I.
In den Monaten und ersten Jahren nach jenem epochalen Triumph des politischen und ökonomischen Systems der Bundesrepublik durch den Beitritt der gewandelten DDR zum westdeutschen Staat gewann in der politischen Debatte ein Diskurs Raum, der in den vierzig Jahren zuvor unbedeutend geblieben war: die Rede von der nun fälligen „Normalisierung“. Als ob das gesellschaftliche und politische Leben der Westdeutschen in den Jahrzehnten zuvor von Sonderstrukturen geprägt gewesen sei, von einer bukolischen Nischenexistenz, einer irgendwie heilen Welt -mitten im Kampf der Systeme. Worauf stützt sich diese Argumentation? Es sei zum einen die nichtvollendete Souveränität der Bundesrepublik gewesen, die sie zum Wohlverhalten gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs gezwungen habe, wie von einigen Autoren argumentiert wird; sie habe keine „normale“ Politik nach außen und innen ermöglicht. Zum anderen sei es ihre angebliche Befangenheit in einer Art Vergangenheitsbezogenheit gewesen, die ihresgleichen suche; eine „Wiedergutmachungs“ -Orientierung, die geradezu zwanghaft sei. Auf diese beiden Leitmotive -zumal in Publikationen der achtziger Jahre geäußert -stützt sich die Argumentation von der Nicht-Normalität der „alten Bundesrepublik“, ja der eines „Sonderwegs“ der Westdeutschen nach 1945. Trifft diese Argumentation zu? Trifft sie den Kern der Außen-und Innenpolitik bis 1989? Ist ferner das Motiv der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ prägend für die Beschäftigung der westdeutschen Gesellschaft mit Politik? Zunächst zur Frage nach den Restriktionen für eine souveräne bundesdeutsche Außenpolitik: Wie lauten die Kriterien, und wie ist der historische Befund? Insbesondere der Bonner Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz kritisierte „die gezähmten Deutschen“ -so der Titel seines 1985 erschienenen Essaybandes, dessen Untertitel lautet: „Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit“ Er meinte seinerzeit natürlich die Deut-sehen der Bundesrepublik und insbesondere den Stil ihrer Außenpolitik, damals bereits seit über einem Jahrzehnt zu verantworten von dem Liberalen Hans-Dietrich Genscher. Allerdings, so monierte er, gehöre nicht nur „der schneidige Auftritt eines Kanzlers auf Weltwirtschaftsgipfeln“ zum Stil der bundesdeutschen Außenpolitik, sondern ebenso „die ergreifende Einfalt, in der ein anonymer Oberschüler auf einer , Friedensdemo 1 seine reinen Absichten manifestiert“
Es sei zum einen der Verhaltensstil im Bündnis, der zur Kritik Anlaß böte: der eines „Klienten der USA“, der in „nervöse Erregung“ gerät, wenn sich die eigene Schutzmacht plötzlich zu sehr mit der gegnerischen Großmacht zu verstehen beginnt. Es sei zum zweiten „die Neigung, in Konflikten mit Dritten... ausgleichend aktiv zu werden“ Als Beleg für ein geradezu penetrantes „Harmonisierungsbedürfnis“ führte Schwarz sowohl die von Adenauer begonnene Frankreich-Politik als auch die „Neue Ostpolitik“ Willy Brandts an, die beide meines Erachtens aber ganz anders zu interpretieren sind Und es seien -neben anderen Inhalten des devoten deutschen Politikstils -„moralische Ober-und Untertöne“ der deutschen Außenpolitik, die es zu kritisieren gelte. Hier sei besonders problematisch das „einseitige Überwiegen ethischer Betrachtungsweise“, das nach 1945 die neuen „politischen Eliten“ in Westdeutschland kennzeichne. Hingegen käme es für eine effektive Außenpolitik „auf den Sachverstand diplomatischer, militärischer, wirtschaftlicher Fachleute“ an. Als Motto wurde hier von Schwarz ein Satz Machiavellis vorangestellt: „Unentschlossene Republiken“ würden nur durch „Zwang“ zum Handeln bewegt; wenn „äußere Gewalt... sie (nicht) vorwärtsstoße, so schwanken sie ewig hin und her“
Die Ereignisse am Ende des Jahrzehnts sollten allerdings bereits das Gegenteil beweisen. Das in der Stille seines Oggersheimer Wohnsitzes -allein unter dem Druck der gewaltfreien Montagsdemonstrationen -von Kanzler Kohl entwickelte „Zehn-Punkte-Programm“, mit dem er schon im November 1989 übervorsichtig den Weg zur „Wiedervereinigung“ über die Schaffung „konföderativer Strukturen zwischen beiden deutschen Staaten“ einschlug, war in seiner Zurückhaltung genau der richtige Weg zur Einheit -ein Weg ohne wilhelminisches Säbelrasseln und im Gegenzug ohne sowjetische Drohungen und Panzeraufmärsche. Das noch im Vorfeld des „Historikerstreits“ von dem durchaus einflußreichen Politikwissenschaftler Schwarz angeschlagene Leitmotiv von der deutschen Machtvergessenheit wurde gleichwohl nach dem großen Erfolg einer zurückhaltenden, die westlichen Verbündeten geschickt einbeziehenden Vereinigung bis in die Gegenwart immer wieder neu intoniert. Ich versage mir hier die Auseinandersetzung mit allen wichtigen einschlägigen Autoren
