Am Ende dieses Jahrhunderts driftet Rußland am Rand einer gefährlichen Staatskrise. Der Versuch der Systemtransformation, insbesondere der Aufbau eines funktionsfähigen Staatswesens, ist im ersten Anlauf steckengeblieben, die Wirtschaft hat sich noch immer nicht von den Folgen der verschiedenen Experimente mit Privatisierung, monetärer Stabilisierung und massiver Auslandsverschuldung erholt, gleichzeitig aber stehen Wahlen zur Staatsduma (am 19. Dezember 1999) und für das Amt des Präsidenten (im Juni 2000) an. Die Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993 ist zwar als allgemeiner Rahmen für die Regulierung politischer Konflikte respektiert, das Interesse der politischen Akteure bleibt jedoch vorrangig auf kurzfristigen Machterhalt und Nutzung der nach wie vor erheblichen rechtsfreien Räume für Zwecke individueller Bereicherung gerichtet. Die Instabilität seiner innenpolitischen Strukturen macht es für die internationale Gemeinschaft auf absehbare Zeit zu einem schwer berechenbaren Partner.
I. Einführung
In Präsidialsystemen werden Regierungskrisen schnell zu Regimekrisen -diese These wird durch die aktuelle Entwicklung in Rußland bestätigt. Der Versuch der Systemtransformation, insbesondere der Aufbau eines funktionsfähigen Staatswesens, ist im ersten Anlauf steckengeblieben die Wirtschaft hat sich noch immer nicht von den Folgen der verschiedenen Experimente mit Privatisierung, monetärer Stabilisierung und massiver Auslandsverschuldung erholt gleichzeitig aber stehen Wahlen zur Staatsduma (am 19. Dezember 1999) und für das Amt des Präsidenten (im Juni 2000) an. Bombenattentate in Moskau stellen die Handlungsfähigkeit des Staates auf eine harte Probe -mit ungewissem Ausgang. Dabei spiegelt sich die Labilität der innenpolitischen Situation Rußlands nicht zuletzt in weit verbreiteten Gerüchten über die Urheber dieser Zwischenfälle, zu denen bezeichnenderweise auch „die Kremlfamilie“ mit ihrem Interesse an einer Verhinderung oder Verschiebung der anstehenden Wahlen gezählt wird. Die politische Führung des Landes fährt einen unsicheren und in ihren Zielen schwer identifizierbaren Kurs. Die Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993 ist zwar als allgemeiner Rahmen für die Regulierung politischer Konflikte respektiert, das Interesse der politischen Akteure auf allen Ebenen des Staates bleibt jedoch vorrangig auf kurzfristigen Machterhalt und Nutzung der erheblichen rechtsfreien Räume für Zwecke individueller Bereicherung gerichtet. Die staatlichen Institutionen behindern sich gegenseitig, Legislative und Exekutive sind in ihrem Verhalten so stark von sowjetischen Traditionen geprägt, daß mögliche Lösungsansätze auch für akute Probleme in Staat und Wirtschaft immer wieder steckenbleiben.
II. Die Verfassung als Problem
Dreh-und Angelpunkt der Schwächen des politischen Systems Rußlands ist die geltende Verfassung. Sie ist auf den Präsidenten in seinen Funktionen nicht nur als Staatsoberhaupt, sondern auch als Leiter der Exekutive und Oberkommandierenden der Streitkräfte ausgerichtet. Sie kennt zwar das Amt eines Regierungschefs, räumt dem Präsidenten aber das Recht ein, bei Kabinettssitzungen den Vorsitz zu führen. Der Präsident ernennt den Premier, wobei er die Zustimmung der Staatsduma einholen muß; für die Ernennung der Minister braucht er nicht deren Einwilligung, er muß sich aber an den Personalvorschlägen seines Premiers orientieren. Damit ist er bei der Regierungsbildung nicht auf die Stärke von Fraktionen und Parteien in der Staatsduma angewiesen, denn die Regierung ist mehr oder weniger ein Kabinett von Technokraten, an die Amtszeit des Präsidenten und nicht an die Legislaturperiode der Staatsduma gebunden und auch nicht dem Parlament verantwortlich.
Hinzu kommt, daß der Präsident durch den Erlaß von Dekreten (ukazy) alle Fragen entscheiden kann, die nicht verfassungsrechtlich oder gesetzlich geregelt sind Rechtsgrundlage ist der dritte Absatz von Verfassungsartikel 90, in dem es lediglich heißt, daß die Dekrete des Präsidenten der russischen Verfassung und den föderalen Gesetzen nicht widersprechen dürfen, eine Regelung, die Präsident Jelzin extensiv nutzte (in seiner Verwaltung wurden schätzungsweise 60 bis 70 Prozent aller wichtigen politischen Entscheidungen vorbereitet). Damit aber ist zwischen Regierung und Präsidialadministration ein Konkurrenzverhältnis festgeschrieben.
Die von Jelzin aus undurchsichtigen Gründen veranlaßten Regierungswechsel (seit 1996 wurden allein vier Ministerpräsidenten und weit über 100 Regierungsmitglieder verschlissen), die den ohnehin schleppenden Reformprozeß weiter verzöger-ten, und Jelzins angeschlagener Gesundheitszustand haben dazu geführt, daß die Frage nach einer Revision der Verfassung mittlerweile immer dringender gestellt wird. Die Verfahren zur Änderung der Verfassung sind freilich sehr kompliziert (vgl. Grafik): Hier muß zwischen den Kapiteln 1, 2 sowie 9 (den Essentials und den übrigen Kapiteln unterschieden werden. Jede Änderung außerhalb der Essentials bedarf der Zustimmung von drei Vierteln der Mitglieder des Föderationsrats (134) und zwei Dritteln der Abgeordneten der Staatsduma (300) sowie der anschließenden Billigung durch die Gesetzgebungsorgane der Föderationssubjekte, also von mindestens 59 Regional-parlamenten (Art. 136 und 108, Abs. 2). Der Präsident hat das verfassungsändernde Gesetz innerhalb von zwei Wochen zu unterschreiben, und er kann auch kein Veto einlegen (etwa um zu verhindern, daß er eine Beschneidung seiner Vollmachten blockiert)
Die aktuelle Diskussion im Vorfeld der Wahlen dreht sich vor allem um die Begrenzung der Macht des Präsidenten zugunsten von Parlament und Regierung (wofür bisher die erforderlichen Mehrheiten nicht erreicht wurden), aber auch um das Verhältnis zwischen Zentrum und Regionen: Der Föderationsrat (das Oberhaus) will durch Änderung des ersten Absatzes von Artikel 102 die Kompetenz erhalten, über den Einsatz der Streitkräfte auf dem Territorium der Russischen Föderation zur Wahrung ihrer Souveränität und ihrer staatlichen Unversehrtheit, zum Schutz der Rechte und Freiheiten ihrer Menschen und Bürger zu entscheiden. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß sich die Ereignisse von Tschetschenien wiederholen, d. h. daß der Präsident allein über den Einsatz der Streitkräfte innerhalb Rußlands befindet. Die Staatsduma (das Unterhaus) will durch Änderung der Artikel 83, 193 und 112 erreichen, daß sie nicht nur der Ernennung des Regierungschefs, sondern auch der „Machtminister“ (Verteidigung, Inneres, Zivilverteidigung), des Außenministers und des Finanzministers zustimmen muß, um besser vor selbstherrlichen Entscheidungen des Präsidenten geschützt zu sein. Eine noch weitergehendere Regelung sah der Entwurf eines „Politischen Abkommens“ zwischen dem Präsidenten, der Föderalversammlung und der Regierung von September 1998 vor Vor der Ernennung der Regierungsmitglieder sollte der vom Präsidenten beauftragte Premier die Staatsduma konsultieren, der Präsident sollte deren Meinung berücksichtigen. Dieses Abkommen scheiterte jedoch.
