiff für eine verbesserte Meßbarkeit der Ergebnisse von Umweltpolitik wurden rasche Fortschritte bei der Etablierung eines europäischen Systems von Umweltindikatoren ermöglicht.

In Schweden bemüht man sich derzeit um zukunftsweisende Wege bei der Einbindung von Indikatoren in politische Entscheidungsverfahren. Erstmalig im Jahr 1999 wurden die im nationalen Haushaltsplan veranschlagten Ausgabenposten mit Umweltindikatoren unterlegt. Ziel dieser Maßnahme ist es, durch die größere Sichtbarkeit der Umweltrelevanz von Haushaltsentscheidungen ein „neues haushaltspolitisches Denken“ zu schaffen Auch in Norwegen und Irland sollen in Kürze integrierte Darstellungen von politischen Programmen und Umweltindikatoren Verwendung finden.

Insgesamt können strategische UVPs und Umwelt-indikatoren politisch notwendige Entscheidungen für oder gegen umweltbelastende Maßnahmen weder ersetzen noch erleichtern. Gleichwohl sind sie unverzichtbare Voraussetzung für eine verbesserte Politikintegration, da sie mögliche Synergien und Konflikte zwischen Umweltschutz-und Sektor-interessen erkennbar machen und so zusätzlichen Rechtfertigungsbedarf für politische und administrative Entscheidungen zu Lasten der Umwelt schaffen.

4. Transparenz, Information und Beteiligung der Öffentlichkeit

Wie verschiedentlich deutlich wurde, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Transparenz von Entscheidungsprozessen und den Bemühungen von Entscheidungsträgern um eine verbesserte Politikintegration. Dieses deshalb, weil sich in einer besser informierten Öffentlichkeit leichter Koalitionen zugunsten von Umweltschutzzielen und gegen die Verfolgung enger Gruppeninteressen auf Kosten der Allgemeinheit bilden lassen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund gibt es in der Mehrzahl der EU-Staaten regelmäßige Konsulta-tionen zwischen Umweltpolitikern, Mitarbeitern von Umweltverwaltungen und Vertretern von Umweltschutzverbänden.

Die Bedeutung einer umweltpolitisch gut informierten Öffentlichkeit wächst auch in dem Maße, in dem der Staat umweltpolitische Verantwortung auf den „aufgeklärten Verbraucher“ überträgt. Die Wirksamkeit von „weichen“ Regelungsinstrumenten wie Umweltkennzeichnungen von Produkten und Zertifikaten für Unternehmen mit Umweltmanagementsystemen setzt nämlich voraus, daß Verbraucher ihr Verhalten auch tatsächlich an der Umweltbilanz von Produkten und Unternehmen orientieren und sich deshalb für besonders umweltfreundliche Produkte und Unternehmen ein Wettbewerbsvorteil am Markt ergibt. Der Einfluß, welcher den Präferenzen von Verbrauchern auf das Umweltverhalten von Unternehmen zukommen kann, zeigt sich beispielhaft in den freiwilligen Selbstverpflichtungen wichtiger europäischer Supermarktketten, keine Lebensmittel zu verkaufen, welche gentechnisch veränderte Organismen enthalten Einen innovativen Versuch, Unternehmen an ihrem „guten Ruf“ zu pakken, unternimmt derzeit die britische Environment Agency, welche erstmalig eine Statistik der größten Umweltsünder unter den britischen Unternehmen (sog. „Hall of Shame“) veröffentlicht hat

5. Umweltschutzbemühungen staatlicher Einrichtungen

Bei der Verwirklichung des Handlungsziels Politik-integration kommt staatlichen Einrichtungen und staatlichen Bediensteten eine wichtige Vorbildfunktion für weitere Teile von Wirtschaft und Gesellschaft zu. Wenn staatliche Stellen öffentlich fordern, verstärkt öffentliche Verkehrsmitteln zu nutzen, zugleich aber die Mehrzahl der Staatsbediensteten mit dem Auto zur Arbeitsstelle kommt, wird der Staat in seinem Bekenntnis zu mehr Umweltschutz unglaubwürdig. Vor diesem Hintergrund haben vor allem die Umweltministerien in den meisten europäischen Staaten damit begonnen, staatliche Einrichtungen umweltbewußt auszustatten und zu betreiben und staatliche Bedienstete zu einem umweltbewußten Verhalten zu bewegen.

