I.
www -world wide web: Als Abbreviatur für die vernetzte Welt am Ende dieses Jahrhunderts bzw. Jahrtausends faszinieren die drei stabreimenden Worte die Menschen der Industriegesellschaften; sie charakterisieren ein Paradies der Informations-und Kommunikationsmöglichkeiten, das der grundmenschlichen, geradezu archetypischen Neugier ungeahnte Möglichkeiten erschließt.
Was diese Neugier betrifft, so erscheint sie zentral in der Mythengeschichte des christlichen Abendlandes. Im Gegensatz zur Antike wurde sie zunächst pejorativ beurteilt, wie die Geschichte mit dem Paradies-Apfel zeigt; ist er doch ein „böser Apfel“. Die theokratische Exegese der Genesis diskriminiert dabei im besonderen die neugierige Frau, obwohl sie durch ihre curiositas eigentlich die kulturelle Entwicklung initiiert. Die „Erbsünde“ betrifft zwar beide Geschlechter, doch wird das Wissenwollen des Mannes grundsätzlich positiver beurteilt als das der Frau. Mit der Renaissance freilich wird Neugier zunehmend zu einer positiven, den Prozeß der Zivilisation beflügelnden Qualität.
Ein Exkurs in die mythische wie historische Vergangenheit zeigt, daß heutige Oberflächenphänomene wie Vernetzungseuphorie, Beschleunigungssucht und „Unersättlichkeit“ von Forschung in tief liegenden, weit zurückreichenden Bewußtseinszuständen fundiert sind, deren Betrachtung aktuell ergiebig ist. Zukunft braucht Herkunft.
Der Apfel, auf den sich die Genesis (die Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Moses), also der jüdisch-christliche Mythos bezieht, symbolisiert nicht die Schönheit des Paradieses; er ist vielmehr Anlaß der Vertreibung aus dem Garten Eden. Dafür kann er -als Frucht der Erbsünde stigmatisiert und dann wichtige Ikone der abendländischen Kunst und Literatur -freilich selber nichts. Wir hören zwar, daß Gott seinen Garten mit allerlei Bäumen ausstattete, „lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“; aber von einem Apfelbaum erfahren wir nichts. Der Erzähler, der wohl in der israelischen Königszeit zwischen dem 10. und 7. Jahrhundert vor Christus lebte, verzichtet auf eine botanische Spezifikation. In der Vulgata („Die Verbreitete“), der für die römisch-katholische Kirche maßgebenden lateinischen Übersetzung der Bibel -einer Bearbeitung altlateinischer Fassungen durch den Kirchenlehrer Hieronymus (347420) -sprach die Schlange zum Weib, ihr mit der Frucht suggerierend, daß sie Gott ähnlich werden könne: „scientes bonum et malum -wissend das Gute und das Böse“. „Malum“ heißt lat. „Apfel“; „malus“ (Akkusativ „malum“) böse. Durch Verwechslung oder Manipulation erhielt ein Abstraktum, das Böse, in Form des Apfels eine sinnliche Gestalt; so entstand der „böse Apfel“.
Der von der Schlange angebotene „böse Apfel“ -die Möglichkeit, wie Gott zu sein: „wissend das Gute und das Böse“ -wird vom Weib ergriffen, da es die Augen aufgetan und begriffen hat, „daß von dem Baum gut zu essen wäre und daß er lieblich anzusehen und ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte“. Für aufgeklärte Kultur, die den Mythos „gegen den Strich“ liest, handelt es sich jedoch um einen „guten Apfel“. Denn indem das Weib von ihm ißt und ihn an den Mann weiterreicht, beginnt der Prozeß der Kultur bzw., um mit Norbert Elias zu sprechen, der Prozeß der Zivilisation, der im Erkenntnisgewinn und Erkenntnisfortschritt liegt. Da das Weib klug werden und vor allem wissen will, was gut und was böse ist, wird sie zum Antrieb kultureller Entwicklung.
