I. Einleitung
Die DDR war ein Staat, der mit Symbolen nicht geizte. Er bedurfte ihrer und nutzte sie, um sich seiner Legitimität zu versichern oder sich diese zu verschaffen. Die politische Symbolik postulierte auf relativ einfache und durchschaubare Weise die ideologischen Prämissen des Gesellschaftssystems Von dieser Symbolik ist nichts mehr geblieben. Darüber hinaus verfügte die DDR-Gesellschaft über symbolische Kommunikationsformen, die keineswegs mit dem Ende des Staates verlorengegangen sind. Diese zu untersuchen scheint nicht nur sinnvoll, um Erklärungen für die relative Stabilität des politischen Systems zu finden, sondern auch, um soziale und kulturelle Eigenarten der ostdeutschen Gesellschaft zu erfassen. Ein Bereich, der, obwohl politisch scheinbar völlig desavouiert und deshalb für viele überraschend, bis heute starke , Kohäsionskräfte hat, ist das Bildungssystem der DDR Die Wurzeln dieses Phänomens liegen in der Frühzeit der DDR und in deren erfolgreicher symbolischer Vermittlung. Mit dem Bildungssystem verbinden sich Gründungsversprechen der DDR: der , Neubeginn‘ im Zeichen des Antifaschismus, das Gleichheitsprinzip (, Brechung des Bildungsprivilegs), soziale Mobilität und der Elitenwechsel. Es handelt sich um zentrale Legitimationselemente der DDR, die durch biographische Erfahrungen untermauert scheinen. Eine soziale Gruppe, in der sich diese Elemente bündeln, sind die Neulehrer. „Die Bezeichnung , Neulehrer, in die 1945/46 viele Menschen ihre Geringschätzung hineinleg ten, ... wurde zu einem , Ehrennamen für diejenigen, die mithalfen, eine historische Wende im deutschen Schulwesen herbeizuführen, und die heute den Kern unserer sozialistischen Lehrerschaft bilden“, resümierte 1965 einer der führenden DDR-Bildungshistoriker In einer fast dramenhaften Inszenierung erscheinen die Neulehrer als eine soziale Gruppe, der es gegen Widerstände gelang, sich aus anfänglicher Stigmatisierung herauszuarbeiten, und der deshalb Anerkennung nicht mehr verwehrt werden könne. Unschwer läßt sich dieses Bild auf die DDR insgesamt übertragen, und zweifellos war das vom Autor auch so gemeint. Die Neulehrer waren ein wichtiger Bestandteil des Gründungsmythos der DDR, den die Bildungsgeschichtsschreibung zu befördern hatte Dem standen stets Versuche der Delegitimierung gegenüber, ob in der Alltagswahrnehmung oder in der wissenschaftlichen Diskussion. Verkörpern sie den einen den Aufstieg des deutschen Schulwesens, gelten sie anderen gerade als Beleg für dessen Niedergang Im „kollektiven Gedächtnis“ stehen sie über den Bildungsbereich hinaus für den gescheiterten Versuch einer alternativen Gesellschaft oder aber für ein diktatorisches Gesellschaftsexperiment.
