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Die „Wende“ in der DDR als demokratische Revolution | APuZ 45/1999 | bpb.de

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APuZ 45/1999 Imressum Die Revolution in der DDR. Ambivalenzen einer Selbstbefreiung Die „Wende“ in der DDR als demokratische Revolution Deutsche -zehn Jahre nach der Wende. Ergebnisse einer vergleichenden Ost-West-Untersuchung Zwischen Freiheitssuche und DDR-Nostalgie. Lebensentwürfe und Gesellschaftsbilder ostdeutscher Jugendlicher

Die „Wende“ in der DDR als demokratische Revolution

Mark R. Thompson

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Warum hat man zehn Jahre nach dem Fall der Mauer längst aufgehört, von einer demokratischen Revolution zu sprechen und benutzt statt dessen die ursprüngliche SED-Formulierung „Wende“? Haben es die Deutschen verlernt, positive Ereignisse und Begriffe ihrer Zeitgeschichte angemessen zu bezeichnen und zu würdigen? Manche Kritiker, vor allem die „Revolutionäre“ selbst, behaupten, es habe sich bei den Ereignissen von 1989/90 nicht um eine wirkliche Revolution gehandelt. Die Enttäuschung vieler Bürgerrechtler über die politische Entwicklung seit 1990 erklärt die Ablehnung des Revolutionsbegriffes aber nicht vollständig. Für viele Revolutionsforscher muß eine „echte“ Revolution u. a. gewalttätig und Streng organisiert sein. Die ostdeutsche Revolution hingegen war friedlich, spontan und städtisch. Oft wird auch verkannt, wer die eigentlichen Revolutionäre waren. Die Bürgerrechtler waren zu einem größeren Teil Revolutionäre wider Willen. Die Fixierung der Forschungsliteratur auf die Bürgerbewegung deutet darauf hin, daß die ostdeutsche Revolution weitgehend mißverstanden wird. Die „Abwanderung“ der Ausreisenden und Flüchtlinge war in ihren politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen letztlich wichtiger als der politische „Widerspruch“ der Bürgerrechtler.

I. „Wende“ versus Revolution

Warum hat man zehn Jahre nach dem Fall der Mauer längst aufgehört, von einer demokratischen Revolution zu sprechen? Es ist bezeichnend, daß die ostdeutsche Revolution fast nur noch „die Wende“ genannt wird -ein Ausdruck, der ironischerweise von Egon Krenz stammt. Warum wird die ostdeutsche Revolution nicht -um auf R. R. Palmers Begrifflichkeit zurückzugreifen -als Teil des „Zeitalters der demokratischen Revolution“ verstanden? Warum werden die spontanen Volks-aufstände in Osteuropa und anderswo hinsichtlich ihrer Analyse nicht in den wissenschaftlichen Kanon der Revolution aufgenommen? Es fehlt allzu oft eine vergleichende Perspektive, um die demokratische Revolution in der DDR als eine unter vielen derartigen demokratischen Revolutionen zu betrachten. Abgesehen von einem offenbar impliziten Kulturchauvinismus (man kann Europa doch nicht mit den Entwicklungsländern vergleichen!), findet man wenig in der Revolutions-oder Demokratieforschung, das hilft, die revolutionären Ereignisse in der DDR in einer globalen „revolutionären“ Perspektive zu betrachten.

Demokratische Revolutionen können als friedliche Volkserhebungen verstanden werden, die überwiegend in Großstädten stattfinden bzw. dort ihr Zentrum haben, meistens spontan beginnen und nur lose organisiert sind. Einer revolutionären Situation folgt zumeist ein demokratisches Resultat. Nach dem Sturz eines unnachgiebigen Diktators werden Meinungsvielfalt toleriert, freie Wahlen abgehalten und die gewählten Volksvertreter mit der Macht des Staates ausgestattet. In den letzten 13 Jahren haben fast ein Dutzend demokratische Revolutionen in Asien, Osteuropa und Afrika stattgefunden.

Im innerdeutschen Diskurs jedoch behaupteten viele Kritiker -vor allem die „Revolutionäre“ selbst es habe sich bei den Ereignissen 1989/90 in der DDR nicht um eine wirkliche Revolution gehandelt. Enttäuschte ostdeutsche Bürgerrechtler sprachen von einer „mißglückten“ Revolution. Die Maueröffnung in der DDR markierte für viele Bürgerrechtler den Anfang des Scheiterns der Revolution. Statt der erhofften „Basisdemokratie“ in einer sozialistischen DDR „mit menschlichem Antlitz“ wurde ein parlamentarisches politisches System und mit der deutschen Einigung die Marktwirtschaft eingeführt.

Aber die Enttäuschung einiger Bürgerrechtler erklärt die Ablehnung des Revolutionsbegriffes auf die Vorgänge in der DDR nicht vollständig. Sie beruht auch auf allgemeinen theoretischen Defiziten. Für viele Revolutionsforscher muß eine echte Revolution soziale Umwälzungen mit sich bringen Darüber hinaus ist das Revolutionsbild in der Forschung stark von gewalttätigen, streng organisierten und auf den ländlichen Raum konzentrierten sozialen Bewegungen geprägt Offensichtlich verlief die ostdeutsche Revolution nach einem anderen Muster. Sie war friedlich, spontan und städtisch. Zwar hat sie einen Regimewechsel und mit der Einigung sogar erhebliche sozioökonomische Veränderungen mit sich gebracht. Doch Demokratie und Kapitalismus zählen offenbar nicht zu jenen Ergebnissen, welche die geläufige Revolutionsforschung als revolutionär bezeichnet.

Ein zweiter Grund, warum der Revolutionsbegriff dem Wort „Wende“ weichen mußte, ist, daß oft verkannt wird, wer die eigentlichen Revolutionäre waren. Die Bürgerrechtler waren allenfalls Revolutionäre wider Willen Sie waren keine antikom- munistischen Dissidenten wie anderswo in Osteuropa, sondern sozialistische Revisionisten Sie lehnten es zumeist sogar ab, sich als Oppositionelle zu bezeichnen. Weit davon entfernt, einen schnellen, tatsächlichen Machtwechsel erzwingen zu wollen, versuchten die DDR-Bürgerrechtler, den Reformkommunisten unter Ministerpräsident Hans Modrow zu helfen, den gesellschaftlichen Aufstand zu überstehen. An Runden Tischen wollten sie gemeinsam mit der Regierung die DDR reformieren, nicht abschaffen. Dabei ignorierten sie den überwältigenden Wunsch der Bevölkerung nach der Überwindung des unfähigen SED-Systems sowie letzlich nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Politisch und gesellschaftlich isoliert sowie schlecht organisiert, schnitten die Bürgerrechtler bei den Parlamentswahlen im März 1990 geradezu katastrophal ab. Bündnis 90, die größte politische Partei der Bürgerbewegung, erreichte bei den Volkskammerwahlen nur wenige Stimmen.

