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Der Fall der Mauer -Sternstunde einer friedlichen Revolution | APuZ 43-44/1999 | bpb.de

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APuZ 43-44/1999 Der 9. November in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in der Erinnerung Der Fall der Mauer -Sternstunde einer friedlichen Revolution Die 25jährigen auf dem langen Weg in das vereinte Deutschland. Ergebnisse einer seit 1987 laufenden Längsschnittstudie bei jungen Ostdeutschen Altere und alte Menschen in den neuen Bundesländern im zehnten Jahr nach der Wende. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz

Der Fall der Mauer -Sternstunde einer friedlichen Revolution

Hans-Hermann Hertle

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Als eine der Sternstunden der europäischen Revolutionen des Jahres 1989 steht der Fall der Mauer, zusammen mit der Demontage des „Eisernen Vorhangs“ im Mai und der Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich für DDR-Bürger im September 1989, zugleich als Symbol für das Ende des Kalten Krieges, für die Aufhebung der politischen Teilung Deutschlands und des europäischen Kontinents. Der Beitrag rekonstruiert die unmittelbare Vorgeschichte und den Verlauf des 9. November 1989. Er entschlüsselt die äußeren und inneren Einwirkungen auf die Handlungs-und Entscheidungsprozesse und das Durcheinander der Einzelhandlungen im Partei-und Staatsapparat der DDR. Er macht deutlich, daß die Mauer gegen alle Absichten und Planungen der politischen Akteure fiel.

I.

Von Politik und Wissenschaft völlig unerwartet brach der SED-Staat im Herbst 1989 binnen kürzester Zeit wie ein Kartenhaus «zusammen. Der entscheidende Moment dieses Zusammenbruchs war zweifelsohne der Fall der Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989. Wie die Erschöpfung der sowjetischen Globalstrategie und die demokratischen Umwälzungen in Polen und Ungarn unabdingbare Voraussetzungen für die friedliche Revolution in der DDR waren, wirkte der Fall der Mauer wiederum als Fanal für die weiteren Revolutionen in Mittel-und Osteuropa und beschleunigte den Zerfall des sowjetischen Imperiums -kurze Zeit später brach die Sowjetunion selbst'zusammen.

Als eine der Sternstunden der europäischen Revolutionen des Jahres 1989 steht der Fall der Mauer, zusammen mit der Demontage des „Eisernen Vorhangs“ im Mai und der Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich für DDR-Bürger im September 1989 zugleich als Symbol für das Ende des Kalten Krieges, für die Aufhebung der politischen Teilung Deutschlands und des europäischen Kontinents.

Der folgende Beitrag rekonstruiert die unmittelbare Vorgeschichte und den Verlauf des 9. November 1989. Er entschlüsselt die äußeren und inneren Einwirkungen auf die Handlungs-und Entscheidungsprozesse und das Durcheinander der Einzelhandlungen, die mit dem Fall der Mauer ein Ergebnis herbeiführten, das keiner beabsichtigt und niemand vorhergesehen hatte

II.

Die Lage in der DDR ist seit Anfang November 1989 explosiv. In allen größeren Städten demonstrieren Zehntausende für freie Wahlen und die Zulassung des Neuen Forums, Presse-und Meinungsfreiheit sowie Reisefreiheit. Die Macht der SED bröckelt; die Entscheidung für einen friedlichen Verlauf der „Wende“ oder für ein militärisches Einschreiten gegen das Volk steht auf Messers Schneide. „Wenn es nicht gelingt, den Masseneinfluß mit politischen Mitteln zurückzudrängen, ist ein möglicher Ausnahmezustand nicht auszuschließen“, heißt es am 31. Oktober 1989 im Politbüro.

Bei einem Besuch Egon Krenz’ in Moskau am 1. November empfiehlt Michail Gorbatschow, den „Dialog mit der Gesellschaft“ weiterzuführen und auch in stürmischen Auseinandersetzungen „keine Angst vor dem eigenen Volk zu bekommen“. Krenz bekräftigt die Entschlossenheit der SED-Führung, politische Probleme mit politischen Mitteln lösen zu wollen. Nur wenn am 4. November in Ost-Berlin der schlimmste Fall eintrete und „ein Massendurchbruch durch die Mauer versucht werde, müßte die Polizei eingesetzt und müßten gewisse Elemente eines Ausnahmezustandes eingeführt werden“.

Dieser Ernstfall, auf den sich die SED mit einem im Hintergrund gehaltenen riesigen Aufgebot an bewaffneten Kräften, Panzern und Sperrfahrzeugen vorsorglich vorbereitet hat, tritt nicht ein; die Demonstration mit der Kundgebung auf dem Alexanderplatz, an der mehr als 400 000 Menschen teilnehmen, darunter zum ersten Mal in großer Zahl auch SED-Mitglieder, verläuft friedlich.

