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Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis | APuZ 37/1999 | bpb.de

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APuZ 37/1999 Modell Deutschland: Von der Konzertierten Aktion zum Bündnis für Arbeit Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis Eine Frage der Balance: Reform der Arbeitsmarktpolitik

Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis

Rainer Dombois

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Bundesrepublik Deutschland beobachten wir seit den achtziger Jahren die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, eine wachsende Heterogenität von Beschäftigungsformen und eine Entstandardisierung und Destabilisierung der Erwerbsbiographien. Das arbeits-und sozialrechtliche Normengefüge büßt an Regulierungs-und Schutzfunktionen ein; Normalität im Erwerbssystem und die Schutzwirkung rechtlicher Normen fallen immer mehr auseinander, und es setzen sich neue Formen der sozialen Ungleichheit durch. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird häufig auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt -namentlich das von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus wachsende Niveau der Arbeitslosigkeit -sowie auf Politiken der Deregulierung zurückgeführt. Der Beitrag hebt demgegenüber die Bedeutung des ökonomischen Strukturwandels und auch der soziokulturellen Veränderungen hervor, welche die früheren Normalitätsmuster sprengen. Arbeitsmarkt-politik kann sich demnach kaum mehr an Leitbildern der Vollbeschäftigung und standardisierter Beschäftigungsformen nach dem Vorbild der frühen siebziger Jahre orientieren. Es werden schließlich Konzepte und Strategien der Erwerbsarbeit vorgestellt und diskutiert, die Differenzierungen in der Beschäftigung nicht aufzuheben, sondern sie sozial zu regulieren und abzusichern und damit zugleich versperrte Zugänge zum Erwerbssystem zü öffnen suchen.

In der Bundesrepublik Deutschland beobachten wir seit den achtziger Jahren die Auflösung von Normalitätsmustern der abhängigen Arbeit, die als Erosion des Normalarbeitsverhältnisses bezeichnet wird. Sie drückt sich in einer wachsenden Heterogenität von Beschäftigungsformen und einer Entstandardisierung und Destabilisierung der Erwerbsbiografien aus. Das institutionelle Normengefüge, das sich nach wie vor am herkömmlichen Normalarbeitsverhältnis orientiert, büßt an Regulierungs-und Schutzfunktionen ein; Normalität im Erwerbssystem und die Schutzwirkung rechtlicher Normen fallen immer mehr auseinander, und es setzen sich neue Formen der sozialen Ungleichheit durch.

Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird häufig auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt -namentlich auf das von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus wachsende Niveau der Arbeitslosigkeit -sowie Politiken der Deregulierung zurückgeführt. Eine solche Erklärung greift aber zu kurz, wenn sie nicht den ökonomischen Strukturwandel einbezieht und auch die gesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigt, welche die früheren Normalitätsmuster sprengen und zugleich die in diesen verborgenen Ungleichheitsstrukturen offenlegen.

Arbeitsmarktpolitik kann sich daher kaum mehr an Leitbildern der Vollbeschäftigung und standardisierter Beschäftigungsformen nach dem Vorbild der frühen siebziger Jahre orientieren; es sind Konzepte und Politiken nötig, die Differenzierungen in der Beschäftigung nicht beseitigen, sondern sozial regulieren und absichern und damit zugleich versperrte Zugänge zum Erwerbssystem öffnen.

Im folgenden werde ich zunächst Charakteristika des Normalarbeitsverhältnisses sowie die Ausdrucksformen und Ursachen seiner Erosion skizzieren und dann einige Ansätze der Neuordnung der Erwerbsarbeit vorstellen und diskutieren.

