Die Wirtschafts-und Finanzlage Rußlands vor den Dumawahlen 1999
Roland Götz
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Zusammenfassung
Mitte 1999 wurde von russischen Politikern ein rosiges Bild der Wirtschaftslage entworfen. Für 1999 sei wieder Wirtschaftswachstum zu erwarten, die Inflation sei eingedämmt, der Rubelkurs stabil. Bei näherem Hinsehen können die von der amtlichen Statistik publizierten Daten aber kaum überzeugen. Der Produktionsanstieg im ersten Halbjahr 1999 beschränkt sich auf die Industrie und den Gütertransport, während die landwirtschaftliche Produktion weiter zurückgeht. Er wird nicht von einer entsprechenden Zunahme des privaten Konsums und der Anlageinvestitionen getragen. Die Banken verfügen über liquide Mittel, die sie nicht produktiv investieren, sondern auf Konten der Zentralbank halten. Der Rubelkurs wird von der Zentralbank gestützt, wofür ihre Devisenreserven nicht mehr lange reichen werden. Darüber hinaus bleibt Rußland noch viele Jahre auf die Konzilianz seiner westlichen Gläubiger angewiesen, bevor ein im Lande selbst initiierter Wirtschaftsaufschwung sowohl vermehrte westliche Investitionen als auch die Rückkehr eines Teils des russischen Fluchtkapitals bewirken wird.
I. Das Krisenjahr 1998
Nachdem die russische Volkswirtschaft im Jahre 1997 zum ersten Mal seit 1989 wieder ein bescheidenes Wirtschaftswachstum verzeichnen konnte, erwartete man den Beginn des schon oft angekündigten Wirtschaftsaufschwungs. Das Jahr 1998 aber bescherte zwei weitere große Enttäuschungen nach dem Einsetzen der Wirtschaftsreformen im Jahre 1992, als auf die Preisfreigabe und die Erlaubnis der freien wirtschaftlichen Betätigung kein Wirtschaftswunder, sondern Produktionsrückgang und Inflation gefolgt waren. Zur außen-wirtschaftlichen Belastung durch Asienkrise und Ölpreisverfall kam 1998 die innenpolitische Instabilität hinzu. Im Frühjahr hatte Präsident Boris Jelzin seinen seit 1992 amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin entlassen, angeblich, weil er die Wirtschaftsreform nicht energisch vorantrieb -in Wirklichkeit aber, weil er unverkennbar Ambitionen auf das Präsidentenamt erkennen ließ. Nur mit Mühe war es Jelzin danach gelungen, den jungen Wirtschaftsfachmann Sergej Kirienko als Regierungschef gegenüber der Duma durchzusetzen. Dieser packte zwar viele verschleppte Reformen an, hatte aber gegen das Zusammenfallen widriger Umstände wie Ölpreisverfall, Asienkrise, sinkende Steuereinnahmen, Finanzierung des Budgetdefizits durch kurzfristige und extrem hoch verzinste Staatsanleihen, Flucht der Spekulanten aus dem Rubel sowie das sich allen einschneidenden Maßnahmen widersetzende Parlament keine Chance.
