I. Das Erwachen der Vernunft
„Daß das Ziel der Revolution heute wie seit eh und je nichts anderes sein kann als eben Freiheit“ hat Hannah Arendt bereits in den sechziger Jahren in ihrer berühmten Studie Über die Revolution gezeigt. Die Aktualität ihres Diktums bewies sich erneut, als die Ostdeutschen im Herbst 1989 aufbrachen, der Freiheit in der Deutschen Demokratischen Republik zu ihrem Recht zu verhelfen. Den Menschen ging es vor allem anderen darum, sich von den Fesseln eines totalitären Regimes zu befreien, das den Bürgern vierzig Jahre lang die elementaren Bürgerrechte vorenthalten hatte. Interessanterweise basierte dieser Aufbruch auf einem Bewußtseinsschritt, an den Immanuel Kant bereits zweihundert Jahre zuvor den eigentlichen „Wahlspruch“ der Aufklärung geknüpft hatte: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Kant begriff die Vernunft als ein Werkzeug, welches jedem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich aus der Abhängigkeit von anderen zu lösen, um ein freies, selbstbestimmtes Individuum zu werden.
Gerade weil diese befreiende Kraft der Vernunft für die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung zur Handlungsmaxime wurde, ist eine Untersuchung der Affinität der Opposition zu den Ideen der Aufklärung von zentraler Bedeutung für eine differenzierte Beurteilung der Revolution in der DDR. Bislang ist dieser Bezug nur von wenigen Kritikern erwähnt worden, etwa von Jürgen Habermas, der ausgeführt hat: „Es waren die vernunftrechtlichen Legitimationen der Volkssouveränität und der Menschenrechte, aus denen die revolutionären Forderungen ihre Kraft bezogen.“ Während von anderer Seite vage behauptet wurde, daß die Ostdeutschen „unbewußt“ an die Ideen der Aufklärung anknüpften, hat einer der zentralen Aktivisten selbst, der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, die bewußte Anlehnung der Opposition an das Zeitalter der Vernunft hervorgehoben: „Die demokratische Emanzipation konnte im Ostblock . . . die große bürgerliche philosophische Tradition der Aufklärung aufnehmen.“
Im Frühjahr 1989 wurde in Westdeutschland ein Buch über die DDR veröffentlicht, das den provokativen Titel Der vormundschaftliche Staat trug. Sein Verfasser, der ostdeutsche Jurist Rolf Henrich, behauptet darin, daß das „Unternehmen Aufklärung“ in der DDR inzwischen „stillgelegt“ sei, trotz einstmals großer Hoffnungen in den Gründerjahren des Sozialismus. Obwohl das Buch in der DDR offiziell überhaupt nicht erhältlich war, reagierte die ostdeutsche Junge Welt auf Henrichs Kritik mit einer polemischen Rezension Ironischerweise bestätigte die Tatsache, daß den Lesern der Jungen Welt der ganzseitige Verriß eines Buches zugemutet wurde, das sie weder kaufen konnten, geschweige denn lesen sollten, im Grunde Henrichs zentrale These: Der Staat behandele seine Bürger wie unmündige Kinder.
Das Problem der Entmündigung und Bevormundung war keinesfalls neu, sondern stellte eines der zentralen Defizite des Sozialismus dar; es bestand seit Jahrzehnten und war einer der Hauptgründe für die Krise des „real existierenden“ Sozialismus. Zwar war die Gründung der DDR seinerzeit von der Hoffnung inspiriert gewesen, einen antifaschistischen und antikapitalistischen Staat zu errichten, der eine sozialistische Alternative zu Deutschlands diktatorischer Vergangenheit und zu einigen restaurativen Zügen der Bundesrepublik bot. Doch seit 1949 hatte sich das „neue Deutschland“immer deutlicher zu einem Staat entwickelt, in dem die Bevormundung der Bürger Programm geworden war. Typische Züge des unaufgeklärten, totalitären Staates bildeten sich heraus: der autokratische Herrscher, die Instrumentalisierung des Rechts, die Verweigerung elementarer Bürger-rechte wie Reisefreiheit, Redefreiheit, Informationsfreiheit oder Versammlungsfreiheit. Ab 1951 mutierte das Amt für Staatssicherheit zu einem Monstrum, das die Bürger einschüchterte und ein Klima der Angst schuf. Mit Beginn der sechziger Jahre perfektionierte die Absurdität der Berliner Mauer den erniedrigenden Eingriff des Staates in das Leben seiner Bürger, indem er sie von der gesamten westlichen Welt abschnitt. Wolf Bier-mann, dem man 1976 wegen seiner Systemkritik die Rückkehr in die DDR verweigerte, hat diese Zustände zutreffend als „Feudalsozialismus“ charakterisiert; de facto, so Biermann, waren die Ostdeutschen „in Unmündigkeit gehaltene Kinder eines Erziehungsheims hinter Stacheldraht“
Im Herbst 1989 sahen sich die Verantwortlichen des „real existierenden“ Sozialismus zum ersten Mal ernsthaft in ihrer Allmacht von der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung herausgefordert. Die Opposition setzte sich zusammen aus Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, nicht zuletzt aus Aktivisten der Evangelischen Kirche und der politischen Linken. Obwohl die Bewegung keine homogene Gruppe bildete, waren die Beteiligten sich doch grundsätzlich einig, daß es um die Erneuerung des Sozialismus in der DDR ging. Dieses Ziel wurde verfolgt, indem die Bürgerrechtler ein Projekt zu verwirklichen suchten, das Immanuel Kant als den eigentlichen Sinn der Aufklärung verstanden hatte: den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ Das Neue Forum forderte als wichtigste Oppositionsgruppe in seinen öffentlichen Erklärungen explizit den „mündigen Bürger“ und einen grundlegenden Wandel „vom vormundschaftlichen Staat zum Rechtsstaat“ In gleicher Weise äußerten sich die Gruppe Demokratie Jetzt sowie Mitglieder des ostdeutschen Gewerkschaftsbundes, die sich nicht als „politisch urteilsfähige, mündige sozialistische Persönlichkeiten“ behandelt fühlten. Mitarbeiter des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Zittau sahen sich ebenfalls von „unserem eigenen Staat entmündigt“ weshalb auch das Präsidium der Akademie der Künste der DDR ein „ohnmächtiges Bewußtsein der Bevormundung“ beklagte, „das in direkten Gegensatz zu dem von der veröffentlichten Meinung propagierten Bild des mündigen Staatsbürgers gerät“ Die Redaktion der Neuen Berliner Illustrierten drängte daher auf die sofortige Beseitigung der „Bevormundung der Medien“ Jugendliche verfaßten auf einer Delegiertenversammlung der Oppositionsgruppe Demokratischer Aufbruch ein zorniges Flugblatt, in dem es hieß: „Wir haben die Schnauze voll von Bevormundung und Gängelung.“
Ab September wurde die Kritik am Staatssozialismus öffentlich auf Demonstrationen zum Ausdruck gebracht, vor allem in Leipzig, wo sich zunächst die Aktivisten jeden Montag nachmittag nach dem Gottesdienst vor der Nikolaikirche versammelten. Die Protestaktionen erhielten bald regen Zulauf und erreichten am 9. Oktober einen prekären Höhepunkt. Bereits zwei Tage zuvor, während der offiziellen Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR, waren die Sicherheitskräfte mit kompromißloser Härte gegen demonstrierende „Sozialismusfeinde“ vorgegangen; der Leiter einer Betriebskampfgruppe hatte in der Leipziger Volkszeitung erklärt, er und seine Leute seien „bereit und willens . . diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß mit der Waffe in der Hand.“ Über die Marschroute des Regimes machte sich die Opposition keinerlei Illusionen: Noch im Juni hatte Egon Krenz, damals verantwortlich für öffentliche Sicherheit, der chinesischen Regierung zur „erfolgreichen“ Niederschlagung des Studentenaufstandes auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gratuliert. Älteren Bürgern war der 17. Juni 1953 in Erinnerung, als dem Arbeiteraufstand in Ost-Berlin und anderswo ein blutiges Ende gemacht wurde, ferner die Jahre 1956 und 1968 sowie das Kriegsrecht in Polen Anfang der achtziger Jahre. Aus diesen Gründen erwartete man auch für die Montagsde-monstration am 9. Oktober 1989 eine gewalttätige Konfrontation. „Die Atmosphäre war hochexplosiv“, schreibt Friedrich Schorlemmer, „wir wußten: Jetzt fällt die Entscheidung.“ Am Stadtrand von Leipzig hatten Panzer Position bezogen, in den Krankenhäusern bereitete man sich auf den Ernstfall vor.