In der Renaissance beginnt ein „humanistisches“ Aufbegehren gegen den Sündenfall und die Erbsünde; die Passivität gegenüber dem Schicksal weicht und schlägt um in die Absicht, das irdische Jammertal umzugestalten, die Natur sich untertan zu machen; das handelnde Subjekt tritt als Creator und Homo faber dem strafenden Gott entgegen, will selbst Schöpfer und „Verfertiger“ sein. Eva hat, indem sie wie Gott wissen wollte, was gut und was böse ist, mit diesem Experimentum medietatis (dem Versuch, sich selbst an die Stelle Gottes in den Mittelpunkt der Welt zu rücken) begonnen. Kulturgeschichtlich gesehen, wird das christliche Sündhaftigkeitsbewußtsein vor allem des Mittelalters, mit Hiob als Leitfigur, nun revidiert und korrigiert.
In seiner Abhandlung „De dignitate hominis“ („Über die Würde des Menschen“), 1486, läßt der Humanist Giovanni Pico della Mirandola -ein von der offiziellen Lehre der Kirche abweichender „Ketzer“, der von Papst Innozenz VIII. verfolgt wurde und mit einunddreißig Jahren starb -Gott zu Adam sagen: „In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus leichter betrachten kannst, was in der Welt geschaffen ist. Weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich haben wir dich gemacht, damit du gleichsam mit eigenem Verständnis und zu eigener Ehre dein Schöpfer und Bildner seiest, in welcher Form immer du dich ausgestaltest. Du kannst zu den niedersten Geschöpfen der Tierwelt entarten. Du kannst dich aus eigenem Willensentschluß in die höheren, das heißt die göttlichen Regionen wiedergebären.“
Adam probt den Aufstand gegen Sünde, Beschwernis, Abhängigkeit, er begibt sich auf die Suche nach dem irdischen Paradies. Egon Friedeil hat in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ diese neue Perspektive -in der Malerei wird zum ersten Mal der Blick aus dem kirchlichen Innenraum in die Weite der Landschaft gerichtet -dahin gehend beschrieben, daß der Mensch, bisher in andächtiger Gebundenheit den Geheimnissen Gottes, der Ewigkeit und seiner eigenen Seele hingegeben, die Augen aufschlage und um sich sehe. Er blicke nicht mehr über sich, verloren in die heiligen Mysterien des Himmels; nicht mehr unter sich, erschauernd vor den feurigen Schrecknissen der Hölle; nicht mehr in sich, vergrübelt in die Schicksalsfragen seiner dunklen Herkunft und noch dunkleren Bestimmung -sondern geradeaus, die Erde umspannend und erkennend, daß sie sein Eigentum sei: „Die Erde gehört ihm, die Erde gefällt ihm; zum ersten Mal seit den seligen Tagen der Griechen.“
Ein neuer Adam steckt auch in Faust -in der „Historia von D. Johann Fausten“, die 1587 gedruckt erschien und zum Best-wie Longseller wurde (23 Auflagen bzw. Nachdrucke innerhalb von zwölf Jahren); dieser will „alle Gründ’ am Himmel und auf Erden“ erforschen. Solche „eitle“ Neu-Gier, von theologischer Seite als „vana curiositas“ denunziert (man sprach auch von „epikureischen Säuen“), bedeutete eine frevlerische, aber bald, was die Wissenschafts-und Technikgeschichte zeigt, erfolgreiche Nachahmung Gottes (imitatio dei).
II.
www -wir wollen wissen -erweist sich in philosophischer Dimension als Ausprägung des mythischen, archetypischen, seit dem Beginn der Neuzeit immer mehr durch die Wissenschaften verwirklichten und heute digital in Erscheinung tretenden menschlichen Informationsbedürfnisses bzw. -triebes. Aber auch technologisch liegt in der Renaissance die Wurzel des heutigen digitalen Bewußtseins: Die damals erfundene neue Druck-kunst, das Gutenberg-Zeitalter eröffnend, hatte einen genial einfachen, aber revolutionären Einfall zum Ausgangspunkt: die bewegliche Letter. Dies bedeutete die analytische Zerteilung von Ganzheit (Wortganzheit) und bot die Möglichkeit, die einzelnen, nun zur Verfügung stehenden „Bits“ (öasic indissoluble Information uni/s), d. h. Buchstaben, beliebig und auf „unendliche“ Weise zu kombinieren -in der Praxis freilich bestimmt durch die bestehende Semantik und Syntax.