Eine besonders publikumswirksame Zuspitzung dieser Argumentation leistete sich 1992 Arnulf Baring, als er in einem Vortrag vor der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung formulierte: „Wir leben noch immer, leben seit 1990 wieder im Deutschland Bismarcks.“ Mit der durch die Vereinigung erneuerten Mittellage falle den Deutschen eine Position in den Schoß, „die wir am Anfang des Jahrhunderts mit Gewalt zweimal herbeizuzwingen versuchten: Deutschland als relative Vormacht Europas zu etablieren. Wir haben vor 1945 Europa unseren Willen aufzunötigen versucht -sehr unbegabt, wie ich zugebe, und im Ergebnis mit katastrophalen Folgen. Jetzt sind wir in der Gefahr, den umgekehrten Fehler zu machen, uns der neuen Aufgabe, die die Situation uns stellt: einer größeren Verantwortung, zu verweigern.“ Diese Orientierung an den Machthabern vergangener deutscher Regime, gerichtet an ein zumindest einflußreiches, wenn nicht gar mächtiges zeitgenössisches Publikum, drückt als Gestus bereits mehr aus als das ganze Argument: Die Deutschen sollten sich nicht nur aus ihrer „lähmenden Ohnmacht befreien“ sondern sie sollten darüber hinaus wieder an ihre alte Rolle anknüpfen, indem sie die ihnen durch das „Wunder“ der Vereinigung zugefallene „Verantwortung“ nutzen, um endlich die Dominanzrolle in Europa, die den Deutschen geopolitisch doch eigentlich zustehe, auszufüllen.
II.
Wie ist nun aber der historische Befund? War die Außenpolitik der Bundesrepublik bis 1989 wirklich subjektiv so „machtvergessen“ und objektiv so auf ihre amerikanische Schutzmacht fixiert, wie behauptet? War sie tatsächlich die Politik eines Vasallenstaates? Zur Widerlegung vier Beispiele: Zuerst einmal sei erinnert an das erste europapolitische Vertragswerk in den frühen fünfziger Jahren, den Vertrag über die Montanunion. Wie kam er zustande? Wurde er tatsächlich „in Rom gezeugt und in Washington geboren“, wie der damalige hessische Kirchenpräsident und Neutralist Martin Niemöller böse behauptete? Die historische Wahrheit sieht ein wenig anders aus: Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser beschreibt die rasche Umsetzung des von Jean Monnet ausgearbeiteten Projekts durch Robert Schuman -der den nun nach ihm benannten Plan geradezu über Nacht, gemeinsam mit Kanzler Adenauer, in den Kabinetten beider Länder und anschließend in den Parlamenten durchsetzte. War hier US-amerikanische Gängelung im Spiel oder gar eine Anweisung des Papstes? In Wirklichkeit wurde hier eine neue Variante der Politik der Sicherung Europas vor einer die Sowjetunion begünstigenden Destabilisierung und zugleich vor einem neuen deutschen Kriegspotential ins Spiel gebracht. Sie lag gewiß auch im Interesse der USA und schien ebenso dem politischen Katholizismus in Europa zu nützen, denn Adenauer wie Schuman und ihr italienisches Pendant de Gasperi waren christdemokratische Politiker. Aber die eigentliche Motivation der wichtigsten Akteure -Schuman, Adenauer, De Gasperi -war aus der Sicht Alfred Grossers deren Herkunft aus europäischen Grenzländern und damit ihr Wunsch, ein Europa ohne Binnengrenzen zu gestalten Die geniale Lösung der Montanunion kam aber vor allem der mittelfristigen Zielsetzung der Politik Konrad Adenauers entgegen, die ganz deutlich auf Erreichung der vollen Souverä-nität für die Bundesrepublik ausgerichtet war. Denn sie wurde von ihren Protagonisten als erster Schritt auf dem Weg zu einer Europäischen Politischen Gemeinschaft verstanden, die entstehen sollte durch weitere Souveränitätsübertragung der Staaten der Europäischen Sechs, also unter Einbeziehung einer inzwischen souveränen Bundesrepublik. Die von Adenauer angestrebte Souveränität sollte bereits gleichzeitig mit dem nächsten Gemeinschaftsschritt, der Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), erfolgen, und zwar in Form des sogenannten Deutschlandvertrags. Daß der Deutschlandvertrag -in modifizierter Form -erst 1955 Wirklichkeit wurde, lag freilich am französischen Parlament, das den EVG-Vertrag schließlich doch nicht ratifizieren wollte.