Die Fixierung der wissenschaftlichen und populären Literatur auf die Bürgerbewegung deutet darauf hin, daß die ostdeutsche Revolution fundamental mißverstanden wird. Um die Begrifflichkeit von Albert O. Hirschmann anzuwenden: Die „Abwanderung“ („exit“) der Massen war für die Systemüberwindung wichtiger als der „Widerspruch“ („voice“) der Bürgerrechtler Schon bevor die Ausreisewelle im Sommer 1989 die Revolution ins Rollen brachte, hatten Gruppen von „Ausreisewilligen“ öffentlich protestiert -Demonstrationen, welche die Bürgerrechtler weitgehend boykottierten. „Exit“ hatte nicht nur „voice“ ausgelöst, die Ausreisewilligen waren auch maßgeblich am „Widerspruch“ beteiligt und verkörperten dabei die Forderung der großen Mehrheit der Ostdeutschen nach der Vereinigung. Man kann in gewisser Weise von einem kollektiven „exit“ der Ostdeutschen in die Bundesrepublik sprechen und damit von einer revolutionären Massenbewegung. Auch wenn die revolutionären Tendenzen der Ereignisse von 1989 anfangs von westdeutschen Politikern begrüßt wurden, breitete sich schnell die Besorgnis aus, daß sie außer Kontrolle geraten könnten. Die Regierung der Bundesrepublik bemühte sich, die „Wende“ in geordnete Bahnen zu lenken. Es wurde befürchtet, daß eine Demokratisierung durch eine eventuell gewalttätige Revolution kaum möglich wäre, deswegen -sowie im Hinblick auf die hohe Zahl der Übersiedler -mußte die Vereinigung so schnell wie möglich stattfinden. Die Demokratisierungsliteratur neigt dazu, die Formen des Übergangs zur Demokratie unter dem Aspekt der Spannungen bzw.der Verhandlungen zwischen elitären und zumeist autoritären Reformern einerseits und der Masse der gemäßigten Oppositionellen andererseits zu betrachten. Sie setzt sich deswegen selten mit der Frage auseinander, was eigentlich zu tun ist, wenn ein diktatorisches Regime die Macht nicht freiwillig aufgeben will. Honecker war ein „Hardliner“, und die Verhandlungen begannen erst nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes. Die Demokraten in der DDR rebellierten, weil sie rebellieren mußten, um eine Demokratisierung zu verwirklichen. Bevor ich die einzelnen Kritikpunkte zu beantworten versuche, muß eine zusätzliche Ursache für die Skepsis kurz angesprochen werden. Handelt es sich bei dieser Diskussion nicht bloß um einen uninteressanten Streit um die richtige Benennung eines Phänomens, um eine nominalistische Debatte? Schon Shakespeare fragte: „What’s in a name? that which we call a rose/By any other word would smell as sweet.“ Führt nicht eine „Revolution“ unter einem anderen, weniger umstrittenen Namen auch zum Sturz des ancien regime? Bedeutet nicht Demokratie -als Regime-gegensatz -zumindest Meinungsfreiheit und freie Wahlen? Abstrakt betrachtet, ist die Bezeichnung dieser Sachverhalte vollkommen willkürlich. In der Realität der Systemkonfrontation und des heftig umkämpften politischen Diskurses aber sind die Konzepte „Revolution“ und „Demokratie“ durchaus Schwergewichte. Die Bezeichnung eines politischen Ereignisses als „revolutionär“ verleiht ihm große Bedeutung. Ein Regime demokratisch zu nennen, stellt in der politischen Theorie wie in der Praxis ein kaum zu übertreffendes Kompliment dar. Verwehrt man dem Umbruch 1989/90 in der DDR die Bezeichnung „Revolution“, so schmälert man seinen Stellenwert. Enthält man ihm das Wort „demokratisch“ vor, so impliziert dies eine gewisse Skepsis gegenüber dem Wesen und dem Wert des Systemwechsels. Der Begriff der demokratischen Revolution ist also keine bloße analytische Feststellung, sondern auch eine normative Aussage über Bedeutung und Resultate der Ereignisse.

II. Keine „wirkliche“ Revolution?

Die demokratische Revolution in der DDR wurde von führenden Bürgerrechtlern nur kurze Zeit als eine Revolution betrachtet. Noch am 4. November 1989 sprach man von einer „gewaltlosen Revolution“ oder -eher etwas ironisch -von der „Novemberrevolution“ Nach dem Mauerfall am November aber änderte sich rasch die Sicht vieler prominenter Bürgerrechtler. Konrad Weiß begann, von Revolution nur in Anführungszeichen zu sprechen: „Ich selbst gebrauche eigentlich das Wort Revolution’ in diesem Zusammenhang nicht, sondern ich sage , Umbruch'.“ 9 Bärbel Bohley ging noch einen Schritt weiter. Im Februar 1990 sagte sie: „Ich habe schon immer daran gezweifelt, daß es eine Revolution ist. Ich habe das mehr als ein Aufbegehren empfunden, das aus einer großen Hilflosigkeit entstanden ist.“ Der Ruf nach der Einheit, der bald nach dem 9. November dominant wurde, bedeutete für die Bürgerrechtler das Ende ihrer Hoffnung auf einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Bei den ersten und letzten freien Wahlen der DDR erreichte das Bündnis 90 lediglich 2, 9 Prozent der Stimmen. Aus Sicht der Bürgerrechtler war nach Weiß „die Revolution vom vergangenen Herbst [1989] . . . mißglückt“

Betrachtet man diese Aussagen in einer vergleichenden Perspektive, so stellt man fest, daß es sich dabei um ein typisches Phänomen demokratischer Revolutionen handelt. Die ersten Zweifel an demokratischen Revolutionen werden oft von den Revolutionsführern selbst geäußert. Die Vorbehalte entstehen dadurch, daß die Revolutionäre oft bald nach Ende des Aufstandes in der Bedeutungslosigkeit versinken. In Südkorea waren die Studenten die Hauptträger der Proteste gegen das Militärregime im Jahre 1987. Schon wenige Monate später wurden sie aber durch Wahlen politisch an den Rand gedrängt Ähnliches gilt für die Studenten in Indonesien, die bei den Wahlen im Juni dieses Jahres nur eine geringe Rolle spielten -und das. obwohl sie wesentlich an Suhartos Sturz im Mai 1998 beteiligt waren Die Verdienste der Anführer einer demokratischen Revolution werden von der Bevölkerung in den Wahlen nach dem Aufstand oft nicht honoriert. Anders als bei einer nichtdemokratischen Revolutionsbewegung, wo Revolutionäre Macht und Legitimation ohne freie Wahlen für sich beanspruchen, müssen Oppositionsführer, die demokratisch sein wollen, nach ihrem Erfolg so schnell wie möglich freie Wahlen abhalten. Ihr Triumph über die Diktatur kann bei den Wahlen schnell in eine Niederlage verwandelt werden. Es ist deswegen kaum verwunderlich, daß enttäuschte Revolutionäre von „verratenen“ Revolutionen sprechen. Ihre Stimmungslage dürfte der von Winston Churchill nach seiner Wahlniederlage gegen die Labour-Partei unmittelbar nach Kriegsende ähneln. Von einer Osteuropäerin gefragt, ob er nun erschossen werde, soll er geantwortet haben: „Nein, Madam, etwas viel Schlimmeres. Ich muß Oppositionsführer werden.“

