Die 25jährigen auf dem langen Weg in das vereinte Deutschland. Ergebnisse einer seit 1987 laufenden Längsschnittstudie bei jungen Ostdeutschen | APuZ 43-44/1999 | bpb.de
Die 25jährigen auf dem langen Weg in das vereinte Deutschland. Ergebnisse einer seit 1987 laufenden Längsschnittstudie bei jungen Ostdeutschen
Peter Förster
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Zusammenfassung
Eine Längsschnittstudie, die 1987 bei damals 14jährigen sächsischen Schülern gestartet wurde, begleitet seitdem mit bisher 13 Untersuchungswellen den Weg dieser Jugendlichen von den letzten Jahren der DDR über die Wende hinweg in das vereinte Deutschland: vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Besonders die Zeitreihen zur gesellschaftlichen und persönlichen Zukunftszuversicht machen die gravierenden krisenhaften Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld der Teilnehmer deutlich, zuerst in der Endzeit der DDR, später in Ostdeutschland. Die Daten lassen erkennen, daß die persönlichen Zukunftsmöglichkeiten dieser Jugendlichen zum zweiten Mal in einem lebensgeschichtlich kurzen Zeitraum durch gesellschaftliche Krisenerscheinungen beeinträchtigt werden. Hinsichtlich ihrer politischen Orientierungen und Identifikationen befinden sie sich nach wie vor in einem intensiven Such-und Wandlungsprozeß, dessen Ergebnisse heute noch nicht absehbar sind.
Wie stehen ostdeutsche Jugendliche zehn Jahre nach der Wende zu dieser Zäsur in ihrem Leben und zur deutschen Einheit? Fühlen sie sich als Bundesbürger oder noch als DDR-Bürger? Sind sie politisch in der neuen Gesellschaft angekommen? Wie denken sie über Alternativen zu dieser Ordnung? Wirken frühere Bindungen an das sozialistische System heute nach? Das sind einige der Fragen, denen wir in diesem Beitrag mit dem Blick auf die (1998) 25jährigen unter ihnen nachgehen wollen. Dabei können wir uns auf langjährige Zeitreihen stützen, die teilweise bis 1987 bzw. 1990 zurückgehen und die einen Einblick in den bei diesen Jugendlichen seitdem abgelaufenen politischen Mentalitätswandel geben, der mit hoher Wahrscheinlichkeit weitergehen wird.
I. Vorbemerkungen zur Studie
Die „Sächsische Längsschnittstudie“ wurde im Frühjahr 1987 bei 14jährigen Schülern mit der Zielstellung gestartet, in wesentlichen Einstellungs-und Verhaltensbereichen charakteristische Entwicklungstendenzen und deren Bedingungen mit den spezifischen Mitteln des Längsschnittansatzes zu untersuchen. Im Mittelpunkt stand dabei die Analyse der Veränderungen der politischen Grundeinstellungen, insbesondere der Bindung an das sozialistische Gesellschaftssystem und an die DDR. In die Untersuchung waren 1 240 Schülerinnen und Schüler aus den damaligen Bezirken Leipzig und Karl-Marx-Stadt einbezogen. Sie gehörten 72
Abbildung 5
Tabelle 4: Zufriedenheit mit dem politischen System im Trend 1992 bis 1998
Tabelle 4: Zufriedenheit mit dem politischen System im Trend 1992 bis 1998
Klassen aus 41 Schulen der genannten Regionen an, die nach dem Zafallsprinzip ausgewählt wurden. Die Population war weitgehend DDR-repräsentativ. Die Schüler gehörten den Geburtsjahr-gängen 1972/73 an. Sie haben die zehnklassige polytechnische Oberschule als letzter Jahrgang vollständig durchlaufen -ein Merkmal, das sie auch für die Untersuchung von Nachwirkungen der DDR-Sozialisation prädestiniert.
Abbildung 6
Abbildung 2: Anteile der Parteimitglieder, die mit dem politischen System sehr zufrieden oder zufrieden sind, nach Geschlechtergruppen differenziert (in Prozent)
Abbildung 2: Anteile der Parteimitglieder, die mit dem politischen System sehr zufrieden oder zufrieden sind, nach Geschlechtergruppen differenziert (in Prozent)
Nach der Wende wurde die Studie ab Frühjahr 1990 mit 10 Befragungswellen fortgesetzt, nunmehr postalisch. An ihnen beteiligten sich zwischen 200 und 368 der zur Mitarbeit bereiten Panelmitglieder bei einer seit 1993 steigenden (!) Teilnehmerquote Dabei muß in Rechnung gestellt werden, daß 60 bis 100 der zur weiteren Mitarbeit bereiten Jugendlichen meist schon 1989/90 in den Westteil abgewandert waren. Die Stichproben der Wellen nach der Wende sind repräsentativ für die Gesamtstichprobe der 3. Welle vom Frühjahr 1989 im Hinblick auf wesentliche politische Grundeinstellungen. Bei den Panelmitgliedern handelt es sich also hinsichtlich ihres politischen Profils nicht um Selektivpopulationen.