Eine gewalttätige Zuspitzung zwischen den Sicherheitskräften und den etwa 70 000 Demonstranten konnte glücklicherweise durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren verhindert werden. Die „Leipziger Sechs“ -eine Initiative, zu der neben anderen Kurt Masur, damals noch Dirigent des Gewandhausorchesters Leipzig, gehörte -formulierten einen Aufruf zu Gewaltlosigkeit und „Besonnenheit“ der noch vor Beginn der Abenddemonstration in Kirchen und im Stadtfunk verlesen und den Polizeikräften zugänglich gemacht wurde. Selbst das Zweite Deutsche Fernsehen brachte den Aufruf in den Abendnachrichten. Bereits am Tag zuvor hatte Christa Wolf über den Deutsch-landfunk in ähnlicher Weise zu „Besonnenheit, Ruhe und Geduld“ aufgerufen.
Hinzu kam als weiterer Faktor die von Michail Gorbatschow eingeleitete neue Politik der Sowjetunion. Schon während der Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag in Ost-Berlin am 7. Oktober hatte Gorbatschow die Position der reformunwilligen SED-Regierung nachhaltig geschwächt, indem er eindeutig zugunsten der Opposition in seiner Grußansprache hervorhob, „welch großes Interesse in der DDR unseren Angelegenheiten, den radikalen Umgestaltungen in der Sowjetunion, entgegengebracht wird“. Überdies hatte er erklärt, daß die Bevormundung der DDR durch die UdSSR beendet sei: „Die Versuche der Unifizierung und Standardisierung in den Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung, einerseits der Nachahmung, andererseits der Aufzwingung von irgendwelchen verbindlichen Mustern, gehören der Vergangenheit an . . . Die Auswahl der Entwicklungsformen ist eine souveräne Angelegenheit jeden Volkes.“ Die UdSSR hatte die Breschnew-Doktrin praktisch abgeschafft, würde sich also nicht wieder -wie im Juni 1953 -mit militärischen Mitteln in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen, und zwar ungeachtet jener 400 000 sowjetischen Soldaten, die 1989 noch in Ostdeutschland stationiert waren. Gorbatschow wußte längst um die anachronistische Position der SED; schließlich konnte er während der offiziellen Parade in Ost-Berlin ja auch die regierungsfeindlichen Sprechchöre der Demonstranten im Hintergrund hören; ein Umstand übrigens, den der hinter ihm stehende polnische Parteisekretär Mieczyslaw Rakowski zum Anlaß nahm, sich mit der Frage zu ihm vorzubeugen: „Michail Sergejewitsch ..., verstehen Sie, was die da schreien?“ Worauf Gorbatschow entgegnete: „Ich verstehe es.“ Was Rakowski mit der Bemerkung kommentierte: „Das ist doch das Ende!“ Nur im Kontext dieser Konstellation ist zu verstehen, warum Gorbatschow damals in Berlin jene berühmt gewordene Bemerkung mit Blick auf die unverbesserlichen „Betonköpfe“ in der SED machte: „Gefahren lauern auf diejenigen, die nicht auf das Leben reagieren!“
Ein weiterer entscheidender Faktor, der ein Blutvergießen auf der Leipziger Montagsdemonstration verhinderte, war die von der Opposition verfolgte gewaltlose Strategie der Vernunft. Die Bürgerrechtsbewegung hatte das Primat der Vernunft zur unbedingten Maxime erhoben und folgte damit Immanuel Kants aufklärerischer Forderung, von der Vernunft nicht allein im Privaten, sondern „in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“ Eben deshalb stand zum Beispiel jenes Berliner Treffen der intellektuellen Elite der DDR -anwesend waren unter anderem Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym, Heiner Müller, Stefan Hermlin, Günther de Bruyn -unter dem ausdrücklichen Motto „Gegen den Schlaf der Vernunft“
Die Strategie selbst basierte auf der festen Über-zeugung, daß Gewaltlosigkeit unter allen Umständen Vorrang haben müsse -denn „das wollen wir ja gerade“, wie Wolf Biermann schrieb, „endlich und endgültig raus aus diesem Teufelskreis der Gewalt!“ Begreiflich wird diese Denkweise aus der Geschichte des Protests in der DDR, wo die Friedensbewegung in den achtziger Jahren unter dem Dach der Evangelischen Kirche vor allem deshalb gedeihen konnte, weil sie ihren Protest gegen den Kalten Krieg -gegen Neutronen- bombe, SDI oder die Stationierung von Mittelstreckenraketen -absolut gewaltfrei äußerte. Die Demonstranten des Jahres 1989 konnten sich also auf eine Strategie berufen, die sich bereits über Jahre bewährt hatte. In der Öffentlichkeit fand diese Haltung in ebenso einfachen wie unprätentiösen Formen Ausdruck, etwa in Sprechchören oder den Armbinden und Schärpen mit dem Aufdruck „Keine Gewalt“. Bürger organisierten Fastenaktionen und Mahnwachen für politische Gefangene und verwendeten Kerzen als eindringliches Symbol: Jedermann konnte sehen, daß diejenigen, die eine Kerze in der einen Hand hielten und mit der anderen Hand die Flamme schützten, weder fähig noch willens waren, Gewalt anzuwenden. In Leipzig bildeten Bürgerrechtler sogar Menschenketten, um das Hauptquartier der Stasi gegen mögliche Angriffe aufgebrachter Demonstranten zu „schützen“. Der Bericht der Volkspolizei vom 9. Oktober 1989 zitiert ein Protestplakat, das den Tenor der Demonstrationen zusammenfaßt: „Leute, keine sinnlose Gewalt, reißt euch zusammen, laßt die Steine liegen.“
Im Rückblick ist diese Abwesenheit „barbarischer Substanz“ und „blinder Wut“ auf Seiten der Protestierenden gelegentlich als ein fundamentaler Mangel an revolutionärer Rigorosität kritisiert worden. Zieht man die entscheidende Bedeutung der Gewaltanwendung in der Geschichte der Revolutionen in Betracht, so scheint die Frage tatsächlich berechtigt, ob eine gewalttätige Konfrontation mit dem alten Regime nicht ein notwendiger Akt revolutionärer Konsequenz gewesen wäre. Mit dem Sicherheitsapparat noch in den Händen der SED hätte eine bewaffnete Machtprobe allerdings ein ebenso rasches Ende gefunden wie der Aufstand vom Juni 1953. Vermutlich wäre es in Ostdeutschland wie nach der Studentenrevolte in China auf absehbare Zeit zu einer erbarmungslosen Unterdrückung jeglicher Opposition gekommen. Die Bürgerrechtler wußten, daß die Anwendung von Gewalt eine kontraproduktive Wirkung nach sich ziehen würde. Gewalt hätte dem Staat nicht nur eine Zielscheibe geboten, sondern auch die Rechtfertigung zum unerbittlichen Draufschlagen geliefert. Und selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, daß der bewaffnete Kampf gegen das Regime zu einer erfolgreichen Selbstbefreiung geführt hätte, wären andere, zutiefst problematische Fragen aufgetaucht: etwa die quälende Frage, ob denn die Blutopfer auf allen Seiten noch in irgendeinem Verhältnis zum Ergebnis der Revolution stehen. Oder die gleichermaßen quälende Frage, ob ausgerechnet die barbarischen Exzesse einer gewalttätigen Auseinandersetzung einen günstigen Neuanfang markieren für ein Volk, das aufgebrochen war, eine zivile, rechtsstaatliche Ordnung zu errichten. Man kann von Glück sagen, daß die Bürgerrechtsbewegung die Lehre der jüngsten deutschen Geschichte -Gewalt vermehrt in aller Regel nur deutsches Unheil -verinnerlicht hatte.