Neben der Enttäuschung über den eigenen Bedeutungsverlust steht aber auch die Annahme, daß ein Aufstand, ein fundamentaler Systemwechsel, der nicht zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt, keine wirkliche Revolution sei. Die sozioökonomischen Umwälzungen, die in der DDR und anderswo nach 1989 stattfanden, wurden daher nicht als „revolutionär“ angesehen. Nach Meinung von Kritikern kann die Einführung des Kapitalismus nur als reaktionär bezeichnet werden Michael Schneider hat dies stellvertretend für viele DDR-Bürgerrechtler und westdeutsche Linke in seinem polemischen Buch „Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie" auf den Punkt gebracht Der Bankrott auch des sozialpolitischen Systems der DDR wird dabei ignoriert. Es wurde oft behauptet, daß die Ostdeutschen nur am Reichtum Westdeutschlands teilhaben wollten, symbolisiert durch die in der DDR nur schwer zu erhaltenden Bananen. Diese Position ist nicht nur mit viel Heuchelei verbunden -wie viele Intellektuelle und Aktivisten im Westen würden wohl freiwillig auf ihren materiellen Komfort verzichten? -, sie ignoriert auch Untersuchungen, die zeigen, daß die Ostdeutschen auch andere Ziele hatten. Umfragen unter gerade aus der DDR Geflohenen beweisen, daß politische Freiheit als Beweggrund höher eingestuft wurde als wirtschaftlicher Wohl-stand Retrospektive Befragungen von Ostdeutschen haben ergeben, daß sich deren Unzufriedenheit mit der SED ebensosehr auf politische wie auf wirtschaftliche Themen bezog und „für . Teilnahme an Demonstrationen'(statistisch) nur politische Unzufriedenheit signifikant“ war

Obwohl demokratische Revolutionen nicht unbedingt von sozialen Reformen begleitet werden (oder zumindest nicht von solchen, welche die Revolutionäre selbst wünschen), haben sie doch einen Regimewechsel zur Folge. Regime definieren die Rahmenbedingungen für Regierungen. Regierungen sind sozusagen das Personal, Regime aber die Strukturen der Macht. Der Regimetypus bestimmt die „Spielregeln“ eines politischen Systems. Die „Spieler“ sind die Regierung und, im Falle eines demokratischen Systems, auch die Opposition. Beide sollten sich an die Spielregeln halten. Wenn ein Regimewechsel von einer Diktatur zu einer Demokratie durch einen gewaltlosen Volksaufstand stattfindet, können wir von einer demokratischen Revolution sprechen.

Aber können wir das wirklich? Was hat sich tatsächlich verändert? Zwar kann man vielleicht „formal“ von Demokratie sprechen (so leiten Kritiker des Konzeptes ihre Vorwürfe gerne ein), aber die Gesinnung der Elite ändert sich nur wenig. In vielen Entwicklungsländern sind zumindest die Mitläufer des ancien regime oft zuhauf in den neu entstandenen politischen Parteien zu finden. Diese alte Elite hält wenig von sozialen Reformen und behindert sie oft nach Kräften. Auch in Osteuropa befinden sich viele Mitglieder der alten Nomenklatura wieder in hohen Positionen.

Wir haben es hier mit einer neuen Version der alten Restaurationsthese zu tun. Die Wirklichkeit einer neuen und sicherlich problembeladenen Demokratie wird mit einem noch nie erreichten (und wahrscheinlich nie erreichbaren) Idealzustand kontrastiert. Über die diesbezüglichen Erfahrungen in der Bundesrepublik schreibt Kurt Sontheimer: Weil viele „nach 1945 von der Idee einer geistigen und politischen Neuordnung von Grund auf ausgingen . . ., vermochten sie dem Neuen, das sich in der Demokratie der Bundesrepublik positiv abzeichnete, nicht genügend gerecht zu werden; sie sahen fast überall nur Fehlentwicklungen und Restauratives" Ähnlich erging es vielen Ländern nach demokratischen Revolutionen: Kritiker sprachen von einer Restauration und übersahen dabei das grundsätzlich Neue: die Entstehung einer Demokratie.

Einflußreiche Revolutionsforscher behaupten, daß eine Revolution eine grundlegende soziale Transformation sei, die durch intensive, gewaltsame Klassenkonflikte herbeigeführt werde Mao sagte, eine Revolution sei keine „tea party“ -eine Auffassung, die zu unvorstellbarer Brutalität, zur Vernichtung von Millionen Menschen führte. Die Realisierung sozialistischer bzw. kommunistischer Utopien rechtfertigte offenbar auch den Einsatz von unbegrenzt gewaltsamen Mitteln. Der Widerstand der „reaktionären“ Klasse wird von den selbsternannten Erneuerern erbarmungslos und ohne Rücksicht auf Rechtsstaatlichkeit gebrochen. „Revolutionäre Justiz“ ist zwar ein Widerspruch in sich, wurde aber als „sozialistische Errungenschaft“ gefeiert.

Entsprechend einem anderen Diktum Maos, nämlich dem, daß die Städte vom Land her eingekreist werden müßten, konzentrieren sich viele Analysen moderner Revolutionen auf Kleinbauern und Landlose, bei denen starke revolutionäre Kräfte vermutet werden. Nachdem in Kambodscha die roten Khmer mit ihrer Armee von Kleinbauern (deren Führung zum Teil aber an der Pariser Sorbonne ausgebildet worden war) Phnom Penh erobert hatten, leerten sie die Stadt von Menschen. Im Namen einer sozialistischen Agrarutopie begannen sie den Genozid an zwei Millionen ihrer Landsleute -fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Demokratische Revolutionen hingegen folgen weder utopischen Zielen, noch werden sie gewaltsam durchgeführt. Hier wurde man nicht von Lenin oder Mao inspiriert, sondern von Gandhi und Martin Luther King. Gandhis Satyagraha, der gewaltlose Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien, oder Kings civil rights movement in den USA der fünfziger und sechziger Jahre haben die Macht des zivilen Ungehorsams gezeigt und bewiesen, daß er für Massenbewegungen geeignet ist. Auch mit der prinzipiellen Ablehnung von Gewalt kann die Opposition Macht gewinnen .