Die heute bei Information und Kommunikation mögliche Reduktion der Zeichen auf ein digitales Alphabet von Zweierzahlen, also der Ersatz der qualitativen Vielfalt des ABCs durch binäre Quantität, deren „Anhäufung“ sich mit elektronischer Geschwindigkeit vollzieht, ändert nichts an der Tatsache, daß die zu Beginn der Neuzeit entwikkelte Druckkunst die Voraussetzungen für die heutige Chip-Revolution schuf. In seinem fundamentalen Werk über den Buchdruck der Neuzeit hat Michael Giesecke ausgeführt, daß damit eigentlich die Hard-und Software des Abendlandes bereitgestellt worden ist. Eine „Maschine“ und die ihr eigene „Kombinatorik“ -das „Truck-Werk“ -habe die Identität nahezu aller europäischen Kulturen und bald darüber hinaus auch diejenige weit entfernter Länder verändert -ein so unwahrscheinlicher Vorgang, daß er in der Menschheitsgeschichte nur wenige Parallelen finde
III.
www: Wehklagen weicht Wohlbefinden. Weitgehend verlorengegangen ist an der Schwelle des neuen Jahrtausends ein dem Aufbruch des Menschen zum Wissenwollen stets inhärentes, Hybris konterkarierendes „Unbehagen“: Angstlust, die sich auch immer wieder -gerade bei Jahrhundert-wenden -zu apokalyptischen Visionen steigerte. Zumindest sind in Erwartung des 21. Jahrhunderts kulturpessimistische Anwandlungen nicht Sache der Massen, die vielmehr an das „Anything-goes“ des Fortschritts glauben; Untergangsvorstellungen sind nur noch die Angelegenheit sektiererischen Wahns. Was einst „Apokalypse“ hieß, erscheint heute lediglich als Millennium-Bug (Programmierfehler) oder als Abkürzung Y 2K (Year two Kilo -Kilo als Abkürzung für Tausend). Weil in den sechziger Jahren bei den meisten elektronischen Rechnern aus Kosten-oder anderen Gründen der Platz für Jahresangaben auf die letzten zwei Stellen verkürzt wurde, besteht die Gefahr, daß viele dieser unser Leben mittlerweile auf unübersehbare Weise bestimmenden Apparate den Jahrtausend-Ziffersprung nicht nachvollziehen können. Das bewirkt die Angst, daß die Computer „verrückt spielen“ werden. Das Grundproblem sei, so Klaus Brunnstein, Leiter der Computervirenforschung an der Hamburger Universität, „daß wir eine Technik einsetzen, die so komplex geworden ist, daß selbst Experten sie nicht mehr beherrschen“ Wie groß das Chaos zu Beginn des Jahres 2000 sein wird -der mögliche Datumsfehler ist deshalb so prekär, weil er in vielen Computern der Welt gleichzeitig aufzutreten droht -, wird freilich unterschiedlich beurteilt.
IV.
www sollte mehr als bislang als „kulturbesorgte“ (kulturkritische) Mahnung verstanden werden: Mit Wachsamkeit ist der Wände zu wägen. „Wägen“ verweist auf die Möglichkeit, durch ausgleichende Gewichtung Gleichgewicht herzustellen und bedeutet im übertragenen Sinne „prüfendes Bedenken“. An einigen Beispielen soll versucht werden, die heute gegebene vernetzte Welt in ihrer Ambivalenz -also in ihrer Doppel-wertigkeit, auch Zwiespältigkeit, ja Zerrissenheit -prüfend zu bedenken, wobei Netzwerk nicht nur technisch, etwa als Internet, sondern weiterhin in einem Allgemeinsinne verstanden sei, nämlich die Welt als Webmuster mit Wechselwirkungen; die Welt als ein integrales System und nicht als ein unergründbares Chaos.