Doch am gleichen Tag gerät die SED-Spitze in ein neues Dilemma: Um den Druck im Innern zu verringern, hatte das Politbüro die Anfang Oktober verhängte Reisesperre in die Tschechoslowakei zum 1. November aufgehoben. Umgehend setzte eine neue Fluchtwelle ausreisewilliger DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag ein; die Prager Innenstadt glich -wie bereits im September -einem Durchgangslager für ostdeutsche Flüchtlinge. Unter dem Druck der CSSR-Regierung entschließt sich die SED-Führung, ihren Bürgern ab dem 4. November die Ausreise aus der CSSR in die Bundesrepublik ohne Formalitäten zu gestatten. Dadurch entsteht die groteske Situation, daß über den Umweg durch Ungarn und die direkt benachbarte CSSR die Mauer für jedermann offensteht -die deutsch-deutsche Grenze aber geschlossen bleibt. Über 20 000 Menschen benutzen bis zum Morgen des 6. November den Umweg über die CSSR in die Bundesrepublik. Die CSSR-Regierung erhebt in Ost-Berlin Protest gegen die Völkerwanderung durch ihr Land und fordert die SED auf, dieser Entwicklung umgehend Einhalt zu gebieten. In der Frage des Reisens und Ausreisens spitzen sich jetzt die außen-und innenpolitischen sowie die ökonomischen Probleme der DDR zu. Bereits bei seinem Machtantritt am 18. Oktober hatte SED-Generalsekretär Egon Krenz versprochen, ein Reisegesetz ausarbeiten zu lassen, das noch im Dezember in Kraft treten sollte. Doch die Staatssicherheit hatte in dieser Frage gebremst, weil sie befürchtete, daß dann weitere Hunderttausende die DDR verlassen würden. Und die Plankommission hatte Einwände erhoben, weil die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit stand und kein Geld da war, um die Reisenden mit Devisen auszustatten.

Entsprechend halbherzig ist der Reisegesetz-Entwurf, den die SED-Spitze endlich am Morgen des 6. November veröffentlicht. Er beschränkt den Gesamtreisezeitraum auf dreißig Tage pro Jahr und enthält „Versagungsgründe“, die nicht eindeutig und nachprüfbar definiert sind und der Behördenwillkür großen Spielraum lassen. Das Problem der Finanzierung der Reisen bleibt ungelöst. Aus Moskau hatte Krenz am 1. November nach seinem Gespräch mit Gorbatschow die Gewißheit mitgebracht, daß sich die Sowjetunion zu einem wirtschaftlichen Sonderbonus für die DDR außerstande sieht. Die letzte Hoffnung auf ökonomische Stabilisierung richtet sich jetzt auf die Bundesregierung. Noch am 6. November reist Alexander Schalck-Golodkowski in geheimer Mission nach Bonn. Er soll mit CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters über einen umfassenden Ausbau der innerdeutschen Beziehungen verhandeln. Im Mittelpunkt stehen dabei Kreditwünsche der DDR in Höhe von 12 bis 13 Milliarden DM. Die dringlichste Bitte von Schalck aber ist, daß sich die Bundesregierung kurzfristig an der Finanzierung des mit dem Reisegesetz zu erwartenden erweiterten Reiseverkehrs beteiligt, wobei es um eine Größenordnung von 3, 8 Milliarden DM geht (je 300 DM für -angenommene -12, 5 Millionen Reisende pro Jahr).

Die Bundesregierung zeigt sich gesprächs-und verhandlungsbereit, knüpft ökonomisches Entgegenkommen jedoch an politische Bedingungen. Wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichte, unabhängige Parteien zulasse und freie Wahlen verbindlich zusichere, teilt Seiters Schalck am nächsten Tag mit und gibt Bundeskanzler Helmut Kohl am Morgen des 8. November in der Debatte des Bundestages zur Lage der " Nation bekannt, sei die Bundesregierung bereit, „über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen“. Die Bedingungen des Kanzlers entsprechen den Forderungen der Demonstranten in der DDR. Die SED ist mittlerweile zu fast allem bereit -doch zu ihrem Unglück ist die Bonner Verhandlungsschiene durch einen Staatsbesuch des Kanzlers in Polen bis zum 14. November blockiert. Bis dahin ist die SED-Spitze auf sich allein gestellt, während der Druck von außen -seitens der CSSR -und im Innern unaufhörlich steigt. „In dreißig Tagen um die Welt -ohne Geld“, höhnen die Demonstranten auf der Leipziger Montagsdemonstration und fordern: „Visafrei -bis Hawaii“ „Wir brauchen keine Gesetze, die Mauer muß weg“ und schließlich radikal: „Die SED muß weg!“