Als Mitte des Jahres die laufenden Steuereinnahmen kaum noch zur Bezahlung der fällig gewordenen Staatsanleihen ausreichten und der Rubelkurs selbst unter Einsatz von Dollarmilliarden des Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht mehr zu halten war, zog die Regierung Kirienko in Absprache mit der russischen Zentralbank die Notbremse: Man stoppte die Rückzahlung der Staatsschulden und gab die Stützung des Rubel-kurses auf, worauf dieser zwei Drittel seines Außenwertes verlor. Danach wurde Kirienko, der an dem Desaster noch die kleinste Schuld hatte, von Jelzin entlassen und nach längerem Tauziehen mit dem Parlament ein neues Kabinett installiert, das von ehemaligen Sowjetfunktionären dominiert wurde. Der neue Premier Jevgeni Primakov (ehemals KGB-Chef) und sein Wirtschaftsminister Juri Masljukov (früher Vorsitzender der Staatlichen Plankommission Gosplan) erteilten jedoch zur allgemeinen Überraschung -und wohl auch auf Druck des IWF -allen Vorschlägen zu einem reformpolitischen Rollback eine Absage und beschränkten sich auf wirtschaftliche Konsolidierungsmaßnahmen. Auch der neu ernannte Zentralbankchef Viktor Geraschtschenko, der in seiner vorangegangenen Amtszeit (1992-1994) eine inflationäre Geldpolitik betrieben hatte, räumte der Preisstabilität Priorität ein und verwehrte sich allen Wünschen nach einer Ankurbelungspolitik durch Staatskredite. Das Jahr 1998 schloß mit einem erneuten Rückgang des russischen Sozial-produkts um fast fünf Prozent.
II. Die Lage der russischen Wirtschaft im ersten Halbjahr 19991
Abbildung 3
Tabelle 2: Budgetvollzug des föderalen Haushalts Quelle: Economic Expert Group beim Finanzministerium (http//: Externer Link: http://www.eeg. ru/budget. html).
Tabelle 2: Budgetvollzug des föderalen Haushalts Quelle: Economic Expert Group beim Finanzministerium (http//: Externer Link: http://www.eeg. ru/budget. html).
1. Aufkeimender Optimismus
Nach der Krise im August 1998 waren die Prognosen westlicher Beobachter für die Wirtschaftsentwicklung Rußlands im Jahre 1999 zunächst durchweg pessimistisch ausgefallen. Man sah für 1999 einen weiteren starken Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, eine Hyperinflation und einen sich immer mehr entwertenden Rubel voraus. Dieses Negativszenario ist nicht Realität geworden. Die Preise stiegen im ersten Halbjahr 1999 „nur“ um rund 25 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt sank nach vorläufigen Schätzungen im ersten Halbjahr 1999 gegenüber dem entsprechenden Vorjahres-zeitraum um geringe 1, 3 Prozent und könnte nach Meinung russischer Experten diesen Rückgang im zweiten Halbjahr wieder wettmachen. Der Rubel-kurs pendelte sich bei rund 24 Rubel pro US-Dollar ein, erst im Zusammenhang mit der Entlassung von Ministerpräsident Stepaschin geriet er Anfang August wieder unter Abwertungsdruck. Optimisten argumentieren wie folgt: Rußland habe die unmittelbaren Folgen der Finanzkrise von 1998 überwunden, die monetäre Politik sei auf Stabilität gerichtet, der Rubel sei verhältnismäßig stabil, die Rubelabwertung bewirke durch Importsubstitution vermehrte inländische Produktion. Diese Entwicklung werde unterstützt durch den auf rund 20 US-Dollar pro Barrel gestiegenen Erdölpreis, der 1998 zeitweise auf unter zehn US-Dollar gesunken war, sowie durch die Bereitschaft des IWF, der Weltbank und anderer Finanzinstitutionen Ruß-land neue Kredite zu gewähren. Außerdem sei für die Jahre ab 2000 wieder mit einem Wirtschaftswachstum zu rechnen. Dieses positive Szenario findet aber keine ausreichende Unterstützung in den für das erste Halbjahr 1999 publizierten makroökonomischen Daten.