Der Spitzenkandidat des bei der Staatssdumawahl chancenreichen Wahlbündnisses „Vaterland -Ganz Rußland“, Ex-Premier Jewgenij Primakow (zugleich einer der in Meinungsumfragen führenden Kandidaten für die Nachfolge Jelzins), fordert die Einführung des Amtes eines Vizepräsidenten wodurch eine Verfassungslücke gefüllt würde, die angesichts der Zweifel an der Gesundheit Jelzins in den letzten Jahren für einige Unruhe gesorgt hatte. Außerdem setzt er sich für die Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse in der Staatsduma bei der Besetzung der Ministerposten und eine Absicherung des Sicherheitsrats in der Verfassung ein.
Mitte August dieses Jahres legten Georgij Satarow und Michail Krasnow, zwei ehemalige Referenten von Präsident Jelzin, einen weithin Zustimmung findenden ausführlichen Vorschlag für eine Verfassungsänderung vor, für dessen Ausarbeitung die Verfassungen der USA, Frankreichs und Japans herangezogen worden waren Danach soll die Funktion des Präsidenten auf die Rolle eines Schiedsrichters bzw. eines konstitutionellen Monarchen beschränkt werden, die Regierung im Sinne parlamentarischer Regierungssysteme mehr Autonomie erhalten, d. h. ihre Zusammensetzung soll die politischen Kräfteverhältnisse in der Staatsduma widerspiegeln, und die Rolle des Föderationsrats im Gesetzgebungsprozeß gestärkt werden. Im Verhältnis des Zentrums zu den Regionen sollen die jeweiligen Kompetenzen präzisiert und den Regionen größere Autonomie für die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten eingeräumt werden. Auf der anderen Seite soll das Zentrum mehr Möglichkeiten erhalten, auf Rechtsverletzungen der Regionen zu reagieren. Schließlich wird empfohlen, den Kommunen unter Verschärfung der staatlichen Kontrolle über die Einhaltung rechtlicher Vorschriften größere Garantien für ihre Selbstverwaltung zu verleihen.
Im Gegensatz zu parlamentarischen Demokratien, wo Vertrauenskrisen die Regierung in Frage stellen, droht der Wechsel im Amt des russischen Präsidenten zur Staatskrise zu werden. Nicht erst seit der Ernennung W. Putins zum Ministerpräsidenten, den Jelzin zugleich als seinen Favoriten für die Nachfolge im Amt des Präsidenten proklamierte, wurde das innenpolitische Klima mit dramatischen Spekulationen über mögliche Machenschaften auch außerhalb der Verfassung angeheizt. Das Ende der Ära Jelzin wird zum kläglichen Rückzugsgefecht einer abgehalfterten „gewählten Monarchie“ und ihrer Camarilla, überschattet von Korruptionsvorwürfen und immer mehr reduziert auf die Frage einer möglichen Immunität für den ausscheidenden Präsidenten. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß Jewgenij Primakow im Interesse einer Stabilisierung der Lage vor den Wahlen „die Garantie der völligen Sicherheit und eines Lebens in Würde“ für ehemalige Präsidenten zum Gegenstand einer Verfassungsänderung oder eines gesonderten Gesetzgebungsvorschlags erhob Dabei macht sich in der russischen Öffentlichkeit niemand Illusionen darüber, daß es im Vorfeld des Wahlkampfs längst nicht mehr nur um die Person Jelzins, sondern auch um seine als „Familie“ bezeichnete Umgebung geht. Sie ist es, die ihren Einfluß auf die russische Politik über die auslaufende Legislaturperiode hinaus etablieren will und die sich in einem mit harten Bandagen geführten Kampf gegen den von Primakow und dem Moskauer Oberbürgermeister Lushkow geführten Wahlblock „Vaterland-Ganz Rußland“ die Kontrolle über halbstaatliche finanzielle Ressourcen und zentrale Medien zu sichern sucht. Sie trägt die Verantwortung für eine nur mit Ländern der Dritten Welt vergleichbare Verwilderung der politischen Sitten und den erschreckenden Verlust an Vertrauen der Öffentlichkeit in die politischen Eliten insgesamt Nichts macht die strukturelle Labilität der russischen Politik und die grundsätzliche Gefährdung eines demokratischen Neubeginns -auch im Rahmen der geltenden Verfassung -durch persönliche Interessen deutlicher.