Während Schalck in Bonn verhandelt und 300 000 Demonstranten durch die Leipziger Innenstadt ziehen, wird in Ost-Berlin bereits angestrengt eine Übergangslösung für das „CSSR-Problem“ gesucht. Für die Antragstellung, Prüfung und Genehmigung ständiger Ausreisen -das hieß bis dahin in erster Linie für deren Verhinderung -ist im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG) und im Ministerium des Innern (MdI) die Hauptabteilung Innere Angelegenheiten zuständig. Zwei Mitarbeiter dieser Abteilungen haben im Laufe des Tages den Auftrag erhalten, für die Parteiführung eine Vorlage zu erarbeiten mit der Zielstellung, den Strom der Ausreisewilligen in die CSSR zu stoppen und unter Aufrechterhaltung der Visapflicht und des Grenzregimes den Andrang auf die Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD zu kanalisieren. Stundenlang grübeln die Mitarbeiter, bis sie sich schließlich der Erkenntnis beugen, daß dies nur zu bewerkstelligen ist, wenn für die ständige Ausreise aus der DDR -wie schon in der CSSR praktiziert -auf jedwede Antragstellung, Prüfung und die damit verbundene Wartezeit verzichtet wird; Ausreise-Visa, bedeutet dies im Klartext, müssen unverzüglich und uneingeschränkt ausgegeben werden. Ein entsprechender Vorschlag, mit dem innerhalb weniger Stunden ein Schlußstrich unter die jahrzehntelange Schikanierung und Kriminalisierung von Ausreisewilligen gezogen wird, wird noch in der Nacht vom Innenministerium ins Zentralkomitee der SED gebracht.Am Morgen des 7. November beschäftigt sich das Politbüro mit dem „CSSR-Problem“. Im Verlaufe einer fünfstündigen Sitzung, in deren Mittelpunkt die Vorbereitung des am folgenden Tag beginnenden ZK-Plenums und der Rücktritt des Politbüros sowie der Regierung Stoph stehen, wird nach längerer Diskussion folgender Beschluß gefaßt: „Genosse 0[skar] Fischer unterbreitet in Abstimmung mit den Genossen Friedrich] Dickel und E[rich] Mielke einen Vorschlag für das ZK der SED, wonach der Teil des Reisegesetzes, der sich mit der ständigen Ausreise befaßt, durch eine Durchführungsbestimmung sofort in Kraft gesetzt wird.“ Mit dieser Teillösung einigt sich das Politbüro auf den kleinsten gemeinsamen Nenner; ein Vorziehen des gesamten Reisegesetzes kommt für das SED-Spitzengremium schon wegen der noch ausstehenden Klärung der Finanzierung mit der Bundesregierung nicht in Frage. Über die beabsichtigte Teillösung unterrichtet Außenminister Oskar Fischer den sowjetischen Botschafter Kotschemassow und bittet ihn um die Zustimmung der Sowjetunion.

Die Bitte der deutschen Freunde erreicht Moskau zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Der 7. und 8. November sind in der Sowjetunion Feiertage, an denen die Nomenklatura den Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ begeht. Valentin Koptelzew, als Sektorleiter DDR enger Mitarbeiter von Valentin Falin in der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, berichtet, daß die Bearbeitung der DDR-Anfrage unter den ausgedehnten Feierlichkeiten litt: Da die Führung feierte und unerreichbar gewesen sei, sei die Anfrage „wie ein Fußball zwischen dem Apparat des ZK und dem Außenministerium auf der Ebene der Stellvertreter“ hin und her gegangen. Keiner habe entscheiden bzw.seinem Chef irgendeine Entscheidung vorlegen wollen, so Koptelzew, „um ihn nicht mit einer so unangenehmen Nachfrage der DDR-Freunde zu stören. Bis ich dann doch einen kurzen Entwurf vorbereitet habe, man sollte einfach sagen, das liegt im souveränen Bereich der DDR, über ihr Grenzregime zu entscheiden. Und da haben sich alle Höheren mächtig gefreut.“

Am 8. November -dem Tag, an dem die für drei Tage angesetzte Sitzung des SED-Zentralkomitees um 10. 00 Uhr mit dem Rücktritt des Politbüros und seiner Neuwahl beginnt -nimmt der Druck der CSSR ultimative Formen an. Das Außenministerium der CSSR übermittelt dem DDR-Botschafter in Prag nunmehr ein förmliches Ersuchen, die Ausreise von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik „direkt und nicht über das Territorium der CSSR“ abzuwickeln.

III.

Am Morgen des 9. November befassen sich vier Offiziere der Staatssicherheit und des Innenministeriums mit dem Auftrag des Politbüros, eine Durchführungsbestimmung für ständige Ausreisen zu erarbeiten. Bei näherer Betrachtung scheint ihnen eine solche Regelung unzureichend durchdacht, weil diese Ausreisewillige gegenüber Besuchsreisenden begünstigen bzw. Reisewillige in den Status von Ausreisenden zwingen würde. Es könne doch wohl nicht sein, macht einer der vier geltend, daß die Leute, die das Land für immer verlassen wollen, das sofort können, aber diejenigen, die nur mal ihre Tante in Hamburg besuchen wollen und wiederkehren wollen, das nach wie vor nicht dürfen. Oberst Gerhard Lauter, der Leiter der Abteilung Paß-und Meldewesen im MdI: „Wir hätten die Leute weiter aus dem Land vertrieben, und das hätte aus meiner Sicht zu einer tiefen, weiteren Destabilisierung der politischen Verhältnisse -auch wirtschaftlichen Verhältnisse -der DDR beigetragen.“

Aus regimeloyalen und staatserhaltenden Gründen schreiben sie als ersten Punkt in den Entwurf einer Reiseverordnung, die der Ministerrat noch am gleichen Tag beschließen soll, daß ab sofort auch Privatreisen für jedermann möglich sind.

Daß die Offiziere bei ihren Formulierungen keineswegs an eine generelle Reisefreiheit denken, zeigen die von ihnen für die Paß-und Meldestellen der Volkspolizei vorbereiteten Durchführungsbestimmungen. Privatreisen sollen nach wie vor beantragt werden müssen. Und nur wer einen Reisepaß besitzt, soll ein Visum bekommen. Einen Reisepaß aber besitzen nur etwa vier Millionen Bürger; alle anderen, so das Kalkül, müssen zunächst einen Paß beantragen und sich dann noch einmal mindestens vier Wochen bis zu dessen Ausgabe gedulden. Einem sofortigen Aufbruch aller DDR-Bürger scheint damit ein wirksamer Riegel vorgeschoben.