Bisher dominierende politikgeschichtliche Zugänge erfassen die Rolle der Neulehrer für die DDR-Gesellschaft nur in Hinblick auf deren politische Instrumentalisierung durch die SED. Um ihre Bedeutung für das , Selbstverständnis der DDR sichtbar zu machen, bedarf es eines Zugangs, der sozial-, mentalitäts-und berufsgeschichtliche Merkmale mitberücksichtigt und der die Ebene symbolischer Vermittlung nicht ausspart. In Anlehnung an einen Ansatz aus der Kul-turanalyse sehe ich einen geeigneten Zugang darin, die Neulehrer als ein „Schlüsselsymbol“ der DDR-Gesellschaft zu verstehen, das wesentliche Vorstellungen, Erfahrungen und Handlungsstrategien sozialer Akteure in dieser Gesellschaft erfaßt. Über die Untersuchung des Symbols , Neulehrer'erfährt man demnach etwas über die politische, soziale und kulturelle Verfaßtheit der DDR-Gesellschaft
II. Das Programm der Umschichtung der Lehrerschaft
Neben der Bodenreform und der Verstaatlichung der Großindustrie gehörte die Schulreform zu den Kernbereichen der gesellschaftlichen Umgestaltung in der SBZ. Zwar kam in allen Besatzungszonen der Entnazifizierung der Lehrerschaft eine besondere Bedeutung zu, in der SBZ waren die Eingriffe jedoch am umfassendsten. Dies war vor allem dem Konsens zwischen Besatzungsmacht und verantwortlichen deutschen Bildungspolitikern zu verdanken. Aufgrund der Schlüsselfunktion des Bildungssystems für die Gesellschaft wurden Maßnahmen zur politischen und sozialen Umschichtung der Lehrerschaft durch den Einsatz von Neulehrern befürwortet. Zwei SMAD-Befehle lieferten die Grundlage Die Realisierung lag in den Händen der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV), die in ihren Durchführungsbestimmungen offen ihre weitreichenden Intentionen benannte: „Diese Maßnahme der Not“, hieß es, biete „die große Gelegenheit, mit einem Schlage den Bestand unserer Lehrerschaft von Grund auf zu erneuern“
Bedingt durch Kriegsverluste, Kriegsgefangenschaft, steigende Schülerzahlen sowie die erste Welle der Entnazifizierung fehlten Ende 1945 nach Berechnungen der DVV in der SBZ einschließlich Berlin fast 31 000 Lehrer (ohne Berlin: 28 622) Nachdem 1945 bereits über 10 000 Schulhelfer in den Schuldienst gekommen waren, wurden 1946 in 86 Lehrgängen 24 329 Neulehrer ausgebildet, 19 576 wurden nach bestandener Abschlußprüfung in den Schuldienst übernommen Anfang 1947 sah eine neue Säuberungswelle die Entlassung von 3 500 Lehrern vor, und neue Kurse für fast 7 500 Neulehrer wurden geplant Insgesamt wurden zwischen 1945 und 1950 mehr als 60 000 Neulehrer ausgebildet. Vor allem die hohe Fluktuation unter den Neulehrern sorgte dafür, daß trotz versuchter Gegensteuerung durch die DVV und trotz ab 1948 einsetzender Wiedereinstellungen entlassener Lehrer bei veränderter Form und Dauer immer wieder auf diese Art der Lehrergewinnung zurückgegriffen wurde.
Ausschließlich durch die Entnazifizierung legitimiert, war die Neulehrergewinnung ein Notprogramm, das sich im Gegensatz zu den Bestrebungen vieler Bildungspolitiker, z. B.der DVV und der Lehrergewerkschaft, befand. Diese erhofften sich von der Schulreform nämlich zuerst eine Lehrerbildungsreform, wie sie zum Ende der Weimarer Republik von sozialistischen Bildungsreformern gefordert worden war. Die „Verwirklichung der Einheitsschule“ hing für sie von der „Einheitlichkeit des Lehrerstandes“ ab, die nur die Ausbildung aller Lehrer an der Universität gewährleiste Dieses Reformziel wurde in der SBZ/DDR nie erreicht. Gemessen daran war die Erneuerung der Lehrerschaft'als Voraussetzung der Schulreform'nicht ein Erfolg, sondern eher ein Scheitern.