Abbildung 7
Tabelle 5: Einstellung zum SED Regime und zu einem reformsozialistischen Modell im Trend 1992 l 1998 (in Prozent)
Tabelle 5: Einstellung zum SED Regime und zu einem reformsozialistischen Modell im Trend 1992 l 1998 (in Prozent)
Ein inhaltlicher Schwerpunkt der Befragungen seit 1990 ist die langfristige Analyse des politischen Einstellungswandels seit der Wende und der Vereinigung, die wissenschaftliche Begleitung und Dokumentation des Weges der Panelmitglieder aus dem Gesellschaftssystem der DDR in das der Bundesrepublik, vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Untersuchung von Nachwirkungen der DDR-Sozialisation auf die heutigen politischen Grundeinstellungen, insbesondere die Bindung an das gegenwärtige politische System. Unsere Studie ist die einzige in Ostdeutschland, die dabei auf differenzierte Daten aus der Zeit vor der Wende zurückgreifen kann. Neben quantitativen Daten liegt seit 1987 eine Fülle qualitativer Daten vor (Antworten auf offene Fragen, Tagebuchnotizen, Briefe usw.), die einen detaillierten Einblick in den politischen Mentalitätswandel und in das Denken junger Ostdeutscher über Deutschland geben
II. Ausgewählte Ergebnisse
Abbildung 2
Tabelle 2: Grundeinstellung zur deutschen Einheit 1990 bis 1998 (in Prozent)
Tabelle 2: Grundeinstellung zur deutschen Einheit 1990 bis 1998 (in Prozent)
Die folgenden Ergebnisse sollen einen Einblick in einige wesentliche Aspekte des Mentalitätswandels bei den (1998) 25jährigen Panelmitgliedern geben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für ostdeutsche Jugendliche dieser Altersgruppe verallgemeinert werden können. Repräsentativität für junge Ostdeutsche generell wird nicht unterstellt. Voranzustellen ist die Erläuterung einiger in den Tabellen angeführten Koeffizienten, die im ZU speziell für die Aufbereitung und Interpretation von Längsschnittdaten entwickelt wurden Sie geben die Anteile der sich zwischen den Erhebungswellen verändernden bzw. nicht verändernden Analysepersonen (Apn) wieder, ohne die Größe der Veränderungen auf der Antwortskala zu berücksichtigen: POP = Prozentualer Anteil der Apn, die sich positiv verändert haben, wobei die niedrigeren Skalen-plätze als die positiveren definiert sind;
Abbildung 8
Tabelle 6: Ausprägung der Identität als Bürger der ehemaligen DDR bzw. als Bürger der Bundesrepublik im Trend 1990 bzw. 1992 bis 1998 (in Prozent)
Tabelle 6: Ausprägung der Identität als Bürger der ehemaligen DDR bzw. als Bürger der Bundesrepublik im Trend 1990 bzw. 1992 bis 1998 (in Prozent)
NEP = Prozentualer Anteil der Apn, die sich negativ verändert haben; KOP = Prozentualer Anteil der Apn, die sich nicht verändert haben.
Abbildung 9
Tabelle 7: Grad der Übereinstimmung zwischen dem in Staatsbürgerkunde vermittelten BRD Bild und der heutigen Realität (in Prozent)
Tabelle 7: Grad der Übereinstimmung zwischen dem in Staatsbürgerkunde vermittelten BRD Bild und der heutigen Realität (in Prozent)
Mit einem statistischen Test wird geprüft, ob der Unterschied zwischen den positiven und den negativen Veränderungen signifikant ist (in den Tabellen durch Kursivsatz hervorgehoben).
Abbildung 10
Tabelle 8: Zurechtkommen mit der neuen Gesellschaft im Trend 1992 bis 1998 (in Prozent)
Tabelle 8: Zurechtkommen mit der neuen Gesellschaft im Trend 1992 bis 1998 (in Prozent)
Abbildung 3: Zufriedenheit mit dem politischen System zwischen 1994 und 1998, differenziert danach, ob die Parteimitglieder arbeitslos waren („ja“) oder nicht („nein“) (zusammengefaßte Prozenthäufigkeiten der Positionen „sehr zufrieden“ und „zufrieden“)
Abbildung 3: Zufriedenheit mit dem politischen System zwischen 1994 und 1998, differenziert danach, ob die Parteimitglieder arbeitslos waren („ja“) oder nicht („nein“) (zusammengefaßte Prozenthäufigkeiten der Positionen „sehr zufrieden“ und „zufrieden“)
Die gesellschaftliche und die persönliche Zukunftszuversicht gehören zu den Analysegegenständen, zu denen Daten seit dem Start der Studie im Frühjahr 1987 vorliegen. Wir stellen diese Angaben bewußt voran, weil sie in spezifischer Weise Aufschluß geben über die Reflexion über zehn Jahre massiver gesellschaftlicher Veränderungen, eingeschlossen die Endzeit der DDR, die politische Wende, die Vereinigung und die nachfolgenden Transformationsprozesse mit ihren tief-gehenden Auswirkungen auf die Mentalität der Panelmitglieder. Betrachten wir dazu die Trends seit 1987, in die (wie auch bei den folgenden Trends) nur jene Panelmitglieder einbezogen wurden, die sich 1998 an der 13. Welle beteiligt haben.
Tabelle 1 weist in der zweiten Spalte das Durchschnittsalter der Panelmitglieder zum Befragungszeitpunkt in Jahren aus, das auch bei den folgenden Tabellen zu berücksichtigen ist. Ein Blick auf die Veränderungen vor der Wende, zwischen 1987 und 1989, zeigt, daß in diesem Zeitraum der Anteil der Panelmitglieder, die die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR zuversichtlich betrachteten, erheblich zusammenschrumpfte. Der Prozentanteil einschränkungslos zuversichtlicher Jugendlicher ging von 39 % 1987 auf 15 % im Frühjahr 1989 zurück. Der Mittelwert auf der fünfstufigen Skala stieg von 1, 7 auf 2, 4. Die negativen Veränderungen auf der Skala um einen oder mehrere Skalenpunkte (NEP) bei 52 % der Panelmitglieder waren erheblich größer (signifikant) als die positiven Veränderungen (POP) bei nur 10 %. Dieser Trend lief konform mit der starken Regression der politischen Identifikation der Panelmitglieder mit der DDR in diesem Zeitraum: Der Anteil der Jugendlichen, die sich einschränkungslos mit der DDR identifizierten, ging von 45 % 1987 auf 21 % 1989 zurück
Hinsichtlich der persönlichen Zukunft war dagegen nur ein sehr geringer Rückgang der Zuversicht zu beobachten. Die eigene Zukunft schien damals von den negativ erlebten und kritisch bewerteten gesellschaftlichen Krisenerscheinungen in der DDR weniger betroffen zu sein, zumal zum Zeitpunkt der Befragung faktisch alle Panelmitglieder mit dem feststehenden Ausbildungs-bzw. Arbeitsplatz eine klare persönliche Perspektive zu haben glaubten. Ein völliger Zusammenbruch der DDR-Gesellschaft mit weitreichenden persönlichen Konsequenzen wurde auch von den damals 16jährigen Schülern nicht erwartet.