Von zentraler Bedeutung für die von der Opposition verfolgte Strategie der Vernunft war die Befreiung der Demonstranten von ihrer Angst.
Um die Bevölkerung in Unmündigkeit zu halten, hatte die Führung der DDR eine Herrschaft der Angst etabliert, die sich auf jenen berüchtigten „Angst-Apparat“ namens Stasi stützte. Wie in George Orwells literarischen Schreckens-Szenarien prägte Angst die Mentalität der Ostdeutschen:
„Angst ist das allerwichtigste“, kommentierte Jens Reich noch im Oktober 1989 die Strategie des SED-Machtapparates, „diese ständige Angst, die in den allermeisten Menschen vorhanden ist.“ Es gab Angst vor DDR-internen Bedrohungen, der Stasi vor allem, aber auch davor, etwa durch Fehlverhalten die Westreise oder den Ausbildungsplatz zu verlieren Und es gab durch externe Faktoren bedingte Ängste: „Angst vor der Marktwirtschaft, Angst vor Drogen und Aids, Angst vor Ausländern, Angst vor der Zukunft und dem Phantom der Freiheit.“ Jahrzehntelang hatte dieses Klima der Angst und der Abhängigkeit die Ausbildung eines Selbstbewußtseins verhindert, das es den Ostdeutschen erlaubt hätte, sich öffentlich gegen das Regime aufzulehnen. Gerade deshalb markiert der 9. Oktober in Leipzig den eigentlichen Durchbruch der Revolution, denn die Demonstranten fanden den Mut, sich endlich von ihrer Angst zu befreien. „Die Angst hörte auf“ konstatierte Christa Wolf. „Die Menschen vergaßen ihre Angst“, schreibt auch Friedrich Schorlemmer, „und gingen auf die Straße.“ Statt sich der Übermacht der Sicherheitskräfte zu beugen, bestanden die Demonstranten auf ihrer Versammlungs-und Meinungsfreiheit. Dieser mutige Auftritt der 70 000 in Leipzig zeigte dem Regime, daß die traditionellen Einschüchterungsmaßnahmen nichtlänger den gewünschten Effekt hatten. Die alten Machthaber wagten an diesem Punkt nicht mehr, den Befehl zu Verhaftungen, geschweige denn zum Losschlagen auszugeben; sie wußten, daß es unmöglich geworden war, die Anwendung von Gewalt gegen eine friedliche Menschenmenge zu rechtfertigen -nicht zuletzt auch deshalb, weil die Vorgänge inzwischen weltweit von den Medien verfolgt wurden. Die Bürgerrechtsbewegung und die Demonstranten hatten ihren wohl wichtigsten Sieg errungen: Die Revolution war nicht mehr aufzuhalten.
Dieser Triumph der Vernunft über die Angst bestimmte auch jene andere berühmt gewordene Demonstration -diejenige am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz, an der mehr als eine halbe Million Bürger teilnahm; sie war zugleich die größte Demonstration in der Geschichte der DDR. Der Bürgerrechtler Christoph Hein konnte die Menge nun als „Liebe mündig gewordene Mitbürger!“ begrüßen und betonen, daß es der Massenprotest von Leipzig gewesen sei, der „den Schlaf der Vernunft beendete. Es war die Vernunft der Straße, die Demonstration des Volkes.“ Jene „hellwache Vernunft“ die auch Christa Wolf in ihrer Rede beschwor, hatte seit dem 9. Oktober in der Tat erstaunliche Fortschritte errungen: Die bloße Tatsache, daß die Alexanderplatzdemonstration offiziell genehmigt worden war, bedeutete, daß die Bürger sich erfolgreich ihre Versammlungsfreiheit erkämpft hatten; die Übertragung der Protestveranstaltung im DDR-Fernsehen bedeutete zudem, daß sowohl Informationsfreiheit als auch Redefreiheit errungen worden waren. Bereits am 18. Oktober hatte Erich Honecker quasi, vor dem Druck der Straße weichen und zurücktreten müssen. Kaum zur Kenntnis genommen wurde überraschenderweise, daß auch die Reisefreiheit erkämpft worden war: Einen Tag vor der Demonstration beugte sich Krenz den öffentlichen Forderungen und hob das Verbot der visums-freien Ausreise in die Tschechoslowakei auf; Mauer und innerdeutsche Grenze hatten damit praktisch ihre ausschließliche und ausschließende Funktion weitgehend verloren.