III. Falsche Analogien: Parteien und Fraktionen
Langfristig ergeben sich gravierende Probleme aus dem Fehlen eines Parteiensystems. Nach dem Verbot der KPdSU durch Boris Jelzin (wegen deren Initiierung des Futsches im August 1991) und nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Dezember 1991 entstanden praktisch keine politischen Gruppierungen, die die Bezeichnung „Partei“ im westlichen Sinn verdienen. Nach der jahrzehntelangen Herrschaft der Kommunistischen Partei hält sich das Mißtrauen gegenüber allen Organisationen, die sich „Partei“ nannten, ganz gleich, welche politischen Ziele sie verfolgten. Ein weiterer Grund liegt in der Lebenssituation der Wähler, die so sehr mit den Problemen des physischen Überlebens beschäftigt waren, daß der Mehrheit der Bevölkerung keine Zeit für politisches Engagement blieb. Dazu kam die frustrierende Erfahrung, durch Beteiligung an der Politik kaum etwas ändern zu können und ein fehlendes Verständnis für das Funktionieren der Demokratie. Im Verlauf der letzten Legislaturperiode setzte sich ein Bild von den Regierenden fest, das allgemein mit „Kleptokratie“ umschrieben wird. Das ist nicht verwunderlich angesichts einer von Schlammschlachten dominierten Berichterstattung, die den General-verdacht festigte, daß die neuen Herrschenden in Moskau -bis in die oberste Spitze -ihre in freien Wahlen gewonnenen Positionen lediglich als Instrument zur Bereicherung benutzen und sich kaum für die Interessen des Landes interessieren. Vor einem solchen Hintergrund können Parteien kaum die Öffentlichkeit mobilisieren. Das Vertrauen der Wähler, wenn es denn mobilisiert werden kann, gilt Einzelpersonen, die Parteien wiederum als Wahlplattform brauchen. Diese sind -abgesehen von der 1993 wieder zuge-13 lassenen „Kommunistischen Partei der Russischen Föderation“ (KPRF) -meist Kopfgeburten, die sich um eine Führungsfigur gebildet haben. Es fehlt die entsprechende soziale Basis, und es fehlen die programmatischen Unterschiede. Russische Parteien profilieren sich durch ihre Vorsitzenden; von ihnen hängt ihre Existenz letztlich ab. Meinungsverschiedenheiten in den Führungsgremien der ohnehin kleinen neuen Parteien führen immer wieder zu Abspaltungen und zur Bildung weiterer Splitterparteien. Nur wenn sich bei Parteigründungen viel Geld im Hintergrund befindet und wenn Organisationsstrukturen der zentralen und/oder der regionalen Administration zugunsten einer Partei eingesetzt werden, können diese Neugründungen zu landesweiten Strukturen führen, wie dies zwischen 1995 bis 1998 im Fall von „Unser Haus Rußland“ (UHR) unter dem damaligen Premier Viktor Tschernomyrdin der Fall war. An der Staatsdumawahl 1993 beteiligten sich noch 13 Parteien, zwei Jahre später schon 43. Derzeit sind beim russischen Justizministerium 139 politische Parteien/Bewegungen/Blöcke registriert. Obwohl an die Registrierung strenge Anforderungen gestellt werden, steht derzeit noch nicht endgültig fest, wieviele Listen an der Staatsdumawahl teilnehmen werden.
Da die Zusammensetzung der Regierung nicht von den politischen Mehrheitsverhältnissen in der Staatsduma abhängt (die Regierung wird vom Präsidenten gebildet und ist nur ihm rechenschaftspflichtig) und da es in Rußland verboten ist, gleichzeitig ein Mandat und eine Regierungsfunktion auszuüben, gibt es in Rußland nicht den in westlichen Demokratien bestehenden Dualismus zwischen Regierungspartei und Opposition. Analogien in diesem Sinne verbieten sich geradezu, denn, wie das Abstimmungsverhalten in der Staatsduma zeigt, ist „Opposition“ letztlich durch Kritik häufig wechselnder Gruppierungen an der Administration des Präsidenten, nicht aber durch feste Fraktionsgrenzen definiert.
Der Terminus „Partei“ selbst ist irreführend, denn es handelt sich unter russischen Verhältnissen eher um politische Bewegungen oder Blöcke, zu denen sich verschiedene kleine Gruppen und Bewegungen zusammengeschlossen haben, die aber auch für Einzelpersonen offenstehen. So ist das jelzin-kritische „Jabloko“ unter Grigorij Jawlinskij zweifellos eine Bewegung und keine Partei. Einige solcher Bewegungen haben auf der einen Seite wenige Mitglieder, auf der anderen Seite sind ihre Grenzen gegenüber anderen Gruppierungen fließend. Dies gilt auch für den neuen Block „Vaterland -Ganz Rußland“, der von Primakow und dem Moskauer Oberbürgermeister Jurij Lushkow angeführt wird. Eine Reihe kleinerer Gruppierungen, die ihr beigetreten waren, verlassen sie inzwischen schon wieder. Die meisten solcher Gruppierungen, die sich als Parteien definieren, sind nur in Moskau, vielleicht auch in zwei bis drei weiteren Großstädten vertreten. Um sich vom Justizministerium registrieren lassen zu können, müssen sie zwar eine gewisse landesweite Verbreitung nachweisen; hierfür genügt ein Büro und der Nachweis einiger weniger Mitglieder in der Hauptstadt des betreffenden Föderationssubjekts. Im Vorfeld der Staatsdumawahl 1999 entstehen aber auch in den Regionen neue politische Bewegungen, die sich dann mit bereits bestehenden auf der zentralen Ebene vereinigen, um dem Wahlgesetz Genüge zu tun, das für die Teilnahme an der Staatsdumawahl im Dezember den Nachweis einer mindestens ein Jahr zurückliegenden Registrierung verlangt. Diese neue Entwicklung spiegelt auch das zunehmende politische Gewicht der Regionen wider.
Es fehlt ein Gesetz, das die Tätigkeit der Parteien regelt, ihnen aber auch entsprechend ihrem Wahlerfolg bestimmte finanzielle Mittel vom Staat zukommen läßt, um wenigstens annährend faire Verhältnisse im Parteienstreit herzustellen. Der Wahlkampf ist teuer (für ein Mandat in der Staatsduma rechnet man mit Kosten von bis zu 200 000 US-Dollar). So ist nicht verwunderlich, wenn gesetzliche Vorschriften für die Parteienfinanzierung praktisch ignoriert werden. Die Mitgliederzahlen der Parteien, Bewegungen und Blöcke sind schwer nachvollziehbar; nicht selten dürfte es sich um Schätzungen, gelegentlich auch nur um Wunschvorstellungen handeln. Für die in der Staatsduma vertretenen Parteien und Bewegungen, die 1995 die Fünf-Prozent-Hürde überspringen konnten, werden folgende Mitgliederzahlen genannt: für die KPRF unter Gennadij Sjuganow 550 000, für „Unser Haus Rußland“ unter Viktor Tschernomyrdin 250 000 (nach dessen Entlassung als Premier wahrscheinlich deutlich weniger), für die „Liberal-Demokratische Partei Rußlands“ unter Wladimir Schirinowski) 200 000 und für „Jabloko“ unter Grigorij Jawlinskij 10-15 000 Mitglieder.