Der vielleicht wichtigste Beitrag der Bürgerrechtler der DDR waren vor diesem Hintergrund ihre Ideen und Strategien des gewaltlosen Protestes, vor allem vor und während der entscheidenden Demonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Die Frage, warum die „chinesische Lösung“, mit der Honecker und andere Politbüromitglieder Demonstranten einschüchtern wollten, nicht angewandt wurde, bleibt eines der wenigen Rätsel der ostdeutschen Revolution Behauptungen von Egon Krenz, er habe die Schießbefehle für die Armee widerrufen, werden von allen anderen Beteiligten zurückgewiesen. Mehrere Faktoren erklären den gewaltlosen Verlauf der Ereignisse: (a) der Präzendenzfall einer erfolgreichen Verständigung zwischen Demonstranten und örtlichen Parteifunktionären am Vortag in Dresden; (b) die Zahl, die Disziplin und die gewaltlosen Taktiken der Demonstranten; (c) eine Gruppe aus drei Künstlern und Intellektuellen, von denen Kurt Masur der prominenteste war, und drei niederrangigen Parteifunktionären, die zusammen einen Aufruf zum friedlichen Dialog in Leipzig ausarbeiteten; und (d) die Unentschlossenheit im Ostberliner Politbüro, das von den Leipziger Parteiführern am Abend des 9. Oktobers um Rat gefragt worden war. Anstatt Massenverhaftungen vorzunehmen und scharfe Munition gegen die Demonstranten zu benutzen, wie es das Regime geplant und öffentlich angedroht hatte, wurden in Leipzig lediglich zehn Personen verhaftet, und nur einige wenige Demonstranten und Polizisten erlitten leichte Blessuren.

Die Konzeption des gewaltlosen Protestes war sicherlich auch entscheidend dafür, daß Friedens-gruppen und Kirchenkreise viel über Gewaltlosigkeit diskutiert und vorab konkrete Strategien entwickelt hatten. Für die Verbreitung von Ideen des gewaltlosen Widerstands in der DDR spielte der Westberliner Friedensforscher Theodor Ebert eine wichtige Rolle. Seine Schriften, welche die Techniken und Philosophien der Gewaltlosigkeit rezipierten, wurden nach Ostdeutschland eingeschmuggelt und vor allem in Kirchenkreisen studiert Schon vor dem „Schicksalstag“ in Leipzig wurden in Dresden erstmals erfolgreiche Verhandlungen mit den Behörden über gewaltlose Proteste geführt. Die Initiative dazu ging von Kirchenvertretern und Bürgerrechtlern aus und war eine direkte Reaktion auf die gewaltsame Auseinandersetzung um den Dresdner Bahnhof in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 1989, wo Tausende von Ausreisewilligen sich in der Hoffnung versammelt hatten, die aus Prag kommenden Sonderzüge mit DDR-Flüchtlingen besteigen zu können. Diese gewaltlosen Strategien wurden von Kirchenmitgliedern und Bürgerrechtlern so erfolgreich angewandt, daß die . Gewaltlosigkeit der Revolution beinahe als selbstverständlich empfunden wurde -was auch dazu geführt hat, daß dieser Aspekt der DDR-Opposition bis heute in der Forschung nur wenig Berücksichtigung gefunden hat.

In Städten können Demonstrationen spontan entstehen, vor allem an bekannten Orten, die dann zu „Ritualstätten“ der Proteste werden. Ein Beispiel für dieses Phänomen waren die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche (sie wurden pünktlich um 17 Uhr abgehalten, so daß die Protestierenden ihrer Arbeit nicht fernbleiben mußten -die Revolution in der DDR lief sehr gesittet und ordentlich ab!). Die darauf folgenden Demonstrationszüge, die von der Kirche ausgingen, zogen immer mehr Menschen an, bis dann am 9. Oktober 70 000 friedliche Demonstranten durch ihre große Zahl den Sicherheitsapparat zur Zurückhaltung bewegten und damit dem Erfolg der Revolution den Weg bahnten.

Die Erfahrungen in der DDR sind ein Beispiel für das weltweit auftretende Phänomen, daß reform-unwillige autoritäre Regime durch mutigen, friedlichen Protest zu Fall gebracht werden können. Diese demokratischen Revolutionen unterscheiden sich von gewalttätigen Rebellionen, die häufig in ein neues autoritäres Regime münden. Ohne die besonnene Führung durch Schlüsselfiguren der Bürgerrechtsbewegung wäre ein blutiges Ende der Demonstrationen in Sachsen, das den Fortgang der demokratischen Revolution in der gesamten DDR bedroht hätte, viel wahrscheinlicher gewesen.

III. Wer waren die eigentlichen Revolutionäre?

Trotz der unbestreitbaren Zivilcourage der enttäuschten Bürgerrechtler ist fraglich, wie „revolutionär“ sie überhaupt waren. Ein Vergleich mit den osteuropäischen Nachbarn offenbart die zögerliche Haltung der DDR-„Oppositionellen“. In Polen und Ungarn nutzte die Opposition während ihrer Gespräche am Runden Tisch die Drohung, eine Massenoppositionsbewegung auf die Straße zu kommunistische bringen, um die Führung zur Machtübergabe zu drängen In der Tschechoslo-wakei -in der die Situation wegen der geringen Größe der organisierten Opposition und des unnachgiebigen Verhaltens des Regimes der DDR am ähnlichsten war -hatte die von Vaclav Havel geführte Opposition erfolgreich zum Generalstreik aufgerufen und den Rücktritt des Politbüros erzwungen In der DDR dagegen waren viele Bürgerrechtler bereit, mit Ministerpräsident Hans Modrow zusammenzuarbeiten. Sie schlugen einen Runden Tisch vor, ein Angebot, das die neue SED-Führung bereitwillig akzeptierte Die scheinbaren Parallelen zu Polen und Ungarn sind irreführend. In der DDR begannen die Verhandlungen zwischen Bürgerrechtlern und Regime erst, nachdem das Regime fast zusammengebrochen war. In Polen und Ungarn hatten Regimereformer solch eine Initiative ergriffen, bevor Massenproteste ausbrachen. In der DDR zielten die Gespräche am Runden Tisch darauf ab, die politische Situation zu stabilisieren; damit wurde indirekt jedoch auch das SED-Regime gestützt Statt die Machtübergabe zu erzwingen, trugen Teile der Bürgerrechtsbewegung (vielleicht auch ungewollt) mit dazu bei, zunächst die Fortexistenz der DDR als Staat zu retten. Gert-Joachim Glaeßner stellt dazu fest: „Ab Ende Januar [1990] entstand die paradoxe Situation, daß der Runde Tisch und die Regierung -mit unterschiedlichen Motivationen -Repräsentanten einer eigenständigen , DDR-Identität‘ waren, während die Mehrheit der Bevölkerung längst das möglichst schnelle Ende eben dieser DDR wollte.“