Den vielleicht eindrucksvollsten Beweis für die geglückte Selbstbefreiung der Menschen lieferte die Wiederentdeckung der authentischen Rede in der DDR. Über Jahrzehnte hatte die SED erfolgreich Denken und Sprache der Bürger manipuliert, indem sie den pluralistischen Dialog unterdrückte und eine offizielle Sprache verordnete. Alles, was außerhalb der privaten Nische gesagt oder geschrieben wurde, konnte von den Behörden durch zensierende Eingriffe staatlichen Zwekken unterworfen werden. Christa Wolf hat erwähnt, daß es ihr „und anderen seit unserem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 nicht möglich war, in Zeitungen und Zeitschriften der DDR politische Artikel zu schreiben oder uns in Rundfunk und Fernsehen zu äußern“ Die Partei hatte eine repressive „Kultur des Schweigens“ etabliert, in der viele sich gezwungen sahen, mit „gebundenen Zungen“ und einer Schere im Kopf eine Art „Sklavensprache“ zu sprechen, die sich auf die bevormundenden Sprachregelungen der Partei beschränkte. Auf diese Weise nötigte der Staatssozialismus viele Menschen in eine doppelgesichtige, moralisch beschädigende Existenz, die sich in einer gespaltenen sprachlichen Identität niederschlug: Während man sich in der Öffentlichkeit hinter politisch korrekten Phrasen versteckte, weil man nicht zu sagen wagte, was man dachte, schlug man in den eigenen vier Wänden einen ganz anderen Ton an
Erst der Herbst ‘ 89 bereitete dieser Qual ein Ende, als mit radikaler Offenheit und Sprachwitz die Forderungen der Bürger auf den Transparenten öffentlich wurden. Deshalb pries Stefan Heym auf dem Alexanderplatz die Überwindung der Sprachlosigkeit und deshalb kreiste Christa Wolfs gesamte Rede um diese überwältigende Erfahrung sprachlichen Erwachens: „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache: Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen ... Ja: Die Sprache springt aus dem Ämter-und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war.“ Die elende Diskrepanz zwischen der offiziell sanktionierten Sprache und ihren vorgegebenen Denkmustern und den persönlichen Ansichten war getilgt, weil nun endlich die privaten Auffassungen der Mehrheit als öffentliche politische Forderungen artikuliert wurden. Wohl zum ersten Mal seit vierzig Jahren hatten sich die Menschen ihre sprachliche Identität und individuelle Selbstbestimmung zurückerkämpft.
II. Der Traum der Vernunft
In den Wochen vor dem 9. November 1989 war es den Ostdeutschen vor allem darum gegangen, der Freiheit in der DDR zu ihrem Recht zu verhelfen. Daß freiheitliche Verhältnisse eine grundlegende Reform des „real existierenden“ Sozialismus erfordern würden, war eine Conditio sine qua non für alle an der Revolution beteiligten Gruppen gewesen. Niemand hatte die Existenz der DDR wirklich in Frage gestellt: Kein Oppositionsmanifest oder Transparent hatte einen ernsthaften Hinweis darauf enthalten, daß die Menschen über die Wiedervereinigung nachdachten. Gleichwohl fragten sie sich nach ihrer geglückten Selbstbefreiung, was denn wohl die alte Ordnung ersetzen könne. Stefan Heym formulierte die „Kardinalfrage: Wollen wir die DDR, oder wollen wir sie nicht“? Führende intellektuelle Köpfe der Opposition glaubten an zweierlei: an die Erneuerungsfähigkeit des Sozialismus und an die politische Eigenständigkeit der DDR. Ihre Vorstellungen korrespondierten mit den Reformvorhaben, die Michail Gorbatschow für die UdSSR formuliert hatte: Das Neue Forum begriff sich als Ort für „neues Denken“ und protestierte zugleich gegen den Versuch der SED, die Gruppe als „Sozialismusfeinde“ zu brandmarken. Nahezu sämtliche Publikationen der Opposition zeigen, daß man die „Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung“ aufrechterhalten wollte, und zwar bei „Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands“ Schriftsteller wie Christoph Hein ermutigten die Ostdeutschen: „Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist. Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht.“ Und Stefan Heym, den viele als den Nestor der Bewegung sahen, glaubte, der Sozialismus -„nicht der Stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen“ -sei nun zum Greifen nahe.
Die Sehnsucht nach einem wahrhaft demokratischen Sozialismus ist häufig mit dem Bild des Dritten Wegs assoziiert worden, der ja dem Glauben entstammt, daß es möglich sei, eine Art „überlegene Gesellschaftsordnung“ zu errichten, die sowohl die totalitären Ausprägungen des Kommunismus als auch die unsozialen Züge des Kapitalismus überwindet. Seit dem Prager Frühling von 1968 versinnbildlicht der Name des ehemaligen tschechoslowakischen Parteiführers Alexander Dubcek diese Idee. Ursprünglich war der demokratische Sozialismus ein verständlicher und berechtigter Traum gewesen, der sich von der „historischen Hoffnung“ genährt hatte, nach dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch einen demokratischen und sozialistischen deutschen Staat aufzubauen. Die utopischen Züge des Dritten Weges ähneln stark jenem von Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung beschriebenen „Tagtraum“, der unterwegs ist auf einer „Wunschstraße“ in ein besseres Morgen und in dessen Namen beispielsweise Wolf Biermann als junger Mann in die DDR übersiedelte. Sowohl Bloch als auch Biermann wollten oder konnten jedoch nicht in der DDR bleiben, weil die Betreiber des „real existierenden“ Sozialismus den sozialistischen Traum zunehmend in einen Albtraum verkehrten.
Der Glaube an sein utopisches Potential und seine Stunde aber lebte ungebrochen fort, auch als die Mauer errichtet wurde, und sogar noch als Soldaten der Volksarmee für den Einmarsch in die Tschechoslowakei mobilisiert wurden. „Aber noch immer hatten wir die Hoffnung“, schreibt zum Beispiel Christa Wolf über den Abbruch des Prager Frühlings, „daß sich hier Kräfte durchsetzen könnten, die den Kern des Traumes vom Sozialismus bewahrten und dafür Verbündete finden würden.“ Später notierte Wolf Biermann über seine Erwartungen in Anbetracht des Mauerfalls: „Die roten Kinderträume kochten noch einmal hoch. Ich glaubte in jenen Tagen, daß die DDR zu guter Letzt doch eine wirkliche DDR werden könnte . .. Mich beflügelten die gestorbenen Hoffnungen auf eine wirklich sozialistische Revolution.“ Und auf dem Alexanderplatz nahm Christa Wolf noch einmal auf jene „Gefühlswörter“ Bezug, indem sie -fast wie in einer Seance -vor Hunderttausenden formulierte: „Eines davon ist , Traum‘. Also träumen wir mit hellwacher Vernunft. Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“
Der Traum der linken Intellektuellen von der sozialistischen Utopie wurde von den meisten Demonstranten allerdings nicht geteilt. Ihre Transparente forderten die Abschaffung des Sozialismus sowie freie Wahlen, Meinungsfreiheit, den Rücktritt der Regierung Krenz, den Rechtsstaat und das Ende der Stasi. Viele Bürger hatten vom „real existierenden“ Sozialismus genug, zumal man sie nie in einer wirklich demokratischen Wahl nach ihrer Meinung gefragt hatte. Seit der Gründung der DDR hatte deshalb -nach der Flucht von über drei Millionen Menschen bis 1961 -auch in der nachwachsenden Generation der Wunsch nach Übersiedlung in den Westen nicht nachgelassen. Weit über 900 DDR-Bürger bezahlten dieses Begehren mit ihrem Leben, über 170 allein an der Berliner Mauer. Als Ungarn im Sommer 1989 seine Grenze zum Westen öffnete, nutzten Abertausende die Gelegenheit zur Ausreise; und selbst im November 1989, nachdem die SED die Ausreisebeschränkungen aufgehoben hatte, entschieden sich immer noch über 150 000 Menschen, die DDR zu verlassen. Christa Wolf hat bemerkt, daß die jungen Leute der DDR wohl vor allem deshalb den Rücken kehrten, weil der Sozialismus ihnen „keine wie auch immer streitbare, konfliktreiche Identifikation mit diesem Staat, und sei es im Widerspruch“ ermöglicht hatte.
