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Die USA vor der Millennium-Runde der WTO | APuZ 46-47/1999 | bpb.de

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APuZ 46-47/1999 Die neue WTO-Runde: Meilenstein auf dem Weg zu einer globalen Wirtschaftsordnung für das 21. Jahrhundert Umweltpolitik und Welthandelsordnung Konfliktfelder und Lösungsansätze Die USA vor der Millennium-Runde der WTO Die deutsch-europäische Verhandlungsposition bei der WTO-Handelsrunde Die Entwicklungsländer vor der neuen WTO-Runde

Die USA vor der Millennium-Runde der WTO

Andreas Pfeil

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Gastgeber USA hätte guten Grund, der WTO-Konferenz in Seattle beruhigt entgegenzusehen. Doch reichten ein Jahrzehnt wirtschaftlichen Wohlstands, eine positive Bilanz nach fünf Jahren WTO-Mitgliedschaft und handfeste wirtschaftliche Interessen bislang nicht aus, um den traditionellen innenpolitischen Konsens in der Handelspolitik herzustellen. Dieser ist spätestens seit der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1993 ins Wanken geraten. Der Kongreß weigert sich seit fünf Jahren. Präsident Clinton für Handelsgespräche zu autorisieren. Innerhalb und außerhalb des Kongresses wartet eine schlagkräftige Allianz aus Gewerkschaften und Umweltgruppen darauf, die Gespräche zu attackieren.

I. Abkehr vom Multilateralismus oder protektionistische Phase?

Vor dem Start der neunten multilateralen Verhandlungsrunde im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle sind es ausgerechnet die USA, die sich vor innenpolitischen Auseinandersetzungen wegen der Teilnahme an dieser Runde sehen. Die WTO-Tagung gibt Anlaß, die Entwicklungen der letzten Jahre hinsichtlich des handelspolitischen Entscheidungsprozesses in Washington zu analysieren. Der innenpolitische Konsens, der den Amerikanern jahrzehntelang eine an den Prinzipien der Liberalisierung ausgerichtete Handelspolitik garantierte und sie zum Motor des Welthandelssystems machte, ist in den neunziger Jahren ins Wanken geraten.

Der US-Kongreß weigert sich seit fünf Jahren, den Präsidenten für multilaterale oder regionale Handelsgespräche zu autorisieren und ihm die Ratifizierung derselben unter dem „Schnellverfahren“ (fast-track procedure) zur Verfügung zu stellen. Unter dem Schnellverfahren verpflichtet sich der Kongreß, ein Handelsabkommen innerhalb eines fest umrissenen Zeitplanes zu ratifizieren und dabei keine inhaltlichen Änderungen an dem Abkommen vorzunehmen Der Präsident braucht diese Autorisierung, um den Handelspartnern der USA eine reibungslose Ratifizierung der Millennium-Runde garantieren zu können. Ohne diese Garantie würden die USA mit geminderter Verhandlungskapazität in die Runde eintreten. Die Gespräche drohten dann entweder im Sande zu verlaufen oder nur magere Ergebnisse zu produzieren. Der Streit um das Verfahren zwischen Präsident und Kongreß ist zum sichtbarsten Symptom für den wachsenden Widerstand gegenüber einer Handelsliberalisierung in den USA geworden.

Ist ein neuer Konsens dennoch erreichbar? Die gegenwärtige Situation in der amerikanischen Handelspolitik ist nicht ohne Beispiel. Bereits nach dem Ende der Kennedy-Runde 1967 und der Tokio-Runde 1979 sah es zeitweise so aus, als ob die Handelspolitik der USA dem Protektionismus verfallen oder sich durch den Fokus auf regionale Initiativen vom multilateralen System der Handelsliberalisierung distanzieren würde Handelt es sich beim gegenwärtigen Stillstand in der US-Handelspolitik wieder nur um eine protektionistische Zwischenphase, oder vollziehen sich strukturelle Änderungen in der innenpolitischen Interessenkonstellation, die langfristig einen Konsens in der US-Handelspolitik unmöglich machen? Besteht dieses Mal wirklich die Gefahr, daß die USA dem multilateralen Handelssystem den Rücken kehren