In der Schweiz beispielsweise wurden einzelne Verwaltungseinheiten des Umweltministeriums unter dem (eigentlich für Wirtschaftsunternehmen konzipierten) Umweltmanagementsystem ISO 14 001 registriert. Die Einhaltung der entsprechenden Standards wird durch unabhängige Umwelt-gutachter zertifiziert. Ein umweltbewußtes Management staatlicher Einrichtungen ist meist auch wirtschaftlich vorteilhaft. Das österreichische Umweltministerium beispielsweise beauftragte ein Umweltberatungsbüro damit, Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz in den Räumlichkeiten des Ministeriums einzuführen. Die Entlohnung des Umweltberatungsbüros erfolgt aus den Kosteneinsparungen, welche in den ersten fünf Jahren erzielt werden. Für die Integration von Umweltschutzbelangen in die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns von großer Bedeutung ist zudem der Nachfrageeffekt von ökologisch ausgerichteten staatlichen Beschaffungsstrategien auf die Märkte für Güter und Dienstleistungen. In den westlichen Industriestaaten beläuft sich die Nachfrage des Staats nach Gütern und Dienstleistungen auf durchschnittlich 10 bis 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts Wird diese immense Kaufkraft verstärkt auf umweltfreundliche Güter und Dienstleistungen gelenkt, so entstehen neue „grüne“ Märkte. Anbieter wenig umweltfreundlicher Güter und Dienstleistungen müssen ihr Angebot entsprechend anpassen oder verlieren Marktanteile. Beispiele für „grüne“ Beschaffungsstrategien sind der Strombezug von Energieversorgern mit einem möglichst hohen Anteil regenerativer Energie in ihrem Energiemix oder der ausschließliche Einkauf ökologisch produzierter Nahrungsmittel durch öffentliche Kantinen. Während es in der Mehrzahl der europäischen Staaten Bekenntnisse zu einer grünen Einkaufspolitik gibt, haben bislang nur wenige Staaten wirkungsvolle Maßnahmen ergriffen, um Staatsbedienstete bei der Auswahl „grüner“ Produkte und Dienstleistungen zu unterstützen. In Österreich und der Schweiz beispielsweise wurden zu diesem Zweck spezielle Informationszentren geschaffen. Die englische Regierung hat eine Internet-Seite eingerichtet, auf welcher „grüne Anbieter“ genannt werden. Spezielle Schulungen von Staatsbediensteten für die Umsetzung grüner Beschaffungsstrategien gibt es bis dato allein in Dänemark.

6. Marktgestützte Steuerungsinstrumente

Marktgestützte Instrumente wie Steuern, Abgaben oder Subventionen gelten als besonders elegante und wirksame Instrumente zur Verfolgung um-weltpolitischer Ziele und werden seit fast zwanzig Jahren politisch diskutiert Gleichwohl hat es bislang nur wenig Fortschritte bei der systematischen Integration von Umweltschutzbelangen in Steuer-und Subventionssysteme gegeben. Die deutschen Auseinandersetzungen um eine höhere Besteuerung von Energie sind typisch für eine auch in anderen europäischen Staaten vor allem in der Wirtschaft verbreitete defensive Haltung gegenüber marktgestützten Umweltschutzinstrumenten. Geflissentlich übersehen wird dabei, daß in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten (u. a. Dänemark, Belgien, Finnland, Großbritannien, Niederlande, Österreich und Schweden) marktgestützte Umweltschutzinstrumente bereits seit Jahren existieren. Die jüngst in Großbritannien für das Jahr 2001 beschlossene Einführung einer Steuer auf industriellen Energieverbrauch könnte richtungsweisend für eine positivere Haltung der Wirtschaft gegenüber marktgestützten Umweltinstrumenten sein. Eine im Auftrag eines englischen Industrieverbandes durchgeführte Studie ergab, daß es durch die Verschiebung der Steuerlast von Arbeit zu Energie zu einer im europäischen Standortvergleich vorteilhaften Verbilligung des Faktors Arbeit kommt und außerdem Innovationsanreize geschaffen werden, welche die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Industrie mittelfristig zusätzlich erhöhen. Nach letzten Umfragen wird die Einführung der genannten Energiesteuer durch zwei Drittel der britischen Industrie unterstützt.

Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten nur geringen Übernahme der tatsächlichen Kosten des Straßenverkehrs durch die Verkehrsteilnehmer ist die in der Schweiz durch Volksentscheid beschlossene Einführung einer leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe zum Jahr 2001 von großem Interesse. Die Abgabe basiert auf dem Verursacherprinzip und bemüht sich deshalb um eine volle Internalisierung der durch den Schwerlastverkehr entstehenden infrastrukturellen und ökologischen Kosten. Sie wird nach der zurückgelegten Distanz, dem höchstzulässigen Gesamtgewicht sowie einem Emissionsfaktor bestimmt. Im Jahr 2005 wird die durchschnittliche Abgabenhöhe 2, 7 Schweizer Rappen (ca. 3, 3 Pfennige) pro Kilometer und Tonne Zuladung betragen. Wollte man denselben Betrag durch eine Erhöhung der Steuer auf Dieseltreibstoff erbringen, so beliefe sich diese Steuer auf zirka 4 Schweizer Franken oder 5 DM pro Liter. Bei politischen Auseinandersetzungen um die Einführung und bestmögliche Ausgestaltung ökonomischer Steuerungsinstrumente bleibt ein aus Sicht von Politikintegration noch wichtigerer Bereich meist unerwähnt: die Reform von Subventionen. Wie eine Vielzahl von Untersuchungen gezeigt hat, gibt es in fast allen europäischen Staaten ein erhebliches ungenutztes Potential zur Reform sogenannter „perverser Subventionen“. Unter letzteren versteht man Subventionen, die ihren ursprünglichen sozialen Zweck verfehlen und zugleich umweltschädliches Verhalten fördern (Beispiel: Preisgarantien für bestimmte landwirtschaftliche Produkte; Steuerbefreiung für Flugbenzin). Durch Umgestaltung oder Abschaffung solcher Subventionen lassen sich staatliche Ausgaben einsparen und zugleich die Umwelt entlasten

V. Schlußfolgerung und Ausblick

Die Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken ist eine zentrale Voraussetzung für Fortschritte in der europäischen und nationalen Umweltpolitik. Aus politikwissenschaftlicher Sicht wichtige Erfolgsbedingungen hierfür sind: -ein deutliches politisches Bekenntnis der politischen Führungsgremien zu dem Handlungsziel Politikintegration; -die Schaffung von institutionellen Voraussetzungen für eine bessere Abstimmung zwischen Umwelt-und Fachressorts; -klare sektorenübergreifende und sektorale Umweltschutzziele sowie ausreichende Handlungskapazitäten zum Erreichen dieser Zielvorgaben; -die Verwendung von strategischen UVPs und Indikatoren in Entscheidungsprozessen sowie die integrierte Darstellung von Indikatoren mit politischen Handlungsprogrammen; -eine umweltbewußte Ausstattung staatlicher Einrichtungen und ein umweltbewußtes Verhalten von Staatsbediensteten; -an ökologischen Kriterien orientierte staatliche Beschaffungsstrategien; -eine große Transparenz und Offenheit politischer und administrativer Verfahren; -Maßnahmen zur Information, Aufklärung und Beteiligung der Öffentlichkeit an politischen Entscheidungsprozessen.

Insgesamt betrachtet, liegt der Schwerpunkt der denkbaren Schritte auf dem Wege zu einer verbesserten Politikintegration auf „weichen“ Maßnahmen wie Information, Transparenz, Schulung und Vertrauensbildung.

Welcher Stellenwert kommt nun dem Cardiff-Prozeß vor diesem Hintergrund zu? Falsch wäre es nach unserer Auffassung, aufgrund der eingangs erwähnten schlechten bisherigen Bilanz Europäischer Umweltpolitik und des beobachtbaren erheblichen Widerstandes einzelner Fachressorts gegen das Handlungsziel Politikintegration dem Cardiff-Prozeß von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg zu bescheinigen. Fortschritte in den Rahmenbedingungen für Politikintegration schlagen sich meist nur langsam in umweltpolitisch besseren Entscheidungen nieder. Einzelne EU-Mitgliedstaaten aber haben bereits wichtige Weichenstellungen für eine zukunftsfähige Entwicklung vorgenommen. Die sich in diesen Staaten abzeichnenden Synergieeffekte zwischen Maßnahmen zur Politikintegration, der Modernisierung von Staat und Verwaltung, der Aufwertung von Demokratie und Bürgerrechten, dem Gewinn an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit in Zukunftsmärkten und der Sicherung von Arbeitsplätzen fordern zum Verlassen hergebrachter politischer Frontlinien gegen umweltpolitische Maßnahmen auf und stellen zunehmend die Legitimität von fest in politischen Institutionen verankerten Widerständen gegen Politikintegration in Frage.