2. Wirtschaftswachstum ohne Zunahme der Nachfrage und der Einkommen
Die von der amtlichen russischen Statistik publizierten Daten für das erste Halbjahr 1999 zeigen eine recht uneinheitliche Entwicklung wichtiger makroökonomischer Indikatoren gegenüber dem ersten Halbjahr 1998:
Die Produktionszunahme wird vom positiven Trend der Industrie und des Gütertransports getragen, während die Landwirtschaft, -schon wegen der niedrigen Getreideernte -1999 zum Negativfaktor wird (siehe Zeilen 2 und 5 in Tabelle l) Die Zunahme der Industrieproduktion erstreckte sich auf alle Industriebranchen mit Ausnahme der Erzeugnisse der „Leichtindustrie“ wie Textilien, Schuhe und Oberbekleidung. Für die Zunahme der Industrieproduktion war der abwertungsbedingte Effekt der Importsubstitution, also der Ersatz von Importgütern durch heimische Produktion, ausschlaggebend, was auch mit dem scharfen Rückgang der Einfuhren korrespondiert. Daß die Abwertung des Rubel die russischen Erzeugnisse verbilligen und damit wettbewerbsfähiger machen konnte, wurde auch dadurch möglich, daß die Arbeitslöhne sich gegenüber dem ersten Halbjahr 1998 dadurch real fast halbierten (Zeile 12 in Tabelle 1), daß die nominalen Löhne weit hinter der Preissteigerung zurückblieben. Auch die vom Staat bezahlten Transfereinkommen (Renten, Beihilfen, Stipendien usw.) haben erheblich an realem Wert verloren. So sind die Durchschnittsrenten von Mitte 1998 bis Mitte 1999 bei rund 400 Rubel pro Monat praktisch stabil geblieben und haben dadurch die Hälfte ihrer Kaufkraft eingebüßt. Während die Durchschnittsrente im März 1998 noch um ein Drittel über dem für Rentner berechneten lebensnotwendigen Einkommen lag, betrug sie im März 1999 nur noch 31 Prozent dieses Werts. Bei den Löhnen und Gehältern ergibt sich folgendes:'Im Mai 1999 betrug der Durchschnittslohn 1472 Rubel, womit er um 55 Prozent über dem minimalen lebensnotwendigen Einkommen eines Arbeitsfähigen lag; im Mai 1998 hatte der Durchschnittslohn dagegen noch beim Doppelten des damals geltenden Minimums gelegen Wenn auch zu bedenken ist, daß die Bevölkerung noch mehr als früher zur Eigenversorgung übergegangen ist und über von der Statistik nicht erfaßte Einkommen verfügt, verweisen die genannten Zahlen doch auf eine deutliche Verschlechterung ihrer Lebenslage.
Der Rückgang der Realeinkommen hatte entsprechende Auswirkungen auf die Kaufkraft der Bevölkerung. Dies ist erkennbar am verminderten Einzelhandelsumsatz (siehe Zeile 7 in Tabelle 1). Auch der Export ist -trotz der günstigeren Preisverhältnisse -zurückgegangen, was zum Teil mit der Importabhängigkeit von einigen Ausfuhrerzeugnissen zusammenhängt: Wird der Import von notwendigen Vorprodukten verteuert, werden auch die entsprechenden Exporte teurer und finden weniger Absatz. Dagegen verzeichneten die Sachanlageinvestitionen nur einen geringen Rückgang (wobei der darin enthaltene Wohnungsbau sogar etwas zulegte). Insgesamt ergibt sich ein Auseinanderklaffen von leicht positiver Produktionsentwicklung und negativer Entwicklung der Einkommen und der Nachfrage, wobei noch offen ist, in welche Richtung die weitere Entwicklung gehen wird. 3
3. Kritische Lage der Staatsfinanzen
Trotz der amtlichen Verlautbarungen, wonach mehr Steuern als vorgesehen eingenommen worden seien, geben die Daten über den Vollzug des föderalen Budgets (d. h. ohne die Budgets der Gebietskörperschaften) noch keinen Anlaß zur Beruhigung: Vor allem die Verbrauchssteuer und die Zolleinnahmen haben im ersten Halbjahr 1999 Mehreinnahmen erbracht (Zeilen 4 und 5 in Tabelle 2). Umgekehrt konnte die Belastung durch den Schuldendienst -allerdings nur wegen nicht geleisteter Zahlungen -reduziert werden (Zeile 7). Ohne den Schuldendienst wäre das Budget im ersten Halbjahr 1999 zwar mehr als ausgeglichen gewesen, doch wird damit noch nicht das für den Schuldendienst ausreichende positive „Profizit“ (d. h. ein Einnahmüberschuß vor Schuldendienst, siehe Zeile 10 Tabelle 2) erwirtschaftet. Das Budgetdefizit (Zeile 11 in Tabelle 2) konnte im ersten Halbjahr 1999 nur durch Kredite der russischen Zentralbank finanziert werden.