Am Ende dieses Jahrhunderts bzw. Jahrtausends ergibt sich dabei eine paradoxe Situation. Worte wie „Vernetzung“ und „Globalisierung“ haben eine große Karriere gemacht. Das Bewußtsein, daß alles zusammenhängt, ist außerordentlich stark ausgeprägt und wird in allen Bereichen vermittelt -und sei es auch nur durch die ständig in den Medien aktualisierten Börsenberichte. Die Shareholder-Gesellschaft glaubt nicht mehr an die Möglichkeiten wirtschaftlicher und monetärer Autarkie. Zugleich aber hat sich das Wahrnehmungsvermögen des Menschen für Zusammenhänge immer mehr zurückgebildet; Spezialisierung ist eine Selbstverständlichkeit und wird von fast allen bejaht. Das bedeutet, daß man von immer weniger immer mehr weiß (ironisch fortgeführt: bis man von nichts alles kennt). Wenn man statt dessen „Ganzheit“, also die Synthesis (auch Synergie) von Teilbereichen, erreichen will, müßte man mit Hilfe des „Projekts Aufklärung“ eine Gleichgewichtigkeit der verschiedenen Möglichkeiten, „vernünftig“ zu sein, hersteilen. Dominant ist seit dem Beginn der Neuzeit -vor allem seit dem 19. Jahrhundert -die analytische Vernunft, die der Vernetzung entgegensteht. Das wesentlichste Kennzeichen der Dialektik der Aufklärung, der Verkehrung von Aufklärung in ihr Gegenteil, ist die einseitige Vorherrschaft der zergliedernden Vernunft; als instrumentelle Vernunft ist sie zweckhaft ausgerichtet. Die Sinnfrage tritt zurück. Man kennt zum Beispiel von allem den Preis, aber nicht den Wert. Innerhalb von durch Funktionsteilung geschaffenen, immer kleineren Bereichen wird das Wissen maximiert. Das hat den Prozeß der Zivilisation ungemein beflügelt; aber die W-Fragen: Was tun wir warum? Mit welchem Sinn? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? werden zurückgedrängt bzw. gering erachtet. Schule und Universität zum Beispiel sind nicht durch einen Kosmos von Fächern bestimmt, sondern durch die Perfektionierung innerhalb des jeweiligen Bruchstücks. Ob Medizin oder Wirtschaft, Verwaltung oder Politik: die Aufteilung ohne Vernetzung bestimmt unser Denken und Tun. Man weiß zwar, daß bei Gesundheit wie Krankheit das Wechselspiel von Seele und Körper sehr wichtig ist; aber Psychosomatik als Prinzip wird im medizinischen Alltag zu wenig -und oft genug zu wenig kompetent -beachtet. Man könnte wissen, daß für Schülerinnen und Schüler, Studentinnen wie Studenten die Frage, warum man etwas tut, warum man etwas lernt, eine große Motivation darstellen würde; aber die Lektionen-Schule hat kaum Zeit, solche Reflexionen, die eigentlich philosophischer Natur sind, anzustellen. Betriebswirtschaftlich geht es darum, daß etwas sich rechnet, die Rendite sich möglichst schnell einstellt. Volkswirtschaftliche Kalkulation im weiteren Sinne wird in ihrer Bedeutung verkannt.
Das Defizit an vernetzender Bemühung spiegelt auch die heutige Beschleunigungskrise; sie besteht darin, daß das Motto „Immer schneller“ nur hinsichtlich der damit sich ergebenden Vorteile beurteilt wird; die dadurch entstehenden Schäden bleiben weitgehend unbeachtet. Erst im Stau -also reflexiv, nicht reflektierend -merken die Menschen die Problematik, wobei „Stau“ natürlich eine Metapher für den Beschleunigungsinfarkt insgesamt bedeutet. Überall drohe, so der Soziologe Ulrich Beck, eine allgemeine Verstopfung und Überflutung, beispielsweise auch in den Massenmedien, wo mit tausend Kanälen dem öffentlich-rechtlichen System das Ende bereitet und der Beliebigkeit Tor und Tür geöffnet werden soll. Die „Risikogesellschaft“ zu Ende dieses Jahrhunderts hat sich als Folge des Selbstlaufs folgenblinder, gefahrentauber Modernisierungsprozesse ergeben; ihre Konstellationen seien erzeugt worden, weil im Denken und Handeln der Menschen und der Institutionen die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft (der Fortschrittskonsens, die Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren, der Kontrolloptimismus) nach längerer Dominanz brüchig wurden