Als Sperrfrist für die Bekanntgabe des Beschlusses in den DDR-Medien legen die Offiziere den 10. November, 4. 00 Uhr früh, fest, um die Dienststellen des Innenministeriums und der Staats-sicherheit über Nacht in die neuen Bestimmungen einweisen und die Mitarbeiter auf den erwarteten Massenansturm vorbereiten zu können.

Der Entwurf der Obristen wird einschließlich der vorbereiteten Presseerklärung gegen Mittag abgestimmt mit der Sicherheitsabteilung des Zentral-komitees und den beteiligten Ministerien: dem MfS, dem Innen-und dem Außenministerium. Amzweiten Tag der ZK-Tagung, in einer „Raucher-pause“, bestätigen einige Mitglieder des Politbüros den Entwurf. Vom sowjetischen Botschafter wird übermittelt, daß die Sowjetunion keine Einwände erhebt -was sich freilich nur auf die ihm vorgetragene, ursprüngliche Absicht bezieht, die ständigen Ausreisen zu regeln. Am Nachmittag wird das Papier im Ministerrat in Umlauf gebracht. Damit soll eine schnelle Beschlußfassung -nämlich bis 18. 00 Uhr -gewährleistet werden. Ein Exemplar dieser Ministerrats-Beschlußvorlage erhält Egon Krenz. Gegen 16. 00 Uhr liest er die vorgesehene Regelung den 216 ZK-Mitgliedern vor. „Wie wir’s machen, machen wir's verkehrt!“, fügt er hinzu, „aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist.“ Das Zentralkomitee folgt seinem Generalsekretär und zeigt sich mit dieser Lösung einverstanden. Die Reiseverordnung ist zu diesem Zeitpunkt -wie Krenz betont -nicht mehr als ein „Vorschlag“, ein Entwurf. Ein Beschluß des Ministerrates liegt noch nicht vor. Dennoch beauftragt Krenz den Regierungssprecher spontan, die Veröffentlichung „gleich“ zu machen und hebt damit, quasi beiläufig, die Sperrfrist auf. Diese Entscheidung wäre noch korrigierbar gewesen, denn Regierungssprecher Wolfgang Meyer ist über die Sperrfrist und ihren Hintergrund unterrichtet. Doch bereits die nächste Entscheidung von Krenz ist unumkehrbar: Er händigt die Beschlußvorlage samt Pressemitteilung Politbüro-Mitglied Günter Schabowski aus, der in diesen Tagen als Sprecher der Partei fungiert, und gibt ihm den Auftrag, darüber bereits auf einer für 18. 00 Uhr angesetzten internationalen Pressekonferenz zu informieren. Diese Einmischung der Partei in die Umsetzungsarbeit der Regierung führt die gesamten Vorbereitungsarbeiten des MfS und des MdI für die neue Reiseregelung ad absurdum.

IV.

Günter Schabowski war nicht dabei, als das Politbüro die Reiseverordnung in den Mittagsstunden bestätigte. Er war auch nicht im Saal, als Krenz die Reiseregelung dem Zentralkomitee vorlas. Er kennt deshalb weder den Wortlaut des Papiers noch weiß er etwas von einer Sperrfrist. Schabowski geht im Gegenteil davon aus, daß die Pressemitteilung bereits verbreitet worden ist. Das Papier von Krenz steckt er unbesehen zu seinen Unterlagen.

Am Ende seiner Pressekonferenz, die vom DDR-Fernsehen und Hörfunk live übertragen wird, teilt Schabowski mit, die SED-Spitze habe sich entschlossen, eine Regelung zu treffen, die „die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik“. Auf Nachfrage liest er die neue Reise-regelung, die der Ministerrat beschlossen habe, von dem Zettel ab, den Krenz ihm übergeben hat. Danach sollen DDR-Bürger nicht nur ständige Ausreisen, sondern auch Privatreisen ohne Vorliegen der bis dahin geforderten Voraussetzungen beantragen können, die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen könnten über alle Grenzübergänge der DDR zur Bundesrepublik bzw. Berlin-West erfolgen. „Wann tritt das in Kraft?“, fragt ein Journalist. Schabowski zeigt eine gewisse Hilflosigkeit, denn „diese Frage“, so das Politbüro-Mitglied später, „war mit mir zuvor nie besprochen worden“. Er kratzt sich am Kopf und überfliegt das Papier. Seine Augen bleiben nicht an dem Schlußsatz des Ministerrats-Beschlusses hängen, der festlegt, daß die Pressemitteilung erst am 10. November bekannt gegeben werden soll, sondern gleich am Anfang an den Worten „sofort“ und „unverzüglich“. So formuliert er als knappe Antwort: „Sofort, unverzüglich!“ Wenige Minuten später, um 19. 01 Uhr, ist die Pressekonferenz beendet.

Schabowskis Äußerungen sind für die Zuhörer, von denen natürlich keiner den Vorlauf kennt, konfus und rätselhaft: Zum einen geht der von ihm verlesene amtliche Verordnungstext, der eine Freigabe der ständigen Ausreisen und eine Erweiterung von Besuchsreisen -allerdings visa-gebunden -verspricht, über seine vorherige Ankündigung hinaus, daß nur die ständige Ausreise, also das Verlassen der Republik, neu geregelt werde. Zum anderen läßt sich der von ihm bekanntgegebene Inkraftsetzungs-Zeitpunkt -„sofort, unverzüglich“ -schon deshalb nicht realisieren, weil die für die Erteilung der Visa zuständigen Dienststellen der Volkspolizei abends und nachts geschlossen sind.