Aufschlußreich sind die Trends nach der Wende: Für die Jahre 1991 bis 1993 (1990 war diese Frage nicht gestellt worden) ist ablesbar, daß sich die Bewertung der gesellschaftlichen Zukunft nach dem Systemwechsel gegenüber der Endzeit der DDR nicht grundsätzlich verändert hatte, sie war 1991 eher etwas kritischer geworden, der Anteil ambivalenter Urteile nahm zu. Erst die Daten von 1994 und 1995 ließen auf einen leichten Positiv-trend schließen, der sich ab 1996 jedoch wieder umgekehrt hat. In Übereinstimmung mit anderen Ergebnissen der Studie widerspiegeln diese Daten die sehr kritische Wahrnehmung der gesellschaftlichen Krisenerscheinungen in Ostdeutschland, die hier nicht näher auszuführen sind. Im gesamten Zeitraum 1989 bis 1998 überwogen die Negativierungen eindeutig die Positivierungen: 55 % (NEP) gegenüber 17 % (POP).
Auch im Hinblick auf die persönliche Zukunft ging die Zuversicht nach der Wende weiter zurück. Schon zwischen 1989 und 1990 verringerte sich der Anteil der Panelmitglieder mit einschränkungsloser Zuversicht von 39 % auf 21 %, dafür stieg der Anteil ambivalenter Angaben von 7 % auf 23 % an. Bei einem nicht geringen Teil der Panelmitglieder waren die bis dahin feststehenden Pläne der beruflichen Entwicklung durch die Umbrüche stark ins Wanken geraten oder mußten sogar völlig aufgegeben werden. Fast die Hälfte der Teilnehmer äußerte in dieser Zeit kurz nach der Wende Angst vor eigener Arbeitslosigkeit.
In den folgenden Jahren war mit zunehmender Tendenz eine eingeschränkt positive persönliche Zukunftszuversicht charakteristisch, zwischen 1995 und 1996 war dagegen wie bei der gesellschaftlichen Zukunftszuversicht eine signifikante Negativierung zu verzeichnen, die sich tendenziell auch zwischen 1996 und 1998 fortsetzte. Insgesamt gesehen überwiegen zwischen den Meßpunkten kurz vor der Wende und 1998 bei 47 % die Negativierungen. Trotz der unterschiedlichen Tendenzen in der Ausprägung der Zukunftszuversicht im Hinblick auf die Gesellschaft einerseits und die eigene Person andererseits vor der Wende bestand schon damals ein Zusammenhang beider Aspekte: Je geringer der Gesellschaft die Chance einer positiven Entwicklung beigemessen wurde, desto geringer wurden auch die eigenen Zukunftschancen eingeschätzt. Dieser grundsätzliche Zusammenhang besteht auch nach der Wende bei den inzwischen älter gewordenen Panelmitgliedern, er ist sogar deutlich enger geworden. Außer Zweifel steht, daß die gesellschaftliche Situation für die persönliche Perspektive bei den 1998 25jährigen ein erheblich höheres Gewicht besitzt als damals bei den 16jährigen. „Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht“ -diese grundsätzliche Aussage der 12. Shellstudie kann aus der Sicht unserer jüngsten Ergebnisse nur unterstrichen werden Für nicht wenige ostdeutsche Jugendliche ist wohl hinzuzufügen, daß ihre persönlichen Zukunftsmöglichkeiten zum zweiten Mal in einem lebensgeschichtlich kurzen Zeitraum durch gesellschaftliche Krisenerscheinungen beeinträchtigt werden. Betrachten wir nun die Entwicklung einiger politischer Einstellungen.
2. Die große Mehrheit bejaht die deutsche Einheit
Ein zentraler Gegenstand der Untersuchungen nach der Wende war von Anfang an die Analyse der Grundeinstellung zur deutschen Einheit. Der 1990 mögliche Vergleich mit den repräsentativen Bevölkerungsumfragen des ZU belegte eine hohe Übereinstimmung mit den Einstellungen junger Ostdeutscher insgesamt, ein Nachweis für die weitgehende Repräsentativität unserer Panelstudie. Tabelle 2 informiert über die zwischen Frühjahr 1990 und 1998 gewonnenen Daten.
Ablesbar ist, daß zu allen Meßpunkten ab Mai 1990 die überwiegende Mehrheit der Panelmitglieder ihre Zustimmung zur Vereinigung artikulierte, wenn auch meist mit der Einschränkung „eher dafür als dagegen“. Nach einem kurzzeitigen leichten Rückgang des Anteils der Vereinigungsbefürworter im Frühjahr 1991 ist dieser Anteil ab 1992 tendenziell von 80 % auf 85 % 1998 gestiegen, die Quote der Vereinigungsgegner ging deutlich auf 15 % (12 + 3 %) zurück. Mit zunehmendem Alter ist demnach die Zustimmung zur Vereinigung angewachsen, auf keinen Fall zufückgegangen.
Seit 1993 ist der Anteil der von Welle zu Welle konstanten Einstellungen deutlich auf etwa drei Viertel der Untersuchungsteilnehmer angestiegen (KOP). Dieser im Vergleich mit anderen politischen Einstellungen hohe Anteil läßt darauf schließen, daß die meisten Panelmitglieder eine verhältnismäßig stabile, überwiegend bejahende Position zu dieser Grundfrage verinnerlicht haben. Die deutsche Einheit ist für die überwiegende Mehrheit zu einer Selbstverständlichkeit geworden, sie wird nur von einer Minderheit in Frage gestellt.