Beim Streit um „speed“ zeigt sich der Gegensatz zwischen unbedingten Fortschrittsanhängern und Skeptikern, die das Januskopfartige des Fortschritts bedenken, besonders ausgeprägt. Peter Glotz zum Beispiel stellt diejenigen, die Entschleunigung fordern, sogar unter Ideologieverdacht: Der neuen Unterschicht werde damit eine trügerische Rechtfertigungslehre an die Hand gegeben. Der Kern dieser Unterschicht bestünde nicht nur in den schon lange gedemütigten und nach unten gedrückten Obdachlosen oder Langzeitarbeitslosen, sondern auch im schwächeren Teil jener „Selbstangestellten“, die die Gewerkschaften immer noch polemisch als „Scheinselbstständige“ bezeichneten. „Es ist klar, was dieses untere Drittel der Gesellschaft braucht: Eine eigene Welt von Werten und Normen, die sich von denen der virtuellen Klasse und ihrer Zuarbeiter unterscheidet.“ Die virtuelle Klasse lebe schnell, sei mobil, flexibel und ubiquitär. „Ihr Symbol sind sozusagen die , Senatorkarten unterschiedlicher Luftfahrtgesellschaften, vielleicht auch gut gesicherte Wohnungen in den Sicherheitsghettos verschiedener Kontinente. Das Zauberwort, das die Lebensweise dieser virtuellen Klasse entlarven soll, heißt Entschleunigung.“ Die Entschleunigungstheorie sei ein aufgepäppeltes Stiefkind des Zeitgeistes; nicht ganz so erfolgreich wie das neoliberale Deregulierungs-Paradigma, aber doch umsichtig gefördert und geschickt inszeniert.
Bei nun zur schönen neuen Welt bekehrten, auf den Wogen von Modernität surfenden ehemaligen Linken hat, wer www-bedenklich bleibt, keinen guten Ruf; er wird als (Heideggerscher) Todtnauberg-Mensch eingestuft: tief, nachdenklich, natürlich, im Rhythmus der Natur lebend, seins-versessen. Wer sich gegen die Sucht nach Abwechslung: das „Kurzweilige“, die „Entgrenzung“, die „Geschwindigkeit“, das „Spiel mit virtuellen Weiten“, die „Zapping-Gesellschaft“ wendet, gilt als regressiv. Dem herrschenden Geschmack als Geschmack der herrschenden Beschleunigungsund Fortschritts-Ideologen (warum sollte es sich nicht auch hier um Ideologie handeln?) ist die Gleichgewichtigkeit von Beschleunigung und Entschleunigung entgegenzusetzen. Johanno Strasser, sozusagen die „altmodische“ SPD verkörpernd, stellt fest: „Die industrielle Organisation und Bewirtschaftung von Zeit und die , innere Uhr 1 des Menschen gehen nicht im gleichen Takt; und wenn der Zeittakt der industriellen Entwicklung immer tiefer in die Lebenssphäre des Menschen eindringt, so muß dies zu gefährlichen Spannungen führen, weil die Eigenzeiten biologischer und sozialer Prozesse sich nicht beliebig verändern lassen. , Gut Ding 1 -das gilt eben auch heute noch -, will Weile haben.“
V.
www: verweilen, wahrnehmen, wurzeln können. Es geht nicht um ein Lob der Langsamkeit, sondern um ein Wechselspiel: üm eine Vernetzung von Beschleunigung und Entschleunigung, damit die besten oder besseren Lösungen gefunden werden. In allen Bereichen des Lebens und der Wissenschaft braucht man Spiel-Räume, in denen man Fakten und Gedanken verschieden kombinieren und simulieren und die Ergebnisse dann vergleichend prüfen kann (was man „optimieren“ nennt). Die rasante Wandlungsgeschwindigkeit, so der Evolutionsforscher Peter Kafka, durch immer neue Modernitätsschübe hervorgerufen, gefährde das für die Entfaltung von Humanität notwendige Beharrungsvermögen; sie stehe zudem im Gegensatz zur gelungenen Fortentwicklung. Wenn dem Such-bzw. Ausleseprozeß aus einer jeweils unendlichen Fülle von Möglichkeiten die Zeit fehle, vermindere sich auch die Chance, etwas Besseres zu finden. „Dann bleibt beim Tasten und Bewerten nicht genügend Zeit, es werden gefährliche Fehler gemacht, und die dringend notwendigen Reparaturversuche ziehen wegen der wachsenden Eile immer mehr neue Fehler nach sich, deren Folgen sich immer schneller ausbreiten. Eine globale Beschleunigungskrise setzt ein.“ Ein Ruck-zuck-Verfahren führt häufig dazu, daß es im Fix-und-Fertig endet; es wäre besser, man käme langsamer zu guten und durch Dauerhaftigkeit sich bewährenden Lösungen, als rasch falsch zu reagieren.