Viele linke Intellektuelle hielten gleichwohl an ihrem Traum fest, weil sie weiterhin glaubten, daß man in der DDR zu einer „wirklich positiven Alternative gegenüber den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland“ kommen könne. Demokratie Jetzt bestand auf der Notwendigkeit eines reformierten Sozialismus als unentbehrlichem Gegenentwurf zu den existierenden Gesellschaftsformen: Der Sozialismus „darf nicht verlorengehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß“ Trotz ehrenwerter Erklärungen dieser Art kam es nicht zur Verwirklichung des Dritten Weges in der DDR. Ein Grund war zunächst, daß innerhalb der Oppositionsgruppen ein auffälliges Führungsdefizit herrschte. Dieser Mangel an Führungspersönlichkeiten unterscheidet die ostdeutsche Revolution generell von ihren Vorläufern in der Moderne und zugleich von parallelen Entwicklungen in Nachbarländern wie Polen und der Tschechoslowakei, wo Lech Walensa und Vaclav Havel die unangefochtenen Leitfiguren der Opposition waren. Jene Intellektuellen, Künstler und Kirchenleute, die die SED kritisiert und herausgefordert hatten, fungierten in der DDR lediglich als Sprecher, die zum Ausdruck brachten, was viele dachten sie strebten nicht nach einer politischen Führungsrolle. Dadurch entstand das Problem, daß zwar viel über den demokratischen Sozialismus geredet wurde, aber niemand bereit war, die frei werdenden politischen Machtpositionen zu besetzen, als das alte Regime fiel. „Wo ist das Schattenkabinett, .. . wo die Reservepartei“, fragte denn auch Stefan Heym, „die den Laden übernehmen und eine neue Ordnung schaffen könnte?“
Ein zweiter Grund, der die Reform des Sozialismus verhinderte, war die fehlende Geschlossenheit der Bewegung. Die wichtigsten Oppositionsgruppen verfaßten zwar eine „Gemeinsame Erklärung“, in der sie die demokratische Erneuerung und freie Wahlen in der DDR forderten und sie versuchten überdies, im Herbst 1989 ihre politische Kraft durch einen Zusammenschluß zu bündeln, der nur aufgrund der Präsenz eines riesigen Polizeiaufgebots nicht zustande kam Die heterogenen Gruppierungen blieben schließlich aber das, was sie waren; wohl nicht zuletzt auch deswegen, weil gerade die Meinungsvielfalt die Attraktivität der Gruppen ausmachte, die eben „nicht die eine monolithische politische Ausrichtung durch eine neue ersetzen“ wollten. In Anbetracht dieser Gemengelage stellte Stefan Heym die berechtigte Frage: „Was nützt eine Opposition, die nichts ist als ein Tohuwabohu quirlender Meinungen?“
Seine Irritation verweist auf einen dritten Grund, der die Verwirklichung des Dritten Weges verhinderte: den Mangel an brauchbaren Programmen zur Erneuerung der DDR. Jens Reich vom Neuen Forum gab gegen Ende Oktober offen zu: „Aller-dings fehlt es bis jetzt an langfristigen Programmen. wir haben nur kurzfristige Forderungen.“ Als einer von vielen unterstrich der Leipziger Schriftsteller Heinz Czechowski, daß der DDR in jener Zeit nichts mehr not tat als eine „kreative Programmatik. Aber gerade diese ist nicht in Sicht.“
III. Der Schlaf der Vernunft?
In ihrer Verbindung bieten die genannten Defizite auch eine Erklärung für jenes Ausbleiben politischer Radikalität, das so bezeichnend ist für die Revolution in der DDR und das sie zugleich von anderen Freiheitskämpfen in der Geschichte abhebt. Durchaus angemessen sind die Vorgänge vom Herbst 1989 ja als sanfte, friedliche oder zivilisierte Revolution bezeichnet worden. Allerdings verlieh diese gewaltlose Vernunftstrategie der Bürgerrechtsbewegung den Ereignissen zugleich eine gewisse Ambivalenz. So weckte das zahme Vorgehen der Demonstranten zum Beispiel bei der Lyrikerin Sarah Kirsch ernste Zweifel am erfolgreichen Ausgang der Revolution. Die für die Perversion des Sozialismus, für das Unrecht verantwortlichen SED-Funktionäre müßten zur Verantwortung gezogen, ihre Partei kompromißlos „hinweggefegt“ werden: „Das gehört zu einer Revolution.“ Doch statt die SED politisch und gesellschaftlich radikal auszugrenzen, wurden die Wendehälse mit in den revolutionären Prozeß einbezogen. Im Rückblick drängt sich die Frage auf, warum einflußreichen SED-Vertretern wie Günter Schabowski und Markus Wolf Gelegenheit gegeben wurde, auf dem Alexanderplatz zu sprechen; und man fragt sich überdies, was einen Bürgerrechtler wie Friedrich Schorlemmer dazu brachte, der Menge zu sagen: „Wir wollen und wir können unser Land jetzt nicht ohne die SED aufbauen.“ War die SED-Führung nicht wenige Wochen zuvor noch mit Polizeiwillkür gegen Demonstranten vorgegangen, hatte sie nicht jede Reform für überflüssig erklärt und jegliche Sozialismuskritik pauschal kriminalisiert, zumindest bis zum 9. Oktober? Niemand in der Opposition verhinderte, daß die SED zum Trittbrettfahrer der Revolution aufstieg. Jens Reich hat versucht zu erklären, daß diese Absage an alle Radikalität ein Grundprinzip der Bewegung darstellte; denn schließlich hatte man grundsätzlich nicht nur die Gewalt abgelehnt, sondern „jahrelang gegen das Prinzip und die Praxis der Abgrenzung gestritten und dagegen protestiert“ Ein weiterer Grund mag jene „familiäre Verklammerung“ gewesen sein, die selbst kritische Sozialisten in der'DDR immer wieder mit ihren Unterdrückern ins Gespräch verstrickte. „Und so redeten wir miteinander“, schreibt diesbezüglich Wolf Biermann, „ja wir waren Familie, bis aufs Blut zerstritten, aber Familie.“ Mit nicht zu überbietender Anmaßung und Verlogenheit konnten daher Leute vom Schlag des SED-Ideologen Kurt Hager öffentlich erklären: „Wir sind doch diejenigen, die den Dialog überhaupt erfunden haben.“
Die Tatsache, daß es der vollkommen unglaubwürdig gewordenen SED gelang, die Sprache der Opposition zu übernehmen, sie zu manipulieren und zu besetzen, illustriert vielleicht am besten, daß es -ironischerweise -auch dieser Mangel an revolutionärer Radikalität war, der die Möglichkeit einer sozialistischen Alternative in der DDR behinderte. Zum Beispiel veröffentlichte die Junge Welt nach der Maueröffnung eine Ansprache des neuen Vorsitzenden Egon Krenz unter dem Titel „Vorstellungen für die revolutionäre Erneuerung des Sozialismus in der DDR“ Der hier von Krenz verwendete Begriff der „revolutionären Erneuerung“ war nur wenige Tage zuvor in der Öffentlichkeit eingeführt worden, und zwar von Christa Wolf in ihrer Rede auf dem Alexander-platz. An der öffentlichen Sprache war also abzulesen, daß die Grenze zwischen denjenigen, die für eine Erneuerung des Sozialismus kämpften, und jenen, die dessen Perversion zu verantworten hatten, verschwamm. Ein weiteres Beispiel ist Krenz’ Antrittsrede vom 18. Oktober, worin er bekannt-gab: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten.“ Skrupellos versuchte Krenz, die Fortschritte der Revolution für die SED zu reklamieren, indem er ihnen den Namen „Wende“ gab, und er hatte Erfolg damit; denn trotz des Versuchs der Überwindung jener vierzig Jahre andauernden sprachlichen Bevormundung durch die Partei setzte sich einmal mehr eine Sprachregelung der SED durch: Über Nacht war die „Wende“ in aller Munde. Schließlich gelang es der SED sogar, die Idee des Dritten Weges in Form des „demokratischen Sozialismus“ für sich zu verein-nahmen: Im Dezember 1989 erweiterte sie zunächst ihren Namen zur SED-PDS, um nur zwei Monate später ihre Diktatur-Vergangenheit zu entsorgen, indem sie vom gerade angenommenen Doppelnamen bloß noch „Partei des Demokratischen Sozialismus“ stehen ließ.