Ein noch deutlicheres Beispiel tatsächlich von Schutzmacht-Intentionen unabhängiger Politik stellt die Neue Ostpolitik des ersten sozialliberalen Kabinetts in den Jahren seit 1969 dar, auch wenn es selbst hier Kritiker gibt, die meinen, Willy Brandt und sein Sonderbeauftragter Egon Bahr hätten nur langfristige amerikanische Interessen umgesetzt. Das durch Äußerungen des amerikanischen Präsidenten Kennedy, aber auch durch den 13. August 1961 angeregte Neudurchdenken der Berlin-Politik durch einen Berater-kreis um Willy Brandt, in dem sein Pressesprecher Egon Bahr eine zentrale Rolle spielte, führte zu einem Passierscheinabkommen zwischen West-und Ost-Berlin, das von den drei westalliierten Schutzmächten in Berlin akzeptiert, aber nicht unterstützt wurde. Die in der ersten sozialliberalen Regierung gegen innenpolitische Widerstände durchgesetzte Neue Ostpolitik brachte die Regierung der Vereinigten Staaten in eine nicht unbedingt gewünschte Situation: Der amerikanische Sicherheitsberater und ab 1973 Außenminister Henry A. Kissinger notierte in seinen Memoiren: Es habe offenbar „keinen Sinn“ gehabt, „Brandts Politik scheitern zu lassen; wir hatten nur die Möglichkeit, dem Unvermeidlichen eine konstruktive Richtung zu weisen“. Und: „Die Koalition, deren Regierungschef Brandt war, hatte die Wahlen mit einem Programm gewonnen, das er jetzt verwirklichte. Wir konnten ihn an der Durchführung seiner Ostpolitik nicht hindern, (auch) wenn wir uns in die deutsche Innenpolitik einmischten, uns den Unwillen unserer Verbündeten zuzogen und (wie Präsident Pompidou fürchtete) aus der NATO ein deutsch-amerikanisches Bündnis für die Befreiung Osteuropas machten.“
Die erste sozialliberale Regierung ergriff also die Chance einer Veränderung der Beziehungen zur Sowjetunion und ihren mittelosteuropäischen Satelliten zur Entwicklung einer Neuen Ostpolitik, ohne sich zuvor von Washington ein Plazet zu holen. Ihre innenpolitische Legitimation reichte ihr dafür aus. Noch mehr: Akteure und Mitakteure vertauschten zeitweilig ihre Rollen. Die Bundesregierung schaffte es, über ein neues Viermächteabkommen über Berlin die Westmächte -vor allem die Vereinigten Staaten -in eine für die Neue Ostpolitik nutzbringende Rolle einzubinden. Die USA wiederum hatten ein Interesse an der Weiterführung der Gespräche zur Begrenzung strategischer Waffen (SALT), unter anderem auch deshalb, um die Sowjetunion zu Zugeständnissen in Vietnam zu bewegen. Die Bundesregierung erklärte nun gegenüber der Sowjetunion, daß sie ohne ein Viermächteabkommen, das definitiv den „Zustand, Zugang und Zutritt“ zu West-Berlin regele (Klaus Schütz), nicht bereit sei, den Moskauer Vertrag zu ratifizieren und einen Grundlagenvertrag mit der DDR abzuschließen. Henry Kissinger nannte dieses Junktim „einen klassischen Fall für die Verkoppelung der verschiedenen außenpolitischen Bedürfnisse. Die praktische Konsequenz dieses Verkoppelungsmechanismus lag.. . darin, daß wir (die Vereinigten Staaten und die anderen Westmächte, H. K. R.) schließlich für den Erfolg der Politik Brandts verantwortlich wurden.“ Und dieses Manöver war erfolgreich. Der Neuen Ostpolitik gelang es also, die eher skeptische US-Regierung für ihre Ziele „einzuspannen“.
Ebenso kann ein weiteres, in diesem Falle wohl u. a. von Willy Brandt persönlich eingeleitetes Unternehmen der internationalen Politik als Beleg einer eigenständigen und selbstbewußten Außenpolitik der Bundesrepublik der sozialliberalen Ära dienen: das Projekt einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Daß dieses Projekt für die Sicherung des Friedens in Europa, aber auch für das Voranbringen der politisch-kulturellen Ziele des Westens in den Ländern des Realen Sozialismus Ost-und Mitteleuropas besonders relevant wurde, ist von heute aus kaum mehr zu bestreiten. Willy Brandt griff als Außenminister der Großen Koalition auf der Washingtoner NATO-Außenministerkonferenz vom April 1969 die bis dahin immer wieder erfolglos propagierte sowjetische Idee einer europäischen Sicherheitskonferenz auf und plädierte dafür, daß -trotz oder gerade wegen der aktuellen Krise der Ost-West-Beziehungen nach dem Einmarsch der Streitkräfte von Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei -nun gerade der Westen initiativ werden solle Bei diesem Vorstoß wurde er -wie er schreibt -tatkräftig unterstützt von dem amtierenden Außenminister Italiens, dem Sozialisten Pietro Nenni. Es gelang im übrigen, „das sowjetische Interesse an einer KSZE vom Westen“ dahin gehend zu nutzen, „die UdSSR zu Zugeständnissen in der Deutschlandfrage und beim Berlin-Problem zu bewegen“ Auch der Beginn der KSZE-Verhandlungen wurde von der Bundesregierung geschickt hinausgezögert: Erst nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrages mit der DDR sollten sie beginnen; die KSZE sollte ihre „internationale Deblockierung. .. Bonn verdanken“, wie der bundesdeutsche Verhandlungsführer Egon Bahr in seinen Memoiren mitteilte
Ebensowenig machtvergessen wie machtversessen war die Außenpolitik Helmut Schmidts. Wir erleben Schmidt während seiner Kanzlerschaft zeitweilig geradezu als Möchtegern-Lehrmeister gegenüber der westlichen Führungsmacht. Nach einigen Auseinandersetzungen mit dem Sicherheitsberater des neuen Präsidenten Carter, Zbigniew Brzezinski, gestattete sich Schmidt gegenüber Carter sogar den „anmaßenden Rat, der Präsident möge seinen Sicherheitsberater entlassen“ Mit dem Namen des Bundeskanzlers Schmidt sind mehrere außen-politische Initiativen verbunden, wie immer wir sie heute inhaltlich bewerten mögen.