Der dynamische Mobilisierungsprozeß dieser Nacht setzt weniger als unmittelbare Reaktion auf die eher verwirrenden Äußerungen Schabowskis ein, sondern massiv als Folge der sich anschließenden Medienberichterstattung über sie. In der unmittelbar nach der Pressekonferenz beginnenden Haupt-Nachrichtenzeit zwischen 19. 00 Uhr und 20. 15 Uhr werden seine Mitteilungen zum Spitzenthema. In Ermangelung präziser Informationen beginnen die West-Medien, den von Schabowski eröffneten Interpretationsspielraum zu füllen, die Informationen zu verdichten und einen eigenen Bedeutungszusammenhang zu konstruieren. Sehr schnell interpretieren sie die widersprüchlichen Äußerungen als „Grenzöffnung“: „DDR öffnetGrenzen“ schlagzeilt Associated Press bereits um 19. 05 Uhr, und DPA verbreitet um 19. 41 Uhr die „sensationelle Mitteilung“: „Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen.“ Die ARD-Tagesschau plaziert die Reiseregelung als Top-Meldung und blendet dazu als Schrift ein: „DDR öffnet Grenze“. Den anschließenden Filmbericht über Schabowskis Pressekonferenz krönt der Reporter mit dem zweideutigen Kommentar: „Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.“ Ob damit gemeint ist, daß die Mauer „am nächsten Morgen“ durchlässig wird oder aber bereits schon „während der Nacht“, müssen die Fernsehzuschauer selbst herausfinden. Im Rias Berlin heißt es dagegen um 20. 16 Uhr klipp und klar: „Die DDR hat ihre Grenzen zur Bundesrepublik mit sofortiger Wirkung für Westreisen und Übersiedlungen geöffnet.“

Die Medienberichterstattung schafft eine unvorhergesehene Situation: Spontan brechen Ost-Berliner zu den Grenzübergängen auf. 80 Personen haben sich laut Lagebericht der Ost-Berliner Volkspolizei bis um 20. 15 Uhr an den drei Grenzübergängen Bornholmer Straße, Invalidenstraße und Sonnenallee eingefunden -und nach und nach werden es mehr. Auch einige West-Berliner machen sich auf den Weg zur Grenze. Die Meldung „DDR öffnet Grenze“ scheint die Möglichkeit nicht auszuschließen, die Mauer auch in Richtung Osten passieren zu können.

V.

Ohne jegliche Information und ohne Befehle der militärischen Führung stehen die Grenzwächter an den Berliner Übergängen allmählich wachsenden Menschenansammlungen gegenüber, die die vermeintlich sofortige Reisefreiheit testen wollen. Die Verantwortung an den Grenzübergangsstellen (GÜST) teilen sich Grenztruppen, Staatssicherheit und Zoll. Für die militärische Sicherung, im besonderen die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen, sind die Grenztruppen der Nationalen Volksarmee (NVA) zuständig. Die Sicherung, Kontrolle und Überwachung des gesamten Reiseverkehrs einschließlich der Fahndung sowie Festnahmen obliegt den Paßkontrolleinheiten des MfS, die als tschekistische Verkleidung die Uniform der Grenztruppen tragen. Die reine Sach-und Personenkontrolle schließlich führt die Zollverwaltung durch. Die Volkspolizei ist zwar nicht direkt auf den GÜST präsent; sie hat aber deren unmittelbares Vorfeld, das sogenannte „freundwärtige Hinterland“, von Störungen des Reiseverkehrs freizuhalten. Zwar gibt die Staatssicherheit an der Grenze den Ton an, doch für einen reibungslosen Grenzverkehr sind alle vier Institutionen auf ein enges Zusammenwirken angewiesen.

Am Übergang Bornholmer Straße bleiben erste Rückfragen des Chefs der MfS-Paßkontrolleinheit und auch des diensthabenden Grenztruppenoffiziers bei ihren Vorgesetzten, wie die Nachrichten zu verstehen seien, ebenso ohne Beantwortung wie wiederum deren Nachfragen auf der nächsthöheren Ebene bis hinauf in die Ministerien. In den Abendstunden sind auf allen Ebenen nur Stellvertreter oder Stellvertreter von Stellvertretern zu erreichen -und keiner weiß Bescheid.

Entsprechend führt auch die sofort einsetzende horizontale Kommunikation zwischen den Ministerien zu nichts. Nach ganz oben aber sind die Kommunikationswege versperrt: Kein Stellvertreter kann zunächst seinen Minister erreichen, denn die laufende Tagung des Zentralkomitees ist außerplanmäßig bis 20. 45 Uhr verlängert worden. Die gesamte Partei-und Staatsspitze bekommt deshalb zunächst weder die Pressekonferenz noch ihre Resonanz in den Medien noch den einsetzenden Ansturm auf die Übergänge mit.