4. Labiler Rubelkurs
Inzwischen sind sich alle Experten darin einig, daß der Rubelkurs vor dem 17. August 1998 überhöht war und seine zu lange Stützung durch milliarden-schwere Interventionen auf dem Devisenmarkt einen Fehler darstellte. Allerdings besteht Unsicherheit über die richtige Wechselkurspolitik in der Zukunft. Seit März diesen Jahres verharrt der Rubel bei einem Kurs von 24 bis 25 Rubel pro US-Dollar, während die Inflation mit einer monatlichen Rate von etwa zwei Prozent andauert. Dies hat eine reale Aufwertung des Rubel zur Folge, was die um einen schweren Preis erlangte Konkurrenzfähigkeit der russischen Produzenten auf den In-und Auslandsmärkten allmählich aushöhlt. Die Stabilität des Rubelkurses wird offenbar durch Stützungskäufe der russischen Zentralbank bewirkt, die allein im August 1999 eine Milliarde US-Dollar ausmachten. Würde die Zentralbank eine nominale Abwertung im Gleichschritt mit der Inflation zulassen, indem sie ihre Devisenverkäufe einstellte oder sogar Devisen kaufte, müßte der Rubelkurs inzwischen -angesichts einer monatlichen Inflation von rund zwei Prozent -schon heute bei 28 bis 30 Rubel pro US-Dollar liegen. Davor scheut die Zentralbank offenbar deswegen zurück, weil sie eine kaum noch beherrschbare Spirale von Inflation und Abwertung fürchtet.
Die russische Zentralbank hatte in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit der Schuldentilgung der russischen Regierung bereits Devisen im Umfang von rund fünf Mrd. US-Dollar von den Geschäftsbanken gekauft, was dort zu einem „Geldüberhang“ führte. Dieser würde als Dollar-nachfrage auf dem Devisenmarkt einen erheblichen Abwertungsdruck auf den Rubel ausüben. Noch halten die Banken diese Summen auf Depositenkonten der Zentralbank zu einem Zinssatz von 15 Prozent, was weniger als die Hälfte der zu erwartenden Jahresinflation beträgt (siehe Tabelle 4, Zeile 4). Dies liegt daran, daß den Geschäftsbanken nach der Augustkrise, als der Staat die Ausgabe von Staatsanleihen einstellen mußte, nur noch wenige Anlagemöglichkeiten in Geldmarkt-papieren offenstehen, sie andererseits aber weder in großem Umfang Aktien kaufen noch Kredite an Unternehmen vergeben möchten. Geld in Höhe von vielen Milliarden Rubel ist daher nicht nur „unter den Kopfkissen“ der Bevölkerung vorhanden, sondern auch auf den Konten der Banken. Es wird aber nicht an Unternehmen verliehen. Dies kann nur daran liegen, daß das Risiko von Ausleihungen an russische Unternehmen durch die Banken als sehr hoch eingeschätzt wird.