Eine erste Initiative ist bekanntlich die der Projektierung und Durchsetzung eines „Koordinierungsgremiums“ „für den atlantisch-pazifischen Handlungskreis“, aus der ab 1975 der regelmäßige Wirtschaftsgipfel der G 5, heute G 7 bzw. G 8, hervorging In diesem Falle war Schmidt gemeinsam mit seinem Freund Giscard d’Estaing, dem französischen Staatspräsidenten, initiativ Beide spielten denn auch auf den ersten G-5-Gipfeln die Impulsgeber. Angesichts der amerikanischen Führungsschwäche nach dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems und infolge von VietnamKrieg und Watergate-Skandal „konnte das Krisenmanagement, wenn überhaupt, nur kollektiv geleistet werden“ Über ein Europäisches Währungs-System sollte zumindest „eine europäische Gegenposition zu den verhängnisvollen Wirkungen des Dollarverfalls“ aufgebaut werden -so Schmidt auf einer Sitzung des SPD-Parteivorstands Weitere Beispiele für das bundesdeutsche „Durchsetzungsvermögen gegenüber dem Haupt-verbündeten“ sind nach Werner Link noch bedeutsamer, nämlich das „Festhalten an dem Vertrag zur Lieferung von Atomkraftwerken nach Brasilien (1976/77) und...der Abschluß und die Durchführung des großen westeuropäisch-sowjetischen Erdgas/Röhren-Geschäfts (1981 )“
Auch die Initiative zum „NATO-Doppelbeschluß“ vom Dezember 1979 geht bekanntlich auf Helmut Schmidt zurück. Wie immer wir seine Initiative bewerten -auch hier ist die Kategorie „Macht-vergessenheit“ fehl am Platze. Im einzelnen möchte ich an dieser Stelle auf die entsprechenden Kontroversen nicht eingehen Es wäre aber durchaus möglich, noch eine Reihe weiterer Belege für die Widerlegung der Schwarzschen These und auch der Schöllgenschen Behauptung einer „Angst vor der Macht“ oder gar der Hackeschen These von einer „Weltmacht wider Willen“, die er ja gerade auf die sozialliberale Ära bezieht, anzuführen. Jürgen Habermas hat schon recht, wenn er diese Sichtweisen als Ausdruck von mit der Vereinigung plötzlich an die Oberfläche gespülten, rückwärtsgewandten „Machtstaats“ -Wünschen bundesdeutscher Intellektueller kritisiert
III.
Auch die politische Kultur der „alten“ und „neuen“ Bundesrepublik geriet bald nach der Vereinigung ins Visier der „Normalisiere^'. Der Berliner Politik-wissenschaftler und Feuilletonist Rainer Zitelmann sah ein bedenkliches Weiterwirken von Akteuren in unserer Gesellschaft, die nach 1968 unter dem Schutzschirm „Wir wollen endlich die Vergangenheit aufarbeiten!“ in die Institutionen der Republik eingewandert seien und dort ein geradezu undurchdringliches Netzwerk von politischen Beziehungen aufgebaut und ihre Positionen mit allerlei Immunisierungsstrategien abgesichert hätten Ironie der Geschichte sei: Das Ende des DDR-Sozialismus habe letzte Barrieren gegen den Siegeszug dieser Kräfte beseitigt, denn nun sei es nicht mehr möglich, diese Cliquen mit Verweis auf die abschrekkende DDR-Realität, die ja stets zur Widerlegung ihrer offenbaren Wunschvorstellungen getaugt hätte, in die Schranken zu weisen. Indessen bedürfe es -so Zitelmann und andere -einer auch geistig „selbstbewußten Nation“, die sich endlich von einem Dauerrekurs auf die singulären Verbrechen der NS-Herrschaft befreie und zu einem „normalen“ Geschichtsbewußtsein zurückfinde. Interessanterweise findet sich diese Position nicht nur in Feuilletons großer Tageszeitungen, zeitweilig in der „Welt“, aber auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, sie erfuhr 1998 auch vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ihre Reverenz, indem er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels an Martin Walser verlieh, jenen Schriftsteller, der seit Jahren Kritik an der angeblich zu geringen Selbst-achtung der Deutschen übte.