Diese Identifikation von Bürgerrechtlern mit der DDR illustriert Albert O. Hirschmans These über die Konsequenzen der „Loyalität“ Intellektuelle, die zuvor nur privat Kritik am Regime geäußert hatten, traten damit nun an die Öffentlichkeit, wie zum Beispiel Jens Reich Führende DDR-Künstler wie Christa Wolf und Stefan Heym schlossen sich einer Initiative „für unser Land“ an. Sie betonten die Notwendigkeit, die DDR als antifaschistische und sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu erhalten. Bei der Massendemonstration am 4. November in Ostberlin wurden sie von einigen Berliner Bürgerrechtlern in dieser Forderung unterstützt, ebenso wie von selbsternannten Reformern in der SED und in den Block-parteien. An dieser Stelle greift Hirschmans Analyse von „Abwanderung und Widerspruch“ zu kurz. Hirsch-mann argumentiert, daß in der DDR 1989 Abwanderung und Widerspruch „Verbündete“ geworden seien In Wirklichkeit jedoch führte die Abwanderung zum Widerspruch. Einige Bürgerrechtler hatten zwar die Fälschung der „Wahlen“ vom Mai 1989 aufgedeckt, waren aber nicht in der Lage, für den Juni geplante Demonstrationen durchzuführen. Erst nach der Flucht Hunderttausender Ostdeutscher über Ungarn und andere Länder gelang es einer Koalition von Bürgerrechtsgruppen, das Neue Forum zu gründen. Die Demonstrationen begannen nicht in Berlin, wo die meisten Bürgerrechtler versammelt waren, sondern in Dresden und Leipzig, wo die Gruppen von Ausreisewilligen am stärksten waren Sie waren es, die als erste demonstrierten. Nach Hirschmann gebrauchten auch sie „voice“, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die Parole der Ausreisewilligen -„Wir wollen raus!“ -in den Montagsdemonstrationen nach den Friedensgebeten wurden beantwortet mit dem Ruf „Wir bleiben hier“ durch Bürgerrechtler, die Reformen in der DDR verlangten Berichte in den westdeutschen Medien über zwei angeblich unterschiedlich strukturierte Gruppen übersahen die Tatsache, daß die „Bleiber“ hauptsächlich auf die Initiative der Ausreisewilligen reagierten Von Anfang an hielt die Bürgerrechtsbewegung nicht mit der Dynamik der Massenbewegung -der Revolution -Schritt. Die großen Demonstrationen gegen das SED-Regime fanden erst statt, nachdem die Massenflucht begonnen hatte. Zudem wurden auch die Leute auf der Straße zu kollektiven „Ausreisewilligen“, indem sie die Vereinigung forderten. Daß aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ bald „Wir sind ein Volk“ wurde, zeigt, wie schnell sich die Bestrebungen der Bürgerrechtler nach einer reformierten DDR als überholt erwiesen. Umfragen belegen, wie groß der Wunsch nach Wiedervereinigung schon vor der „Wende“ war: 83, 9 Prozent aller Übersiedler aus der DDR hofften auf einen Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Karl-Dieter Opp und seine Co-Autoren in einer Umfrage in Leipzig, der zufolge die Mehrheit der Befragten schon vor der friedlichen Revolution die Wiedervereinigung befürwortete Wie Walter Friedrich in Umfragen unter Leipziger Jugendlichen feststellte, war das wirklich Revolutionäre an den Ereignissen des Herbstes 1989, daß die lang „verdrängte (oft allerdings heimlich ersehnte) deutsche Identität, der Wunsch, als Deutscher zu gelten, bei vielen DDR-Bürgern wieder in den Vordergrund“ trat und nun durchgesetzt werden konnte

IV. Können Revolutionen demokratisch sein?

Auch angesichts der „friedlichen“ Revolution hatten viele westdeutsche Politiker zunächst die Befürchtung, daß es zu Chaos und Gewalt kommen könnte Wolfgang Schäuble schrieb in seinem Bericht über die Vereinigung: „Revolutionen, das zeigt die Geschichte, beschleunigen sich, werden mächtiger, reißen dann wie Lawinen alles mit sich. Die deutsche Revolution war, so gesehen, keine richtige Revolution. Und das war gut so -im Interesse der Einheit. Wäre Blut geflossen, hätten wir, meiner Ansicht nach, die Vereinigung nicht erreicht.“ Offenbar wurde Schäuble von der schon angesprochenen Revolutionsliteratur beeinflußt. Aber auch in der gängigen Transitionsliteratur hätte er eine überwiegend skeptische Haltung gegenüber der Kompatibilität von Demokratisierung und Revolution gefunden

Einflußreiche Theorien des Übergangs von einer Diktatur zur Demokratie betonen die entscheidende Rolle von Verhandlungen zwischen Reformern innerhalb des autoritären Regimes und gemäßigten Anführern der Opposition. Die Demokratisierung Spaniens nach Francos Tod ist das Beispiel für eine solche „Transition durch Transaktion“. Aus dieser theoretischen Perspektive sind Massenproteste nicht nur unerwünscht, sondern auch gefährlich. Die Mobilisierung der Straße kann radikale Oppositionsführer stärken und Regime-Hardliner erschrecken. Das Resultat dieser Polarisierung ist entweder blutige Staatsrepression oder eine gewaltsame Revolution. Statt freie Wahlen durchzuführen, „legitimieren“ sich erfolgreiche Revolutionäre, indem sie sich darauf berufen, daß sie das Volk mobilisiert haben. An dieser Stelle werden oft die Revolutionen 1979 in Nicaragua und im Iran erwähnt. Nach erfolgreichen Volksaufständen gegen verhaßte Regime setzten sich die islamistischen Mullahs bzw. die linksextremen Sandinisten gegen die Demokraten in der Opposition durch. Während für viele Revolutionsforscher demokratische Revolutionen „zu wenig“ Veränderungen mit sich bringen, um als revolutionär bezeichnet werden zu können, verursachen sie für die Demokratieforschung „zu viel“ Wandel.