1. Die russischen Schulden -Altlasten und neue Bürden
Der russische Staat ist bei westlichen -öffentlichen wie privaten -Gläubigern mit rund 146 Mrd. US-Dollar verschuldet. Davon stammen 74 Mrd. aus der Neuverschuldung seit dem Zerfall der UdSSR und rund 72 Mrd. US-Dollar sind Altschulden aus sowjetischen Zeiten Davon abgesehen, haben russische Banken und Unternehmen rund 32 Mrd. US-Dollar Westkredite aufgenommen, während regionale Gebietskörperschaften mit rund drei Mrd. US-Dollar im Ausland verschuldet sind. Schließlich sind noch die von Ausländern gekauften kurzfristigen Schuldverschreibungen (GKO) zu berücksichtigen, deren Gegenwert Mitte 1999 etwa 17 Mrd. US-Dollar betrug, was die Gesamtverschuldung Rußlands im westlichen Ausland auf knapp 200 Mrd. US-Dollar anhebt. Rechnet man mit einer Schuldendienstquote (Tilgung und Verzinsung) von ungefähr zehn Prozent, so ergibt sich eine durchschnittliche jährliche Belastung des Staatshaushalts der Föderation in der Größenordnung von 20 Mrd. US-Dollar. Dies ist für Rußland, dessen föderale Steuer-einnahmen in den kommenden Jahren kaum über rund 20 bis 25 Mrd. US-Dollar hinausgehen werden, offensichtlich untragbar. Ein Ausweg mußte gesucht werden, dem sich auch die ausländischen Gläubiger, auf die drei Viertel der russischen Staatsschulden entfallen, nicht verschließen konnten. Rußland beabsichtigt, die seit dem Untergang der Sowjetunion und der Wiedererrichtung des russischen Staates im Ausland aufgenommenen Staatsschulden strikt zu tilgen und zu verzinsen, wenn auch unter Zuhilfenahme weiterer Kredite. Im Jahre 1999 sind nach den erfolgten Umschuldungsverhandlungen mit westlichen Gläubigern statt der ursprünglich 19 Mrd. US-Dollar nur noch 9, 5 Mrd. aufzubringen. Sie werden zur Hälfte aus dem Staatshaushalt und zur Hälfte aus dem Ende Juli genehmigten Kredit des IWF (4, 5 Mrd. US-Dollar) bestritten. Auch die in den kommenden Jahren zu erwartenden Zahlungen aus der Neuverschuldung seit 1992 -in etwa derselben Höhe -verspricht man pünktlich zu leisten. Die sowjetischen Altschulden, welche die Russische Föderation zusammen mit dem Auslandsvermögen der Sowjetunion übernommen hat -was man heute bedauert -können allerdings weder pünktlich verzinst noch getilgt werden. Es geht um Schulden in Höhe von 42 Mrd. US-Dollar an staatliche Gläubiger sowie 30 Mrd. an private Gläubiger wie Banken und Investmentfonds. Für 2000 und 2001 sollen nach Vorstellung der russischen Regierung die Zahlungen an die im „Pariser Club“ vereinten staatlichen Altschuldengläubiger gestreckt werden, und ab 2001 soll eine erneute Umstrukturierung, wenn nicht sogar Streichung dieser Schulden erreicht werden. Auch mit den im „Londoner Club“ versammelten privaten Gläubigern hofft man, eine entsprechende Übereinkunft zu erzielen Damit dürfte die Gefahr des Staatsbankrotts bis auf weiteres abgewendet sein.
2. Kapitalflucht erschwert Schuldenrückzahlung
Das Rückzahlungsproblem hat zwei Seiten. Einerseits müssen Zinsen und Tilgungszahlungen aus dem Staatshaushalt erwirtschaftet werden, der dafür ein „Profizit“ aufweisen soll. Dies ist wegen des noch wenig ergiebigen Steuersystems, der hohen Soziallasten und der hinausgeschobenen Militärreform schwierig. Das Problem wird dadurch verschärft -bzw. ist letzten Endes dadurch überhaupt entstanden -, daß mit deutlichem Wirtschaftswachstum in Rußland bis auf weiteres nicht gerechnet werden kann Die Verschuldung konnte nur den Zweck gehabt haben, die Übergangsphase zur Marktwirtschaft zu erleichtern, die durch eine tiefe Rezession geprägt war. Die Verzinsung und Tilgung sollen dann aus dem wieder zunehmenden Sozialprodukt geleistet werden. Bei stagnierender Volkswirtschaft -und für Rußland darf man dies für noch einige Jahre nicht ausschließen -geht diese Rechnung nicht auf.