Daß zum Beispiel die Enkulturation, das Hineinwachsen des einzelnen in die Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft, bzw. die Erhaltung und Erweiterung dieser Kultur durchaus von ausschlaggebender, auch pragmatischer Bedeutung sein kann, interessiert die Politik wenig. Die Investitionen für Kultur werden als freiwillige Leistung bezeichnet und bleiben geringfügig. Gerade an diesem Beispiel kann deutlich gemacht werden, was entschleunigte Vernetzung bedeutet, oder besser: bedeuten könnte, und zwar bezogen auf das Wechselspiel von Kultur/Ästhetik und Arbeitsgesellschaft. Über viele Jahrzehnte war die moderne Produktionsphilosophie und damit zentral die Fabrik durch den Taylorismus bestimmt. Frederick Taylor hatte 1911 in seinen „Grundsätzen der wissenschaftlichen Betriebsführung“ das Modell einer effizienten Fabrikorganisation entwickelt; es -bestand vor allem darin, daß Arbeiter und Arbeiterinnen sich in ihrem Arbeitstakt möglichst weitgehend der Maschine anzupassen hätten; die höchst effiziente Fließband-Produktion -der „Fordismus“ -war die Folge. Die Chip-Revolution ermöglicht nun die Zurücknahme der Roboterisierung des Menschen: Jede Maschine kann mit einem „Hirn“ ausgestattet werden. Notwendig ist nicht mehr der mechanisch reagierende Maschinenbediener, sondern der geschickte, diagnosefähige und in seinem Verhalten souveräne Fachmann, der in einem Klima arbeitet, das „Reprofessionalisierung“ ermöglicht. Gemeint ist damit die Trias von Spezialqualifikation, Schlüsselqualifikation und soziokultureller Kompetenz. Schlüsselqualifikation wie soziokulturelle Kompetenz bedürfen im besonderen einer Atmosphäre der Freiheit, in einem allgemeinen Sinne der Kultur.
Die moderne Industriegesellschaft wird immer mehr aus „Cockpits“ heraus geleitet und moderiert; der Fachidiot kann solche umfassende Steuerung nicht leisten, gefragt sind Generalisten. Die elektronische Datenverarbeitung entlastet dabei die Gedächtnisarbeit und schafft Platz für Orientienmgswissen. Der Spezialist muß sich also von seinem Subsystem lösen und Ganzheit ins Auge fassen können. Natürlich sollte er dabei nur Wesentliches erfassen wollen; er darf sich nicht erneut im und ins Detail verlieren. Schlüsselqualifikation kann man auch Allgemeinbildung, philosophische Bildung nennen. Im Baden-Württembergischen Landesforschungsbericht von 1987 heißt es: „Da, wo die mechanistische Industriegesellschaft ihr Heil suchte im Zerlegen, Reduzieren, Analysieren und Spezialistentum, wird die kommende Informationsgesellschaft, stimuliert und unterstützt durch die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien, der ganzheitlichen, systemgerichteten, generalistischen Vorgehensweise den Vorrang geben. Der Spezialist wird mehr Platz machen müssen für den Generalisten.“
Kultur im umfassenden Sinne schließt soziale, gesellschaftliche, politische und mentale Situationen ein. Ohne kulturelle Durchdringung ist die moderne Industriegesellschaft auf Sand gebaut: Das so wichtige, in Ruhe zu entwickelnde, dann aber nachhaltig und dauerhaft wirkende „Prinzip Verantwortung“ ergibt sich nicht durch Ausbildung, sondern durch Bildung. Es gibt wohl keinen Beruf, in dem nicht (mehr oder weniger) die individuelle Verantwortung von größter Bedeutung ist; beziehungsweise, wenn diese fehlt, katastrophale Folgen sich einstellen. Man spricht dann vom „menschlichen Versagen“, macht sich aber zu wenig bewußt, daß dieses eine Folge fehlender Vernetzung ist und immer stärker in Erscheinung treten wird, wenn das „Behagen in der Kultur“ zurückgeht bzw. nicht genügend berücksichtigt wird. Das hier angesprochene Netzwerk besteht in der Ganzheit von Lebensbedingungen, Lebenssinn, Arbeitsintention, gesellschaftlicher Verantwortung und Handlungsmotivation. Zudem wird die moderne Gesellschaft als demokratische Gesellschaft nur überleben, wenn sie von Verfassungspatriotismus und sozialstaatlichem Engagement getragen ist.