I. Die Ausbildung des Normalarbeitsverhältnisses in der Nachkriegszeit

Die Entwicklung des Beschäftigungssystems in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland war durch eine einzigartige Konstellation''bestimmt. Der schnell wachsende industriell-marktwirtschaftliche Sektor verdrängte die landwirtschaftliche und handwerkliche Kleinproduktion und absorbierte rasch einen großen Teil der Arbeitskräfte des traditionellen Erwerbssektors. Dieser Prozeß wurde flankiert und gefördert durch die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats. Keynesianische Wirtschaftspolitik, soziale Umverteilung, der Ausbau der sozialen Versorgungs-und Sicherungssysteme trugen ebenso wie die Entwicklung der industriellen Beziehungen zür Vollbeschäftigung und zur Stabilisierung und relativen Angleichung der Einkommen bei Es war in dieser Hochzeit des Fordismus (Fließbandfertigung), in der eine bestimmte soziale Beschäftigungsform normativ ausgestaltet und perfektioniert wurde und auch empirisch seine größte Verbreitung fand. Es bildete sich die Figur des „Normalarbeitsverhältnisses" heraus, die nicht nur „Bezugspunkt für juristische Ge-und Verbote sowie Rechtsinterpretationen“ sondern auch Orientierungsrahmen für die Erwartungen und Strategien von Arbeitnehmern und Beschäftigern am Arbeitsmarkt wurde.

Für das Normalarbeitsverhältnis können folgende Elemente als konstitutiv angesehen werden: Abhängige Erwerbsarbeit ist die einzige Einkommens-und Versorgungsquelle. Sie wird in Vollzeit verrichtet und verschafft mindestens ein existenzsicherndes Einkommen. Das Arbeitsverhältnis ist unbefristet, im Prinzip auf Dauer angelegt und in ein engmaschiges Netz von rechtlichen und tariflichen Normen einge-woben, die Vertragsbedingungen und soziale Sicherungen regeln. Auch die zeitliche Organiil sation der Arbeit -Länge und Lage der Arbeitszeit -wird standardisiert. Das Arbeitsverhältnis bildet einen mehr oder weniger langen Abschnitt einer kontinuierlichen Erwerbsbiographie, die allenfalls durch , kurze Phasen der Arbeitslosigkeit unterbro,, chen ist. Älter, Beschäftigungsdauer, vor allem aber Betriebszugehörigkeit drücken sich in zunehmenden Statusrechten und -Sicherungen aus. Tatsächlich sind Erwerbsverläufe nicht nur durch den Beruf, sondern auch durch strikte r Alters-und Senioritätsnormen strukturiert und nehmen, die Form von „Normalbiographien“ g; an, die durchkarriereförmige Muster der Stabi, lisierung oder Verbesserung des beruflichen , Status charakterisiert werden

Es ist dieser Typ von Arbeitsverhältnissen und Erwerbsverläufen, der (nach wie vor) im Zentrum der sozialen Schutzregelungen des Arbeits-und Sozialrechts'Steht und institutionell gestützt und abgesichert wird. Arbeitsrecht und Kollektivvereinbarungen schränken die Vertragsfreiheit ein, was die zeitliche Befristung und Kündigungen angeht, und räumen Alter und Seniorität einen hervorragenden Platz als Kriterien für sozialen Schutz ein. Die Ansprüche an die soziale Sicherung — Arbeitslosenunterstützung, Rente aus der Sozialversicherung und betriebliche Zusatz-rente -sind, an die vorherige Erwerbsarbeit gebun(Jen und bemessen sich an Erwerbsdauer, Einkommen und eingezahlten Beiträgen. Nur wer in seinem Erwerbslebenkontinuierlich und in Voll-zeit arbeitet, kann demnach eine maximale soziale Absicherung erwarten.