In der Bornholmer Straße, im dichtbesiedelten Bezirk Prenzlauer Berg gelegen, ist der Ansturm am stärksten. Da die politischen Entscheidungsträger nicht erreichbar sind, werden im Zusammenspiel zwischen dem diensthabenden Leiter der Paßkontrolleinheit, Oberstleutnant Harald Jäger, seinem unmittelbaren Vorgesetzten im MfS, dem stellvertretenden Leiter der für Paßkontrolle zuständigen Hauptabteilung VI, Oberst Rudi Ziegenhorn, und dem für die Grenze zuständigen Mielke-Stellvertreter, Generalleutnant Gerhard Neiber, eine Reihe von Ad-hoc-Entscheidungen getroffen. Die Paßkontrolleure werden zunächst angewiesen, die Menschen abzuweisen und auf den nächsten Tag zu vertrösten -mit dem Ziel, sie zur Heimkehr zu bewegen. Trotz der Wiederholung dieser Aufforderung über einen Lautsprecherwagen der Volkspolizei bleibt dieses Unterfangen ohne Erfolg. Der Stabschef des MdI, Generaloberst Karl-Heinz Wagner, sieht sich außerstande, dem ihm von Generalleutnant Gerhard Neiber angesonnenen Wunsch zu entsprechen und die Zufahrtswege zu sämtlichen Über-gängen von Polizeikräften absperren zu lassen, um den Zustrom der Menschen an die Grenze zu unterbinden. Neibers Vorschlag, das Vorfeld der Übergänge freizuräumen und die Menschen von den Übergängen „wegzunehmen“, weist er als gänzlich undurchführbar zurück: „Das mußt du mal versuchen! Das geht nicht mehr!“Als die Menge in der Bornholmer Straße um 21. 00 Uhr auf fünfhundert bis eintausend Menschen angewachsen ist, die lautstark die Öffnung des Schlagbaumes fordern, der Rückstau der Autos über einen Kilometer bis zur Schönhauser Allee reicht und die Seitenstraßen verstopft sind, sieht sich Jäger nicht länger in der Lage, mit seinen 14 Paßkontrolleuren sowie fünf Grenzsoldaten und 16 bis 18 Zollkontrolleuren den Übergang zu halten. Wegen seiner Aussichtslosigkeit, erst recht aus reinem Selbsterhaltungstrieb kommt ein Schußwaffeneinsatz für die Verantwortlichen nicht in Frage. „Wenn die Masse ins Rennen kommt, und wir schießen, dann hängen wir da vorne am Fahnenmast“, ist Major Manfred Sens, dem amtierenden Grenztruppen-Kommandanten der GÜST, an diesem Abend klar. Nicht einmal an Selbstverteidigung sei unter diesen Bedingungen zu denken gewesen, ergänzt Harald Jäger: „Die Leute hätten uns überrollt und mit unseren eigenen Gummiknüppeln verhauen.“

Jäger appelliert telefonisch an Ziegenhorn, die Bürger ausreisen lassen zu dürfen, weil ihrem Druck nicht länger standzuhalten sei. Nach Absprache mit Neiber, so Jäger, habe Ziegenhorn schließlich eingewilligt, ein Ventil zu öffnen und die Ausreise mit Personalausweis zu gestatten, allerdings mit einer folgenschweren Einschränkung: „Die am aufsässigsten sind . . . und die provokativ in Erscheinung treten, die laß’ raus“, sei er von Ziegenhorn angewiesen worden. „Denen macht ihr im Ausweis einen Stempel halb über das Lichtbild -und die kommen nicht wieder ’rein.“ Jubelnd laufen die ersten Ost-Berliner über die Bornholmer Brücke nach West-Berlin -und ahnen nicht, daß ihre Personalausweise mit einem Visum, das das Lichtbild halb bedeckt, ungültig gestempelt worden sind.

Mit einem allgemeinen Ansturm auf alle Berliner Grenzübergänge wird zu diesem Zeitpunkt im Ministerium für Staatssicherheit nicht gerechnet: Außer in der Bornholmer Straße und am Über-gang Heinrich-Heine-Straße, an dem laut Lagebericht der Volkspolizei gegen 21. 30 Uhr 120 Personen auf der Ostseite stehen, sind „an den übrigen GÜST nur vereinzelt Personen festzustellen“. In der Hauptabteilung VI des MfS, in der seit 21. 00 Uhr die Leiter der Paßkontrolleinheiten aller Berliner Übergänge zusammengekommen sind, um Vorbereitungen für den nächsten Tag zu treffen, nimmt man die Entwicklung in der Bornholmer Straße noch gelassen auf. Bevor er die Leiter zurück an die Übergänge schickt, beruhigt der Chef, Generalmajor Heinz Fiedler, seine Genossen: „Wie ich meine Berliner kenne, gehen die um 23. 00 Uhr ins Bett.“

VI.

Doch in der Zwischenzeit hat sich die Medienspirale weiter gedreht. Politiker aller Bundestagsparteien, die britische und die amerikanische Regierung haben auf die ersten Tickermeldungen reagiert und begrüßen, wie die Agenturen nun berichten, die von ihnen zuvor verkündete „Grenzöffnung“. Über den Rundfunk erreichen diese Stimmen sofort das Publikum -und verstärken den Eindruck, daß die Grenze schon offen sei. Die Berliner Redaktion der ARD-Tagesthemen hat in der Zwischenzeit auf der Westseite eine Live-Schaltung zum Grenzübergang Invaliden-straße aufgebaut. Die entsprechende Entscheidung ist gegen 19. 30 Uhr mit der Absicht getroffen worden, in den Tagesthemen mit einem Stimmungsbericht über die Lage an der Grenze vor der für den nächsten Tag erwarteten „Öffnung“ live auf Sendung gehen zu können, auch wenn bis dahin vor Ort noch gar nichts geschehen wäre.