In diesem Beitrag wird die These vertreten, daß eine Abkehr der USA vom Multilateralismus nicht bevorsteht. Auch die Teilnahme der USA an der Millennium-Runde ist nicht unmittelbar gefährdet. Dennoch: Die innenpolitische Debatte der letzten Jahre zeigt, daß die USA international ein unberechenbarer Partner in der Handelspolitik geworden sind. Je nachdem wie sich die Runde inhaltlich entwickelt und wie Präsident und Kongreß den zu erwartenden Widerstand gegen die Millennium-Runde bewältigen, könnten die Gespräche zu den umstrittensten Verhandlungen seit der Verabschiedung des umkämpften Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1993 werden. Es besteht ebenso die Möglichkeit, daß die Runde die politischen Kräfte hinter der Handelsliberalisierung mobilisiert und langfristig zu einem neuen Konsens im innenpolitischen Gefüge des handelspolitischen Entscheidungsprozesses führt.

II. Defizit in der Handelsbilanz, WTO-Mitgliedschaft und wirtschaftliche Interessen

Angesichts der großen politischen und ökonomischen Veränderungen in den neunziger Jahren könnte die Vermutung bestehen, daß externe Faktoren den innenpolitischen Konsens der US-Handelspolitik belasten. Die folgenden Ausführungen zeigen, daß dies nicht der Fall ist.

1. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen nach der Asienkrise

Es wird allgemein angenommen, daß eine Politik der Handelsliberalisierung in den USA größere Chancen hat, wenn das gesamtwirtschaftliche Klima positiv ist. Demzufolge müßte die Millennium-Runde in den USA große Unterstützung erfahren. Tatsächlich jedoch ist die Beziehung zwischen wirtschaftlicher Großwetterlage und Handelsliberalisierung nicht eindeutig. Der Zerfall des innenpolitischen Konsenses in der amerikanischen Außenhandelspolitik in den neunziger Jahren ereignete sich ausgerechnet während einer der langanhaltendsten wirtschaftlichen Boomphasen Jahrelanges ununterbrochenes Wirtschaftswachstum, eine Arbeitslosenquote von unter fünf Prozent, erstmals seit vielen Jahren wachsende Realeinkommen, geringe Preissteigerungen, ein Dow-Jones-Aktienindex, der von Rekordmarke zu Rekordmarke eilt und 1999 erstmals 11 000 Punkte erreicht hat: kurz, wichtige Indikatoren dokumentieren die robuste Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft. Reicht die negative Entwicklung der amerikanischen Handels-bzw. Zahlungsbilanz aus, um die Skepsis der USA gegenüber dem Prinzip des Freihandels zu erklären? Die außerordentliche Wirtschaftskraft der USA hat in den neunziger Jahren gleichwohl zu einem gigantischen Handelsbilanzdefizit geführt. Im Güterhandel allein ist das Defizit von 133 Milliarden US-Dollar in Präsident Clintons erstem Amtsjahr auf 248 Milliarden im Jahr 1998 angewachsen Für 1999 lauten die Prognosen auf 300 Milliarden. Im Juni 1999 über-stiegen Importe in die USA im Zeitraum eines Monats zum ersten Mal die 100 Milliarden-Marke Der US-Kongreß verfolgt diese Entwicklung mit Besorgnis und hat eine Kommission einberufen, die das Defizit in der Handelsbilanz untersuchen wird. Gegner der Handelsliberalisierung deuten immer wieder auf die negativen Fol-gen eines permanenten Defizites hin. Dennoch fin-den sich keine Hinweise, die das Defizit in der amerikanischen Handelsbilanz als alleinigen Faktor für den Widerstand gegen Handelsliberalisierung verantwortlich machen würden.