Erstaunlich ist die anhaltende, unter den obwaltenden Umständen relativ hohe Beteiligung des Wahlvolks an Wahlen und Referenden. Fraglich bleibt, wie der Gang zur Wahlurne zu werten ist -als Unterstützung eines bestimmten Parteiprogramms, einer Führungsfigur oder aber auch als Protestvotum gegen die Herrschenden. Nichts kann Parteien in ihrer Funktion der Artikulation und Bündelung unterschiedlicher politischen Interessen und der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat ersetzen. So ruht der in zentralen Verfassungsorganen erreichte Fortschritt auf einem unzureichenden Unterbau, was Risiken für die Statik und den dauerhaften Bestand des Transformationsgebäudes mit sich bringt. Bis auf weiteres hängt somit die Funktionsfähigkeit des unfertigen Staates in Rußland von der Verfügbarkeit integrer, kompetenter und kompromißfähiger politischer Persönlichkeiten ab.
IV. Ein halbherziger Föderalismus
Die Russische Föderation besteht aus 89 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Status: 21 Republiken, 6 Krajs (Regionen), 49 Gebieten (oblast’i), 2 Städten mit föderalem Rang (Moskau und St. Petersburg), dem Jüdischen Autonomen Gebiet und 10 Autonomen Bezirken (Art. 65 der Verfassung). Die Republiken wurden nach nichtrussischen Nationalitäten definiert, während die Gebiete und Krajs in den übrigen, mehrheitlich von Russen bewohnten Teilen des Landes nach rein administrativen Gesichtspunkten gebildet wurden. Die Krajs sind territoriale Einheiten meist in den Grenzgebieten Rußlands. Territorien, in denen kleinere nicht-russische Minderheiten leben, erhielten den -verglichen mit einer Republik -niedrigeren Rang eines Autonomen Bezirks. Diese komplizierte administrative Gliederung wie auch die Grenzen zwischen den Föderationssubjekten stammen im wesentlichen aus der Sowjetzeit.
Obwohl die Verfassung in Art. 5. 1 die Gleichberechtigung aller Föderationssubjekte deklariert, sind sie nicht wirklich gleichberechtigt, denn in der Rangfolge stehen die Republiken höher als die übrigen Föderationssubjekte (die Republiken haben nach Art. 5. 2 und Art. 66 eine eigene Verfassung, die übrigen Föderationssubjekte nur ein Statut). Aufgrund ihres staatlichen Charakters besitzen die Republiken eine eigene Verfassung, während die übrigen Föderationssubjekte nur staatsähnliche Gebilde sind und deshalb ein Statut haben *Die Republiken werden von einem Präsi denten geführt, die übrigen Föderationssubjekte von einem Leiter der Administration, der sich gern als Gouverneur bezeichnen läßt. Die Republiken verfügen über eine eigene Staatsbürgerschaft, die übrigen Föderationssubjekte nicht. Ferner haben die Republiken das Recht auf eine eigene Staatssprache, die in den Organen der Staatsgewalt, den Organen der örtlichen Selbstverwaltung und in den staatlichen Einrichtungen der Republiken neben der russischen Sprache verwendet wird (Art. 68. 2. 3 der Verfassung). Den übrigen Föderationssubjekten steht dies nicht zu, weil sie nicht unter Nationalitätengesichtspunkten entstanden sind. Die Gebiete haben zudem im Rahmen ihres Statuts einen begrenzteren Regulierungsraum als die Republiken.
Ein weiterer Widerspruch zwischen der Garantie der Gleichberechtigung in der Verfassung und der Verfassungsrealität betrifft die Autonomen Bezirke. Auf der einen Seite sind sie gleichberechtigte Föderationssubjekte, auf der anderen Seite aber (aufgrund ihrer geographischen Lage innerhalb eines Krajs) der Kraj-Verwaltung untergeordnet. Von den zehn Autonomen Bezirken befinden sich neun innerhalb des Territoriums eines Gebiets oder Krajs (lediglich der Autonome Bezirk der Tschukschen gehört unmittelbar als Föderationssubjekt der Russischen Föderation an). Um diese Widersprüche zwischen der von der Verfassung verlangten Gleichberechtigung aller Föderationssubjekte und dem unterschiedlichen Status der Republiken und Gebiete aufzulösen, ist beabsichtigt, den rechtlichen Status der Gebiete auf das Niveau der Republiken anzuheben.
Es ist der mangelnden politischen und administrativen Kontrolle zuzuschreiben, daß in den vergangenen Jahren in 19 von 20 Republikverfassungen Bestimmungen aufgenommen wurden, die im Widerspruch zur föderalen Verfassung stehen (so in den Verfassungen der Republiken Tatarstan, Baschkortostan, Sacha (Jakutien), Tuwa (21. Oktober 1993) und Inguschetien. Diese Bestimmungen gestehen dem föderalen Zentrum Kompetenzen nur auf Vertragsbasis zu, so daß ein solcher Vertrag vor der föderalen Verfassung Rußlands Vorrang hat So stimmt nach Aussage des Beraters des Premierministers in Rechtsfragen, Sergej Schachraj, in der Verfassung der Republik Tatarstan nur der Artikel über die Staatsbürgerschaft mit der föderalen Verfassung überein. Acht Republiken zählen die Festlegung der Vorschriften zur