Eine andere weltnotwendige Vernetzungsaufgabe besteht in der Übertragung ethischer Maximen auf das Verhältnis der Kulturen zueinander. „Interkulturell“ bedeutet zunächst einmal, daß die vielen Kulturen, die im Binnenbereich unserer Gesellschaft vorhanden sind, miteinander auskommen und zur Verständigung untereinander fähig sind bzw. werden. Also zum Beispiel -die Kulturen der Generationen, von der Jugend-zur Altenkultur reichend; -die Kulturen der Regionen, was durch den föderativen Aufbau des Staates gefördert wird; -die Kulturen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Milieus; -die Kulturen der verschiedenen Ethnien.
Das letztere greift über auf weltweite Interkulturalität. Besonders gefährdet ist Interkulturalität, welche die Welt als Terre des hommes erhofft, durch Fundamentalismus, der an die Stelle gegenseitigen Einfühlens und Verstehens auf den Kampf der Kulturen setzt. Relativismus wird abgelehnt; die eigene, häufig religiös fundierte Weltanschauung soll dem anderen oktroyiert werden; man will, auch mit Gewalt, missionieren. Der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington spricht von sieben potentiell gegeneinander gerichteten zeitgenössischen Kulturkreisen: dem chinesischen, japanischen, hinduistischen, islamischen, westlichen, lateinamerikanischen sowie dem afrikanischen Kulturkreis.
Wird es statt dessen zu einem Universalismus der Kulturen kommen, zu einer Einigung auf universelle Werte, damit der Weltfriede eine Chance hat? „Menschen in allen Kulturen sollten nach Werten, Institutionen und Praktiken suchen und jene auszuweiten trachten, die sie mit Menschen anderer Kulturen gemeinsam haben. Dieses Bemühen würde dazu beitragen, nicht nur den Kampf der Kulturen zu begrenzen, sondern auch Zivilisation im Singular, das heißt Zivilisiertheit, zu stärken. Zivilisation im Singular bezieht sich vermutlich auf eine komplexe Mischung -auf hohem Niveau -von Moral, Religion, Bildung, Kunst, Philosophie, Technologie, materiellem Wohlstand und wahrscheinlich anderen Dingen.“
In dem Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei wird es entscheidend darauf ankommen, daß die Weltkulturen mit ihren großen Leistungen auf dem Gebiet der Religion, Kunst und Literatur, der Philosophie, Wissenschaft und Technik, der Moral und des Mitgefühls vereinte Anstrengungen machen, die Humanisierung der Welt voranzubringen; und nicht -wofür leider vieles spricht (etwa die Genozide in allen Teilen der Welt) -die sowieso nicht sehr ausgeprägte humane Erbschaft der Zeiten und Jahrhunderte vollends aggressiv zerstören.
Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat kürzlich pessimistisch darauf hingewiesen, daß man bei einer Bestandsaufnahme am Ende dieses Jahrhunderts -in Erwartung des 21. Jahrhunderts -kaum davon ausgehen kann, daß die zivilisatorischen und kulturellen Niveaus in den einzelnen Teilen der Welt sich zu einem Netzwerk zusammenschließen lassen, sondern daß das Gefälle zwischen Arm und Reich sich als unüberbrückbar erweisen mag. Erörterungen der Zukunft bestünden vielfach aus Projektionen derzeit gegebener technischer Trends; man höre von schnelleren, intelligenteren und billigeren Computern, von neuen lebensverlängernden medizinischen Behandlungsweisen wie Gentherapie, von noch mehr Überschallflugzeugen, von helleren und schlankeren Fernseh-Bildschirmen. Wer sich bei solchen Projektionen aufhalte, schränke die Betrachtung auf den heute schon im Wohlstand lebenden Teil der Weltbevölkerung ein und male sich aus, daß es diesen Leuten noch besser gehen werde. „Die Mehrheit der im nächsten Jahrhundert Geborenen wird aber nie dahin gelangen, einen Computer zu benutzen, im Krankenhaus behandelt zu werden oder im Flugzeug zu reisen. Diese Menschen können vom Glück reden, wenn sie mit Bleistift und Papier umzugehen lernen, und von noch mehr Glück, wenn sie mit kostspieligeren Arzneien als Aspirin behandelt werden.“
Die einzigen optimistischen sozioökonomischen Szenarios, die derzeit „auf dem Markt“ seien, berücksichtigten ausschließlich die zufriedensten, im größten Wohlstand lebenden Gebiete der Welt. Das Beste, was man fürs nächste Jahrhundert vorsehen könne, sei ein wenig mehr Gleichheit innerhalb der einzelnen Industrienationen. Der Gegensatz in puncto Lebenserwartung und Lebenschancen, der heute etwa zwischen einem nordamerikanischen Mittelstandskind und einem Gettokind besteht bzw. zwischen dem Kind eines Pekinger Bürokraten und einem Bauernkind aus dem mongolischen Grenzgebiet, werde dann vielleicht nicht mehr so schockierend sein wie heute.