2. Mitgliedschaft der USA in der WTO. Eine Bilanz nach fünf Jahren

Das Implementierungsgesetz, mit dem der Kongreß 1994 die Uruguay-Runde ratifizierte, hielt den USA einen Rückzug aus der WTO offen. Der rechte Flügel der Republikaner im Senat hatte auf der Möglichkeit eines Ausscherens aus der Organisation bestanden, falls die Schiedsgerichtsverfahren der WTO sich als nachteilig für die Interessen der USA herausgestellt hätten Hat sich die Mitgliedschaft der USA in der Welthandelsorganisation als negativ erwiesen, und könnte dies der Grund für einen Rückzug aus dem Welthandelssystem sein? Nach fünf Jahren Mitgliedschaft in der WTO ist die Bilanz der USA positiv und kann damit kein Stolperstein für ein Engagement der Amerikaner in der Welthandelsorganisation sein. Die Amerikaner machen von dem verbesserten Streitschlichtungsverfahren der Welthandelsorganisation regen Gebrauch. An den 138 Beschwerden, die bis Juni 1998 unter dem Streitschlichtungsverfahren vorgebracht wurden, waren die USA 50mal als Kläger und 25mal als Beklagte beteiligt, so oft wie kein anderes Mitglied. Von 19 Entscheidungen der WTO, die die USA berührten, lagen 17 im Interesse der Amerikaner Außerdem hat die Mitgliedschaft in der WTO die Amerikaner nicht davon abgehalten, ihre Interessen bei Bedarf unilateral zu verfolgen. Das sogenannte Helms-Burton-Gesetz, das nichtamerikanische Firmen mit Sanktionen bedroht, die Handel mit Kuba betreiben, oder einseitig verhängte Strafzölle auf Luxuskonsumgüter der Europäischen Union im Bananenstreit sind Beispiele dafür. Die USA profitieren von der WTO auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Die Organisation zählt mittlerweile 134 Mitgliedsländer. Über 30 Länder stehen derzeit auf der Warteliste, um der Organisation beizutreten. Der Beitritt verpflichtet die meisten Länder, mit Ausnahme der ärmsten, sämtlichen unter dem Welthandelsregime abgeschlossenen Verträgen beizutreten. Für Industriestaaten wie die USA kann dies nur von Vorteil sein, profitieren doch gerade sie von Regelungen wie den Bestimmungen zum Schutz geistigen Eigentums. Außerdem ist es während der ersten fünf Jahre der WTO zu drei bedeutenden sektoralen Abkommen in den Bereichen Informationstechnologien, Telekommunikation und Finanzdienstleistungen gekommen, in denen die USA besonders wettbewerbsfähig sind. Aus Sicht wichtiger Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik der USA ist die Mitgliedschaft in der WTO durchaus im nationalen Interesse.

3. Wirtschaftliche Interessen in der Millennium-Runde

Weite Teile der amerikanischen Wirtschaft werden von der Millennium-Runde profitieren Das gilt in erster Linie für den Agrarsektor und die Dienstleistungen, wo die USA schon während der Uruguay Runde auf umfangreiche Handelsliberalisierung drängten. In beiden Bereichen sind die Amerikaner höchst wettbewerbsfähig. Marktzugang ist hier oberstes Ziel, sehen sich die Amerikaner doch in diesen Bereichen den hartnäckigsten Handelsschranken in Form von Zöllen oder Exportsubventionen des Auslands gegenüber. An zweiter Stelle steht die Einhaltung von in der Uruguay-Runde gemachten Zusagen. Dazu gehören in erster Linie die Vereinbarungen für den Handel mit geistigem Eigentum, Investitionsregelungen, Subventionen und Zollwertfestsetzung. Uneinigkeit dürften auf amerikanischer Seite die sogenannten „neuen Themen“ hervorrufen. Dazu zählen besonders umweltpolitische und die Arbeitsbeziehungen betreffende Aspekte, die innenpolitisch brisant sind. Die Amerikaner geloben, ihren Handel am Prinzip der Nachhaltig-keil (sustciincible development) auszurichten und sichern die Partizipation von Umweltverbänden an der WTO-Runde zu. Konkrete Vorschläge in diese Richtung liegen bislang aber nicht auf dem Tisch. Umweltverbände haben die Clinton-Administration deshalb bereits kritisiert Keiner der bislang genannten Faktoren scheint einer Teilnahme der USA an der Millennium-Runde im Wege zu stehen. Die Probleme bei der Formulierung der Handelspolitik liegen bei den politischen Akteuren in Exekutive und Kongreß. Der grundsätzliche innenpolitische Konsens in der Handelspolitik der USA ist erschüttert.