Die zweite Seite des Rückzahlungsproblems betrifft, soweit es sich um die Außenschulden handelt, die Außenwirtschaft, d. h. das Problem des Transfers von Devisen. Hier könnte man meinen, daß Rußland sich in einer glücklichen Lage befindet: Als einziges GUS-und Transformationsland im Osten Europas kann Rußland auf einen beständigen und hohen Exportüberschuß zurückgreifen. Im Prinzip dürfte daher die Aufbringung der für die Schuldenbedienung erforderlichen Devisen nicht schwer fallen. Man kann darüber hinaus davon ausgehen, daß in der amtlichen Zahlungsbilanz die Exporte wegen Unterfakturierung vermindert und die Importe wegen der Scheinimporte erhöht sind. Der wirkliche Überschuß aus dem Waren-und Dienstleistungshandel ist also noch höher, als er amtlich ermittelt werden kann.
Der im Handel mit Waren und Dienstleistungen erzielte Überschuß, der im ersten Vierteljahr 1999 in Höhe von 6, 1 Mrd. US-Dollar entstanden war (Zeile 2 und 3 in Tabelle 3) konnte jedoch nicht zu einer Aufstockung der Devisenreserven genutzt werden, weil die Exporterlöse teilweise gleich im Ausland verblieben oder Rußland in anderen Formen der Kapitalflucht wieder verließen *Gleichzeitig sind Netto-Zinszahlungen in erheblichem Umfang zu leisten (Zeile 5). Daher gehen die Devisenreserven der Zentralbank zurück (im ersten Vierteljahr 1999 um 1, 1 Mrd. US-Dollar, wie in Zeile 13 von Tabelle 3 ausgewiesen). Ruß-land leistet sich somit Kapitalexport, was für ein Transformationsland, das Kapital für die Restrukturierung seiner Wirtschaft braucht, nicht sinnvoll sein kann. Man kann dies auch so formulieren: Rußland legt einen Teil seiner volkswirtschaftlichen Ersparnisse im Ausland an -kaum eine richtige Strategie für ein Land, das im internationalen Vergleich als „arm“ bezeichnet werden muß und immer wieder auf Hilfen angewiesen ist. Der ökonomische Grund dafür ist die mangelnde Attraktivität Rußlands als Investitionsstandort, wogegen auch nach aller internationalen Erfahrung büro-kratische Maßnahmen wie Kapitalverkehrskontrollen wenig ausrichten können. Dazu kommt, daß Rußland die ehemals vollständig staatlich gelenkte Außenwirtschaft über Nacht „privatisiert“ hat, mit der Folge, daß Anfang 1999 nicht weniger als 670 000 Außenhandelsfirmen bestanden, die unmöglich zu kontrollieren sind Die Zahl der Unternehmen, die für den Export arbeiten, beträgt dagegen nur rund 2 000, was bedeutet, daß auf jeden Produzenten im Durchschnitt 300 „Vermittler“ entfallen, in der Regel sind dies Einpersonenfirmen. Der Kapitalexport verläuft z. B. nach folgendem Beispiel: Eine Außenhandels-firma, die von jedem russischen Bürger angemeldet werden kann, schließt mit einer auf den Virgin-Islands (Antillen) beheimateten Partnerfirma einen Scheinvertrag über die Lieferung von Butter ab, wobei Vorauszahlung mit einer Lieferfrist von drei Monaten vereinbart wird. Die staatlichen Devisenkontrolleure können diesen Vertrag nicht beanstanden, und das Geld wird transferiert. Dann löst die Firma sich wieder auf. und die staatlichen Kontrolleure haben das Nachsehen. Weitere, praktisch nicht zu verhindernde Varianten des Kapital-exports bestehen im Import von intellektuellen Dienstleistungen. So werden z. B. hohe Honorare für wertlose Studien, was sich im negativen Saldo der Dienstleistungsbilanz niederschlägt (Zeile 3 in Tabelle 3).