Aber was tun, wenn „Hardliner“ das autoritäre Regime dominieren und deswegen Verhandlungen zwischen Regime und Opposition ausgeschlossen sind? Die Totalitarismustheorie gab sich hier pessimistisch, weil Massendemonstrationen in Osteuropa als unmöglich galten. Die militärische Überlegenheit und das staatliche Nachrichten-und Repressionsmonopol machten totalitäre Regime in Osteuropa scheinbar unantastbar. Daß kurz nach Gorbatschows Amtsantritt eine Welle der Demokratisierung die Region erfassen würde, überraschte z. B. eine bekannte Totalitarismustheoretikerin

Doch schon in den siebziger Jahren hatte Vaclav Havel scharfsinnig die Anfälligkeit der nach außen so stabil erscheinenden Regime Osteuropas erkannt. Er nannte sie posttotalitär, weil sie zwar ihre Herrschaftsformen beibehielten (die marxistisch-leninistische Ideologie, den Führungsanspruch der Partei und die Ablehnung jeglicher Form von Opposition), ihre innere Überzeugungsund Anziehungskraft aber verloren hätten Statt eines dynamischen Führers (und das Wort „Führer“ ist für einen totalitären Diktator wohl angebracht) gab es eine kollektive, uncharismatische und alterschwache Führung. Das Regime versuchte, eine vorgetäuschte Welt aufrechtzuerhalten, so daß man schließlich den Schein als Wirklichkeit interpretierte. Während posttotalitäre Regime die alten ideologischen Kleider des Totalitarismus tragen, sind sie in Wirklichkeit ideologisch nackt. Unter günstigen Bedingungen (wozu hier z. B.der Amtsantritt Gorbatschows und die darauf folgende Liberalisierung in Polen und Ungarn zählen) kann sich eine Massenbewegung formieren. In diesem Fall kann man frei nach Havel von der „Machtlosigkeit der Mächtigen“ sprechen.

Das Honecker-Regime war ein eindeutiges Beispiel für den Post-Totalitarismus Die scheinbare Stabilität täuschte über eine tiefe Legitimationskrise hinweg. Trotz des -verglichen mit anderen sozialistischen Ländern -relativ hohen Lebenstandards in der DDR fühlten sich viele Ostdeutsche benachteiligt. Wie eine Umfrage zeigte, verglichen sich zwei Drittel von ihnen mit den Westdeutschen und nicht mit den Osteuropäern Genau so wichtig -wenn nicht sogar wichtiger -war die Tatsache, daß im Falle der DDR sowohl das Regime als auch der Staat unbeliebt waren, während kommunistische Staaten wie Polen und Ungarn zumindest über eine starke nationale Legitimation verfügten. Laut einer Umfrage in Leipzig fühlte sich vor der Revolution nicht einmal jeder zweite mit der DDR als Staat verbunden: Schon damals identifizierte sich die Mehrheit der Bevölkerung mit der Bundesrepublik Als die ostdeutsche Rebellion begann, stellte sich schnell heraus, daß das Regime ausgehöhlt war. Die Zahl der Ausreisenden bzw. Flüchtlinge sowie der Demonstranten zeigte, daß „der Kaiser keine Kleider mehr an-hatte“.

Doch die Ostdeutschen konnten nicht nur rebellieren, sondern sie mußten es, wenn Demokratisierung und Vereinigung realisiert werden sollten. Während das polnische und das ungarische Regime die Demokratisierung in der Hoffnung einleiten konnten, wenigstens einige ihrer Interessen unter einer postkommunistischen Herrschaft zu bewahren, bestand für die SED das Risiko, auch noch ihren Staat zu verlieren. Die DDR konnte nur überleben, indem sie ihre Bürger davon abhielt, in den größeren, reicheren und freieren deutschen Staat derselben Nation auszuwandern, nämlich in die Bundesrepublik. Die DDR als liberaler Staat war unvorstellbar. Deshalb liefen alle Reformversuche buchstäblich gegen die Mauer, die bei jeder politischen Öffnung zur Sprache kommen mußte. Otto Reinhold, einer der wichtigsten Ideologen des Regimes, wies warnend darauf hin, daß die DDR „nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar“ sei

Obwohl das SED-Regime nur mit revolutionären Mitteln zu bezwingen war, verlief die darauf folgende Demokratisierung erstaunlich geordnet. Die Demonstranten auf der Straße forderten außer der Vereinigung auch freie Wahlen. Es mag etwas künstlich erscheinen, doch die Demokratisierung kann von der Vereinigung losgelöst betrachtet werden. Natürlich war der Wunsch nach der Wiedervereinigung eine wesentliche Motivation für die rasche Demokratisierung in der DDR. Die Ostdeutschen wollten die Vereinigung, brauchten sie aber für die Transition zur Demokratie nicht. Mit der Abhaltung der Volkskammerwahlen und der Bildung einer Koalitionsregierung in Ostdeutschland setzte die Demokratisierung schon vor der Vereinigung ein. Entgegen der Befürchtung Schäubles hatte der „revolutionäre“ Über-gang zur Demokratie den Weg zur Vereinigung freigemacht. Die ostdeutsche Revolution mündete zuerst in die Demokratie und dann in die nationale Einheit.

V. Schlußbetrachtung

Während der „Wende“ in der DDR wurde ich oft gefragt, wie ich diese friedliche Revolution beurteile. Ich habe -nicht immer zur Zufriedenheit des Fragenden -geantwortet, sie entwickele sich fast genauso wie auf den Philippinen 1986. Dieser etwas unorthodoxe Vergleich zwischen der DDR und den Philippinen kann zu Irritationen führen, weil der Unterschied zwischen den beiden Ländern kaum größer sein könnte. Trotz politischer, wirtschaftlicher, kultureller und anderer Gegensätze behaupte ich jedoch, daß die beiden politischen Ereignisse in der DDR und auf den Philippinen demokratische Revolutionen waren: Unnachgiebige Diktaturen wurden friedlich durch Massendemonstrationen gestürzt, der Übergang zur Demokratie wurde eingeleitet. Demokratische Revolutionen haben in verschiedenen Kulturkreisen stattgefunden. Nicht ein „Kampf der Kulturen“ ist hier festzustellen, sondern eine kulturübergreifende Tendenz zur Demokratie. Demokratische Revolutionen verlaufen friedlich. Die Regierung wird durch zivilen Ungehorsam zur Aufgabe gebracht. Demokratische Revolutionen basieren auf einer moralischen Empörung, die ein „Leben in der Lüge“ unerträglich macht und auf den Wegen des Protestes gegen das seit langem unbeliebte Regime zum „Leben in der Wahrheit“ führt.