Die Neulehrergewinnung verlief zudem keineswegs planvoll, sondern war von Ad-hoc-Entscheidungen geprägt. Die „Zusammenbruchge-Seilschaft“ (Kleßmann) der Nachkriegszeit drückte ihr den Stempel auf. Schon ab Mai 1945 wurden überall in der SBZ Schulhelfer eingestellt, für die zunächst eine hinreichende Schulbildung als Qualifikationsnachweis und der Nachweis einer wie auch immer erworbenen antifaschistischen Gesinnung genügten. Bei laufender Entnazifizierung sollte ab Oktober 1945 die SBZ-weite Aufnahme des Schulbetriebs gewährleistet sein. Aufgrund der bestehenden Länderhoheit wurden die Säuberungen sehr unterschiedlich gehandhabt, woraus Unterschiede im Einsatz von Neulehrern resultierten. Erst mit den ab Januar 1946 eingerichteten Kursen sollte die Neulehrergewinnung eine feste Struktur erhalten. Eine umfassende Werbekampagne setzte ein, die insbesondere Angehörigen bisher benachteiligter Schichten den Aufstieg in den Lehrerberuf und entsprechende materielle Unterstützung versprach. Die Resultate dieser Kampagne wurden in denselben Medien in ihrer Ambivalenz kommentiert: In den erwünschten Schichten blieb die Resonanz gering, die geforderte antifaschistische Gesinnung ließ sich durch , Persilscheine‘ erwerben, und ein besonderes Interesse erweckte der Zugang zu einem sozial anerkannten Beruf bei verkürzter Ausbildungszeit ebenso wie die zugesicherten Verpflegungssätze. Auch zeitweilige Aufnahmestopps und gezielte Werbungsaktionen über Parteien und Gewerkschaften führten kaum zu besseren Ergebnissen Ein brandenburgischer Schulrat teilte z. B.der Provinzialverwaltung lakonisch mit: „Bewerber aus Arbeiter-und Handwerkerkreisen konnte ich nicht in größerem Umfange heranziehen, weil sie sich nicht gemeldet haben.“ Dennoch wurden nach einer Überprüfung durch die SMAD im Frühjahr 1946 gerade die Schulräte dafür verantwortlich gemacht, daß in keinem Land der SBZ die Auslesekriterien eingehalten wurden
Letztlich aber profitierte die Neulehrergewinnung von den Gegebenheiten der Nachkriegsgesellschaft, die aufgrund der Arbeitsmarktsituation und der Entnazifizierung generell durch Berufs-, Status-und Schichtenwechsel gekennzeichnet war. Es stand eine große Gruppe von Personen zur Verfügung, die nach beruflicher Neuorientierung bzw. Ausbildungsperspektiven suchten: Das waren vor allem Angestellte und Oberschüler, die geringe Aussichten hatten, begonnene oder angestrebte Berufswege fortzusetzen. In einer Zeit, in der Bauberufen der Vorzug gegeben wurde, war die Neulehrerausbildung vor allem eine einmalige Alternative für die Angehörigen bildungswilliger Milieus.
Bei der politischen Auslese wurden frühzeitig Zugeständnisse gemacht. Eine Amnestierung der Jahrgänge bis 1920 eröffnete noch 1945 Mitgliedern der HJ und des BDM sowie jungen NSDAP-Mitgliedern den Weg in den Schuldienst. Der Umgang mit den jugendlichen Mitläufern des Nazi-Regimes war moderat und auf Integration und Umerziehung gerichtet. Diese schonende Behandlung traf vielfach auf Unverständnis: „Im allgemeinen werden immer wieder Stimmen laut, die die Ausmerzung der alten, bewährten Lehrkräfte bedauern, da man zum großen Teil erzwungene Nationalsozialisten im antifaschistischen Sinne für zuverlässiger hält als die jungen Leute, die ohne Kritik einseitig in dieser Gesinnungsrichtung aufgewachsen sind.“ Die Sorge teilten neben Eltern und Schulräten auch Vertreter der Lehrergewerkschaft. Über dieses Problem konnten die schon 1946 beeindruckenden SED-Mitgliederzahlen nur mühsam hinwegtäuschen. Die „übergroße Mehrzahl“, so ein Leiter der Neu-lehrerausbildung, seien „Opportunisten, die ihren Mantel nach dem gerade wehenden politischen Wind hängen. Die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei besagt dabei gar nichts.“ Entsprechend der üblichen Unterscheidung „nomineller“ und „aktiver“ NSDAP-Mitglieder in der Entnazifizierungsdiskussion wurde bereits von „nominellen SED-Mitgliedern“ gesprochen, die den Parteibeitritt zur Sicherung ihrer beruflichen Stellung gewählt hätten Zu den Sozialisationserfahrungen der Neulehrer gehörte auch ein ritualisierter Umgang mit politischen Zumutungen.
Während zeitgenössische Quellen ein überaus facettenreiches und ambivalentes Bild der Neulehrergewinnung zeichnen, setzte sich in der Geschichtsschreibung, aber auch in anderen gesellschaftlichen Medien, schon bald eine kanonisierte Sichtweise durch, in der die Kontingenzen dieser historischen Phase getilgt waren.