Verhängung des Ausnahmezustands zu ihrer Zuständigkeit. Die Republik Tuwa beschließt sogar über Krieg und Frieden, behält sich ein Vetorecht gegenüber der Ernennung führender Militärs in der Republik durch Moskau vor und ernennt eigene Staatsanwälte und Richter. Auch unterhalb der Verfassungsebene gibt es eine Fülle von Gesetzen, die im Widerspruch zur föderalen Verfassung stehen; ihre Zahl wird im russischen Justizministerium auf mehrere Tausend geschätzt. Dieser Wildwuchs wird bislang von Moskau toleriert. 1994 ging Moskau dazu über, mit abspaltungswilligen Republiken Verträge über die Abgrenzung ihrer Kompetenzen gegenüber den Vollmachten der Zentrale zu schließen. Später wurden den Republiken und Gebieten höchst unterschiedliche Zugeständnisse gemacht (veröffentlicht sind bisher 37 Kompetenzabgrenzungsverträge *zwischen der Zentrale auf der einen Seite und neun Republiken sowie 28 Gebieten auf der anderen). Ausgehend vom ersten Vertrag mit Tatarstan, der eine Art Mustervertrag wurde, werden den Republiken unterschiedliche, aber politisch bedeutsame Zugeständnisse Moskaus gemacht: Anerkennung und Schutz der Souveränität der Republik (Tatarstan, Baschkortostan), Recht auf Unterhaltung internationaler Beziehungen (Tatarstan, Baschkortostan, Nord-Ossetien-Alanija, Sacha [Jakutien], Republik Komi, Tschuwaschien), Nutzungsrecht an den eigenen Bodenschätzen (Tatarstan, Kabardino-Balkarien, Baschkortostan, Nord-Ossetien-Alanija), Recht auf einen eigenen Haushalt (Tatarstan, Kabardino-Balkarien, Baschkortostan, Nord-Ossetien-Alanija, Sacha [Jakutien], Republik Komi), eigenes Steuererhebungsrecht (Tatarstan, Kabardino-Balkarien, Nord-Ossetien-Alanija, Tschuwaschien), Errichtung einer Nationalbank (Tatarstan, Kabardino-Balkarien, Baschkortostan, Nord-Ossetien-Alanija), und eigene Außenwirtschaftstätigkeit (Tatarstan, Kabardino-Balkarien, Baschkortostan, Nord-Ossetien-Alanija, Sacha [Jakutien], Republik Komi, Tschuwaschien). Hinsichtlich des von Moskau gewährten politischen und wirtschaftlichen Selbständigkeitsgrads der Republiken ergibt sich folgende Rangfolge: 1. Tatarstan, 2. Baschkortostan, 3. Nord-Ossetien-Alanija, 4. Kabardino-Balkarien, 5. Sacha (Jakutien), Republik Komi und Tschuwaschien, 6. Burjaten und Udmurtien. Allen Gebieten (außer Kaliningrad, Orenburg und Krasnodar) wurden in Kompetenzabgrenzungsverträgen Haushaltsrecht, Erhebung eigener Steuern und Unterhaltung internationaler sowie außen-wirtschaftlicher Beziehungen zugestanden. Swerdlowsk erhielt als einziges Gebiet das Recht, eine Gebietsbank zu errichten. Nach diesem Katalog ergibt sich folgende Rangfolge der Gebiete hinsichtlich ihres politischen und wirtschaftlichen Selbständigkeitsgrads: 1. Swerdlowsk, 2. Gebiet Leningrad, Stadt St. Petersburg, Nishnij Nowgorod, Rostow, Omsk, Chabarowsk, Twer, Sachalin, Irkutsk mit dem Autonomen Bezirk der Ust-Ordyner Burjaten, Perm mit dem Autonomen Bezirk der Komi-Permjakeji, Altajsk, Samara, Brjansk, Magadan, Tscheljabinsk, Wologda, Saratow, Uljanowsk, Astrachan, Jaroslawl, Murmansk und die Stadt Moskau, 3. Kaliningrad, Orenburg und Krasnodar. Bei den Gebieten scheint das Haushalts-und Steuerrecht sowie das Recht zur selbständigen Teilnahme an internationalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen zum Standard der Moskauer Zugeständnisse geworden zu sein, oft mit identischen Formulierungen und in der erkennbaren Absicht, die unterschiedliche Behandlung der Föderationssubjekte aufzugeben.
Im Januar 1999 erklärte der damalige Premierminister Jewgenij Primakow, 89 Föderationssubjekte seien zuviel, der Akzent sei nicht mehr auf die administrative Stärkung der Regionen zu legen, sondern auf die Entwicklung der horizontalen wirtschaftlichen Integration; die Bedeutung der acht Interregionalen Wirtschaftsassoziationen (IWA) könne nicht überschätzt werden Diese waren zwischen 1991 und 1994 spontan aus wirtschaftlichen Gründen durch freiwilligen Zusammenschluß verschiedener Republiken und Gebiete entstanden und umfassen -bis auf Tschetschenien -ganz Rußland. Die Interessen ihrer Mitglieder erstrecken sich allerdings auch auf politische Fragen. Andererseits wird in Moskau die Möglichkeit diskutiert, die 89 Föderationssubjekte auf acht zu reduzieren, die dann mit den acht IWAs übereinstimmen könnten. Die Bildung einer Republik Ural aus den Gebieten Swerdlowsk, Tjumen, Orenburg, Kurgan, Tscheljabinsk und Perm scheiterte bereits im Frühjahr 1993 am Veto des Präsidenten, obwohl sich 83 Prozent der Bevölkerung in einem Referendum dafür ausgesprochen hatten. Diese Republik wäre nicht nur der erste freiwillige Zusammenschluß von Föderationssubjekten gewesen, sondern zugleich die erste russische Republik in der Russischen Föderation.