Der Kampf der Ostdeutschen für die Freiheit wurde von Erfolg gekrönt, als in der Nacht des 9. November 1989 die Mauer fiel. Die Vernunft und der Wille zur Mündigkeit hatten über die Ungeheuerlichkeiten des alten Regimes gesiegt; die Geschichte war offen, und für die Menschen stellte sich mit diesem Tag die Frage: Was fangen wir mit unserer neugewonnenen Freiheit an? Auf der Leipziger Montagsdemonstration am 20. November forderte zumindest ein Teil der 250 000 Demonstranten erstmals die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Nur zehn Tage nach der gelungenen Selbstbefreiung wich das freiheitliche Motto „Wir sind das Volk“ dem Ruf nach der Einheit: „Wir sind ein Volk“. Zugleich nutzte Kanzler Kohl die Gunst der Stunde und verkündete ein Zehn-Punkte-Programm, das den Zug in Richtung Wiedervereinigung in Bewegung setzte. Unweigerlich begannen die Anhänger einer sozialistischen Erneuerung der DDR, den Mauerfall als „Niederlage“ oder als „Höhepunkt der Revolution und gleichzeitig ihren Abbruch“ zu sehen. Den Einheitswunsch der Ostdeutschen schrieben sie der Verführungskraft des Kapitalismus zu; Stefan Heym und Konrad Weiß zum Beispiel glaubten, daß die Revolution von den „Warenbergen“ ja dem „glitzernden Tinnef“ erdrückt worden sei, den man den Ostdeutschen in Westdeutschland in den Weg gestellt habe.
Die Tatsache, daß viele Bürger ihre neugewonnene Freiheit dazu nutzten, auf den Vereinigungszug zu springen, läßt sich jedoch nicht einfach auf ihre Berührung mit der westlichen Warenkultur zurückführen. Die Revolution fiel nicht dem Kapitalismus zum Opfer. Es war eher so, daß alle an dieser Revolution Beteiligten -die sogenannten Massen und die aktiven Bürgerrechtler -keine ideale Antwort auf die Frage wußten, was mit der neugewonnenen Freiheit anzufangen sei. Vaclav Havel, der Kopf der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung, hat zu erklären versucht, warum der Triumph der Freiheit den Menschen derartige Probleme bereitete: „Ich treffe relativ häufig“, schreibt Havel, „nicht nur in der Tschechoslowakei, sondern auch in den übrigen Ländern Mittel-und Osteuropas, die sich von totalitären Systemen befreit haben, auf verschiedene Varianten dieser Angst und dieses Gefühls der Leere. Die Menschen haben in diesen Ländern die ersehnte Freiheit hart erkämpft. Doch in dem Augenblick, in dem sie sie gewonnen haben, ist ihnen, als ob sie auf einmal überrascht seien. Sie waren ihr in einem Maße entwöhnt, daß sie plötzlich nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollen. Sie fürchten sie. Sie wissen nicht, womit sie sie füllen sollen. Als ob jener Sisyphos-Kampf dafür plötzlich eine leere Stelle hinterlassen habe. Als ob das Leben auf einmal den Sinn verloren habe.“ Die problematische und ambivalente Seite der Freiheit hat im Rückblick auch Friedrich Schorlemmer reflektiert: „Diese 40 Jahre haben uns geprägt, im Guten wie im Bösen. Wir haben eine andere Mentalität entwickelt, die es uns zunächst nicht leicht macht, uns in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Einerseits waren wir durch einen allgegenwärtigen Staat und seine Allmachtspartei ständig bewacht, aber wir waren auch permanent versorgt. Dies hat uns in vielem unselbständig gemacht. Wir sind ständig erzogen, ja dressiert worden und haben uns in einer gewaltlosen Revolution befreit.“
Havel wie Schorlemmer verweisen auf den entscheidenden Unterschied zwischen der Fähigkeit eines Volkes, sich aus der Bevormundung durch den Staat zu lösen, und den Schwierigkeiten, dieser hart erkämpften Freiheit einen neuen Sinn zu geben. Beide verstehen den entscheidenden Unterschied zwischen der Selbstbefreiung des Volkes auf der einen und der Entwicklung jedes einzelnen Menschen zu einem freien, selbstbestimmten Individuum auf der anderen Seite. Die Ostdeutschen waren zwar durchaus in der Lage gewesen, die revolutionäre Bewegung „von unten“ zu ermöglichen, aber ihre Mentalität wandelte sich nicht über Nacht. Wie hätte das auch möglich sein sollen? Vierzig Jahre war ihnen die Freiheit vorenthalten worden, und als die Mauer fiel, hatten sie sich gerade erst vier Wochen aus ihrer Unmündigkeit gelöst.