III. Neulehrer in der Literatur und im DEFA-Spielfilm
Welche Bedeutung die Neulehrer für die gesellschaftliche Umgestaltung in der SBZ/DDR hatten, zeigen auch die DDR-Literatur und der DEFA-Spielfilm. Die politischen, sozialen und menschlichen Konflikte dieses Umbruchs boten für künstlerische Darstellungen reichlich Stoff. Neulehrer waren schon in den fünfziger Jahren Protagonisten dieser gesellschaftlichen Umwälzung Rückblicke auf die Jahre 1945/46 waren Ausdruck eines forcierten Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung über die Legitimität der Entwicklung in der DDR. Dieses Bedürfnis verstärkte sich nach dem Mauerbau 1961. Zugleich waren beiden Medien erzieherische Aufgaben zugewiesen. Sie sollten , typische Entwicklungen und Erfahrungen erfassen, damit ein verbindliches Geschichtsbild vermitteln und darüber hinaus eine Art Handlungsanleitung für die Rezipienten bereitstellen.
Ein zentrales Thema der Erzählliteratur war die . Wandlung der Mitläufer des NS zu Antifaschisten. Schriftsteller, die selbst als Neulehrer begonnen hatten, schrieben idealisierte Entwicklungsromane, in denen ehemalige Wehrmachtsoldaten nach weltanschaulicher . Wandlung zu der Über-zeugung gelangten, daß sie als Neulehrer zu Erziehern einer neuen Generation berufen waren. Etwas später folgten Romane, in deren Mittelpunkt Karrieren . sozialistischer Neulehrer standen, die als beispielhaft für die soziale Mobilität und die Mitwirkungschancen sowie die daraus resultierende hohe Identifikation mit der DDR-Gesellschaft galten
Letzteres trifft auch für den DEFA-Spielfilm „Die besten Jahre“ (1965) zu. Er machte die Biographie eines Neulehrers zu einem Gleichnis für die Geschichte des Bildungswesens und der DDR insgesamt: Ein ehemaliger Weber wird von der Partei zu einem Neulehrerkurs geschickt und übernimmt, obwohl permanent überfordert, erst eine Dorf-schule, dann eine Oberschule und gelangt schließlich ins Ministerium für Volksbildung der DDR. Wie in einer Reihe anderer Filme dieses Zeitraums wird hier ein spezifisches Sozialismus-Verständnis vermittelt: Die DDR erscheint als ein . Experiment, dessen Erfolg von den Beteiligten abhängt, von deren Bereitschaft, sich dafür zu engagieren und sich . ganz hinzugeben. Weniger im gezeigten individuellen Lebensverlauf als im Grundmuster dieses Werdegangs konnten sich Neulehrer wiederfinden: wenn der Neulehrer übermüdet über seinen Unterrichtsvorbereitungen einschläft, wenn er vom Dach Schiefer für die Schule klaut, wenn er sich in der Oberschule dem mitleidigen Lächeln der Studienräte gegegenübersieht, die ihm die professionelle Anerkennung verweigern, und wenn er die Situation letzlich bewältigt. Hier wurden Erfahrungsmuster vorgeführt, die auch für Neulehrer, die nicht wie der Filmprotagonist 1945 in die KPD eintraten und zum Kader der Volksbildungsadministration avancierten, identitätsstiftend sein konnten.
Die DEFA-Spielfilme der sechziger Jahre hatten einen starken pädagogischen Charakter; ihr künstlerischer Anspruch, „eine Sache von Belang vorzutragen, erlaube es dennoch nicht, sie auf ihre Ideologie zu reduzieren Belangvoll sind, bei allen Unterschieden in der künstlerischen Qualität, die genannten Beispiele aus Literatur und Film vor allem deshalb, weil sie Deutungsmuster von Neulehrerbiographien anboten -nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für die subjektive Sinngebung. Sie knüpften an authentischen Lebensläufen an und gossen diese in eine geschlossene Form. Damit erleichterten sie aber wiederum die Orientierung in der Gesellschaft. Erst in einer späteren Phase öffnete sich die DDR-Literatur den kontingenten Erfahrungen von Neulehrern
IV. Erfahrungsmuster von Neulehrerbiographien
Die Geschichte der Neulehrer ist eine Geschichte individueller Lebensverläufe und gleichzeitig die einer sozialen Gruppe und . kollektiver Erfah-rungsmuster. Die Neulehrer verkörpern quasi lebensgeschichtlich , Aufstieg und , Niedergang der DDR: Sie begannen ihre Berufslaufbahn nach 1945 und beendeten sie meist in den achtziger Jahren. Um die Erfahrungen der Beteiligten mit zu berücksichtigen, sind Interviews mit ehemaligen Neulehrern Dokumente von besonderem Rang. Sie zeigen, daß die Erfahrungsgeschichte der Neu-lehrer nicht erst 1945, sondern reichlich zwei Jahrzehnte früher beginnt. Auch diese Vorgeschichten sind die von Schule und Gesellschaft der DDR. Die aus 51 Interviews gewonnenen , Muster erheben nicht den Anspruch der . Repräsentativität. Es gibt allerdings keinen Anlaß, anzunehmen, daß es sich hier gerade um vom , Normalfall abweichende Biographien handelt Wie verhalten sich die subjektiven Erfahrungen dieser Neu-lehrer zur historischen Überlieferung ihrer Rolle in der Gesellschaft?