Deutliche Unterschiede bestehen allerdings zwischen den Geschlechtergruppen. Zwar bejahen auch die Teilnehmerinnen der Studie mehrheitlich die Vereinigung, jedoch viel weniger als von den männlichen Teilnehmern stimmen einschränkungslos zu. Außerdem ist der Anteil der Einheitsgegner bei ihnen von Anfang an etwa doppelt so hoch. Diese Erscheinung haben wir schon in den bevölkerungsrepräsentativen Umfragen des ZU zwischen Ende 1989 und Ende 1990 sowie in den nachfolgenden Jugendstudien beobachtet*. Die entscheidende Bedingung für diese skeptische Sicht war damals und ist noch gegenwärtig die massive Sorge vieler junger Frauen und Mädchen um die soziale Sicherheit.
Die eher rationale Grundeinstellung zur deutschen Einheit ist nicht identisch mit der emotionalen Beziehung zu ihr. Diese wurde seit 1992 mit einem Indikator gemessen, der auf das Empfinden von Freude über die vollzogene Einheit zielt (vgl. Tabelle 3).
Obwohl nach 1995 der Anteil der Panelmitglieder, die einschränkungslose Freude äußern, wieder leicht zurückging, ist für den Zeitraum 1992 bis 1998 insgesamt gesehen ein positiver, allerdings nicht signifikanter Trend erkennbar. Zugleich fällt der hohe Anteil von Panelmitgliedern ins Auge, die eine ambivalente Einstellung äußern, worin wir die Widerspiegelung sehr widersprüchlicher Alltagserfahrungen sehen. Dafür spricht auch der gegenüber der Grundeinstellung zur Einheit höhere Anteil wechselnder Positionen (POP und NEP umfassen auch 1998 fast ein Drittel).
Noch größer als bei der Grundeinstellung sind bei der gefühlsmäßigen Beziehung zur Einheit die Geschlechterunterschiede. Abbildung 1 veranschaulicht dies anhand der zusammengefaßten Häufigkeiten sehr starker und starker Freude.
Erwähnenswert ist, daß trotz der mehrheitlichen Bejahung der deutschen Einheit deren Verwirklichung immer weiter in die Zukunft verlagert wird. Im Mittel gehen die Panelmitglieder 1998 davon aus, daß es noch 13, 3 Jahre dauern wird, bis es den Ostdeutschen wirtschaftlich so gut gehen wird wie jetzt den Westdeutschen. Im September 1990, kurz vor der Vereinigung, wurde im Ergebnis einer identischen Frage im Rahmen einer DDR-repräsentativen Umfrage des ZU für die Altersgruppe der 18-bis 24jährigen ein Durchschnittswert von nur 6, 2 Jahren berechnet. Noch mehr Zeit wird den Vorstellungen der Panelmitglieder zufolge vergehen, bis die Ostdeutschen und die Westdeutschen zu einer richtigen Gemeinschaft zusammengewachsen sind: im Durchschnitt 21, 1 Jahre. 1990 wurde hierzu ein Mittelwert von 8, 2 Jahren ermittelt. Der Zeithorizont des Zusammenwachsens hat sich demnach seit der Vereinigung erheblich vergrößert. 56 % der Panelmitglieder meinen 1998, daß es zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen mehr Trennendes gibt, nur 44 % sehen mehr Gemeinsamkeiten.
3. Wachsende Distanz gegenüber dem politischen System
Die Anlage als Langzeitstudie bietet die einzigartige Möglichkeit, der Frage nachzugehen, ob mit dem zunehmendem zeitlichen Abstand zum Untergang der DDR (und mit zunehmendem Alter) eine politische Bindung an das neue Gesellschaftssystem entsteht. Im Rahmen unserer Studie wird die Einstellung zum neuen Gesellschaftssystem mit Hilfe von mehreren Fragen (Fragenbatterie) zur Zufriedenheit mit der Gesellschaft erfaßt. Wir beschränken uns hier auf den beson-ders aussagekräftigen Trend der Zufriedenheit mit dem politischen System (vgl. Tabelle 4).
Die überwiegende Bejahung der deutschen Einheit ist nicht gleichbedeutend mit Zustimmung gegenüber dem politischen System in der Bundesrepublik. Die Trendanalyse läßt einen erheblichen, signifikanten Rückgang der ohnehin nur schwach ausgeprägten Zufriedenheit der Panelmitglieder mit dem politischen System erkennen. 1992 artikulierten noch 34 % ihre Zufriedenheit (Antwortpositionen 1 und 2), 1998 (nach einem zwischenzeitlichen Rückgang 1993) nur noch 21 %. Dieser Negativtrend und die angeführten Koeffizienten zeigen sehr deutlich, daß die Suche der Panelmitglieder nach einem Standpunkt noch im Gange ist, auch Revisionen in negativer Richtung möglich sind. Das Fazit der Shell-Studie von 1991, daß der Nachwuchs für das offizielle politische System kaum zur Verfügung steht, hat offensichtlich nicht an Aktualität eingebüßt Andere Untersuchungen verweisen auf ähnliche Er gebnisse und Entwicklungen bei ostdeutschen Jugendlichen bzw. bei der ostdeutschen Bevölkerung insgesamt.
Auch bei dieser Einstellung sind es in erster Linie die weiblichen Panelmitglieder, die die Trendrichtung bestimmen. Bei ihnen hat sich der im Vergleich zu ihren männlichen Altersgefährten ohnehin geringere Anteil der Systemzufriedenen zwischen 1992 und 1998 etwa halbiert (vgl. Abb. 2). Ähnliche rückläufige Tendenzen und Zusammenhänge bestehen bei den Teilnehmern unserer Studie auch hinsichtlich ihrer Zufriedenheit mit der jetzigen Wirtschaftsordnung. 4. Übereinstimmung bei Bejahung der politischen Wende, gespalten gegenüber reformsozialistischer Alternative
Angesichts des zehnten Jahrestages der politischen Wende ist besonders interessant, wie die Panelmitglieder jetzt zu diesem Ereignis stehen und wie sie über gesellschaftliche Alternativen denken (vgl. Tabelle 5).