Während bisher nur die Wahl der Präsidenten der nach nicht-russischen Minderheiten definierten 21 Republiken zulässig war, verzichtete Präsident Jelzin 1996 auf sein Vorrecht der Ernennung der Leiter der Administrationen in den 49 Gebieten, in zwei Städten mit föderaler Bedeutung und den Autonomen Bezirken, wo jetzt gewählt werden darf. Damit sind die Mitglieder des 178köpfigen Föderationsrats, der aus den Präsidenten bzw. Gouverneuren und den Vorsitzenden der regionalen Gesetzgebungskörperschaften gebildet wird, demokratisch legitimiert. Die Folge ist ein deutlich gestiegenes Selbstbewußtsein des Föderationsrats als Interessenvertretung der Föderationssubjekte auf zentraler Ebene. Dieser Aufwertung entsprach auch die Einbeziehung von acht den Ministern gleichgestellten Gouverneuren (zugleich IWA-Vorsitzenden) in die Regierungsarbeit des Kabinetts von Jewgenij Primakow als formelle Mitglieder des Präsidiums der Regierung -auch dies ein Ausdruck der weiter gewachsenen politischen Bedeutung der Regionen
Ein so riesiges Land wie Rußland kann nicht zentral regiert werden; die Interessen und Möglichkeiten der Föderationssubjekte sind zu verschieden. Vor allem wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten hat die Frage des Verhältnisses der Föderationssubjekte zum Zentrum an Bedeutung zugenommen und viele Diskussionen ausgelöst. Nicht zuletzt die Finanzkrise vom August 1998 mit ihren verheerenden Auswirkungen auf den Föderationshaushalt verlieh den Regionen zusätzliches politisches Gewicht. Von den verbliebenen umgerechnet rund 24 Mrd. US-Dollar des Föderalhaushalts bleibt nicht mehr viel zur Verteilung an die 89 Föderationssubjekte. Im Ergebnis verselbständigen sich die Regionen immer mehr. Die Preise für Lebensmittel stiegen regional in unterschiedlichem Maß. Manche Gouverneure kontrollierten die Lebensmittelpreise in ihren Gebieten und verboten bzw. kontrollierten die Ausfuhr von wichtigen Nahrungsmitteln aus ihrem Gebiet In manchen Regionen wurden Pläne zur Einführung von Ersatzgeld vorgelegt. Der Gouverneur von Krasnojarsk, Aleksandr Lebed, ging sogar so weit, in seinem Kraj -ohne Zustimmung der Zentralregierung -den wirtschaftlichen Ausnahmezustand aus-zurufen Diese Maßnahmen entsprachen der Bewußtseinslage der Mehrheit der Bevölkerung, deren Loyalität zuerst der Region und erst an zweiter Stelle dem Land gehört. Laut einer noch vor der Rubel-krise im Sommer 1998 durchgeführten Meinungsumfrage hielten sich 35 Prozent der Menschen zuerst für Bürger ihres Föderationssubjekts und nur 29 Prozent zuerst für Bürger der Russischen Föderation „Das Vertrauen der Menschen zu ihrem Gouverneur bzw. Republik-Präsidenten war zwei-bis dreimal größer als zu irgendeiner gesamtstaatlichen Führungsfigur (49 gegenüber 10-12 Prozent); 65 Prozent der Verantwortlichen (gegen 19 Prozent) traten dafür ein, dem Chef der Regionaladministration das Recht einzuräumen, Entscheidungen des Zentrums anzuhalten, wenn sie den regionalen Interessen zuwiderlaufen. Allerdings erklärten nur 15 Prozent der Befragten, sie würden bei einem Referendum für den Austritt ihrer Region aus der Russischen Föderation votieren
Nur zehn Föderationssubjekte -angeführt von Moskau -sind Geberregionen, d. h. sie zahlen mehr in das föderale Budget ein als sie erhalten. Die Gewinnsteuern, die ein Drittel der föderalen Steuereinnahmen ausmachen, werden zu zwei Dritteln von nur drei juristischen Personen aufgebracht: Der Energiekonzern GASPROM zahlt 30 Prozent, die anderen 30 Prozent entfallen auf die beiden Autonomen Bezirke der Chanten und Mansen sowie der Nenzen. Ein großes Problem ist die Zurückhaltung von Steuereinnahmen durch die Föderationssubjekte. So legten 1992 zwanzig Föderationssubjekte einseitig die Höhe ihrer Steuerabführungen an die Zentrale fest, 1993 waren es schon dreißig. Bis heute erhält Moskau jedenfalls nur noch einen Teil der ihm zustehenden Steuereinnahmen
Andererseits verfügen die Föderationssubjekte über außerbudgetäre Fonds (nicht ausgegebene Mitteln für regionale Wirtschafts-und Sozialprogramme, freiwillige Spenden, Einnahmen aus lokalen Krediten, lokalen Lotterien und Auktionen etc.), die seit 1991 stark angewachsen sind und die sie nicht mit dem Zentrum teilen müssen. Indem sie regionale Einnahmen verstecken, erwecken die Föderationssubjekte den Eindruck der Bedürftigkeit, um zusätzliche finanzielle Unter-Stützung aus dem föderalen Zentrum zu erreichen. Das Verhältnis zwischen Geber-und Nehmerregionen verschlechterte sich von 25 : 64 im Jahr 1994 auf 10: 79 im Jahr 1997 Die Föderationssubjekte begründen ihre Weigerung, die Einnahmen korrekt weiterzuleiten, mit ihrer Vernachlässigung durch Moskau. Andererseits verspricht Moskau bestimmten Regionen Sonderzahlungen; 1996 Unterzeichnete Jelzin 25 derartige Erlasse, tatsächlich erhielten 61 Regionen dann aber weniger als 40 Prozent der zugesagten Mittel, sechs sogar weniger als 15 Prozent. So ist es nicht verwunderlich, wenn 1996 nur vier der 89 Föderationssubjekte ihre Steuern in vollem Umfang an Moskau abführten.
Von einem funktionsfähigen Fiskalföderalismus (Übereinstimmung von Einnahmen und Ausgaben, festgelegter Aufteilung der Steuereinnahmen, einem adäquaten Ausgleich der Einnahmen zwischen den Regionen sowie Finanzierung nationaler Programme in strukturschwachen Gebieten) kann jedenfalls keine Rede sein Allerdings gibt es neben dem vertikalen Finanzausgleich zwischen Moskau und den Föderationssubjekten ein internes, in den Einzelheiten unbekanntes System der horizontalen Umverteilung zwischen den IWAs.
Die Regionen Rußlands können heute in einem Maße international agieren wie niemals zuvor. Einzige institutioneile Interessenvertretung der Föderationssubjekte auf zentraler Ebene ist der Föderationsrat, dem die Präsidenten bzw. Gouverneure und die Vorsitzenden der Volksvertretungen der 89 Föderationssubjekte vi muneris angehören. Er hat über alle außen-und sicherheitspolitisch relevanten Fragen abzustimmen, wenn sie in die Form eines Gesetzes gekleidet sind. Die entsprechenden Vorlagen werden in den Komitees für internationale Angelegenheiten, für GUS-Angelegenheiten sowie für Sicherheits-und Verteidigungsfragen beraten und mit Abstimmungsempfehlungen versehen. Die Entscheidung über die Behandlung des Gesetzes im Plenum trifft der Vorsitzende des Föderationsrats. Ferner ernennt bzw. entläßt der Präsident die diplomatischen Vertreter im Ausland nicht ohne vorherige Konsultationen mit den Ausschüssen oder Kommissionen des Föderationsrats, der zusammen mit der Staatsduma die Föderalversammlung bildet. Nach der Verfassung fallen Außenpolitik, Außen-wirtschaftsbeziehungen, Verteidigung und Sicherheit in die alleinige Zuständigkeit des Zentrums. Über die Rolle der Föderationssubjekte in diesen Bereichen enthält sie nur eine Verpflichtung zur Koordination in allen Fragen der internationalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen der Föderationssubjekte und der Erfüllung der internationalen Verträge (Art. 72, lit. O). In Kompetenzabgrenzungsverträgen räumte Moskau zusätzlich einigen Republiken, fast allen Gebieten (außer Kaliningrad und Orenburg) sowie der Region Krasnodar das Recht ein, internationale und außenwirtschaftliche Beziehungen zu unterhalten.