Das Normalarbeitsverhältnis wurde gleichermaßen sozialpolitisches Leitbild, praktischer Orientierungsrahmen am Arbeitsmarkt und auch empirisch’vorherrschende Beschäftigungsform in der Nachkriegszeit. Es schloß zwar eine Angleichung von bestimmten Beschäftigungsbedingungen ein. Bereits in der normativen Konstruktion wurden aber Formen der Ungleichheit festgeschrieben. Dies drückt sich etwa in Schutzfunktionen aus, die direktoderindirektj an die Betriebsgröße gekoppelt, sind und Beschäftigte in Großbetrieben mit etablierten Mitbestimmungsorganen und kompromißförmigen Personalpolitiken privilegieren. Aber auch faktischwaren große Gruppen von Personen von den sozialen Stabilitäts-und Sicherungsversprechen des Normalarbeitsverhältnisses ausgeschlossen. Das Normalarbeitsverhältnis schien zwar universalistische Maßstäbe zu setzen, unterstellte aber eine Normalität von Lebensverhältnissen, die nur für einen Teil der Bevölkerung galt. Frauen etwa waren von den materiellen und sozialen Sicherungen des Normalarbeitsverhältnisses weitgehend ausgeschlossen, weil sie im Rahmen des herkömmlichen Geschlechterarrangements der „männlichen Versorgerehe bzw. Hausfrauen-ehe“ nicht oder nicht voll und kontinuierlich erwerbstätig sein konnten oder wollten. Demnach war der Mann durch kontinuierliche Vollzeit-Erwerbsarbeit für das Familieneinkommen und die soziale Sicherung auch der Frau verantwortlich, während die verheiratete Frau zur Versorgung der Familie und im Normalfall nicht zur Lohnarbeit verpflichtet war; sie bedurfte daher auch nicht der umfassenden Schutzrechte aus dem Normalarbeitsverhältnis Insgesamt setzte das traditionelle Familienmodell eine hochgradige Stabilität der Ehen und der Arbeitsteilung zwischen den Ehepartnern, den Verzicht der Frauen auf eine eigenständige Existenzsicherung und ihre Abhängigkeit von den Partnern voraus.

Das Normalarbeitsverhältnis baute so auf Strukturen der sozialen Ungleichheit auf und verfestigte sie. Auch andere Personengruppen -so etwa ausländische Arbeitskräfte, Berufs-und Betriebswechsler -waren dem Risiko ausgesetzt, aus dem Normalarbeitsverhältnis herauszufallen, weil sie nicht kontinuierlich und vollzeitig erwerbstätig sein und nur mindere Ansprüche auf Existenz-und Statussicherung stellen konnten.

II. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses

Seit den achtziger Jahren zeigt sich ein deutlicher Erosionsprozeß. In der ersten Hälfte der vorigen Dekade waren erstmals mehr als zwei Millionen Personen als erwerbslos registriert. In den neunziger Jahren sprang die Zahl auf inzwischen über vier Millionen oder mehr als zehn Prozent. Be-zieht man die Personen, die an Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit teilnehmen, sowie die potentiellen Arbeitnehmer in der „Stillen Reserve“ ein, dann ergibt sich im Jahre 1999 ein Beschäftigungsdefizit von etwa sieben Millionen Arbeitsplätzen

Zugleich hat der Anteil von Erwerbsformen, die vom Normalarbeitsverhältnis abweichen, empirisch enorm zugenommen. Die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen schätzt, daß der Anteil von Personen in „Normarbeitsverhältnissen“, d. h. mit unbefristeten Vollzeitverträgen, in Westdeutschland zwischen 1970 und 1995 von fast 84 Prozent auf 68 Prozent aller abhängig Beschäftigten zurückgegangen ist 6.

Stark zugenommen hat demnach vor allem die Teilzeitbeschäftigung -von Prozent auf 23 Prozent; sie wird ganz überwiegend von Frauen ausgeübt. Ein Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse ist arbeits-und sozialrechtlich voll geschützt; ein anderer, die sog. „geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse“, sind auf einen monatlichen Höchstverdienst von gegenwärtig 630 DM begrenzt und vermitteln in der Regel allenfalls geringfügige Ansprüche auf soziale Sicherung. Bemerkenswert ist die schnelle Ausweitung des Anteils dieser Beschäftigungsform insbesondere in den neunziger Jahren Neben der Teilzeitarbeit bildet die formell befristete Beschäftigung eine zweite große Gruppe „abweichender“ abhängiger Erwerbstätigkeit. Sie macht (ohne Ausbildungsverhältnisse) etwa fünf Prozent abhängiger Beschäftigung aus, hat allerdings seit Mitte der achtziger Jahre nur geringfügig zugenommen Schließlich haben sich auch weitere Beschäftigungsformen ausgeweitet, so die Leiharbeit und die öffentlich subventionierte Beschäftigung (ABM-Maßnahmen).