Auf der Suche nach Ansätzen und Strategien für eine verbesserte Politikintegration bietet die politische, institutionelle und kulturelle Vielfalt in Europa vielfältige und fruchtbare Anstöße. Der im Cardiff-Prozeß angelegte staatenübergreifende Austausch über positive und negative Erfahrungen von Umwelt-und Fachressorts mit verschiedenen Ansätzen und Strategien zur Politikintegration eröffnet insofern ein erhebliches Fortschrittspotential. Wie weit dieses Potential sich in tatsächlichen Verbesserungen bei der Integration von Umweltschutzbelangen in andere Sektorpolitiken niederschlägt, hängt nicht zuletzt ab von dem Interesse der Öffentlichkeit für die wenig spektakuläre, aber überlebenswichtige „kleine Münze“ von Politikintegration in der täglichen politischen und administrativen Praxis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wir verwenden den Begriff „Europäische Union“ immer dann, wenn auf die Europäischen Institutionen als politischer Akteur Bezug genommen wird. Ist hingegen eine Bestimmung der Europäischen Verträge oder des Europäischen Sekundärrechts von Bedeutung, so beziehen wir uns auf das jeweilige institutioneile Arrangement (Beispiel Europäische Gemeinschaft, Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik).

  2. In Deutschland betrifft dies vor allem die Qualität von Binnengewässern (Rhein, Bodensee) und die Luftreinhaltung, international beispielsweise den Schutz der stratosphärischen Ozonschicht.

  3. Siehe nur European Environment Agency, Environment in the European Union at the turn of the Century, Luxembourg 1999. Zusammenfassung erhältlich über http: //Externer Link: http://www.eea. eu. int>.

  4. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Partnerschaft für Integration: Eine Strategie zur Einbeziehung der Umweltbelange in die EU-Politik, Mitteilung der Kommission an den Europäischen Rat vom 27. Mai 1998, KOM(1998) 333 final; Michael Kraack/Heinrich Pehle/Petra Zimmermann-Steinhart, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25-26/98, S. 26-33. 5 Dabei belegt die Bundesrepublik Deutschland Platz 11 unter den 15 EU-Mitgliedstaaten. Vgl. European Environment Agency, Monitoring Progress Towards Integration -a contribution to the Global Assessment of the Fifth EAP. Interim Report of 31 March 1999, Copenhagen 1999, S. 21 ff.

  5. Beispielsweise: Verminderung von Schadstoffemissionen in der Abluft von Industrieanlagen durch den Einbau von Filtern; Katalysator in KFZ.

  6. Dieses sind die „Zielsektoren" für eine verbesserte Politikintegration im Fünften EU-Umweltaktionsprogramm (1992-1998).

  7. Vgl. Christian Hey, Why does Environmental Policy Integration in Europe fail? The case of Environmental Taxation for Heavy Goods Vehicles, Manuskript vom 27. September 1998, vorgestellt bei der Sommerakademie des Europäischen Hochschulinstituts/Florenz, S. 2.

  8. Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, unterzeichnet in Amsterdam am 2. Oktober 1997 (Amtsblatt EG C 340, 10. November 1997, S. 1 ff.).

  9. Ausführlich hierzu vgl. Stefani Bär/R. Andreas Kraemer, European Environmental Policy after Amsterdam, in: Journal of Environmental Law, 10 (1998) 2, S. 315-330.

  10. Im „Europäischen Rat“ kommen nach Artikel D des Vertrages über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag) die Staats-und Regierungschefs der EU Mitgliedstaaten sowie der Präsident der Europäischen Kommission mindestens zweimal jährlich unter dem Vorsitz der jeweiligen Rats-präsidentschaft zusammen. Der „Rat“ der Europäischen Gemeinschaft hingegen besteht nach Artikel 146 EG-Vertrag aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Minister-ebene. Je nach Ressortzugehörigkeit der im Rat versammelten Vertreter spricht man vom „Umweltministerrat“, dem „Landwirtschaftsministerrat" etc.

  11. Vgl. EU leaders urged forward on sustainability, in: ENDS Daily vom 11. Dezember 1997.

  12. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Europäischen Rat: Partnerschaft für Integration. Eine Strategie zur Einbeziehung der Umweltbelange in die EU-Politik, KOM(l 998) 333 final vom 27. Mai 1998, S. 7 f.

  13. Vgl. European Environmental Bureau, Memorandum to the German Presidency and the EU Member States, Brüssel, Januar 1999, S. 5-9; NGOs call for stronger EU policy In­ tegration, in: ENDS Daily vom 21. Juli 1999; Ritt Bjerregaard, Kommissarin für Umweltschutz bei der EU-Kommission, Redebeitrag bei der EEB/DNR Konferenz „Der Weg zu einem nachhaltigen Europa“, 17. Mai 1999 in Bonn, Konferenzdokumentation, S. 11-12.