Wie steht es nun tatsächlich mit der politischen Kultur in der Bundesrepublik? Entstand nach 1968 politisch-kulturell eine neue Republik, gar eine „Umgründung“ der Bundesrepublik, wie es wohlmeinende Beobachter formulieren? Zunächst aber: Wie sah das Selbstverständnis der Republik und ihrer Bürgerinnen und Bürger im ersten Dezennium aus? Die Bürgerinnen und Bürger der drei Westzonen, aus denen die Bundesrepublik hervorging, erblickten in ihrem neuen Staat zunächst ein Provisorium. Für die einen wies es in ein neues, kleineres vereintes Deutschland, das die entsprechenden Lehren aus den Erfahrungen mit dem Dritten Reich zog; für die anderen war es eine Etappe zur Wiederherstellung des -wie die Staatsrechtler mehrheitlich behaupteten -nicht untergegangenen Deutschen Reiches.
Im Alltag setzten sich bei den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik bald erneut gewisse Traditionen durch, die an die Untertanenkultur des Kaiserreichs erinnerten und die in der Weimarer Republik ebenfalls prägend gewesen waren Die Schulbücher der verschiedenen Bundesländer priesen „die geschlossene und überschaubare Welt einer Tradition unmündiger Menschen“ (Ralf Dahrendorf) und werteten „die zaghafte Öffentlichkeit des Verhaltens von Menschen ab“. Auch die familiäre Erziehung stand in den fünfziger Jahren noch über weite Strecken im Geiste des „Gehorsams und der Unterordnung“ (Martin Greiffenhagen). Die in diesem Zusammenhang zumeist genannte These vom „Rückzug ins Private“ ist in ihrer Pauschalität für die Ära Adenauer allerdings in Frage zu stellen; eine in ihren politischen Inhalten reduzierte, allerdings sehr umfangreiche Aktivität der Bürgerinnen und Bürger der jungen Bundesrepublik in Vereinen, Verbänden und Gewerkschaften ist ebenfalls ein Kennzeichen dieser Jahre.
Auch das „Unpolitische“ als Wesensmerkmal dieser Aktivitäten ist zu relativieren -im Vergleich zu den späten sechziger und frühen siebziger Jahren waren die politischen Inhalte, um die es in den freiwilligen Zusammenschlüssen der Menschen ging, zwar begrenzt; immerhin aber fanden in den fünfziger Jahren große Demonstrationen für die Mitbestimmung in den Betrieben und Ende des Jahrzehnts in allen Großstädten der Republik Massenversammlungen gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr statt — mit übrigens breitem, bis in die politische Mitte hineinreichendem Teilnehmerspektrum. Vor allem aber: Die westdeutsche Gesellschaft lernte -wie nie zuvor -von der Welt. Ihre berufs-und freizeitbezogene Kommunikation mit den Nachbarländern und mit den USA wurde von selbst zu einem wichtigen Politikum: Die Distanz der westlichen Nachbarvölker -der Franzosen, Niederländer, Dänen -konnte zwar zunächst nicht wesentlich überwunden werden aber die Deutschen versuchten sich redlich anzupassen. Insgesamt war die Bundesrepublik der Ära Adenauer -das können wir summieren -eine friedliche, geordnete Welt, in der jeweils das Wort des Vereinsvorsitzenden, des Bischofs, des Chefs im Betrieb galt, in der es vor allem „aufwärts ging, aber nicht vorwärts“ (Hans Magnus Enzensberger).
Das änderte sich mit 1968. Auf Erosionen der Glaubwürdigkeit der Regierenden (Adenauer, Strauß, Lübke) folgte bald die Infragestellung aller normativen und regulativen Positionen der wirtschaftlich ja außerordentlich prosperierenden Gesellschaft, bis hin zur unüberlegten Diffamierung der „Sekundärtugenden“ Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, und auch der Politik -mit Ausnahme des emphatischen Festhaltens an den Normen der Demokratie und auch bestimmter Menschenrechte (Menschenwürde, Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewissens-und Meinungsfreiheit u. a.). Die vorhandene Gesellschaft wurde von rebellierenden Teilen der jungen Generation generell unter Faschismusverdacht gestellt. Und der erwies sich auch -wenn man ihn auf das insgeheime Überdauern im deutschen Nationalsozialismus erworbener Einstellungen und Verhaltensregeln bezieht -als in vielen Fällen berechtigt. Neben völkischen und antisemitischen Inhalten kamen andere Elemente dieses unter pauschalen Verdacht geratenen Verhaltenssyndroms früher bundesdeutscher Eliten aber eher aus dem deutschen Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs, dessen Sozialisationsmuster wesentliche Teile der Eliten der Weimarer Republik geprägt hatten. Auch Konservative des 20. Juli und führende Offiziere der Bundeswehr gerieten auf diese Weise unter Faschismusverdacht. Unerbittlich wurde jene „erste Lebenslüge der Bundesrepublik“ aufs Korn genommen: „die Lebenslüge der Adenauer-Zeit: Wir alle sind Demokraten“
Der hier entstehende und sich bald auf fast allen gesellschaftlichen Ebenen durchsetzende Diskurs führte in der Tat zur „Umgründung“ der Bundesrepublik Mit teilweise geradezu zelotischem Eifer wurde der Obrigkeitsstaat aus den Institutionen vertrieben, und fast jeder Politiker hatte sich einer neuen Durchsicht seiner Biographie zu stellen. Initiativ waren hier freilich auch kommerzielle Medien wie „Der Spiegel“ oder politische Magazine öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten wie „Panorama“. Sie fütterten den Diskurs mit immer neuen Informationen.