In der Praxis agieren die einzelnen Föderationssubjekte außenpolitisch und außenwirtschaftlich sehr unterschiedlich. Ihre Aktivitäten reichen von Auslandsreisen bis zu Regierungsabkommen mit Drittstaaten Es stört manche Föderationssubjekte auch nicht, wenn sie in Verfolgung eigener außenpolitischer Interessen gelegentlich die Aussenpolitik Moskaus konterkarieren: So forderte 1994 der Gouverneur von Primorje, Jewgenij Nasdratenko, die Annullierung der von Rußland mit China getroffenen Vereinbarung über die Demarkation des Ostabschnitts der russisch-chinesischen Grenze von 1991. Der Gouverneur kritisierte, daß infolge der Vereinbarung Gebiete von großer wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung an China abgetreten worden seien Jelzin kündigte die Vereinbarung mit China natürlich nicht, sondern versuchte (bisher immer noch vergeblich), den Gouverneur abzusetzen.
Eine Ausnahme bildet ohnehin die Republik Tschetschenien, die ihre außenpolitischen Kontakte forciert. Deren Außenminister Udugow kündigte Ende Juni 1998 an, daß Tschetschenien einen Antrag auf Aufnahme in die UNO stellen werde, und daß man Verhandlungen mit mehr als zehn Staaten über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen führe. Diese Verhandlungen hätten auch längst positive Ergebnisse gebracht, wenn das rus-sische Außenministerium keinen so aktiven Widerstand organisiert hätte Der tschetschenische Präsident Aslan Maschadow erklärte im August 1998 in einem Interview, Tschetschenien werde seine Beziehungen zur Außenwelt mit Rußland absprechen, es sei auch bereit, mit Rußland einen gemeinsamen Wirtschafts-und Verteidigungsraum zu bilden. Doch zugleich bezeichnete er es als wichtigstes Ziel seines Landes, selbst Völkerrechtssubjekt zu werden Solche Tendenzen nutzt der weißrussische Präsident Aleksandr Lukashenko, indem er direkte bilaterale Beziehungen zu den Gouverneuren russischer Regionen ausbaut, die in Opposition zu Jelzin stehen (so besuchte er 1999 den Kraj Primorje, die Gebiete Murmansk, Kemerowo und Omsk sowie die Republik Udmurtien) Zum Unwillen Moskaus Unterzeichneten 55 Regionen bilaterale Abkommen mit Weißrußland. Daß solche, vorher nicht mit dem Außenministerium koordinierten Kontakte in Moskau nicht gerade Begeisterung auslösen, ist verständlich (der Kreml ordnet sie als separatistische Bestrebungen ein). Um die gelegentlich chaotische Entwicklung zu bremsen, wurde 1995 im russischen Außenministerium ein Statut für die Vertretungen der Föderationssubjekte im Ausland ausgearbeitet und 1996 eine Abteilung für Verbindungen zu den Föderationssubjekten, zum Parlament und zu den nicht-staatlichen politischen Organisationen eingerichtet Am 4. Januar 1999 trat ein Gesetz „Über die Koordinierung der internationalen und außen-wirtschaftlichen Beziehungen der Subjekte der Russischen Föderation“ in Kraft Darin werden die Koordinierung der internationalen und außen-wirtschaftlichen Beziehungen und die Garantien zur Wahrung der Rechte und gesetzlichen Interessen der Föderationssubjekte bei der Aufnahme und Entwicklung internationaler und außenwirtschaftlicher Beziehungen geregelt. Art. 5 des Gesetzes bestimmt, daß die von den Föderationssubjekten geschlossenen Abkommen keinen völkerrechtlichen Charakter haben, Art. 10 erlaubt den Föderationssubjekten andererseits, in Absprache mit dem Außenministerium eigene Auslandsvertretungen und eine Vertretung des betreffenden ausländischen Staates zu eröffnen, allerdings ohne diplomatischen Status.
Es stellt sich die Frage, ob nicht eines Tages die Disparitäten zwischen den Föderationssubjekten so groß und deren Eigeninteressen so dominant werden, daß sie von Moskau nicht mehr beherrscht werden können. Faßt man die drei Risikofaktoren Geopolitik, Nationalität und Wirtschaft zu einer Resultante zusammen, so ergeben sich drei Desintegrationsregionen: der Nord-Kaukasus mit dem Kern Tschetschenien, die Föderationssubjekte an der Wolga und im Ural mit dem De-facto-Führer Tatarstan sowie die Föderationssubjekte im südlichen Sibirien mit der Anführerschaft der Republik Tuwa Mittelfristig ist mit einem Ausscheiden Tschetscheniens sowie der von Moskau aus kaum noch zu kontrollierenden übrigen kaukasischen Republiken Adygeja, Inguschetien, Dagestan, Kabardino-Balkarien sowie Karatschaisch-Tscherkessien zu rechnen
Die Sprengsätze der angespannten sozioökonomischen Situation, der Finanzkrise und der in den Regionen vorhandenen ökologischen und militärischen Gefährdungspotentiale können sich gegenseitig derart verstärken, daß ein Zerfall der Russischen Föderation in mehrere Teile nicht mehr völlig ausgeschlossen werden kann. Warnungen vor Nationalismus und Chauvinismus und die Förderung der Einheit und Integrität des Landes gehören denn auch zu den zentralen Programmpunkten der führenden Kandidaten für die Nachfolge Jelzins. Die unübersehbaren Auflösungstendenzen werden nur dann aufzufangen sein, wenn es Moskau gelingt, den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des Landes zu stoppen und einen von allen Seiten akzeptierten Föderalismus aufzubauen -wenn nötig mit konföderativen Elementen.