III. Der lange Schatten von NAFTA

Die Ratifizierung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens zwischen den USA, Kanada und Mexiko im US-Kongreß im November 1993 legte den innenpolitischen Dissens bei der Formulierung amerikanischer Handelspolitik offen. Das Abkommen war bis zum Tag der Abstimmung hart umkämpft und passierte das Repräsentantenhaus mit nur 234-zu 200 Stimmen, ein im Vergleich zu vorhergehenden Abstimmungen knappes Ergebnis NAFTA zeigte erstmals die veränderten strukturellen Bedingungen des Entscheidungsprozesses auf, die zu Beginn des neuen Jahrtausends die innenpolitischen Parameter amerikanischer Außenhandelspolitik sein werden.

1. Neue Allianzen gegen Handelsliberalisierung

Das Ende des Kalten Krieges hat die Parameter der Formulierung der Außenhandelspolitik verändert Die USA können jetzt eigene Interessen verfolgen, ohne auf Alliierte im „Westen“ Rücksicht nehmen zu müssen. NAFTA hat diese Entwicklung zum Vorschein gebracht und manifestiert. Innerhalb des Kongresses gibt es derzeit keine garantierten Mehrheiten für eine Handels­ liberalisierung. Zwei strukturelle Entwicklungen sind erwähnenswert. Erstens, im Lager der Republikaner hat die traditionelle Zustimmung gegenüber Freihandel während der neunziger Jahre abgenommen. Besonders der rechte Flügel der Partei artikuliert Bedenken gegenüber dem multilateralen Handelsregime der WTO. Manche Republikaner fürchten, daß die WTO die Souveränität der USA in wichtigen innenpolitischen Politikbereichen untergraben könnte. Berücksichtigt man dazu den Widerstand der Demokraten gegenüber Handelsliberalisierung, sind die Stimmen für Handelsabkommen besonders im Repräsentantenhaus knapp geworden. Zweitens, die Ratifizierungsabstimmungen von NAFTA und der Uruguay-Runde haben gezeigt, daß jüngere Abgeordnete Handels-liberalisierung weniger unterstützen als die älteren Dieser Trend ist in beiden Parteien gleich stark und macht den Ausgang zukünftiger Entscheidungen in der Handelspolitik ungewiß. Außerhalb des Kongresses hat sich eine schlagkräftige Opposition formiert. Sie reicht von den amerikanischen Gewerkschaften, Umwelt-und Konsumentenverbänden bis hin zu Politikern wie Ross Perot und Pat Buchanan. NAFTA hat diesen Gruppen gezeigt, daß es sich auszahlt, Handelspolitik für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Ökonomische Ängste in der Bevölkerung werden durch die Globalisierungsdebatte genährt. Handelsnationen wie Mexiko oder China werden als Bedrohung und als Grund für den Verlust von Arbeitsplätzen und sinkende Löhne verantwortlich gemacht.