Bei allen statistischen Ungenauigkeiten und widersprüchlichen Interpretationen kann man insgesamt von einer starken Differenzierung der abhängigen Beschäftigung ausgehen. Das „Normarbeitsverhältnis“ hat an Verbreitung verloren; zugleich haben Beschäftigungsformen zugenommen, die kein existenzsicherndes Einkommen, kaum stabile Perspektiven und/oder nur eingeschränkten arbeits-und sozialrechtlichen Schutz bieten. Zusammen mit der Arbeitslosigkeit tragen sie zur Ausbreitung diskontinuierlicher Erwerbsbiographien bei, die nur noch in unzulänglichem Maße Ansprüche an ein System der sozialen Sicherung begründen, welches noch auf dem Normalarbeitsverhältnis aufbaut. Hohe Arbeitslosigkeit und die Ausweitung von „abweichenden“ Beschäftigungsverhältnissen schaffen so wachsende Probleme generations-und geschlechtsspezifischer sozialer Ungleichheit: Einer älteren Generation (überwiegend Männer), die lebenslang im Normalarbeitsverhältnis erwerbstätig war und volle Ansprüche auf die soziale Sicherung erworben hat, stehen große Gruppen von Personen gegenüber, die wegen reduzierter oder diskontinuierlicher Beschäftigung nicht mit einer hinreichenden und stabilen individuellen Sicherung rechnen können, so vor allem Frauen und jüngere Arbeitnehmer.

III. Ökonomischer und soziokultureller Wandel und die Differenzierung von Beschäftigung

Viele Kritiker erklären die Erosion des Normal-arbeitsverhältnisses in Deutschland vor allem aus politischen und ökonomischen Veränderungen, die zu einer rigorosen Verschiebung der Machtbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit geführt haben. „Jobless Growth“ und Massenarbeitslosigkeit, begleitet von einer neoliberalen Deregulierungsoffensive, schaffen demnach Machtasymmetrien in der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt, die es den Unternehmen erlauben, neue Flexibilisierungsstrategien durchzusetzen, das herkömmliche System hoher, dichter und egalitär ausgerichteter Schutzstandards auszuhöhlen und neue Differenzierungen zu Lasten der Arbeitnehmer zu schaffen. Eine solche Argumentation ist sicherlich nicht unbegründet. Sie erscheint aber verkürzt, weil sie andere Quellen übersieht, die das Normalarbeitsverhältnis unter Veränderungsdruck setzen: den Strukturwandel der Wirtschaft, der die Basis für eine neuartige Differenzierung von Tätigkeiten und Arbeitsverhältnissen legt, sowie Prozesse des gesellschaftlichen Wandels, in dem sich auch die Ansprüche der Arbeitnehmer an die Beschäftigungsverhältnisse verändern und differenzieren.1. Deregulierung Die konservativ-liberale Koalition hat seit den achtziger Jahren und zumal im Zuge der Diskussion um den „Standort Deutschland“ Maßnahmen der rechtlichen Deregulierung durchgesetzt. Sie hatten u. a. folgende Schwerpunkte: die Ausweitung der rechtlichen Spielräume für Leiharbeit und für befristete Arbeitsverträge; die Einschränkung des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; die Verminderung von Transferzahlungen an Arbeitslose und Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen

Insgesamt ist aber die rechtliche Deregulierung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern eher moderat ausgefallen; sie ist widersprüchlich, wenig systematisch und eher „zögerlich oder gar halbherzig“ 10 eingeführt worden, und sie gibt jene eigentümliche Kontinuität wieder, welche den „rheinischen Kapitalismus“ (Michel Albert) mit seinem breiten Spektrum politischen Konsenses und letztlich doch relativ stabilen Mustern sozialen Kompromisses charakterisiert. Obwohl das hohe Niveau und die große Dichte der Regulierung in Deutschland kräftige Deregulierungseinschnitte durch die konservative Regierung erwarten ließen, blieben die regulativen Veränderungen im Rahmen der gewachsenen rechtlichen Grundstrukturen. Offensichtlich wirken, wie Berndt Keller und Hartmut Seifert feststellen, die „Regulierungsmechanismen, Institutionen und Handlungsstrategien der korporativen Akteure ... als Sicherungen, Barrieren und wichtige Stabilitätsbedingungen“ 11. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist daher weniger Ergebnis der Deregulierung von Rechtsnormen. Sie drückt vielmehr vor allem die Veränderung von Normalität im Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses ist daher weniger Ergebnis der Deregulierung von Rechtsnormen. Sie drückt vielmehr vor allem die Veränderung von Normalität im Rahmen gegebenen Rechts aus 2. Veränderungen am Arbeitsmarkt und wirtschaftlicher Strukturwandel Wie aber läßt sich der Wandel von Normalität erklären? Es liegt zunächst nahe, den Veränderungen am Arbeitsmarkt eine bestimmende Rolle einzuräumen.

Seit den sechziger und insbesondere seit den siebziger Jahren haben sich die Wachstumsraten drastisch reduziert und sind beträchtlich unter der Steigerung der Produktivität geblieben. Mit der Produktivitätsschere hängt zusammen, daß das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen -also die gesamte für abhängige Arbeit aufgewendete Zeit der Gesellschaft in Westdeutschland -in den letzten 35 Jahren beträchtlich, nämlich um fast 20 Prozent geschrumpft ist. Im selben Zeitraum, vor allem in den achtziger Jahren, hat sich aber die Zahl der Erwerbspersonen stark, um fast 10 Prozent erhöht, bedingt durch die rasche Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen, die Zuwanderung und den Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in den Arbeitsmarkt. Daß die Zahl der Arbeitslosen nicht noch wesentlich höher ist, ist insbesondere der starken Arbeitszeitverkürzung zuzurechnen: In den letzten 35 Jahren hat sich die reale Arbeitszeit je Arbeitnehmer um gut ein Viertel reduziert, also weit mehr als das Arbeitsvolumen. Das geringere Arbeitsvolumen verteilt sich daher auf eine größere Zahl von Erwerbstätigen Insgesamt haben sich aber die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt angesichts der Disparität von Angebot und Nachfrage gegenüber den sechziger und siebziger Jahren drastisch verändert und die Substitution von Normarbeitsverhältnissen durch abweichende Formen gefördert. So sind heute Beschäftigungsformen zumutbar, die früher kaum akzeptabel waren.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Differenzierung der Beschäftigungsformen nur auf die Verschiebungen der Machtbeziehungen am Arbeitsmarkt zurückzuführen. Von zentraler Bedeutung ist auch der wirtschaftliche Strukturwandel, in dessen Verlauf sich Formen der Arbeit und Arbeitsorganisation und damit die Erwerbstätigkeiten selbst verändern. Seit den siebziger Jahren hat die rapide „Tertiarisierung“ den Arbeitsmarkt auf eine schleichende, aber darum nicht weniger dramatische Weise umstrukturiert: Der Dienstleistungssektor und darin vor allem der Bereich der unternehmensbezogenen und sozialen Dienstleistungen hat ein enormes Wachstum erfahren und die Industrie in ihrem Beitrag zu Wertschöpfung und Beschäftigung weit hinter sich gelassen Aber aüch in der Industrie selbst zeigen sich Tendenzen der Tertiarisierung: „Direkte“. Produktionsarbeitverliert an Bedeutung; viele Tätigkeiten sind inzwischen eher den Dienstleistungen als der materiellen Produktion zuzurechnen Dienstleistungsarbeit ist häufig in höchst flexible Organisations-und Zeitstrukturen eingebettet, die nur noch wenig mit der klassischen Industriearbeit und ihren standardisierten Ördnungsregimen zu tun haben. Im expandierenden Dienstleistungsbereich finden wir Tätigkeiten, die große Autonomie der Arbeits-und Kooperationsgestaltung, der Zeitverwendung und räumlichen Mobilität verlangen oder zulassen, ebenso wie Arbeiten, deren Rhythmus vor allem von den Flexibilisierungsinteressen der Unternehmen diktiert und/oder, wie im Bereich der sozialen und persönlichen Dienstleistungen, von dem Bedarf der Klienten bestimmt wird.