  14. Hierin zeichnet sich deutlich eine „Europäisierung von Pclitikmustern“ ab. Vgl. allgemein Beate Köhler-Koch/Markus Jachtenfuchs (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996.

  15. Unter „institutionellen Voraussetzungen“ verstehen wir hier die Abgrenzung von Ressortkompetenzen, Abläufe von Entscheidungsverfahren in Politik und Verwaltung, den Kreis der Akteure, welche in Entscheidungsprozesse mit eingebunden werden, die Transparenz von Entscheidungsprozessen etc.

  16. Die in diesem Abschnitt aufgeführten Beispiele stützen sich, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf Informationen, welche die Verfasser bei unterstützenden Arbeiten im Zusammenhang mit der internationalen Expertenkonferenz „Best Practices for Integrating Environmental Protection Requirements into other Sector Policies“, 25. -26. Mai 1999 in Bonn, erlangten. Diese durch das deutsche Bundesumweltministerium und die Generaldirektion XI (Umwelt) der Europäischen Kommission veranstaltete Expertenkonferenz stellte einen Beitrag der Deutschen Ratspräsidentschaft zum Cardiff-Prozeß dar. Die Auswahl und Bewertung der hier aufgeführten Beispiele erfolgte ausschließlich in unserer Verantwortung.

  17. Vgl. Denmark scores highly in the Green League, in: ENDS Daily vom 20. April 1999: Danish . carbon dioxide emissions fall in 1998, in: ENDS Daily vom 21. April 1999.

  18. Vgl. The Government’s White Paper on the Future of Transport. A New Deal for Transport: Better for Everyone, London, July 1998.

  19. Der Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ (englisch: sustainable development) gilt seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro als globales Leitbild für eine wirtschaftliche und soziale Ent­wicklung, welche die maximalen Belastungsgrenzen von Ökosystemen respektiert. -Eine EU-Nachhaltigkeitsstrategie gibt es derzeit nicht, diese wird allerdings politisch diskutiert. Siehe Ministers call for sustainability plan by 2001, in: ENDS Daily vom 26. Juli 1999. Zur Umweltplanung vgl. Alexander Carius/Armin Sandhövel, Umweltpolitikplanung auf nationaler und auf internationaler Ebene, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/98, S. 11-20.

  20. Wichtige unterstützende Funktionen leistet auch der International Council of Local Environmental Initiatives (ICLEI). Für Informationen siehe http: //Externer Link: .">

  21. Allgemein versteht man unter einem Indikator eine Kenngröße, die der Beschreibung des Zustands eines Systems dient. Vgl. Rainer Walz, Grundlagen für ein nationales Umweltindikatorensystem: Weiterentwicklung von Indikatorensystemen für die Umweltberichterstattung, UBA-FB 97022, Berlin 1997, S. 6.

  22. Vgl. Swedes link environmental, economic performance, in: ENDS Daily vom 14. April 1999.

  23. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Alexander Carius, Ingmar von Homeyer und Stefani Bär in diesem Heft.

  24. Vgl. Sainsbury’s, M& S in „GM-free“ retailer consortium. in: ENDS Report 290 vom März 1999, S. 33 f.

  25. Vgl. Environment Agency shames polluting Companies, in: ebd., S. 6.

  26. Vgl. Climate Technology Initiative, Enhancing Markets for Climate Friendly Technologies: Leadership Through Government Purchasing, Volume 1, Paris 1998, S. 5.

  27. Vgl. OECD, Managing the Environment: The Use of Economic Instruments, Paris 1984.

  28. Vgl. nur OECD, Improving the Environment through Reducing Subsidies, Paris 1998.

Weitere Inhalte

Matthias Buck, Assessor jur., M. A., geb. 1967; Doktorand, International Relations Department, London School of Economics and Political Science. -Veröffentlichungen zu rechtlichen und ökonomischen Fragen der internationalen Umweltpolitik. R. Andreas Kraemer, Dipl. -Ing., geb. 1958; Geschäftsführer und Projektleiter, Ecologic, Gesellschaft für Internationale und Europäische Umweltforschung, Berlin, und Sekretär der Foundation for European Environmental Policy, Amsterdam. -Veröffentlichungen zur Umweltpolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. David Wilkinson, B. A., B. Phil., geb. 1949; 1977-1989 Senior Lecturer für Politics und Government an der University of Hartfordshire; seit 1989 Senior Fellow am Institute for European Environmental Policy (IEEP), London. -Zahlreiche Veröffentlichungen zu unterschiedlichen Aspekten Europäischer Umweltpolitik.