3. Schmelzende Devisenreserven der Zentralbank
Die russische Zentralbank verfügt über einen im wesentlichen konstanten Goldvorrat im Wert von rund vier Mrd. US-Dollar. Davon abgesehen, hatten ihre Devisenreserven am 1. Juli 1997 noch 20, 4 Mrd. US-Dollar betragen. Ein Jahr später, nachdem sie zur Stützung des Rubelkurses eingesetzt worden waren, waren sie auf 11, 2 Mrd. zurückgegangen und am 1. September 1998 auf 8, 2 Mrd. US-Dollar gefallen. Anfang August hatten sie noch einen Umfang von 7, 2 Mrd. US-Dollar (siehe Zeile 2 in Tabelle 4).
Ein wesentlicher Spielraum für Interventionen der Zentralbank auf dem Devisenmarkt mit dem Ziel der Stabilisierung des Rubelkurses dürfte damit nicht mehr bestehen. Auf neue Kredite des IWF zur Rubelstützung ist -im Unterschied zur Situation bis Mitte 1998 -ebenfalls auf absehbare Zeit nicht mehr zu hoffen. Dies liegt nicht so sehr daran, daß die russische Zentralbank den IWF in der „Fimaco-Affaire“ betrogen hatte. (Sie hatte Devisen, darunter auch Mittel aus den IWF-Krediten, auf eine von ihr gegründete Offshore-Firma übertragen und damit allem Anschein nach zum Vorteil ihres Managements auf dem hochprofitablen russischen Schatzanleihenmarkt spekuliert) Neue Kredite wird es vielmehr deswegen nicht geben, weil der IWF genug Mühe damit hat, die Rückzahlung seiner bisher gewährten durch neue Kredite zu ermöglichen. So aber befindet sich der russische Rubel in einer prekären Abhängigkeit von den Dollarexporterlösen (und damit vom Ölpreis auf dem Weltmarkt sowie dem Wohlverhalten der russischen Banken, die über genügend liquide Mittel verfügen, um den Kurs ins Wanken zu bringen. Daß die Zentralbank versucht, den Rubelkurs zumindest bis zum Jahresende im Bereich von 25 bis 30 Rubel pro US-Dollar zu halten, liegt vor allem daran, daß bei einem starken Rubel die Rückzahlung von Auslandsschulden billiger ist als bei einem entwerteten und der russische Staat im zweiten Halbjahr 1999 noch mehrere Milliarden US-$Schuldendienst aus dem Budget zu finanzieren hat.
IV. Im zweiten Halbjahr 1999: Neue Krise oder Beginn des Wirtschaftsaufschwungs?
Die russische Volkswirtschaft zeigt Mitte 1999 keineswegs kräftige Signale eines Wirtschaftsaufschwungs, sondern Anzeichen eines isolierten, noch nicht von der Nachfrage getragenen Wachstums der Industrieproduktion. In der Landwirtschaft steht zum zweiten Mal in Folge eine Mißernte bevor. Die realen Geldeinkommen sind auf ein Niedrigstniveau gefallen. Viele russische Banken sind überschuldet, da sie bis zur Augustkrise 1998 ihre spekulativen Engagements in die hochverzinslichen Staatsanleihen mit im Ausland geliehenem Geld vorfinanziert haben und nun von Rubelabwertung und dem Moratorium auf die Staatsschulden doppelt betroffen sind. Ihre Sanierung kommt trotz einer eigens dafür gegründeten Bank (ARKO) nicht voran. Ein großer Teil der Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft arbeitet trotz der Reallohnrückgänge und der besseren Wettbewerbssituation immer noch mit Verlust, weil ihre Produktionskosten zu hoch sind, denn nach wie vor mangelt es ihnen an moderner Technologie und modernem Management.