Die interviewten Neulehrer kamen aus fast allen sozialen Milieus. In dieser sozialen Gruppe trafen sich das aufstiegswillige Arbeitermilieu und die abstiegsbedrohte Mittelschicht, wobei letztere deutlich überwiegt. Die . klassischen Schichtgrenzen lassen sich jedoch nicht ohne weiteres ziehen. Gemeinsam ist den Herkunftsmilieus ein extrem krisenhaftes Erleben der Weimarer Republik, die Erfahrung von wirtschaftlichen Einbrüchen und Arbeitslosigkeit, soziale Ab-und Umstiege und eine dadurch verursachte Instabilität der Lebenslagen überwiegend vor, seltener nach 1933. Als weitere Gemeinsamkeit resultierte daraus, daß der „Bildungsbeflissenheit“ (Bourdieu) dieser Milieus die mangelnden Realisierungschancen einer entsprechenden Bildungskarriere entgegenstanden. Im Gegensatz zu den Intentionen der Neulehrergewinnung handelte es sich dennoch weitgehend um die traditionellen . Rekrutierungsmilieus für den Volksschullehrerberuf, der schon für frühere Phasen als Beruf beschrieben wird, „in dem das abstiegsbedrohte Kleinbürgertum Sicherheit zu gewinnen sucht“ Diese soziale Zusammensetzung macht letztlich plausibel, weshalb das . Experiment der Neulehrergewinnung die Schule nicht existentiell gefährdete, sondern relativ erfolgreich war. Nicht minder wichtig sind jedoch die subjektiven Deutungen der Interviewten, die fast ausnahmslos ihre Herkunft, wenn nicht aus dem . Arbeitermilieu, so doch aus . kleinen Verhältnissen betonten, manchmal unter Rückgriff auf die Großelterngeneration. Das erklärt sich daraus, daß . niedrige Herkunft in der SBZ/DDR . symbolisches Kapital und für die Chancenfindung in der neuen Gesellschaft von Vorteil war.
Mehr als die Interviewten oft selbst zugestehen wollten, war der Nationalsozialismus eine sie prägende Erfahrung. Überwiegend den Jahrgängen 1919 bis 1928 zugehörig, durchliefen sie das „Gesamterfassungssystem des Nazi-Regimes: HJ -RAD (Reichsarbeitsdienst) -Wehrmacht. Nur von den Älteren konnten sich einige der HJ entziehen (von denen bezeichnenderweise keiner die Oberschule bis zum Abitur besuchte), ansonsten gelang das nicht einmal Jugendlichen aus politisch-oppositionellen Elternhäusern. Je mehr die „Staatsjugend durchgesetzt wurde, desto häufiger hing höhere Schulbildung, vor allem die sogenannten „Freistellen“, auf die viele angewiesen waren, von der HJ-Mitgliedschaft ab. Bis zum Kriegsbeginn 1939 wurden die Bildungschancen für den größeren Teil der Interviewten nicht berührt. Für einige boten sich im Nationalsozialismus sogar erweiterte Möglichkeiten, z. B. durch die 1941 gegründeten Lehrerbildungsanstalten. Zum lebensgeschichtlichen Einschnitt wurde für die Interviewten der Zweite Weltkrieg. Durchgängig erfolgten nun durch Arbeitsdienst, Wehrdienst oder Kriegshilfsdienst vollständige Einbrüche der Bildungskarrieren. Abgebrochene Ausbildungen und Notabschlüsse schufen bereits die Basis für die spätere Identifikation mit dem Programm der Beseitigung von Bildungsbarrieren.