Statt sich für die deutsche Vereinigung zu entscheiden -so würden die Anhänger einer alternativen DDR wohl erwidern -, hätten die Menschen ihre Freiheit nutzen können, indem sie für den Dritten Weg stimmten. Zwei wichtige Aufrufe aus jenen Tagen verdeutlichen allerdings, daß die Bürger nicht wirklich die Wahl hatten. Am 8. November veröffentlichten prominente Intellektuelle und Künstler einen Offenen Brief, der die Bürger dazu aufforderte, in der DDR zu bleiben, um „eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt -kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird“ Bärbel Bohley, Christoph Hein, Kurt Masur, Christa Wolf und andere versprachen, sich für „Demokratisierung; Freie Wahlen; Rechtssicherheit; Freizügigkeit“ einzusetzen. Am 28. November, demselben Tag, an dem Helmut Kohl sein Vereinigungsprogramm verkündete, veröffentlichte eine Reihe prominenter Persönlichkeiten einen weiteren Appell mit dem Titel „Für unser Land“. Der Moment der Entscheidung sei gekommen, hieß es darin, entweder die Vereinnahmung durch Westdeutschland und somit den „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“ hinzunehmen oder einer „sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik“ den Weg zu bereiten, einer „solidarischen Gesellschaft“, in der „Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind“ Beide Aufrufe veranschaulichen, daß die Anhänger eines reformierten Sozialismus die Menschen von einem Dritten Weg überzeugen wollten, dessen Beschaffenheit bis dahin niemand präzise definiert und den es im „sozialistischen Lager“ bisher auch nirgendwo gegeben hatte. Abgesehen von dem vagem Versprechen einer solidarischen Gesellschaft beschrieb keine der oben aufgeführten Zielvorgaben ein Zukunftskonzept, sondern alles in allem bewährte Realitäten in der „alten“ Bundesrepublik Deutschland. Das Problem war „die Alternativlosigkeit der Alternative“ wie Heiner Müller zutreffend festgestellt hat. Die Menschen, die zwar die Freiheit errungen, zugleich aber auch Angst vor ihr hatten, weigerten sich daher, den höchst risikoreichen neuerlichen sozialistischen Weg in eine ungewisse Zukunft zu gehen.
Ende November füllte der westdeutsche Bundeskanzler jene von Vaclav Havel beschriebene „Leere“ mit seinem Vereinigungsprogramm. Helmut Kohls Versprechen, die Lebensverhältnisse in der DDR möglichst rasch denen in Westdeutschland anzugleichen, nahm den Ostdeutschen die Angst vor der Freiheit. Ein im Frühjahr 1990 entrolltes Transparent illustriert das Ausmaß der neuen Autoritätsfixierung eines Teils der Menschen in der DDR: „Gott schütze unseren Kanzler Helmut Kohl, den Garanten der deutschen Einheit.“ Der Ausgang der ersten freien Wahlen im März 1990 erbrachte den Nachweis, daß die meisten Bürger den Sozialismus nicht mehr wollten: Bündnis 90, die Partei der Bürgerrechtler, erhielt nur 2, 9 Prozent der Stimmen. Statt für einen Dritten Weg hatten die Wähler mit 48 Prozent für die konservative Allianz für Deutschland, also für den schnellstmöglichen Weg zur Einheit, gestimmt. Innerhalb weniger Wochen hatte jene hellwache Vernunft den DDR-Bürgern zwar den Weg in die Selbstbefreiung gewiesen, aber danach flüchteten sie, wie Monika Maron zutreffend ausgeführt hat, „aus der verordneten Unmündigkeit in die freiwillige“ Deshalb wird Heinz Czechowskis skeptische Diagnose vielleicht noch eine ganze Generation lang ihre Gültigkeit beweisen: „Die Saat der SED, die Unmündigkeit, entwickelt und beweist ihre Langzeitwirkung.“
IV. Schlußbetrachtung
Die Revolution in der DDR war die geglückte Selbstbefreiung der Ostdeutschen von einem totalitären Regime. Am 9. Oktober 1989 gelang den Demonstranten in Leipzig der entscheidende Durchbruch, am 9. November 1989 besiegelte die Öffnung der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs den Triumph der Freiheit: Die Menschen hatten sich aus der staatlich verordneten Unmündigkeit gelöst. Von diesem Imperativ der Aufklärung war das Handeln aller an der Revolution beteiligten Gruppen bestimmt.
Die Revolution handelte nicht von der deutschen Vereinigung, die erst nach dem Fall der Mauer ins Blickfeld der Politik rückte. Sie handelte auch nicht vom Kampf gegen soziales Elend, wie beispielsweise die Befreiungskämpfe in Südamerika. Überdies ging es nicht um die Auferstehung einer sozialistischen Utopie, denn der aufschäumende Traum vom demokratischen Sozialismus bot in der Realität keinen alternativen Dritten Weg. Bemerkenswert an den Vorgängen ist vielmehr, „daß sie gerade nicht“, wie Joachim Fest ausgeführt hat, „jenes Element sozialrevolutionärer Emphase enthalten, von dem so gut wie alle historischen Revolutionen der Neuzeit beherrscht waren“ Dar-über hinaus hatten die Wochen zwischen dem 9. Oktober und dem 9. November nichts mit der sogenannten „Wende“, also einem bloßen politischen Kurswechsel, zu tun: zum einen, weil es der oppositionelle Druck der Straße war, der zunächst Erich Honecker und schließlich die Regierung und das gesamte Politbüro zum Rücktritt zwang, zum anderen, weil der Begriff „Wende“ von Honeckers Nachfolger Egon Krenz in die Öffentlichkeit eingeführt wurde, um die Erfolge der Revolution für die SED zu reklamieren. Begreiflicherweise haben Christa Wolf, Jens Reich und andere ihr Unbehagen und ihren Ärger über die Unangemessenheit des Begriffs zum Ausdruck gebracht Allein die Entwicklung unmittelbar nach der Revolution, als statt der Selbstbefreiung die Vereinigung auf die Tagesordnung rückte, läßt sich zutreffend als „Wende“ bezeichnen.
Was die Revolution in der DDR von vergleichbaren Beispielen in der Neuzeit unterscheidet, ist ihre Gewaltlosigkeit. Während blutige Machtkämpfe in einem Klima des Bürgerkriegs für den Ausgang der Amerikanischen, der Französischen oder der Russischen Revolution von entscheidender Bedeutung waren, verfolgten die revolutionären Bewegungen in Osteuropa eine zivilisierte Strategie der Gewaltlosigkeit. Sieht man einmal vom Blutvergießen in Rumänien ab, wurde auf diese Weise mit jener unglückseligen revolutionären Tradition gebrochen, nach der eine neue Ordnung stets nur mittels barbarischer Handlungen durchgesetzt wurde. Was die Revolution in der DDR darüber hinaus von zeitgleichen Entwicklungen in Nachbarländern wie Polen und der Tschechoslowakei unterscheidet, ist das Ausbleiben des Machtanspruchs. Jenes erstaunliche Phänomen, daß die politische Macht im November 1989 auf der Straße lag, aber niemand kam, um sie aufzuheben ist auf das Fehlen eines politischen Zukunftsprogramms und einer revolutionären Leitfigur zurückzuführen -ein Sachverhalt, den Wolf Biermann sarkastisch als „eine Weltpremiere: eine Revolution ohne Revolutionäre“ bezeichnet hat. Bedenkt man allerdings den grotesken Personenkult im „real existierenden“ Sozialismus und zieht zudem die pathologische Führerfixierung in der NS-Zeit in Betracht, so könnte die Abwesenheit eines charismatischen Kopfes und einer Ideologie auch mit dem Bemühen der Bürgerrechtsbewegung um einen genuin demokratischen Dialog erklärt werden.