Die positiven Auswirkungen der Rubelabwertung vom August 1998 könnten sich bald abschwächen, wenn es -etwa im Vorfeld der Parlaments-und Präsidentschaftswahlen -zu vermehrten, durch „Gelddrucken“ finanzierten Staatsausgaben, Lohn-und Preissteigerungen käme. Auch ist damit zu rechnen, daß die ausländischen Firmen, die gegenwärtig in Rußland Markteinbußen hinnehmen mußten, durch Anpassung ihres Sortiments an die weniger zahlungskräftige Nachfrage reagieren und somit die Importe wieder zunehmen werden. Damit würde die Konkurrenz für die russischen Firmen stärker. Für einen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung in Rußland fehlt es nicht in erster Linie an Kapital, sondern im In-und Ausland vor allem an der Bereitschaft, dieses in Ruß-land produktiv zu investieren. Das auf Zentralbankkonten gehaltene Geld der russischen Banken sowie die verhältnismäßig geringe Höhe der ausländischen Direktinvestitionen sprechen hierbei eine deutliche Sprache Daran hat die
Ungewißheit über die politische Entwicklung im Vorfeld der Dumawahlen im Dezember 1999 und der für Juni 2000 geplanten Präsidentschaftswahlen nicht geringen Anteil. Der russische Präsident wiederholte mit der wahltaktisch motivierten Entlassung der Ministerpräsidenten Primakov (im Mai 1999) und Stepaschin (im Juni 1999) den Fehler der Destabilisierung des Landes, den er im März 1998 mit dem Hinauswurf von Tschernomyrdin schon einmal begangen hat. Bestenfalls ist nun mit einer bis zum Sommer des Jahres 2000 anhaltenden labilen wirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen, bevor mit der Entscheidung über den Jelzin-Nachfolger ein neuer politischer Anlauf genommen werden kann.
Darüber hinaus bleibt Rußland noch viele Jahre auf das Entgegenkommen seiner westlichen Gläubiger angewiesen, bevor ein im Lande selbst initiierter Wirtschaftsaufschwung sowohl vermehrte westliche Investitionen als auch die Rückkehr eines Teils des russischen Fluchtkapitals bewirken wird. Zwar wäre Rußland auf Grund seines exportfähigen Ressourcenreichtums (es verfügt über je rund 20-25 Prozent des Welt-Produktionspotentials bei Erdöl, Erdgas und Edelmetallen) rein ökonomisch betrachtet durchaus in der Lage, seine Auslandsschulden zu verzinsen und zu tilgen. Seine politisch-gesellschaftlichen Strukturen, die sich in Korruption bis in die höchsten Ränge der Staatsführung, weit verbreiteter Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung sowie Kapitalflucht äußern, verhindern jedoch gegenwärtig dessen rationale Nutzung. Da dieser Zustand eine Folge der im Sowjetsystem erfolgten Deformation der russischen Gesellschaft und damit tief verwurzelt ist (und 1992 mit dem „sanften Übergang“ vom Kommunismus zum Kapitalismus weder eine personelle Erneuerung der Führungsschichten noch des politischen Bewußtseins in weiten Kreisen der Bevölkerung und der Eliten verbunden war), kann nur auf eine langsame Änderung der Verhältnisse gesetzt werden Freilich wäre es naiv zu glauben, man könne Rußland in der Zwischenzeit vernachlässigen. Rußland bleibt nach den Worten eines amerikanischen Analytikers „zu groß, zu nuklear und politisch zu einflußreich“, um ignoriert werden zu können
Roland Götz, Dipl. -Volkswirt, Dr. oec. publ., geb. 1943; wiss. Oberrat am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Uwe Haibach) Politisches Lexikon Rußland. Die nationalen Republiken und Gebietskörperschaften der Rußländischen Föderation, München 1994; (zus. mit Uwe Haibach) Politisches Lexikon GUS, 3. Auf!., München 1996; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften sowie in den Berichten und aktuellen Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien.
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