2. Die Handelspolitik der Clinton-Administration

Handelspolitk war zu keinem Zeitpunkt eine Priorität der Clinton-Administration. Für den Präsidenten ist Handelspolitik ursprünglich nur eine Komponente seines wirtschaftspolitischen Reformprogrammes gewesen. Während seiner Amtszeit wollte Clinton nicht mit Gewerkschaften und Umweltgruppen auf Konfrontationskurs gehen, weshalb er Handelsliberalisierung nicht aggressiv verfolgte. Der Präsident trat für Handelsliberalisierung meist nur rhetorisch ein. Die Folge war eine knappe Abstimmung bei NAFTA, eine mühsame Ratifizierung der Uruguay-Runde im Kongreß und der Verlust der handelspolitischen Vollmacht inklusive des Schnellverfahrens. Um letzteres hat sich der Präsident seit 1994 nicht mehr aufrichtig bemüht. Erschwerend wirkte sich der Verlust der demokratischen Mehrheit im Kongreß aus. Seit der Machtübernahme der Republikaner und spätestens nach der Lewinsky-Affäre ist das Verhältnis zwischen der Clinton-Administration und der republikanischen Führung im Kongreß derart unversöhnlich, daß eine ernsthafte Zusammenarbeit in wichtigen Politikbereichen kaum noch möglich ist. Die Handelspolitik fiel dem zum Opfer.

3. Umwelt und Arbeit -neue Themen auf der Agenda

Die NAFTA-Debatte hat neue Themen auf die handelspolitische Agenda gesetzt. Dazu gehören in erster Linie die Themen Umwelt und Arbeit Die Einbeziehung dieser Aspekte in Handelsabkommen spaltet Demokraten und Republikaner im Kongreß. Demokraten befürworten sie, Republikaner lehnen sie in der Regel ab. Der ursprüngliche Parteienkonsens im Kongreß wird durch Umwelt und Arbeit unterminiert.

4. Der Nutzen von Handelsliberalisierung

Der Nutzen von Handelsliberalisierung ist der amerikanischen Bevölkerung nicht ersichtlich. NAFTA wurde 1993 von seinen Befürwortern als Formel für neue Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum „über“ -verkauft. Die von den Protagonisten versprochenen Arbeitsplätze sind nicht geschaffen worden. Im Gegenteil, in einigen Sektoren der amerikanischen Wirtschaft wie der Automobilindustrie hat die Beschäftigung abgenommen, was u. a. auf die Verlagerung von Produktionsstandorten nach Mexiko zurückzuführen ist. Der Nutzen von multilateralen Handelsabkommen ist der Bevölkerung noch weniger ersichtlich. Die prognostizierten Gewinne multilateraler Handelsliberalisierung sind -am amerikanischen Bruttosozialprodukt gemessen -vernachlässigbar. Befürworter von Handelsliberalisierung werden zukünftig begründen müssen, warum regionale und multilaterale Handelsabkommen aufwendige Entscheidungsprozesse rechtfertigen. Die obengenannten Entwicklungen führten dazu, daß Versuche, Präsident Clinton Vollmacht in der Handelspolitik und das fast-track procedure zur Verfügung zu stellen, seit 1993 viermal scheiterten. Der bisherige Tiefpunkt wurde im September 1998 erreicht, als das Repräsentantenhaus das Schnellverfahren erstmals in seiner Geschichte mit 243 zu 180 Stimmen ablehnte

IV. Szenarien zur Überwindung der Paralyse in der US-Handelspolitik

Der innenpolitische Konsens in Fragen der Handelspolitik hat in den neunziger Jahren erheblich abgenommen, führte jedoch nicht zur Abkehr der USA vom Multilateralismus. Der handelspolitische Entscheidungsprozeß befindet sich in einer Übergangsphase, wobei noch nicht absehbar ist, welche Richtung er einschlagen wird. Sicher ist, daß es keine Rückkehr zum gewohnten System handelspolitischer Entscheidungsfindung geben wird. Der Start der Millennium-Runde und die Teilnahme der USA an den multilateralen Handelsgesprächen ist aus zwei Gründen zunächst nicht gefährdet:

Erstens: Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, daß die Teilnahme der USA an multilateralen Handelsgesprächen nicht auf dem Spiel steht, wenn die Autorisierung des Kongresses oder das Schnellverfahren zu Beginn nicht vorhanden sind. Die Tokio-Runde hatte 1973 begonnen, ohne daß Präsident Nixon das Schnellverfahren zur Verfügung stand. Der Kongreß gewährte es erst Ende 1974. Ronald Reagan konnte 1986 an der Uruguay-Runde des GATT teilnehmen, obwohl das Schnellverfahren kurz davor war auszulaufen und der Kongreß den Präsidenten nicht für die Verhandlungen autorisiert hatte. Erst das Handelsgesetz von 1988 holte dies nach.