Die erwähnte deutlich zunehmende Distanz gegenüber dem jetzigen politischen System ist nicht gleichzusetzen mit einem Infragestellen der Beseitigung des SED-Regimes und damit der politischen Wende im Herbst 1989. Die überwiegende Mehrheit der Panelmitglieder bejaht die Wende (1998: 72 %), allerdings ist zwischen 1992 und 1998 eine leichte, aber signifikante rückläufige Tendenz nicht zu übersehen (NEP = 31 %). Mit zunehmendem zeitlichen Abstand bejahen nicht mehr, sondern eher weniger die Wende. Außerdem fällt der beträchtliche Anteil wechselnder Positionen auf, auch in diesem Falle ein Indiz für die anhaltende Suche nach einem Standpunkt.
Distanz gegenüber dem politischen System fördert dagegen leicht die Präferenz einer reformsozialistischen Alternative: Systemunzufriedene sprechen sich eher für ein solches Modell aus als Systemzufriedene. Die Auffassungen zu einem reformsozialistischen Modell streuen in jeder Untersuchungswelle enorm, die Panelmitglieder sind in dieser politischen Grundfrage seit Jahren gespalten, allerdings mit einem leichten Übergewicht der Anhänger einer Alternative. 1998 würden immerhin 43 % eine reformsozialistische Alternative der gegen-v wärtigen Ordnung vorziehen. Die Meinungsbildung dazu hält nach wie vor an.
5. Schon Bundesbürger, aber noch Ex DDR Bürger
Der Identitätswandel vom DDR-Bürger zum Bundesbürger erweist sich als ein sehr langwieriger und widersprüchlicher Prozeß mit teilweise unerwarteten Tendenzen. Darauf verweisen unsere Forschungsergebnisse bei der Schuljugend und nicht zuletzt diese Längsschnittstudie.
Tabelle 6 informiert über die seit 1990 bzw. 1992 ermittelten Daten zur Ausprägung der Identität als Bürger der ehemaligen DDR bzw. als Bundesbürger. 1998 fühlen sich reichlich drei Viertel der Panelmitglieder als Bürger der Bundesrepublik (81 %; Positionen 1 und 2 zusammengefaßt), zugleich fühlen sich knapp ebenso viele als Bürger der untergegan-genen DDR (79 %). Die beiden Prozentverteilungen unterscheiden sich statistisch gesehen nicht.
Die Identifikation mit der Bundesrepublik hat sich zwischen 1992 und 1998 nicht verstärkt. 1996 deutete sich im Vergleich mit 1995 sogar ein leichter (signifikanter) Rückgang an. 1998 ist im Vergleich mit 1996 wieder ein leichter (signifikanter) Zuwachs zu verzeichnen. Die Identifikation mit der DDR ist im Untersuchungszeitraum 1990 bis 1998 trotz des wachsenden Abstandes zu ihrem Zusammenbruch nur leicht rückläufig, sie ist sogar zu einigen Meßpunkten -mit Ausnahme 1995 und der letzten Untersuchung 1998 -tendenziell häufiger verbreitet als die Identifikation mit der Bundesrepublik.
Bei beiden Aspekten ist aus den angeführten Längsschnittkoeffizienten für die Jahresvergleiche und für die Untersuchungszeiträume insgesamt jedoch auch ablesbar, daß bei den Panelmitgliedern erhebliche Veränderungen vor sich gegangen sind. Trotz ähnlicher Querschnittsverteilungen lassen die Koeffizienten POP und NEP einen beträchtlichen Wechsel der individuellen Werte zwischen den jeweiligen Meßpunkten erkennen, der mitunter fast die Hälfte der Panelmitglieder erfaßt. Auch im Hinblick auf die staatsbürgerliche Identität ist offensichtlich noch viel im Fluß.
Für die Beurteilung der Identifikation mit der Bundesrepublik bzw. mit der DDR ist außerdem wesentlich, daß sich beide Aspekte keineswegs ausschließen. Auf diese für die Transformationsforschung bedeutsame Tatsache sind wir in eigenen Studien bereits früher gestoßen. Die Kopplung des Zugehörigkeitsgefühls als Bundesbürger einerseits und als Ex-DDR-Bürger andererseits zeigt -leicht vereinfacht -1998 diese Relationen: -16 % fühlen sich vorwiegend als Bundesbürger und nicht mehr als Ex-DDR-Bürger; -65 % fühlen sich als Bundesbürger, ohne jedoch ihre Verbundenheit mit der DDR aufgegeben zu haben; -14 % haben noch kein Zugehörigkeitsgefühl zur Bundesrepublik entwickelt, fühlen sich noch als Bürger der untergegangenen DDR; -5 % fühlen sich weder als Bundesbürger noch als Ex-DDR-Bürger.
Diese Relationen der Teilgruppen (die sich in vielen politischen Einstellungen stark unterscheiden; wir können hier nicht näher darauf eingehen haben sich seit 1992 nur leicht verändert. Für die meisten Panelmitglieder ist charakteristisch, daß sie schon Bundesbürger sind, ohne jedoch ihre Verbundenheit mit der DDR aufgegeben zu haben. Das Zugehörigkeitsgefühl zur DDR ist tiefer verwurzelt, als bisher angenommen wurde. Absehbar ist, daß die Herausbildung einer von „Resten“ der DDR-Verbundenheit freien staatsbürgerlichen Identifikation mit der Bundesrepublik noch längere Zeit dauern wird.
6. Heutige Erfahrungen werten vielfach Schulkenntnisse über Kapitalismus auf
Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Nachwirkungen der DDR-Sozialisation gehen wir seit 1994 der Frage nach, inwieweit für die Panelmitglieder das ihnen in der Schulzeit vermittelte Kapitalismusbild mit der heutigen Realität übereinstimmt (vgl. Tabelle 7).