Diese Tendenzen des ökonomischen Strukturwandels tragen zur Veränderung der Profile und ebenso der organisatorisch-institutionellen Kontexte von Erwerbstätigkeit bei. Erwerbstätigkeit wird immer) weniger durch den Typ der Produktionsarbeit in der standardisierten Massenfertigung repräsentiert, sondern zeigt eine bislang ungekannte Differenzierung von Arbeitstypen und Qualifikationsanforderungen selbst innerhalb derselben Unternehmen und Institutionen. Und auch der Organisationstyp, der das Normalarbeitsverhältnis stützte -das große Unternehmen -, büßt an Bedeutung ein gegenüber den kleinen und mittleren Unternehmen und/oder neuen, netzwerkförmigen Zusammenhängen mit oft instabilen Markt-bedingungen und flexiblen Organisafionsformen und Zeitregimes 3. Erosion des traditionellen Systems von Kollektivvereinbarungen Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, ökonomischer Strukturwandel und neuartige Differenzierungen von Unternehmen und Erwerbstätigkeit setzen auch eine institutionelle Stütze des Normal-arbeitsverhältnisses unter Druck: das herkömmliche System der Kollektivvereinbarungen und sein Herzstück, den Flächentarifvertrag. Seit den achtziger Jahren, in Zeiten schrumpfender Wachstums-margenund wachsender Arbeitslosigkeit, hat dieses System in zweierlei Hinsicht an allgemeiner Regulierungskraft eingebüßt: Erstens werden Pioniervereinbarungen nicht mehr wie früher in den Tarifverträgen anderer Branchen übernommen und verallgemeinert, mit der Folge, daß sich die Kollektivvereinbarungen zwischen Wirtschaftsbereichen immer mehr unterscheiden. Zweitens werden zunehmend auch Standards des Flächentarifvertrags selbst „flexibilisiert“, d. h. differenziert und spezifischen betrieblichen Bedingungen angepaßt.

Nach der Lage und Länge der Arbeitszeiten -früher ein Kernstück tariflicher Standardisierung -sind in den neunziger Jahren auch Löhne und Sozialleistungen in den Flexibilisierungssog geraten 17. So würden zunehmend Öffnungsklauseln, die betriebsspezifische Abweichungen oder Ausgestaltungen von tariflichen Normen erlauben, in die Tarifverträge eingeführt; Härteklauseln gestatten die befristete Unterschreitung von Tarifnormen. In Tarifverträgen wurden Entgeltstandards differenziert und mitunter Sozialleistungen eingeschränkt. Neben kollektiv regulierten Formen gewinnen auch Formen der „wilden“ Flexibilisierung, die einseitig von Unternehmen durchgesetzt oder ohne Kenntnis der Gewerkschaft mit Betriebsräten vereinbart werden, an Boden.