Zweitens: Multilaterale Handelsgespräche im Rah-men der WTO haben im Vergleich zu regionalen Freihandelsabkommen . größere Unterstützung im Kongreß. Die wirtschaftlichen Interessen der USA im Welthandelssystem sind beträchtlich und die Gefahr eines politischen Gesichtsverlusts bei Nicht-Teilnahme groß.

Diese Gründe lassen eine Einigung über die handelspolitische Autorisierung für Präsident Clinton und die Genehmigung des Schnellverfahrens vor Beginn oder in der Anfangsphase der multilateralen Handelsgespräche möglich erscheinen. Ernsthafter Schaden für das Welthandelssystem und für die USA würde jedoch entstehen, wenn sich Kongreß und Exekutive nicht einigen könnten. Langfristig kann ein innenpolitischer Konsens in der Formulierung der US-Außenhandelspolitik nur über grundsätzliche strukturelle Veränderungen erreicht werden. Ohne das Schnellverfahren geht es nicht, auch wenn gelegentlich anderslautende Forderungen gestellt werden Auswege aus dem festgefahrenen Entscheidungsprozeß der amerikanischen Handelspolitik bestehen in prozessualer und inhaltlicher Hinsicht:

Erstens: Eine Reform des Schnellverfahrens könnte das Verfahren attraktiver und damit mehrheitsfähiger machen Die Mitwirkungsrechte des Kongresses sollten hierbei weiter gestärkt werden. Handelspolitische Entscheidungsprozesse müssen für die Öffentlichkeit transparenter werden. Dies beinhaltet einerseits Aufklärung der Bevölkerung über Handelsgespräche, andererseits verbesserte Partizipation von Gruppen der Zivilgesellschaft.

Zweitens: Der Nachfolger Bill Clintons müßte wieder klare Ziele in der amerikanischen Handelspolitik vorgeben und verfolgen. Alternativen zur Handelsliberalisierung innerhalb und außerhalb des Kongresses treten immer dann auf, wenn in der Exekutive ein Vakuum hinsichtlich handelspolitischer Entscheidungen herrscht.

Drittens: Themen wie Umwelt und Arbeit sollten nicht kategorisch von der Agenda ausgeschlossen sein. Der kausale Zusammenhang zwischen Handel und Umwelt bzw. Handel und Arbeitsbedingungen ist nicht mehr zu leugnen. Insbesondere die Republikaner müßten verstehen, daß umweltpolitische und arbeitsrechtliche Klauseln in Handelsverträgen deren Akzeptanz erhöhen, auch ohne daß die von ihnen befürchteten Kosten oder Verwaltungsstrukturen etwa zur Planung von Umweltprogrammen notwendig werden. NAFTA hat dies gezeigt. Viertens: Der WTO-Gipfel von Seattle kann in der amerikanischen Innenpolitik und international nur zu Ergebnissen führen, wenn es den Regierungen gelingt, mit den Forderungen der Zivilgesellschaft umzugehen. Die Millennium-Runde wird die erste Runde unter dem Welthandelsregime der WTO sein, die im Rampenlicht einer tendenziell eher feindselig gesinnten internationalen Öffentlichkeit steht. Es ist derzeit offen, ob komplexe internationale Handelsgespräche unter diesen Umständen zu Ende gebracht werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Andreas Pfeil, Abschied von der „schnellen Schiene“? NAFTA, GATT und die Ratifizierung von Handelsabkommen in den USA, 1974-1999 (i. E.).

  2. Vgl. Barbara Fliess, Die Vereinigten Staaten zwischen Protektionismus und Liberalisierung. Handelsdiplomatie im Vorfeld der Uruguay-Runde, Ebenhausen 1991.