Das Ergebnis dieser Veränderungen war eindrucksvoll: Aus einer sich als verhinderte Nation verstehenden Bundesrepublik, im Innern „demoautoritär“ im Sinne von Karl Loewenstein, d. h. die Bürgerinnen und Bürger nur über personenbezogene Wahlen zur Mitwirkung zulassend, wurde eine sich demokratisierende Gesellschaft, die auch inhaltlich endlich ernst machen wollte mit einer völligen Abkehr von den inhaltlichen Restbeständen der Zeit des Nationalsozialismus. Hierzu paßte atmosphärisch durchaus das Selbstzitat des in der Nazizeit aus dem Deutschen Reich ausgebürgerten Willy Brandt nach seiner Wahl zum Bundeskanzler am 21. Oktober 1969: „Nun hat Hitler den Krieg endgültig verloren.. ,“
Gewiß bewegt sich Geschichte zumeist nicht in Sprüngen -so auch nicht nach 1968 die der Bundesrepublik. Zu viele Elemente an Kontinuität, an Beharren, an individuellem und kollektivem Rückfall in „bewährte“ Strukturen sind nach politisch-kulturellen Veränderungen einer Gesellschaft immer zu verzeichnen -es sei denn, die Rahmenbedingungen verändern sich und erzwingen neue Strukturen. So zeigte sich auch in der Bundesrepublik nach 1968 noch übertriebene Anpassung an Vorgesetzte, blieb in einigen Winkeln der Republik Antisemitismus noch immer resistent, wurde fast überall im Land die Forderung nach „Mehr Demokratie“ (Willy Brandt) bald vom Ruf nach „Mehr Effizienz, mehr Leistung“ abgelöst. Die international induzierten Veränderungen in den siebziger Jahren -erste und zweite Ölkrise, Währungskrise, erste Massenarbeitslosigkeit -ließen die Losung des Brandt-Nachfolgers Helmut Schmidt „Kontinuität und Konzentration“, verkündet in seiner ersten Regierungserklärung im Mai 1974, tatsächlich zum tonangebenden Begriff für die damit eingeleitete innenpolitische „Tendenzwende“ werden. Eine Rückkehr zur Adenauer-Zeit war allerdings nicht beabsichtigt. Das Projekt der Demokratisierung der Gesellschaft wurde nicht vollständig gestoppt -viele Politikwissenschaftler haben hier unrecht Ein wichtiges Beispiel für die Weiterführung des Konzepts gesellschaftlicher Demokratisierung bildet die Bundeswehr, deren bessere Einbindung in die Gesellschaft durch wissenschaftliche Qualifizierung ihrer Offiziere in den Universitäten der Bundeswehr im wesentlichen mit dem Namen Helmut Schmidt verbunden ist Diese durch die Achtundsechziger nicht unterwanderte -wie es etwa Rainer Zitelmann sieht -aber, und zwar eher unbeabsichtigt, umgegründete Bundesrepublik blieb in dieser Verfassung bis 1989. Auch die Politik bzw. die Politiker der Ära Kohl paßten sich den neuen Verhältnissen an. Es sind nicht so sehr biographische Aspekte, die auch für die jungen Leute um Helmut Kohl um 1968 wichtig waren, die hier relevant geworden sind es ist vor allem der Einstieg in die Führungsebenen einer bereits veränderten Republik und die Fortsetzung bestimmter Politiken (Deutschlandpolitik, Europapolitik, Umweltpolitik, Sozialpolitik), die die neue Kontinuität ausmachen
Doch es gibt darüber hinaus in der ersten Ära Kohl bedeutende Politiker, die die Themen der Achtundsechziger aufgriffen und eigene Antworten gaben: Zu nennen sind der 1984 gewählte Bundespräsident, der bisher der Führungsriege der CDU angehörende Richard von Weizsäcker; die Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit Rita Süssmuth, Nachfolgerin von Heiner Geißler im zweiten Kabinett Kohl, und -last but not least -Heiner Geißler, der neben seinem Ministeramt, das er von 1982 bis 1985 bekleidete, bis 1989 Generalsekretär der CDU war. Richard von Weizsäcker konterkarierte 1985 mit seiner Rede zum Tag der Kapitulation am 8. Mai ein erstes öffentliches Kontinuitätssignal des Kanzlers, der für den Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten Reagan am 5. Mai 1985 einen Termin zur gemeinsamen Ehrung von US-Soldaten und SS-Angehörigen auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg/Eifel anberaumt hatte und damit wohl einen voreiligen Friedensschluß mit der Vergangenheit signalisieren wollte. Weizsäcker formulierte in seiner Rede, der 8. Mai sei für „Deutsche kein Tag zum Feiern“, aber dennoch „ein Tag der Befreiung“ Süssmuth und Geißler besetzten jeweils auf ihre Weise die Themen Gleichstellung der Frauen, Menschenrechte und Asyl; auch Sozialminister Norbert Blüm erregte durch seine Kritik am Pinochet-Regime in Chile und an den Apartheid-Verhältnis-sen in Südafrika Unmut bei dem noch immer vorhandenen „Stahlhelm“ -Flügel in der Union (um den erfolgreichen hessischen Oppositionspolitiker Alfred Dregger).