Das Ende der Nazi-Zeit bedeutete für die Interviewten den Zusammenbruch bisheriger Lebens-planung. Insofern war das Jahr 1945 eine „Stunde Null“. Nationalsozialismus und Krieg, Kriegsende und Gewalt der Besatzungsmacht sowie die Kriegsgefangenschaft bildeten in der Selbstdeutung einen unauflöslichen Erfahrungszusammenhang. Deshalb war die Identifikation mit dem Slogan „Nie wieder Krieg!“ für Neulehrer die zentrale Komponente des Antifaschismus. Antifaschistische Gesinnung wurde subjektiv als Ablehnung des Krieges und als Bereitschaft zum Wiederaufbau übersetzt.
Für die meisten Interviewten war die Möglichkeit der Fortsetzung begonnener Bildungs-und Berufs-wege zunächst nicht gegeben, zum Teil aufgrund ihrer politischen Vergangenheit, zum anderen mangels Ausbildungsinstitutionen. Viele waren gezwungen, Beschäftigungen zu wählen, die nicht ihrer Herkunftsorientierung entsprachen, sondern im Gegenteil eine drohende . Proletarisierung bedeuteten, der die Betreffenden oft gerade zuvor erfolgreich entkommen waren. Einige waren rascher, andere erst nach vergeblicher Suche nach Alternativen kompromißfähig. Interviewte mit Bezug zum Lehrermilieu (LBA-Schüler oder Lehrerkinder) ergriffen relativ schnell die Chance der Neulehrertätigkeit. Andere . entdeckten in ihrer Vorgeschichte (z. B.frühere Empfehlungen von Lehrern) oder aktuellen Situation (durch Hinweise von Eltern, Freunden oder Lehrern) ihre , Nähe‘ zum Lehrerberuf. Die Neulehrergewinnung war eine beispiellose Chance in der , Überlebensgesellschaft: Lehrer erhielten die Industriearbeiter-Lebensmittelkarte; Landlehrerstellen boten vergleichweise hohe Versorgungssicherheit; formale Bildungsabschlüsse waren zweitrangig. Einerseits konnte relativ kurzfristig an die Orientierungen der Herkunftsfamilien angeknüpft werden, andererseits war für die Zukunft weitgehende Offenheit gegeben. Es ist wenig verwunderlich, daß entgegen den politischen Intentionen besonders Mittel-und Oberschüler die Neulehrertätigkeit suchten. In zeitgenössischer soziologischer Sicht war es gerade diese soziale Gruppe, die in einer perspektivlos scheinenden Situation offenbar am meisten Energie aufbrachte, an früheren Orientierungen festzuhalten Die häufige Deutung der , Nähe zum Lehrerberuf erscheint wiederum als eine Konstruktion, die der Chancenfindung im angestrebten sozialen Feld diente.
Diejenigen, die sich endgültig für den Lehrerberuf entschieden, durchliefen, wenn auch nicht in Form einer herkömmlichen Berufskarriere, die Sozialisation in der Institution Schule und innerhalb der Lehrerberufskultur In berufsgeschichtlicher Perspektive stehen die Neulehrer deshalb auch für historische Kontinuitäten. Elemente von Diskontinuität waren sicherlich der Ausbildungsgang, das jugendliche Alter und eine um sozialpädagogische und politische Ansprüche erweiterte Lehrerrolle. Elemente von Kontinuität setzten sich in der unmittelbaren beruflichen Sozialisation und Ausbildung durch Altlehrer durch. In der Aus-und Weiterbildung, vor allem aber in der Schulpraxis kamen Arbeitshaltungen und Wertorientierungen der Berufskultur zum Ausdruck. Als traditionelle Formen der Limitierung des Berufszugangs wurden in der SBZ/DDR auch die staatlichen Lehrer-prüfungen beibehalten, von ihnen hing ab 1953 der Verbleib im Schuldienst ab. Weitere formale Qualifikationen waren in eigens eingerichteten Fern-studiengängen zu erwerben. In der biographischen
Selbstdeutung hat diese Lehrersozialisation einen dominanten Stellenwert. Das . professionelle Selbstbewußtsein'gründet sich dabei auf die subjektive Leistungsbereitschaft, wofür die biographische Konstruktion des , Selbsthelfers steht. Diese Deutung wurde im übrigen wesentlich durch die künstlerischen Medien gestützt.