Demokratische Revolutionen haben gemäßigte Ziele. Die Opposition will die Welt nicht verändern, sondern das politische System demokratisieren. Die endgültige Form des gesellschaftlichen Wandels überlassen sie zukünftigen Wahlergebnissen. Demokratische Revolutionen sind nur „notwendig“, wenn ein autoritäres Regime nicht bereit ist, mit der demokratischen Opposition zu verhandeln. Ein reformorientiertes Regime organisiert die Machtübergabe selbst und macht damit eine Revolution unnötig. Aber einige Diktatoren wollten die Logik der Verhandlung nicht akzeptieren. Sie klammerten sich an die Macht, koste es, was es wolle. Marcos auf den Philippinen und Honecker in der DDR waren Vertreter dieser Haltung. Honecker fürchtete Reformen, wie Gorbatschow sie vorgeführt hatte, weil nur der „real existierende“ Sozialismus die DDR erhalten konnte. Daher wurden alle Reformversuche in Ostdeutschland mit mehr oder weniger Gewalt unterbunden. Nur eine Revolution konnte in Ostdeutschland eine Demokratisierung ermöglichen.

Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, daß eine Demokratisierung direkt ins „gelobte Land“ führt, ohne daß man vorher viele Jahre in der „Wildnis“ der politischen Streitigkeiten, blokkierten politischen Reformen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten verbringen muß. Der Weg in die Demokratie ist nach einer Revolution besonders steinig, weil hier die allgemeinen Erwartungen sehr hoch gesteckt sind. (So kann man auch die Hoffnungen der Ostdeutschen verstehen, möglichst schnell den Lebensstandard der Westdeutschen zu erreichen.) Nach der Revolution muß ein neues, demokratisches Regime aus dem Nichts aufgebaut werden, was zu tiefer Verunsicherung führen kann. Im Falle der deutschen Vereinigung wurde das westliche System im Osten zwar einfach übernommen, doch auch dies bereitete und bereitet große Schwierigkeiten. Eine Demokratisierung durch Verhandlung hingegen erlaubt sowohl einen kontrollierten Anstieg der gesellschaftlichen Ansprüche als auch ein hohes Maß an institutioneller Kontinuität.

Die weitverbreitete These vom „Unmut im Osten“ scheint ein markantes Beispiel für die „Altlast“ einer demokratischen Revolution zu sein. Wenn man die Umfragen aber genau betrachtet, ist die große Mehrheit der Ostdeutschen mit der Demokratie einverstanden, auch wenn viel Kritik am politischen System der Bundesrepublik zu hören ist Drei Viertel der Ostdeutschen berichten, daß es ihnen wirtschaftlich besser geht als vor der Einheit; nur im Vergleich mit dem Lebensstandard der Westdeutschen steigt die Unzufriedenheit Die Demokratie und die wirtschaftliche Ordnung bleiben für die meisten Ostdeutschen legitim, auch wenn sie sich von beiden mehr erwartet haben.

Wie bei allen Revolutionen tritt auch bei demokratischen nach anfänglicher Euphorie eine Desillusionierung ein. Auf das überwältigende Gefühl von Einheit („Wir sind ein das Volk“) folgt mit der Einführung der indirekten Demokratie des Parlamentarismus eine gewisse Ernüchterung. Aber auch wenn die Euphorie vorüber ist, sollte man die Verdienste einer demokratischen Revolution -der friedliche Sturz eines autoritären Regimes und die Demokratisierung -nicht unterschätzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. R. R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution, Frankfurt am Main 1970.

  2. Sehr einflußreich ist das Konzept der „social revolutions“ von Theda Skocpol, States and Revolutions: A Comparative Analysis of France, Russia, and China, Cambridge 1979. Es wird oft übersehen, daß Skocpol „social revolutions“ als nur eine Form von Revolution unter anderen sieht (es gibt ihrer Meinung nach auch „politische Revolutionen“).

  3. Z. B.setzt James B. Rule, Theories of Civil Violence, Berkeley 1988, „revolution“ mit „civil violence“ gleich. Samuel L. Popkin, Political Entrepreneurs and Peasant Movements in Vietnam, in: Michael Taylor (Hrsg.), Rationality and Revolution, Cambridge 1988, S. 9-62, betont die Wichtigkeit von strenger Organisation und starker Führung (von politischen „entrepreneurs"), um das Problem des „Trittbrettfahrens“ bei revolutionären Handlungen zu überwinden.

  4. Vgl. Mark R. Thompson, Reluctant Revolutionaries: Anti-Fascism and the East German Opposition, in: German Politics, (1999) 2, S. 40-65.

  5. Vgl. Christian Joppke, East German Dissidents and the Revolution of 1989. Social Movements in a Leninist Regime, Basingstoke 1995. Der Titel von Joppkes exzellentem Buch ist jedoch irreführend, weil der Verf. argumentiert, daß die ostdeutschen Bürgerrechtler nie zu wirklichen „Dissidenten“ geworden seien.

  6. Vgl. Albert O. Hirschmann, Exit, Voice and the Fate of the GDR: An Essay in Conceptual History, in: World Politics, 45 (1993), S. 173-202; auf Deutsch erschienen als: Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik, in: Leviathan, 20 (1992), S. 330-358.

  7. Romeo and Juliet, act II, scene 2, line 43.

  8. Vgl. Bernd Lindner, Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90, Bonn 1998, S. 148.

  9. Konrad Weiß, Ich habe keinen Tag in diesem Land umsonst gelebt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. (1990) 5, S. 555.

  10. Zit. in: Hagen Findeis/Detlef Pollack/Manuel Schilling. Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den politisch alternativen Gruppen der DDR geworden? Interview mit ehemals führenden Vertretern, Leipzig 1994, S. 57, zitiert nach B. Lindner (Anm. 8), S. 149.

  11. K. Weiß (Anm. 9), S. 555.

  12. Vgl. Sung-Joo Han, South Korea: Politics in Transition, in: Larry Diamond/Juan J. Linz/Seymour Martin Lipset (Hrsg.), Democracy in Developing Countries: Asia, Boulder 1989, S. 290.

  13. Vgl. Seth Mydans, Indonesia, Unprepared, Gets Ready for an Election, in: International Herald Tribune vom 29. April 1999, S. 4.

  14. Zitiert nach taz Journal, DDR Journal zur Novemberrevolution, Berlin 1990. S. 126.

  15. Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990.

  16. Vgl. Richard Hilmer/Anne Köhler, Der DDR läuft die Zukunft davon: Die Übersiedler-/Flüchtlingswelle im Sommer 1989, in: Deutschland Archiv, 22 (1989) 12, S. 1389-1393.

  17. Karl-Dieter Opp/Peter Voß/Christiane Gern. Die volks-eigene Revolution. Stuttgart 1993, S. 94 und 360.

  18. Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik. München 1999, S. 42.

  19. Vgl. T. Skocpol (Anm. 2), S. 4 f.

  20. Vgl. Peter Ackerman/Christopher Kruegler, Strategie Nonviolent Conflict: The Dynamics of People Power in the Twentieth Century, Westport 1994.