  3. Vgl. Jeffrey Garten, Is America abandoning multilateral trade?, in: Foreign Affairs, 74 (1995) 6, S. 50-62; Andreas Falke, Abkehr vom Multilateralismus? Der Einfluß des Kongresses auf die amerikanische Handelspolitik und das Welthandelssystem, Opladen 1999.

  4. Zum paradoxen Verhältnis von wirtschaftlicher Prosperität und wachsender Skepsis gegen Handelsliberalisierung vgl. I. M. Destier, Trade policy at a crossroads. An approach for 1999 -and beyond, in: Brookings review, 17 (1999) 1, S. 2630.

  5. Vgl. 1999 Trade policy agenda and 1998 annual report of the President of the United States on the trade agreements program, Washington, D. C. 1999, S. 29; Catherine Mann, Is the U. S. trade deficit sustainable?, Washington D. C. 1999.

  6. Vgl. Imports push trade deficit to a new high, in: The New York Times vom 20. August 1999, S. C 1/C 2.

  7. Vgl. I. M. Destier, American trade politics, Washington, D. C. 1995\S. 253.

  8. Zur WTO allgemein vgl. Anne O. Krueger (Hrsg.), The WTO as an international Organization, Chicago -London 1998.

  9. Vgl. Jeffrey J. Schott, The World Trade Organization: Progress to date and the road ahead, in: ders. (Hrsg.), Launching new global trade talks. An action agenda, Washington, D. C. 1998, S. 8 f.

  10. Vgl. zu den Zielen der USA die Aussage der Stellvertretenden Handelsbeauftragten Susan Esserman am 5. August 1999 vor dem Kongreß, American goals in the trading System. Statement of the Honorable Susan Esserman, Testimony before the Subcommittee on trade of the House Ways and Means Committee (web-page Externer Link: http://www.house. gov/, 12. August 1999).

  11. Vgl. Environmental groups disappointed in U. S. agenda for WTO talks, in: Inside U. S. Trade vom 13. August 1999, S. 10 f.

  12. Gute Zusammenfassungen der innenpolitischen Debatte über NAFTA bieten I. M. Destier (Anm. 7); Frederick Meyer, Interpreting NAFTA. The Science and art of political analysis, New York 1998, S. 219-343; William A. Orme, Continental shift. Free trade and the new North America, Washington, D. C. 1993.

  13. Vgl. Andreas Falke, Auf dem Weg zu einer neuen Handelspolitik? Die USA und das Welthandelssystem, in: Matthias Dembinski/Peter Rudolf/Jürgen Wilzewski (Hrsg.), Amerikanische Weltpolitik nach dem Ost-West-Konflikt, Baden-Baden 1994, S. 265-305.

  14. Vgl. A. Pfeil (Anm 1).

  15. Vgl. Steve Charnowitz, Labor and environmental issues, in: J. A. Schott (Hrsg.) (Anm. 9), S. 55-68. Anmerkung der Redaktion: Siehe zu diesem Thema auch den Beitrag von Michael Pflüger in diesem Heft.

  16. Vgl. House vote Signals a key reversal of U. S. support for free trade, in: Congressional Quarterly, Weekly Report vom 26. September 1998, S. 2603 f.

  17. Vgl. Mack Mc Larty, Fast track isn’t fast enough, in: The New York Times vom 20. Juli 1999, S. A 15.

  18. Vgl. I. M. Destier, Fast track: Options for the process. in: J. A. Schott (Hrsg.) (Anm. 9), S. 41 -52.

Weitere Inhalte

Andreas Pfeil, M. A., Dr. phil, geb. 1968; Studium der Politikwissenschaft, Wirtschaftspolitik und Rechtsgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, der Brock University, St. Catharines, Ontario/Kanada und der University of Wisconsin in Madison; seit 1998 Mitarbeiter beim Human Devel-^ opment Report Office des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) in New York. Veröffentlichungen u. a.: Abschied von der „schnellen Schiene“? NAFTA, GATT und die Ratifizierung von Handelsabkommen in den USA, 1974-1999 (i. E.); Koautorschaft am Human Development Report 1999, Schwerpunktthema Globalisierung.