Mit der „Verbetrieblichung" der Arbeitsbeziehungen verändert sich nicht nur die Rolle der betrieblichen Akteure im Verhältnis zu den Repräsentanten der Verbände, welche die Flächentarifverträge aushandeln. Es verändert sich auch der Bezugsrahmen der Politiken, da nun die spezifische betriebliche Situation an Gewicht gewinnt. Schließlich wird einem Regelungssystem der Boden entzogen, das bislang die Angleichung von Arbeits-und Vertragsbedingungen förderte, und es öffnen sich mit den neuen Differenzierungen auch neue materielle Disparitäten. 4. Veränderte gesellschaftliche Ansprüche an die Erwerbsarbeit Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird schließlich auch durch sozio-kulturelle Veränderungen befördert. Das wird besonders deutlich im Bereich der rasch expandierenden Teilzeitbeschäftigung. Im Jahre 1997 waren in Westdeutschland immerhin fast 40 Prozent aller erwerbstätigen Frauen und 10 Prozent der Männer teilzeitbeschäf-tigt Die rasche Zunahme der Teilzeitarbeit seit den achtziger Jahren hängt eng mit den Veränderungen des Erwerbsverhaltens und der Erwerbsorientierungen zusammen. Von Bedeutung ist vor allem die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen, die sich zunehmend der der Männer angleicht. Sie erklärt sich gleichermaßen aus dem in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen weiblichen Bildungs-und Ausbildungsniveau, aus der Erosion des traditionellen Familienmodells und der zunehmenden Verbreitung von Haushaltsformen, in denen die Berufstätigkeit der Frau zur wichtigen oder einzigen Einkommensquelle der Familie wird. Teilzeitbeschäftigung ermöglicht vielen Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Verpflichtungen in der Familie -etwa Kindererziehung und Altenpflege -und der unzureichenden öffentlichen Betreuung keine Vollzeitbeschäftigungen eingehen können oder möchten, erst den Zugang zur Erwerbstätigkeit, ohne die -kulturellen -Ansprüche an die Familienversorgung und Kinderbetreuung zu verletzen und die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie in Frage zu stellen. Teilzeitarbeit schafft so neue Spielräume, setzt aber auch soziale Ungleichheits-und Abhängigkeitsbeziehungen fort.

Auch für andere Gruppen schafft die Teilzeitbeschäftigung erst die Möglichkeit, die Erwerbstätigkeit mit anderen Tätigkeiten -etwa Ausbildung und Weiterbildung, Betreuung, Eigenarbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten -zu verbinden, selbst wenn sie meist kaum ein existenzsicherndes Individualeinkommen und keine angemessene soziale Sicherung für Alter und Ausfallszeiten vermittelt. Insgesamt entspricht das traditionelle Normalarbeitsverhältnis immer weniger den vielfältigen Notwendigkeiten, Bedürfnis-und Interessenlagen in einer Gesellschaft, in der traditionelle kollektive Lebenszusammenhänge, -Stile und -rhythmen aufbrechen und. sich differenzieren und mit ihnen Lebensplanung und Erwerbsstrategien der Individuen.