IV.
Welche Auswirkungen hatte nun politisch-kulturell die gewaltfreie deutsche Vereinigung 1989/90 auf die Bundesrepublik? Trifft es zu, daß die Positionen der Achtundsechziger noch weiter ausgebaut werden konnten? Zunächst muß hier zeit-historisch zweierlei eingeblendet werden.
Erstens: Einen Achtundsechziger-Aufbruch, der von einem breiten Spektrum der damals jungen Generation in Westdeutschland positiv konnotiert wurde, gab es in der DDR nicht. Zweitens: Der wilhelminische Obrigkeitsstaat wurde auf noch mehr gesellschaftlichen Feldern in der DDR tradiert als in der „alten“ Bundesrepublik vor und nach 1968. Die „bevormundete“ DDR-Gesellschaft, die von den Autoritäten Politbüros (ganz oben) bis zu den Ersten Sekretären der SED-Bezirksleitungen (ganz unten) beherrscht war und die in Furcht lebte vor der allgegenwärtigen Stasi, deren Spitzel jederzeit jede Meinungsäußerung in einen Gefängnisaufenthalt verwandeln konnten, diese Gesellschaft war durchaus eine Gegen-Gesellschaft zur Bundesrepublik nach 1968. Hier konnte jeder stalinistische oder maoistische Zirkel seine Weltanschauung ungehindert verbreiten -nur Beamten-Funktionen sollten nicht mit offenen Gegnern des Grundgesetzes besetzt werden. Allerdings konnten auch unpolitische Bürgerinnen und Bürger in den Präventionsund Fahndungsapparat des Verfassungsschutzes geraten sie verschwanden aber nicht für Jahre im Gefängnis wie in der DDR. In der DDR-Gesellschaft gab es gleichwohl auch antiautoritäre „Szenen“ und einige -wenn auch weniger gewalttätige -Provokationen der Staats-führung. Angesichts der Nachrüstungsdebatte und der sie hervorbringenden Friedensbewegung in der Bundesrepublik sowie angesichts der sowjetischen Weiterrüstung und der fortgesetzten Militarisie-rungsanstrengungen der DDR-Führung ließ etwa Pastor Friedrich Schorlemmer 1983 auf dem Marktplatz in Wittenberg -nebenan hatte Luther 1517 seine Thesen an eine Kirchentür geschlagen -von einem jungen Schmied ein Schwert zu einer Pflugschar umschmieden -nach dem Vorbild des von einem sowjetischen Künstler vor dem UNO-Hauptgebäude in New York errichteten Denkmals. Dieses Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ war bereits seit 1981 bei DDR-Jugendlichen zu einem vielverbreiteten „Abzeichen“ geworden; sein Vorzeigen wurde von der DDR-Obrigkeit mit polizeilicher „Zuführung“ und teilweise auch Inhaftierung sanktioniert. Auch in der DDR-Gesellschaft regte sich also -zumal seit den achtziger Jahren -immer wieder Widerständigkeit
Dennoch ist nicht zu bestreiten, daß noch zehn Jahre nach dem Ende des SED-Staates die Ostdeutschen einerseits weniger staatskritisch und andererseits gegenüber neuen politischen Impulsen distanzierter eingestellt sind als die Westdeutschen. Aus der Sicht Oscar W. Gabriels gibt es sogar zunehmende West-Ost-Gegensätze: „Dies betrifft zunächst den Wunsch nach einem starken Staat, der in Ostdeutschland erheblich populärer ist als im Westen.“ Dieser Wunsch habe in Ostdeutschland nach 1990 noch zugenommen. „Große, seit 1990 nur geringfügig geschrumpfte Unterschiede bestehen in der Präferenz für post-materialistische Wertorientierungen. Sie ist in Ostdeutschland wesentlich schwächer als im Westen. . .“ Aus Ostdeutschland könnten also auf mehr Konservatismus und mehr „Normalität“ gerichtete Impulse kommen. Von den Vertretern der „Normalitäts“ -Forderung wird allerdings eher die Unterstützung neu-alter sozialistischer Ideen befürchtet, falls diese wieder in die Diskussion kommen würden. „Die Vereinigung bedeutete schließlich auch, daß es auf einmal in unserem Staat Millionen von Menschen gibt, die über vier Jahrzehnte im Sinne der kommunistischen Ideologie indoktriniert worden waren“, so Zitelmann