Die Tagesthemen beginnen an diesem Abend leicht verspätet um 22. 42 Uhr. Ein Einspielfilm zeigt die nahezu menschenleere Westseite des Brandenburger Tores. Chefmoderator Hanns Joachim Friedrichs verkündet dazu: „Das Brandenburger Tor heute abend. Als Symbol für die Teilung Berlins hat es ausgedient. Ebenso die Mauer, die seit 28 Jahren Ost und West trennt. Die DDR hat dem Druck der Bevölkerung nachgegeben. Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei.“ Dann kommt Friedrichs ins Bild und fährt fort: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, daß ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“

Friedrichs Ansage eilt den Ereignissen voraus: Entgegen der von ihm behaupteten Tatsache zeigt ein gegen 22. 00 Uhr fertiggestellter Einspielfilm der Berliner Redaktion, daß an den Berliner Grenzübergängen absolute Ruhe herrscht.

Dann wird nach Berlin geschaltet. Tagesthemen-Reporter Robin Lautenbach meldet sich live vom Grenzübergang Invalidenstraße, dessen Tor noch unübersehbar geschlossen ist. Doch drei West-Berliner Augenzeugen, die %uvor am Grenzübergang Bornholmer Straße gewesen sind und die Lauten-bach jetzt interviewt, helfen ihm und Friedrichs aus der Patsche. Ein Augenzeuge berichtet: „Ich habe erlebt, daß um 21. 25 Uhr das erste Pärchen tränenaufgelöst auf uns zugelaufen kam und die Berliner weiße Linie erreicht hat. Sie sind mirbeide um den Hals gefallen und wir haben alle gemeinsam geweint.“ Und die beiden anderen Augenzeugen ergänzen unter anderem, Ost-Berliner gingen hin und her, sie brauchten nur den Personalausweis -in den es einen Stempel gebe!

Robin Lautenbach deklariert umgehend den geschlossenen Übergang Invalidenstraße zum Ausnahmefall: „Hier in der Invalidenstraße auf der anderen Seite haben die Grenzpolizisten offenbar diese Weisung noch nicht bekommen oder sie haben sie nicht verstanden. . . . Aber wie gesagt, an sehr vielen anderen Grenzübergängen, nicht nur in der Bornholmer Straße -wir haben es auch gehört von der Sonnenallee und vom Ausländergrenzübergang Checkpoint Charlie -ist es offenbar bereits möglich, mit dieser neuen Regelung völlig komplikationslos nach West-Berlin zu kommen.“ „Tore in der Mauer weit offen?“ -„Völlig komplikationslos nach West-Berlin?“ Nach diesen Berichten gibt es für Tausende, ja Zehntausende Ost-und West-Berliner sowie Bewohner des Umlandes kein Halten mehr. Von beiden Seiten beginnt während und nach den Tagesthemen jener Ansturm auf die Grenzübergänge, der die Paßkontrolleure und Grenzsoldaten zum Einstellen des Stempelns und zum Rückzug zwingt.

Viele Tausende sind es, die nach 23. 00 Uhr in der Bornholmer Straße -im Scheinwerferlicht von Kamerateams -immer ungeduldiger „Tor auf! Tor auf!“ rufen und gegen die Grenzsicherungszäune drücken. Die Grenzwächter werden nervös. Niemand hat bis dahin die Verantwortung für die entstandene Situation übernommen, alle scheinen abzuwarten. Von ihrer Führung fühlen sie sich im Stich gelassen. Schließlich bangen die Offiziere um ihr Leben und das ihrer Mitarbeiter. Auf eigene Entscheidung stellen sie gegen 23. 30 Uhr in der Bornholmer Straße alle Kontrollen ein. „Wir fluten jetzt!“, kündigt der leitende Offizier der Paßkontrolle an; dann werden die Schlagbäume geöffnet und Abertausende strömen von Ost nach West.

Bis Mitternacht geben die Paßkontrolleure der Staatssicherheit und die Angehörigen der Grenztruppen dem Druck der Menschen auch an den übrigen innerstädtischen Grenzübergängen nach und lassen die Ost-Berliner zumeist unkontrolliert passieren; der Grenzübergang Invalidenstraße wird von West-Berlinern friedlich „gestürmt“. Gleiches geschieht bis 1. 00 Uhr an den Grenzkontrollpunkten im Berliner Umland und an den innerdeutschen Übergängen. Tausende von Ost-und West-Berlinern überwinden zudem Mauer und Sperranlagen am Brandenburger Tor und spazieren mehrere Stunden ungehindert durch das Tor und über den Pariser Platz. Auf der Panzer-mauer werden Freudentänze aufgeführt; das Symbol der deutschen Teilung ist gefallen.

Die Regierungsapparate in Ost-Berlin, Bonn und in den Hauptstädten der Vier Mächte sind überrascht: Innerhalb weniger Stunden hat das Volk die bewaffneten Organe der DDR überrumpelt und überrollt und das ausgeklügeltste Grenzregime der Welt ausgehebelt. „Wer hat uns das bloß eingebrockt?“, klagt Egon Krenz am nächsten Morgen im Politbüro. Anfängliche Hoffnungen der SED-Spitze, die „Ordnung“ wiederherstellen und die Kontrolle über die Mauer zurückgewinnen zu können, gehen nicht in Erfüllung; der Menschenandrang in Berlin, am Wochenende dann auch an der Grenze zur Bundesrepublik, ist zu gewaltig. In den Mittagstunden des 10. November werden noch Eliteeinheiten der NVA um Berlin in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt und die Staatssicherheit in der ganzen DDR alarmiert -zum Einsatz kommen die „bewaffneten Organe“ nicht mehr. Der Fall der Mauer erweist sich als unumkehrbar.