  21. Zu diesen Drohungen siehe Elizabeth Pond, Beyond the Wall: Germany’s Road to Unification, Washington, DC 1993, S. Ulf. Daniel V. Friedheim, Democratic Transition Through Regime collapse: East Germany in 1989, Ph. D. Dissertation, eine Yale University 1997, Kap. 7, bietet hervorragende Analyse der Leipziger Demonstration vom 9. 10. 1989 anhand von Interviews mit Teilnehmern und Archivrecherchen. Es zeigt sich aber, daß die Archive bezüglich dieses Themas irgendwann „gesäubert“ wurden. Deswegen wird es vielleicht nie die möglich sein, Frage nach den Ursachen für den friedlichen Verlauf dieser Demonstration vollständig zu beantworten.

  22. Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, S. 376-377 und 393.

  23. Einen guten Überblick über die Runden-Tisch-Gespräche in Osteuropa bietet John Elster (Hrsg.), The Round-table Talks and the Breakdown of Communism, Chicago 1996; für die DDR vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990.

  24. Ein zusätzlicher Unterschied zwischen der Situation in der DDR und der Tschechoslowakei war die Oppositionsführung. Um die Frage „Warum gab es keinen Havel in der DDR?“ zu beantworten, müssen wir nicht nur die Ausweisung von führenden ostdeutschen Dissidenten durch das SED-Regime berücksichtigen, sondern auch den Tod von Robert Havemann im Jahre 1982. Es ist aber zweifelhaft, ob Havemann, hätte er die Revolution erlebt, eine ähnliche Führungsposition wie Havel hätte übernehmen können. Er verband die Forderung nach Demokratisierung mit einer prosozialistischen, „antifaschistischen“ Haltung, die mit der nationalen Vereinigung nur schwer in Einklang zu bringen gewesen wäre.

  25. Vgl. Ulrich K. Preuss, The Roundtable Talks in the German Democratic Republic, in: J. Elster (Anm. 23), S. 103106.

  26. In einem Vortrag an der Technischen Universität Dresden vom 25. 1. 1995 mit dem Titel „Aufbruch und Ernüchterung“ sprach Konrad Weiß von dem Gefühl, verraten worden zu sein. Er beklagte die Naivität der Bürgerrechtler, die von der SED-Führung vor allem in bezug auf die Stasi irregeführt worden waren. Weiß und viele andere Bürgerrechtler haben durch die Aufdeckung der Untaten der SED/Stasi viel zur „Vergangenheitsbewältigung“ in der DDR beigetragen.

  27. Gert-Joachim Glaeßner, Der schwierige Weg zur Demokratie: Vom Ende der DDR zur deutschen Einheit, Opladen 1991, S. 94.

  28. A. O. Hirschman (Anm. 6).

  29. Vgl. Jens Reich, Rückkehr nach Europa: Bericht zur neuen Lage der deutschen Nation, München 1991, S. 171 — 203.

  30. A. O. Hirschman (Anm. 6).

  31. Vgl. Christian Joppke, Why Leipzig? „Exit“ and „Voice“ in the East German Revolution, in: German Politics, (1993), S. 393-414, und D. V. Friedheim (Anm. 21), Kap. 6.

  32. Hirschmanns Analyse ist insoweit irreführend, als er „exit“ als individuales und „voice“ als kollektives Handeln bezeichnet. Im Rahmen ihrer Bemühungen, die DDR zu verlassen, organisierten Ausreisewillige jedoch Dissidenten-gruppen, die eine freie Ausreise forderten.

  33. Vgl. C. Joppke (Anm. 5) S. 59.

  34. Vgl. Dieter Voigt/Hannelore Belitz-Demiriz/Sabine Meck, Die innerdeutsche Wanderung und der Vereinigungsprozeß: Sozialdemographische Struktur und Einstellungen von Flüchtlingen/Übersiedlern aus der DDR vor und nach der Grenzöffnung, in: Deutschland Archiv, 23 (1990) 5, S. 737 und 744; John Torpey, Two Movements, Not a Revolution: Exodus und Opposition in the East German Transformation, 1989-1990, in: German Politics and Society, 26 (Summer 1992), S. 30.

  35. Vgl. K. -D. Opp u. a. (Anm. 17), S. 104.

  36. Vgl. Walter Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1617/90, S. 30.

  37. Vgl. B. Lindner (Anm. 8), S. 148.

  38. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 15; vgl. auch Ludger Kühnhardt, Umbruch -Wende -Revolution. Deutungsmuster des deutschen Herbstes 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97, S. 12.

  39. Juan J. Linz, der wohl wichtigste Demokratisierungsforscher, schreibt: „A leaderless and disorganized people filling the square and demanding a change of regime may be unable to negotiate a transfer or sharing of power, or processes to achieve such a goal, and may be pushed to intransigent positions, and, thus, their efforts will end if not in revolutions, then in repression." Juan J. Linz, Transitions to Democracy, in: The Washington Quarterly, Summer 1990,

  40. Vgl. Jeane J. Kirkpatrick, The Withering Away of the Totalitarian State . . . and Other Surprises, Washington, DC 1990.

  41. Vgl. Väclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1989, S. 16; vgl. ferner Juan J. Lin/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996, Kap. 3, 4 und 17; Mark R. Thompson, Weder totalitär noch autoritär: Post-Totalitarismus in Osteuropa, in: Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 309-339.

  42. Vgl. D. V. Friedheim (Anm. 21), S. 65-73; Eckhard Jesse, War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/94, S. 13-22.

  43. Vgl. K. -D. Opp u. a. (Anm. 17), S. 95.

  44. Vgl. ebd.

  45. Otto Reinhold zur DDR-Identität am 19. August 1989, in: Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Die deutsche Vereinigung: Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt. Köln 1991.

  46. Vgl. Detlef Pollack/Gert Pickel, Die ostdeutsche Identität -Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 41 -42/98, S. 9-23. hier S. 17.

  47. Vgl. Richard Rose/Christian Haerpfer, The Impact of a Ready-made State. Die privilegierte Position Ostdeutschlands in der postkommunistischen Transformation, in: Helmut Wiesenthal (Hrsg.), Einheit als Privileg: vergleichende Perspektive auf die Transformation Ostdeutschlands, Frankfurt am Main 1996, S. 127.

Weitere Inhalte

Mark R. Thompson, geb. 1960; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und visiting research fellow an der University of Glasgow. Veröffentlichungen u. a.: The Anti-Marcos Struggle: Personalistic Rule and Democratic Transition in the Philippines, New Haven 1995; zahlreiche Aufsätze über Regimetypen und Regimewechsel in Asien und Osteuropa. *