Demgegenüber muß als erheblich gravierender ein anderes, vornehmlich in Ostdeutschland beheimatetes Problem angesehen werden: der gewalttätige Jugendlichen-Rechtsextremismus. Von den Gewalttaten in Rostock und Hoyerswerda bis zur Terrorisierung ganzer Wohnviertel in Cottbus -wie erst in diesem Frühjahr bekannt wurde -zieht sich der Bogen rechtsextremer Jugendgewalt in Ostdeutschland Wie die Vorgeschichte dieses ausländerfeindlichen Terrors in der DDR aussieht, ist noch nicht geklärt. Die DDR-Behörden haben seinerzeit Gewalttaten von Jugendlichen unter „Rowdytum“ abgehakt und sind möglichen neofaschistischen Motiven nicht nachgegangen. Seriöse Jugenduntersuchungen -so die des Deutschen Jugend-Instituts (DJI) -gelangen zunächst zu einem etwas beruhigenderen Bild. Nur 19, 2 Prozent der 16-bis 29jährigen ostdeutschen Befragten des Jugendsurveys von 1997 gaben an, es wäre besser, „wenn alle Ausländer Deutschland verlassen würden“. Es handelt sich hier im übrigen um viermal so viele Männer wie Frauen. In Westdeutschland sind immerhin auch 7, 3 Prozent der Jugendlichen dieser Meinung Vor fünf Jahren war in Ostdeutschland die entsprechende Einstellung minimal höher, sie betrug 21, 0 Prozent Aufschlußreich ist des weiteren die Frage bei fremden-feindlichen Jugendlichen, wo sie sich politisch verorten: 33, 4 Prozent der betreffenden ostdeutschen Jugendlichen auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums, aber 49, 7 Prozent in der politischen Mitte. Man könnte das Problem eines jugendlichen Rechtsextremismus mit dieser Antwort zu verkleinern suchen Indessen ist die Problematik eher umgekehrt zu sehen: Die Hälfte aller fremdenfeindlichen Jugendlichen fühlt sich zur Mitte der Gesellschaft gehörig.
Können diese Tendenzen die Chancen einer „verfassungspatriotisch“ fundierten (Jürgen Habermas) oder gar, wie Karl Dietrich Bracher meint, einer „postnationalen Demokratie“ Bundesrepublik gefährden? Viel hängt davon ab, ob es gelingt, den ost-wie westdeutschen Jugendlichen ökonomisch attraktive Perspektiven nicht nur rhetorisch anzubieten, sondern praktisch zu vermitteln. Nach Auffassung der erwähnten DJI-Autorinnen und Autoren kommt es darüber hinaus aber vor allem darauf an, die den Rechtsextremismus verstärkt hervorbringenden „gesellschaftlichen Konflikte und sozialen Verwerfungen“ zu erkennen und zu bearbeiten Die 1politisch auch durch die Entwicklungen der Jahre ab 1990 eher erneut gefestigte Grundgesetz-Demokratie -nicht zuletzt durch den „normalen“ Machtwechsel auf Bundesebene 1998, durch die sich abzeichnende Integration der sich noch in der Endphase der DDR auf eine pluralistische, sozialstaatliche Demokratie wenigstens programmatisch umstellende SED in Gestalt der aus ihr hervorgehenden PDS einerseits, durch das immer wieder erneute Scheitern rechtsextremer bis eindeutig neufaschistischer Parteien andererseits -steht hier vor großen Herausforderungen.
Meines Erachtens hat die politische Kultur der Bundesrepublik eine weitere Herausforderung bestanden. Die sich als Teil des westlichen Bündnissystems wie als Teil des entstehenden EU-Europa verstehende Bundesrepublik war nicht nur verpflichtet, in den Beratungen um eine Lösung des Kosovo-Problems konstruktiv mitzuarbeiten; sie konnte sich auch -trotz fragwürdiger Verhand lungsführung des Westens in Rambouillet -der Mitwirkung an der Umsetzung des Ergebnisses kaum entziehen. Dennoch wäre eine Weigerung der neuen Bundesregierung, Tornados mit Personal für die Bombardierung Jugoslawiens bereitzustellen, möglich und auch -angesichts der Verbrechen der NS-geführten Deutschen Wehrmacht in Serbien und anderen Teilen Jugoslawiens -gegenüber den NATO-Verbündeten vertretbar gewesen. Die gerade ins Amt gekommene Regierung mußte sich hier kurzfristig entscheiden.
Diese schwierige Situation -überdies vermehrt durch den Vorsitz in der EU-Ratspräsidentschaft -führte offensichtlich zu um so größeren Anstrengungen, die politischen Essentials der Rambouillet-Verhandlungen doch noch umzusetzen, sie über eine UNO-Beteiligung abzusichern, Rußland mit einzubeziehen und damit den Bombenkrieg gegen Jugoslawien möglichst rasch beenden zu helfen. Durch das Ins-Spiel-Bringen russischer und finnischer Politiker durch den Außenminister und seinen Kanzler konnte schließlich der Weg zum Waffenstillstand und zur Rückkehr Hunderttausender vertriebener Kosovo-Albaner früher als erwartet beschritten werden. Diese durch die bundesrepublikanische Öffentlichkeit geradezu eingeforderte Friedensinitiative war, wie wir heute wissen, schließlich erfolgreich. Besonders hervorzuheben ist nach dieser ersten Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen, daß sie weder in der Anfangsphase noch danach im Handeln der Regierenden wie im öffentlichen Diskurs „Macht-staats“ -Philosophien Raum gab, sondern sich als Verteidigerin von Menschenrechten verstand.