Nur 28 % (23 + 5 %) verneinen 1998 eine Übereinstimmung zwischen dem Bild, das ihnen in der Schule von der BRD, vom Kapitalismus überhaupt vermittelt wurde, und der inzwischen selbst erlebten Realität. Für 22 % (3 + 19 %) stimmt das vor der Wende vermittelte Bild mit ihren Erfahrungen überein, 50 % äußern sich ambivalent. Der Trend zwischen 1994 und 1998 läßt erkennen, daß der Anteil zustimmender Angaben leicht zugenom-men hat (signifikant). Eine Tendenz zur nachträglichen Aufwertung des in der Schule Gelernten bei einem beträchtlichen Teil der Panelmitglieder ist nicht zu übersehen. Sie geht mit einer Positivierung der Urteile über die DDR einher: Je kritischer die Panelmitglieder die heutige Bundesrepublik sehen, desto günstiger bewerten sie die Situation in der DDR (und umgekehrt).
7. Immer mehr finden sich in der neuen Gesellschaft zurecht
Bemerkenswert ist, daß die skizzierten Probleme keineswegs gleichbedeutend sind mit wachsenden Schwierigkeiten, sich in der neuen Gesellschaft zurechtzufinden. Im Gegenteil: Die meisten Panelmitglieder kommen durchaus mit den neuen Verhältnissen zurecht -sogar mit zunehmender Tendenz. Darauf verweisen die hierzu vorliegenden Zeitreihen zwischen 1992 und 1998 (vgl. Tabelle 8). 82 % der Panelmitglieder lassen 1998 erkennen, daß sie mit der neuen Gesellschaft klarkommen (Antwortpositionen 1 und 2), fast ein Viertel davon ohne Abstriche. Nur 2 % haben offensichtlich größere Schwierigkeiten, die „Spielregeln" des Systems zu durchschauen.
III. Ausgewählte Einflußfaktoren
Abbildung 3
Tabelle 3: Emotionale Beziehung zur deutschen Einheit im Trend 1992 bis 1998 (in Prozent)
Tabelle 3: Emotionale Beziehung zur deutschen Einheit im Trend 1992 bis 1998 (in Prozent)
Dieser Beitrag bietet nicht den Platz für eine differenzierte Analyse der Faktoren, die hinter den erwähnten Entwicklungen stehen. Wir wollen lediglich auf einige von ihnen hinweisen, die unserer Studie zufolge eine besonders große Rolle spielen. Sie lassen sich überwiegend auf den gemeinsamen Nenner persönliche Erfahrungen mit dem neuen Gesellschaftssystem bringen. Wie schon vor der Wende, so sind auch gegenwärtig nicht politische Rhetorik und Versprechungen von Parteien entscheidend für die Identifikation mit dem Gesellschaftssystem, sondern das persönliche Erleben der gesellschaftlichen Realität. Wie auch aus anderen Untersuchungen hervorgeht, sind diese Erfahrungen hochgradig ambivalent. Danach befragt, welche persönlichen Erfahrungen sie in den (zum Befragungszeitpunkt) acht Jahren seit der Vereinigung mit dem neuen Gesellschaftssystem gemacht haben, äußern 1998 25 % der Panelmitglieder nur oder überwiegend positive und 6 % nur oder überwiegend negative Erfahrungen. Mit 69 % gibt die überwiegende Mehrheit an, sowohl positive als auch negative Erfahrungen gemacht zu haben. Diese Ambivalenz durchzieht die Ergebnisse der Studie von der Wende an, zunächst bei den Erwartungen an die deutsche Einheit, dann bei den Urteilen über ihre Folgen. Einige Einflußfaktoren sollen in gebotener Kürze genannt werden.
1. Persönlich erfahrene Arbeitslosigkeit
Die dramatische Beschäftigungssituation in Ostdeutschland widerspiegelt sich auch in der Population dieser Studie. Obwohl ihr Durchschnittsalter erst rund 25 Jahre beträgt, haben bis 1998 schon 55 % der Panelmitglieder selbst Arbeitslosigkeit erlebt. 32 % waren einmal, weitere 23 % mehrmals arbeitslos. Im Durchschnitt dauerte die Arbeitslosigkeit 9, 3 Monate bei großen Unterschieden zwischen den Geschlechtergruppen: männliche Teilnehmer 6, 9 Monate, weibliche 11, 4 Monate. Länger als ein Jahr waren 15 % der männlichen Teilnehmer arbeitslos gegenüber 32 % der weiblichen. Außerdem geben 1998 37 % an, daß ihre Eltern (beide oder ein Elternteil) von Arbeitslosigkeit betroffen sind, bei 10 % ist der Lebenspartner arbeitslos. Daraus ergibt sich, daß bis 1998 70 % direkt oder indirekt mit den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit konfrontiert wurden. Der enorme Einfluß persönlich erfahrener Arbeitslosigkeit ist auch bei den Teilnehmern der Studie erkennbar. Starke Auswirkungen zeigen sich in ihrer gesamten Befindlichkeit (z. B. im signifikanten Rückgang ihrer Zukunftszuversicht im allgemeinen und der beruflichen Zuversicht im besonderen, in der Zunahme von existentiellen Verunsicherungen wie der Angst vor einer persönlichen Notlage, von Depressionen usw.), aber auch in ihren politischen Orientierungen. Solche Auswirkungen sind auch aus anderen Untersuchungen bekannt. Die Längsschnittanalyse gestattet jedoch, diese Folgen als Ergebnis eines Prozesses darzustellen, der tatsächlich so abgelaufen ist. So zeigt sich, daß bei Panelmitgliedern, die arbeitslos waren, viele Trends anders verlaufen sind, als bei denen, für die das nicht zutrifft. Exemplarisch belegen wir das für den Trend der Zufriedenheit mit dem politischen System (vgl. Abb. 3): Während bei den Panelmitgliedern, die schon ein-oder mehrmals arbeitslos waren, die System-zufriedenheit deutlich geringer wurde, ist bei denen, für die das nicht zutraf, nur ein tendenzieller Rückgang zu verzeichnen. Arbeitslosigkeit (und die damit verbundene Verunsicherung) ist eine der wesentlichen Ursachen für die zunehmende Distanz gegenüber dem politischen System. Ähnlich unterschiedliche Trendverläufe sind auch bei anderen politischen Einstellungen zu beobachten.