VII.

Die historische Rekonstruktion der dem Fall der Mauer zugrundeliegenden politischen Entscheidungen und Handlungen schließt Erklärungsansätze aus, die dieses Ereignis als -mit welchen Absichten auch immer verbundene -geplante Aktion der SED-Führung darstellen oder auf eine absichtsvolle Überrumpelung der Partei-und Staatsspitze zurückführen oder gar als „opus magnum“, als Meisterwerk der Staatssicherheit sehen möchten.

Der Fall der Mauer war weder vorgesehen noch vorhersehbar. Er entwickelte sich in einer turbulenten Situation äußeren und inneren Drucks aus einer Sequenz unkoordinierter Entscheidungen von Politbüro, Zentralkomitee und Ministerrat. Ihre vorzeitige und konfuse Bekanntgabe zerstörte die ursprüngliche Absicht, eine nach wie vor kontrollierte Erweiterung von Ausreise-und Reise-möglichkeiten ab dem 10. November zuzulassen. Die von den westlichen Medien verbreiteten Interpretationen („DDR öffnet Grenze“), nicht korrekten Annahmen („Die Grenze ist offen“) und „falschen“ Realitätsbilder („Die Tore in der Mauer stehen weit offen!“) lösten einen dynamischen Mobilisierungsprozeß aus, der das angenommene Ereignis und die „falschen“ Realitätsbilder Wirklichkeit werden ließ. Jene Fernsehzuschauer, dieeigentlich nur dabei sein wollten und deshalb an die Grenzübergänge und das Brandenburger Tor eilten, führten im Grunde erst das Ereignis herbei, dessen Eintritt ihnen bereits fälschlicherweise berichtet worden war. Eine von den Medien verbreitete Fiktion mobilisierte die Massen -und wurde dadurch zur Realität.

Der Mauerfall schuf eine völlig neue Situation: Mit dem Ende der Zwangsabschließung verlor das SED-Regime über Nacht die Verfügungsgewalt über „seine“ Bürger; der Mangel an innerer Legitimität trat nun offen zutage und führte zur Auflösung des SED-Staates. Die Abwanderung in die Bundesrepublik stieg erneut sprunghaft an: Vom 10. November bis zum Jahresende 1989 verließen über 120 000 Menschen die DDR (1989 gesamt: 343 854), im Januar 1990 waren es 73 729, im Februar 63 893, im März 46 241. Unter dem anhaltenden Druck der Demonstrationen, in zunehmendem Maße auch der SED-Mitgliederschaft, zerfielen innerhalb weniger Wochen die zentralen Parteistrukturen; Politbüro, ZK-Sekretariat und Zentralkomitee lösten sich selbst auf. Die Anleitung der Massenorganisationen durch die Partei brach ebenso zusammen wie ihr Kader-Nomenklatursystem. Ohne die Steuerungszentrale der Partei zerbröselten die staatlichen Machtstrukturen, an erster Stelle die Staatssicherheit.

Die schließliche Selbstauflösung des SED-Staates nach dem Zusammenbruch des Herrschaftssystems charakterisiert den deutschen Sonderweg des Endes der kommunistischen Einparteiensysteme in Mittel-und Osteuropa. Die Berufung auf den deutschen Nationalstaat war jedoch „nicht neuer Ausdruck eines nationalistischen Bewußtseins“, wie Rainer Lepsius zu Recht hervorgehoben hat. Der Nationalstaat war vielmehr „der schon gegebene Handlungsrahmen“ dessen normativer Geltungsanspruch sich über die Jahre der deutschen Teilung hinweg erhalten hatte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dem Beitrag liegen folgende Studien des Verfassers zugrunde: Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 19992*; * 1C*h*ro*nik des Mauerfalls, Berlin 19987; Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel, Berlin 1999 (mit Kathrin Elsner). Darin finden sich alle Zitatnachweise. -Ich danke Erika Laurent und Candida Splett für die kritische Durchsicht des Textes.

  2. Vgl. M. Rainer Lepsius, Die Bundesrepublik -ein neuer Nationalstaat?, in: Berliner Journal für Soziologie, 4 (1994) 1, S. 10.

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Hans-Hermann Hertle, Dr. phil., geb. 1955; Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Marburg und Berlin; Zeithistoriker, Sozialforscher und wissenschaftlicher Publizist in Berlin. Veröffentlichungen u. a: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996 (2. Aufl. 1999); Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996 (7. Aufl. 1998); (zus. mit Jürgen Kädtler) Sozialpartnerschaft und Industriepolitik. Strukturwandel im Organisationsbereich der IG Chemie-Papier-Keramik, Opladen 1997; (zus. mit Gerd-Rüdiger Stephan) Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees, Berlin 1997 (4. Aufl. 1999); (zus. mit Kathrin Elsner) Mein 9. November. Der Tag, aji dem die Mauer fiel, Berlin 1999.