Zugleich aber stellt Rorty fest, daß es keine Zukunft ohne Träume gebe. Wenn wir von „Vernetzung“ in einem sehr grundsätzlichen Sinne träumen, dann bestünde diese nicht zuletzt darin, daß der Mensch als potentielles Vernunftwesen (als ein Wesen, das auch -trotz allem -der Vernunft fähig ist) eine ganzheitliche Vernunft zu entwickeln vermag, also eine Vernunft, -die nicht nur analytisch, zergliedernd und auf Subsysteme bezogen, denkt und handelt; -die nicht nur durch den Augenblick (okkasionell) bestimmt ist; -die nicht nur instrumenteil auf Zwecke ausgerichtet ist; -die statt dessen antizipatorisch vorgeht (mit Phantasie für die Zukunft Alternativen zu ent-wickeln vermag); -die Dinge, die zusammengehören, mit wissenschaftlichem Verstand zu verbinden weiß; -die emotional und intuitiv sich für eine gemeinsame Weltethik engagiert; -die im Nachvollzug des über Jahrhunderte hinweg entstandenen Wertebewußtseins in Gegenwart und Zukunft dieses nicht nur erhält, sondern vertieft und immer mehr als bestimmendes Element von Praxis realisiert. Die „Sonntagsworte“ eines moralischen und kulturellen Optimismus desavouieren sich nicht als solche; der Vorwurf ihrer Unverbindlichkeit ist an diejenigen zu richten, die sie am Werktag nicht zu beachten bereit sind. In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ spricht Robert Musil davon -seine Gedanken sind für die Gesellschaft und Politik, Wirtschaft und Kultur des vereinten Deutschlands besonders aktuell -, daß, wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, es auch etwas geben müsse, das man Möglichkeitssinn nennen könne. Dieser ließe sich als „die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Solche Möglichkeitsmenschen lebten in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Einbildung, Träumerei und Konjunktiven. „Das Mögliche umfaßt jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“ Jemand, der auf „mögliche Wahrheiten“ sehe, habe in den Augen anderer oft „ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen . .., der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt“. Da seine Ideen nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten seien, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; „aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit“
Zu dieser möglichen Wirklichkeit gehört auch die realistisch-optimistisch-pessimistische Einsicht von Andre Glucksmann, daß man zwar nicht den Schlüssel zum Paradies gewinnen, aber doch die Barrieren beim Abgleiten in die Hölle verstärken könne. Der einzelne mag sich bei seinem humanitären Bemühen oft allein gelassen und somit entmutigt fühlen. Die Chaostheorie kann da Rücken-stärkung geben. Die ethische Tragweite dieser zunächst rein mathematischen Erkenntnis -daß in dynamischen Systemen sich winzige Abweichungen bzw. Veränderungen im Laufe der Zeit dramatisch vergrößern können -vermittelt ein Gleichnis, das der amerikanische Meteorologe Edward Lorenz verwendete: ein Schmetterlingsflügelschlag über China vermag in der Südsee einen Hurrikan hervorzurufen; bezogen auf kulturelle Aktivität und ihre globalen Auswirkungen: einen Hurrikan zu verhindern. Der einzelne ist also keineswegs so schwach, wie es scheint.