Schon Anfang der fünfziger Jahre differenzierten sich die . Karrieren von Neulehrern. Ein Teil nahm durch staatliche Jugendförderung und SED-Kaderrekrutierung einen raschen Aufstieg in den verschiedenen Bereichen des Bildungswesens. Insbesondere wenn die Betreffenden tatsächlich aus dem Arbeitermilieu stammten oder bereits früh verantwortungsvolle Positionen besetzten, kam solchen . Aufstiegen ein hoher Symbolwert zu. Darüber wurde jedoch oft vergessen, daß die Mehrzahl als Lehrer oder als Schulleiter im Schuldienst blieb und daß es auch . Abstiege gab; Frauen, die Unterstufenlehrerinnen blieben, sind ein Beispiel dafür. Interessanterweise lautet die Deutung des eigenen Werdegangs in den verschiedenen . Gruppen in etwa gleich: „Ich wurde gebraucht.“ In dieser Konstruktion repräsentiert sich das diffizile Verhältnis von Selbst-und Fremdbestimmung im Karriereverlauf. Der einzelne hatte, so ein Interviewter, „nicht immer die Möglichkeit ..., seine eigenen Ambitionen durchzusetzen. Andererseits behauptet die Formel auch die Umkehrung: . Ohne mich ging nichts und steht somit für das charakteristische Selbstbewußtsein der DDR-Aufbaugeneration.
V. Die Neulehrer -ein erfahrungsgesättigtes Symbol
Der Neulehrerberuf war eine der Aufstiegsschleusen der DDR. Ehemalige Neulehrer fand man Ende der achtziger Jahren in allen Bereichen der DDR-Gesellschaft in leitenden Positionen; Neu-lehrer wurden nicht nur Schulleiter und Schulräte, sondern Wissenschaftler und Minister Solche . Karrieren stehen bis heute für die soziale Mobilität dieser Gesellschaft. Insofern sind die Neulehrer für die DDR ein Schlüsselsymbol, wie es für die amerikanische Gesellschaft der . Tellerwäscher ist, wenngleich mit dem eklatanten Unterschied, daß sie nicht Reichtum und Macht als Ziel des Auf-stiegs symbolisieren, sondern die Partizipation neuer Schichten an der Gestaltung der Gesellschaft, wie sie dem Konzept des Elitenaustauschs entsprach. Ein propagandistisches Symbol -ähnlich der politischen Symbolik -ist es dabei insofern, als Mobilitäts-und Partizipationschancen lediglich für eine DDR-Generation und auch nur teilweise tatsächlich gegeben waren
Das Symbol , Neulehrer konnte sich aber nur deshalb voll entfalten, weil es Erfahrungen erfaßt, die über die Kategorie des , Aufstiegs hinausreichen. Denjenigen, die diese Laufbahn wählten, gelang es, die gebotenen Möglichkeiten der Integration in die Nachkriegsgesellschaft und der sozialen Positionierung zu nutzen und damit ihre biographischen Eigeninteressen durchzusetzen. Diese Gruppe besaß, mit Bourdieu gesprochen, kein ökonomisches Kapital, sondern suchte ihre Chancen in der Gesellschaft über kulturelles und Bil dungskapital zu finden. Unter Nutzung , symbolischen Kapitals -der Deutung sozialer und politischer Erfahrungen -gelang es ihnen z. B., die in der SBZ/DDR herrschenden Barrieren des Herkunftsprinzips und des Loyalitätsprinzips zu überwinden. Die Umdeutung von Erfahrungen und Interessen erscheint deshalb selbst als eine zentrale kulturelle Strategie, um sich in der Gesellschaft zu behaupten.
Die Neulehrer sind ein Schlüsselsymbol für die Selbstdarstellung der DDR, aber darüber hinaus ein Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft. Sie stehen zum einen für die Legitimation des Gesellschaftssystems nach innen und nach außen, zum anderen für eine soziale Praxis, für Lebens-verläufe und kulturelle Strategien in dieser Gesellschaft. Mit den , Neulehrern werden deshalb immer zugleich DDR-Biographien thematisch. Daß es sich um ein erfahrungsgesättigtes Symbol handelt, erklärt seine ungleich größere Wirkkraft im Vergleich zur politischen Symbolik auch nach dem Ende der DDR.