Die Panelmitglieder äußern sich mehrheitlich kritisch über die Möglichkeiten demokratischer Mitgestaltung. Nur 35 % von ihnen sind zufrieden (9 %) oder eher zufrieden als unzufrieden (26 %) mit ihren Möglichkeiten zur Einflußnahme auf die Politik. Noch weniger haben die Erfahrung gemacht, daß die Politiker an ihrer Meinung interessiert sind: 4 %! Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch, daß nur 65 % zustimmen, in der Öffentlichkeit offen ihre Meinung sagen zu können. Mit 40 % stimmen noch weniger zu, ihrem Vorgesetzten gegenüber mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten zu müssen.
Eine Konsequenz ist -Zusammenhangsanalysen belegen es -die erwähnte zunehmende Distanz gegenüber dem politischen System. Wir teilen völlig die Auffassung von Gerhard Schmidtchen, daß geringe Mitwirkungsmöglichkeiten zu einer Erosion der Legitimität der Demokratie führen
3. Defizite im Erleben sozialer Gerechtigkeit und die Erfahrung, als Bürger II. Klasse behandelt zu werden
Nur eine Minderheit von 20 % der Panelmitglieder stimmt 1998 zu. ihren gerechten Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand zu erhalten. Auch die Chancen, es in der heutigen Gesellschaft durch Leistung zu etwas zu bringen, werden kritisch beurteilt: Nur 17 % äußern einschränkungslose Zufriedenheit, weitere 53 % sind eingeschränkt zufrieden, 30 % dagegen mehr oder weniger unzufrieden. Diese verbreitete Unzufriedenheit mit der real erlebten „Chancengerechtigkeit“ fördert ebenfalls eine kritische Sicht auf das politische System, auf die Gesellschaft insgesamt. Über die Hälfte der Panelmitglieder (1998: 53 %) hat die Erfahrung gemacht, daß viele Westdeutsche die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse behandeln, weitere 25 % äußern sich ambivalent, nur 22 % stellen das in Abrede. Solche Erfahrungen wirken sich deutlich auf die Systemzufriedenheit aus, dämpfen die Freude an der deutschen Einheit erheblich.
4. Nachwirkungen früherer Systembindungen
Die Anlage unserer Untersuchung als Längsschnittstudie über die Wende hinweg bietet die Möglichkeit, vermuteten Langzeitwirkungen früherer Identifikationen der Panelmitglieder mit dem Gesellschaftssystem der DDR exakt nachzugehen. Diese Analysen sind noch nicht abgeschlossen. Sicher ist, daß bei verschiedenen Sachverhalten solche Wirkungen bestehen, die häufig zunächst nur als Tendenzen auftraten, sich dann verstärkten und statistisch gesichert werden konnten. Bei der Grundeinstellung zur deutschen Einheit z. B. zeigten sich kurze Zeit nach der Wende, im Frühjahr 1990, noch deutliche Nachwirkungen früherer Systembindungen: Stark systemverbundene Panelmitglieder votierten signifikant weniger häufig für die Einheit als schwach systemverbundene
In den folgenden Untersuchungswellen (1991 bis 1994) wurden keine Nachwirkungen mehr beobachtet, die Korrelationskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen früherer Systembindung und Einstellung zur Einheit gingen gegen Null. Erst ab 1995 sind wieder zwar schwache, aber signifikante Zusammenhänge festzustellen. Früher stark systemverbundene Panelmitglieder sprechen sich (wieder) weniger für die Einheit aus als die übrigen Mitglieder, die Zahlen von 1998 ähneln stark denen vom Frühjahr 1990. Wir nehmen an, daß ein Teil jener Panelmitglieder, die vor der Wende stark systemverbunden waren, ihre ursprünglichen Einstellungen in der allgemeinen Euphorie der Nachwendezeit zunächst verdrängt -„vergessen“ -hatte. Sie wurden ihnen als Folge neuer, häufig ambivalenter oder sogar negativer Erfahrungen, aber auch einer zunehmend kritischen Stimmung in Ostdeutschland zum Verlauf des Vereinigungsprozesses allmählich wieder bewußt. Für diese Annahme spricht, daß der Einfluß früherer starker Systembindungen auf die Einstellung zur Einheit bei den Panelmitgliedern besonders deutlich ist, die bereits arbeitslos waren und erhebliche existentielle Verunsicherungen verarbeiten mußten. Frühere Systembindungen -die in der DDR erfahrene politische Sozialisation -wirken offensichtlich nicht zwangsläufig nach, sondern nur dann, wenn Erfahrungen vorliegen, die die damals verinnerlichten Ansichten und Orientierungen nachträglich als richtig erscheinen lassen. Diese These wird durch die Tatsache unterstützt, daß früher stark systemverbundene Panelmitglieder, die arbeitslos waren, deutlich häufiger als jene, die davon nicht betroffen waren, eine Übereinstimmung zwischen dem in der Schulzeit vermittelten Bild von der BRD und der heutigen Realität feststellen.
Bei verschiedenen Sachverhalten sind 1998 erstmals nennenswerte signifikante Nachwirkungen früherer Systembindungen zu beobachten. Das gilt z. B. für die Zufriedenheit mit dem politischen System in der Bundesrepublik, bei der 1996 keine Nachwirkungen festzustellen waren.