Kritiker haben behauptet, daß das Ende der totalitären Herrschaft nicht durch eine Revolution herbeigeführt wurde, sondern als Ergebnis von Michail Gorbatschows Reformprogramm begriffen werden muß. Es besteht kein Zweifel, daß die neue Politik der Sowjetunion ab 1985 im gesamten Ostblock einen Dominoeffekt auslöste, der auch die Allmacht der SED schwächte. „Ohne vorausgehende Machtkrisen“, schreibt Dieter Henrich, „haben nämlich Revolutionen niemals eine Erfolgschance.“ So gesehen ebnete Gorbatschow den Weg für den Wandel. Entscheidend ist allerdings, daß die Perestroika nicht das Ende des SED-Regimes bewirkte, sondern lediglich ein Klima erzeugte, in dem fundamentale Veränderungen möglich wurden. Die Kräfte der Erneuerung selbst unterschieden sich hier und dort grundlegend voneinander: Während die Reformen in der Sowjetunion durch die politische Führung „von oben“ verordnet wurden, ging der Impuls zur Veränderung in der DDR von einer Massenbewegung „von unten“ aus.
In diesem Zusammenhang haben Kritiker zudem eingeschränkt, daß die Revolution eigentlich immer nur die Angelegenheit einer kleinen Gruppe entschiedener Systemgegner gewesen sei, während die Mehrzahl der Bürger sich lediglich als Mitläufer hervorgetan habe, und das auch erst, als der öffentliche Protest mit keinerlei Risiko mehr verbunden war. Mit Blick auf die Montagsdemonstrationen hat der Bürgerrechtler Jürgen Tallig zum Beispiel Christoph Heins Bezeichnung der Stadt Leipzig als „Heldenstadt“ für unzutreffend erklärt und die Mehrheit der Demonstranten als bloße „Spaziergänger von Leipzig“ abqualifiziert. Derartige Kritik ignoriert nicht nur, daß die 70 000 von Leipzig am 9. Oktober zumindest ihre Verhaftung, wenn nicht Schlimmeres riskierten, sondern übersieht auch die geschichtliche Tatsache, daß Revolutionen zumeist nur von wenigen Aktivisten vorangetrieben wurden: Auch am Sturm auf die Bastille war nur eine relativ kleine Anzahl von Vorkämpfern beteiligt.
Mehr Aufmerksamkeit sollte vielleicht der Frage gewidmet werden, warum der Revolution in der DDR die breite öffentliche und offizielle Anerkennung im heutigen Deutschland vorenthalten wird. Es ist gewiß zutreffend, wenn Jens Reich im Rückblick auf den Herbst 1989 schreibt: „Die Erinnerungen an die Leipziger Montagsumzüge wird aus unserem kollektiven Gedächtnis nicht mehr auszulöschen sein. Sie ruft ins Bewußtsein, daß es in Deutschland in einer historischen Sekunde gelungen ist, das Volk zur Wiederherstellung der Freiheits-und Bürgerrechte, der Ziele der großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts (in Frankreich und Amerika), zu vereinigen.“ Als Triumph der Freiheit nach vierzig Jahren Bevormundung ist die Revolution allerdings bis heute nicht in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingedrungen. „Daß im Herbst 1989 erreicht wurde, was 1953 nicht hatte erreicht werden können,“ schreibt deshalb Rolf Schneider, „notabene die erste geglückte Selbstbefreiung einer deutschen Bevölkerung von einer Zwangsherrschaft, ist aus dem Bewußtsein der Deutschen, auch jener östlich der Elbe, mittlerweile völlig herausgefallen.“
Seit dem Mauerfall haben die zahlreichen Probleme der Vereinigung die öffentliche Diskussion bestimmt. Warum, bleibt allerdings zu fragen, ist selbst nach zehn Jahren kein Symbol geschaffen, kein Ort oder Tag bestimmt worden, an dem die Bedeutung der Revolution von 1989 gewürdigt wird? Nach dem Arbeiteraufstand vom Juni 1953 war in der „alten“ Bundesrepublik der 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit gefeiert worden, bis er 1990 vom 3. Oktober, einem bloß bürokratischen Datum, abgelöst wurde. Wie aber alle wußten, war der eigentliche Tag der deutschen Einheit der 9. November gewesen: der Tag, an dem die Grenzen überwunden wurden. Als Feiertag hielt man ihn jedoch für zu problematisch, da er zusammenfällt mit der Ausrufung der Republik 1918, mit Hitlers Münchner Putschversuch 1923 und mit der Pogromnacht 1938, als in Deutschland die Synagogen brannten Als ein sowohl der Feier wie der Erinnerung gewidmeter Tag hätte der 9. November gleichwohl die Möglichkeit eröffnet, das allgemeine Verständnis für die Ambivalenz deutscher Geschichte zu stärken: Der Tag hätte die positive Bedeutung von 1989 hervorgehoben und zugleich das Geschichtsbewußtsein vertieft für die fragwürdigen und beschämenden Vorkriegsereignisse, die Deutsche ebenfalls mit ihm verbinden müssen.
Jenes handgeschriebene Schild mit der Aufschrift Straße des 9. November, das jemand nach der Maueröffnung über das Schild der Straße des 17. Juni geklebt hatte, ist längst entfernt worden. Und während der vergebliche Kampf für die Freiheit vom Juni 1953 mitten in Berlin einen Ort und einen Namen hat, den die Menschen täglich lesen, schreiben und aussprechen, bleibt der erfolgreiche Kampf für die Freiheit aus dem Jahre 1989 im heutigen Deutschland ohne ein sichtbares Zeichen. Während zahlreiche Mahnmale zur Erinnerung an die NS-Diktatur errichtet wurden, wurde die Berliner Mauer -ein einzigartiges Schandmal der SED-Diktatur -fast völlig beseitigt, und damit auch die Erinnerung an den 9. November 1989 erschwert.
Die ostdeutsche Revolution enthält zu viele fragwürdige Aspekte, um sie als „Erfolg“ zu glorifizieren; und sie weist zu viele unbestreitbare Errungenschaften auf, um sie als „Mißerfolg“ abzutun. Eher sollte nicht vergessen werden, daß die Bürgerrechtsbewegung der DDR ihre geschichtliche Inspiration in den Imperativen der Tradition der Aufklärung fand. Die Ostdeutschen kämpften für die Freiheit und lösten sich schließlich aus der Bevormundung durch den Staat. Viele glaubten, daß der Sozialismus zu einer anachronistischen Idee aus der Vergangenheit verkommen war, die sie daran gehindert hatte, in der Gegenwart anzukommen und an ihr teilzuhaben. Jürgen Habermas hat die Vorgänge deshalb als „nachholende Revolution“ beschrieben: „Nachholen will man, was den westlichen Teil Deutschlands vom östlichen vier Jahrzehnte getrennt hat -die politisch glücklichere und ökonomisch erfolgreichere Entwicklung.“ Eine Minderheit demokratischer Sozialisten träumte den Traum der Vernunft und glaubte, daß die Revolution von der Verwirklichung des Dritten Weges handelte. Sie zog jene Vorbehalte über die Revolution nicht in Betracht, die Immanuel Kant schon vor zweihundert Jahren zu bedenken gegeben hatte: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen.“ 99 Im Licht dieser Einsicht scheint es, als habe die Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik der „Dialektik der Aufklärung“ ein weiteres Kapitel hinzugefügt.