V. Internationale Aspekte
Die Aussichten auf eine politisch notwendige Atempause im Moskauer Krisenmanagement sind nicht gut. Keine noch so dezidiert reform-orientierte Führung im Kreml verfügt über die wirtschaftlichen und politischen Ressourcen, um die beschriebenen Strukturprobleme in einem Anlauf zu bewältigen. Nach Jahren des Durchwursteins können selbst technokratisch optimale Entscheidungen die durch politische Unterlassungen, Fehler und Abbrüche, aber auch kriminelle Machenschaften kumulierten Defizite der letzten Jahre kurzfristig nicht wettmachen. Die gesellschaftpolitischen Spannungen zwischen einer hauchdünnen Schicht von Reichen und einer großen Masse, die von Subsistenzwirtschaft lebt, haben ein bedrohliches Ausmaß erreicht. Die davon ausgehende politische Polarisierung reduziert das Wählerpotential reformorientierter Kräfte. Damit zeichnet sich in den 1999 und 2000 anstehenden Wahlen die Bestätigung einer nationalistischen Grundströmung der letzten Jahre und eine skeptische Haltung gegenüber dem Westen ab. Eine Umorientierung der russischen Politik auf nach außen protektionistische, im Innern autoritäre Konzeptionen kann nicht mehr ausgeschlossen werden
Weit über die aktuelle Krisensituation hinaus ist weniger von traditionell-kommunistischen Mehrheiten in der Staatsduma zu befürchten (sie können nahezu vernachlässigt werden), als von den nach wie vor bestehenden Strukturdefiziten des russischen Staates und vom Opportunismus in der außenpolitischen Orientierung der Moskauer Eliten. Das Kernproblem besteht darin, daß mehr als nur ein „guter Zar“ gefordert ist. Die unerläßliche politische Atempause im Krisenmanagement und das von Grund auf neu zu gewinnende Vertrauenskapital sind heute nur von einer charismatischen Führungspersönlichkeit zu schaffen. Ihr wird aber zugleich ein ungewöhnlich hohes Maß an Macht-vergessenheit abverlangt, wenn sie auf wesentliche Teile ihrer Machtbefugnisse verzichten soll, wie dies die oben zitierten Vorschläge zur Verfassungsrevision vorsehen.
Offen ist andererseits, ob die nächste Staatsduma im Zusammenwirken mit dem Föderationsrat die Kraft zum Konsens und die notwendige Selbstdis-ziplin beim Schließen gesetzgeberischer Lücken im russischen Staatsgebäude finden wird. Die Gefahr, daß die russische Politik für die Lösung dieser Aufgabe den Umweg über eine nationalistisch/autoritäre Mobilisierung einschlägt, ist groß. Die im Gefolge von Währungsproblemen und Kosovokrise aufgekommenen Parolen mögen wahlkampfbedingte Überspitzungen sein; die Gefahr ist jedoch nicht zu übersehen, daß sie eine Eigendynamik gewinnen, die über die tagespolitische Opportunität hinausreicht.
Die Einsicht, daß Rußland auf absehbare Zeit auf den Status einer ökonomischen Mittelmacht absinken und damit auch weltpolitisch nur eine erheblich reduzierte Rolle spielen kann, fällt den Eliten aller politischen Richtungen schwer. Die Versuchung ist groß, die verbliebenen Instrumente der Nuklearwaffen und des Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für eine Außenpolitik des Spielverderbers und der kreditpolitischen Erpressung einzusetzen. Die Konsequenzen möglich gewordener innenpolitischer Entwicklungen sind schwer absehbar. So können beispielsweise die Föderationssubjekte versuchen, auch im Bereich der Sicherheitspolitik eigenes Profil zu gewinnen. Die spektakulärste Erklärung in dieser Richtung kam hier im Juli 1998 vom Gouverneur der Region Krasnojarsk, Generalleutnant a. D. Aleksandr Lebed, der in einem offenen Brief an den damaligen Regierungschef Sergej Kirijenko anbot, einer in seinem Gebiet stationierten und mit Raketen ausgerüsteten Division den seit Monaten ausstehenden und auch den zukünftigen Sold zu zahlen -unter der Bedingung, daß diese Streitkräfte der Region unterstellt werden Selbst wenn dieser Vorschlag nur Spielmaterial im innenpolitischen Machtkampf gewesen sein sollte, so formulierte er doch zielgenau den schlimmsten sicherheitspolitischen Alptraum: die Zersplitterung der russischen Armee und den Zerfall der einheitlichen Kommandostruktur in der Verfügung über Nuklearwaffen. Aber auch die Verfestigung krimineller Strukturen mit direktem Zugriff auf die Staatsführung (nur unzureichend mit „Mafiastaat“ beschrieben) kann angesichts der jüngsten Entwickung im Zusammenhang mit Moskauer Korruptionsskandalen nicht a priori ausgeschlossen werden.
Damit reduzieren sich die Optionen westlicher Politik gegenüber Rußland, und der politische Preis der Kooperation dürfte sich in jedem Fall erhöhen. Neben der Pflicht zur Schadensbegrenzung durch ständige Aktivierung der bestehenden Vereinbarungen auf allen Feldern (von der militärischen Verifikation über die Nutzung projektgebundener Kredite bis zur kulturellen Zusammenarbeit) steht die Notwendigkeit, den bisher gewährten Vertrauensvorschuß an die demokratische und rechtsstaatliche Orientierung der politischen Eliten Moskaus laufend zu überprüfen und Zumutungen zurückzuweisen. Die Möglichkeiten zur Beeinflussung der politischen Entwicklungen in Rußland selbst sind grundsätzlich mit erhöhter Skepsis zu betrachten. Unter diesen Voraussetzungen kommt es darauf an, den Kontakt mit all jenen Kräften zu verstärken, die trotz grundsätzlich kritischer Einstellung zum Westen die Bereitschaft erkennen lassen, Illusionen über die Wiederherstellbarkeit russischer Großmacht aufzugeben. Nur beiderseitiger Pragmatismus kann die Reibungsverluste und Frustrationen begrenzen, die angesichts absehbarer Turbulenzen in der russischen Innenpolitik nicht zu vermeiden sein werden.
Eberhard Schneider, Dr. phil., geh. 1941; wiss. Oberrat im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln; Privatdozent an der Universität-Gesamthochschule Siegen; Akkreditierung als Korrespondent in Moskau. Veröffentlichungen u. a.: Das politische System der Russischen Föderation. Eine Einführung, Opladen-Wiesbaden 1999; Rußland auf Demokratiekurs? Neue Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften in Rußland, der Ukraine und Weißrußland, Köln 1993. Heinrich Vogel, Dr. oec. publ, geb. 1937; Direktor des Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und Professor an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Rußlands Rolle im Rahmen der Bemühungen um Sicherheit in Europa, in: Erich Reiter/Gerald Schöpfer (Hrsg.), Wirtschaft und Sicherheitspolitik. Forschungen zur Sicherheitspolitik (Wien), (1999) 4; (Hrsg. zus. mit O. Alexandrova und G. Godel), Rußlands Perspektiven -Kritische Faktoren und mögliche Entwicklungen bis 2010, in: Berichte des BlOst, (1999) 25; Rußland steckt in einem Rückstau ungelöster Probleme, in: FAZ vom 29. 7. 1999.
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