Für die Mitglieder unserer Studie kann alles in allem festgestellt werden, daß die stärksten, entscheidenden Einflüsse auf ihre heutigen Einstellungen zum neuen Gesellschaftssystem von den differenzierten persönlichen Erfahrungen ausgehen, die sie in diesem System bisher gesammelt haben und noch sammeln. Die nachgewiesenen signifikanten Nachwirkungen früherer Systembindungen sind demgegenüber zwar schwächer, jedoch durchaus beachtenswert und relevant. Spezifische statisti-sehe Verfahren (multiple Regressionsanalysen) bestätigen das. Nachwirkungen treten vor allem bei jenen Panelmitgliedern auf, die vor der Wende stark systemverbunden waren und heute überwiegend negative Erfahrungen machen, insbesondere im Ergebnis von eigener Arbeitslosigkeit und deren Folgen wie z. B. starke existentielle Verunsicherung und Zukunftsangst. Der in dieser Zeitschrift geführten interessanten Diskussion über den Einfluß von früheren sozialisatorischen Prägungen und neuen Erfahrungen auf die heutigen politischen Einstellungen sei aus unserer Sicht hinzugefügt, daß stärker die möglichen Rückwirkungen ambivalenter oder negativer aktueller Erfahrungen auf frühere sozialistische Prägungen berücksichtigt werden sollten -auch bei jungen Menschen. Solche Erfahrungen können zu einem Wiederbewußtwerden und einer Verstärkung von vor der Wende verinnerlichten Auffassungen (z. B. über das kapitalistische Gesellschaftssystem) führen, wodurch die Distanz gegenüber der heutigen Ordnung und ihren Werten noch erhöht wird.
Langzeitwirkungen früherer Systembindungen auf die heutigen Einstellungen zur Gewalt und gegenüber Ausländern konnten übrigens bei den Teilnehmern unserer Studie nicht beobachtet werden. Auch die in der DDR praktizierte Gruppen-ZKollektiverziehung hat nicht jene negativen Auswirkungen, wie sie jüngst insbesondere von Christian Pfeiffer unterstellt wurden Panelmitglieder, die in der 10. Klasse nach ihrer Zugehörigkeit zu zahlreichen Kollektiven/Gruppen (vom Kindergarten bis zur FDJ-Gruppe in der Schule) stark kollektivorientiert waren, äußern heute nicht häufiger Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft als jene, für die das nur schwach zutraf. Für die Richtigkeit der von Pfeiffer vertretenen Thesen gibt es aus der Sicht unserer Studie keinerlei Anhaltspunkte.
IV. Schlußbemerkungen
Abbildung 4
Abbildung 1: Anteile der Häufigkeit sehr starker und starker Freude über die deutsche Einheit im Trend 1992 bis 1998, nach den Geschlechtergruppen differenziert (in Prozent)
Abbildung 1: Anteile der Häufigkeit sehr starker und starker Freude über die deutsche Einheit im Trend 1992 bis 1998, nach den Geschlechtergruppen differenziert (in Prozent)
Um im Bilde des Themas dieses Beitrages zu bleiben: Die Teilnehmer unserer Studie haben rund zehn Jahre nach der politischen Wende bzw. neun Jahre nach der staatlichen Einheit ein beträchtliches Stück des nicht einfachen Weges aus " der DDR in das nunmehr vereinte Deutschland zurückgelegt. Sie haben von diesem einheitlichen Deutschland Besitz ergriffen, finden sich zunehmend besser in ihm zurecht, nutzen die sich aus der Vereinigung ergebenden Vorteile für ihre Persönlichkeitsentwicklung. Die deutsche Einheit ist für sie bereits zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die -von einer Minderheit abgesehen -nicht in Frage gestellt wird. Allerdings stehen viele von ihnen dem realen Vereinigungsprozeß emotional mit „gemischten Gefühlen“ gegenüber, vor allem dann, wenn sie selbst von negativen Folgen dieses Prozesses betroffen sind. An erster Stelle ist hier die Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland zu nennen, mit der bereits über die Hälfte der Teilnehmer der Studie direkt konfrontiert wurde. Kritisch sehen sehr viele aber auch ihre geringen Möglichkeiten zur demokratischen Mitgestaltung, erlebte Defizite auf dem Gebiet der Chancen-gerechtigkeit, die Behandlung als Bürger zweiter Klasse seitens vieler Westdeutscher.
Diese und weitere negativen Folgen sind auch verantwortlich dafür, daß politisch gesehen erst ein kleiner Teil von ihnen in der neuen Gesellschaft angekommen ist. Symptomatisch dafür ist ihre geringe, dazu deutlich rückläufige Zufriedenheit mit dem politischen System, ebenso ihre Zurückhaltung bei einer von Resten der DDR-Verbundenheit freien staatsbürgerlichen Identifikation mit der Bundesrepublik. Nach wie vor befinden sie sich hinsichtlich ihrer politischen Orientierungen und Identifikationen, ihrer gesamten politischen Mentalität in einem intensiven Such-und Wandlungsprozeß. Das wird sich gewiß so bald nicht ändern. Auch künftig erwarten wir starke, möglicherweise heute noch nicht absehbare Veränderungen ihrer Bewußtseinslage als Folge des anhaltenden politischen und sozialen Wandels in Ostdeutschland. Das schließt die Möglichkeit einer weiteren Verstärkung von Langzeit-wirkungen früherer Systembindungen, das Wiederbewußtwerden in der DDR verinnerlichter Einstellungen und Werte, durchaus mit ein.
Gerade deshalb möchten wir die Mitglieder unseres Panels noch einige Jahre auf ihrem Weg in das neue Gesellschaftssystem wissenschaftlich begleiten. Im Rahmen der jüngsten Befragung 1998 erklärten sich faktisch alle Panelmitglieder dazu bereit.
Peter Förster, Prof. Dr. sc., geb. 1932; bis 1990 Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig, seit 1991 Mitarbeit an Projekten der Jugendforschung. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Walter Friedrich) Jugend Ost -zwischen Hoffnung und Gewalt, Opladen 1993; (zus. mit Walter Friedrich) Jugend im Osten. Politische Mentalität im Wandel, Leipzig 1996; (Hrsg. zus. mit Uta Schlegel) Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger, Opladen 1997; (Hrsg. zus. mit Walter Friedrich und Kurt Starke) Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966-1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999.
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