IV. Konzepte zur Neuordnung der Erwerbsarbeit

Eine Rückkehr zum Normalarbeitsverhältnis ist -dies dürfte deutlich geworden sein -weder realistisch noch den ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen angemessen; zu sehr hat sich das Erwerbssystem selbst im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels differenziert, zu sehr haben sich auch gesellschaftliche Ansprüche an die Erwerbsarbeit aufgefächert und einer umfassenden Standardisierung den Boden entzogen. Das normativ-institutionelle Gefüge der Regulierung des Erwerbssystems ist aber noch weitgehend auf das Normalarbeitsverhältnis abgestimmt und unterstellt eine Normalität, die inzwischen zur Fiktion geworden ist. Mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, der Massenarbeitslosigkeit und der Differenzierung von Beschäftigungsformen sind aber neue Formen der sozialen Ungleichheit entstanden. Sie erfordern neue Politiken und regulative Vorkehrungen, wenn gesellschaftlicher Desintegration und der Vertiefung der Segmentierung im Erwerbssystem sowie der Gräben zwischen den Geschlechtern und Generationen entgegengewirkt werden soll. Dabei kann es nicht darum gehen, die Differenzierungen von Beschäftigungsformen zu beseitigen; es kommt vielmehr darauf an, sie sozial abzusichern und Wahl-und Wechselmöglichkeiten für die Beschäftigten zu schaffen. Es mangelt nicht an Vorschlägen 1. Ausweitung des Niedriglohnsektors In das Zentrum kontroverser Diskussionen sind die Vorschläge zur Ausweitung des Niedriglohnsektors gerückt, die auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze für Personen mit niedrigen Qualifikationen vor allem im Dienstleistungssektor setzen. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, daß das hohe Niveau tariflicher und sozialpolitischer Regulierung und die vergleichsweise geringe Lohnspreizung in Deutschland einfache Tätigkeiten, gemessen an ihrer Produktivität, zu teuer mache und den Aufbau von Arbeitsplätzen mit niedriger Produktivität behindere; Potentiale zusätzlicher Beschäftigung, die im Dienstleistungssektor und vor allem im Bereich der personalen und sozialen Dienstleistungen ausgemacht werden, könnten nicht ausgeschöpft werden. Von der Erweiterung des Niedriglohnbereichs wird eine massive Expansion der Beschäftigung für Arbeitskräfte mit niedrigen Qualifikationen in arbeitsintensiven Dienstleistungsbereichen erwartet.

Es läßt sich dabei die neoliberale, marktorientierte Konzeption, wie sie von der bayrisch-sächsischen Kommission für Zukunftsfragen vorgestellt wurde, von eher institutionalistischen Konzeptionen unter-scheiden, die eine Umorientierung von Arbeitsmarktpolitik und eine Re-Regulierung des Arbeitsmarkts verlangen; zu letzterer! ist der Vorschlag zu zählen, den Rolf Heinze und Wolfgang Streeck jüngst im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vorgelegt haben. Die bayrisch-sächsische Kommission schlägt eine Radikalkur vor, die, wie Claus Offe und Susanne Fuchs kritisch vermerken, „drei Dinge methodisch miteinander'Verbindet: das unbedingte Vertrauen auf die wissenschaftliche Lehre (nämlich der Marktökonomie), die Mißachtung Von bestehenden Institutionen und die heroische Zuversicht in die Mechanismen eines kontrollierten Bewußtseinwandels“ Sie plädiert für eine radikale Deregulierung, die Aufhebung bisheriger sozialstaatlicher oder tariflicher Mindeststandards und insbesondere eine Öffnung des Lohnsystems nach unten, die eine produktivitätsorientierte Entlohnung einfacher Dienste möglich machen und nach Vorbild des US-amerikanischen „Job-Wunders“ die Schaffung einer großen Zahl von zusätzlichen Arbeitsplätzen -bis zu vier Millionen -für Niedrigqualifizierte ermöglichen soll Es wird ausdrücklich in Kauf genommen, daß die erhoffte Integration über den Markt mit zunehmender sozialer Ungleichheit verbunden ist.

Heinze und Streeck setzen dagegen stärker auf eine Verbindung von Marktmechanismen mit staatlichen Regulierungs-und Umverteilungs-Politiken, so vor allem eine degressive Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge für Niedrigeinkommen, die durch weitere Maßnahmen flankiert werden soll. Sie erwarten, daß dadurch Angebot wie auch Nachfrage im Bereich einfacher Dienstleistungstätigkeiten belebt, die hohe Arbeitslosigkeit von niedrigqualifizierten Arbeitskräften vermindert und sozial kaum geschützte geringfügige Beschäftigung sowie Schwarzarbeit in den ersten, regulierten Arbeitsmarkt überführt werden könnten.

Die Vorschläge zur Einrichtung eines Niedriglohnsektors sind auf breite Kritik aus unterschiedlichen Quellen gestoßen. Zentrale Annahmen werden in Zweifel gezogen. Von besonderem Gewicht ist der Einwand, daß’ soziale und personenbezogene Dienstleistungen qualifizierten Personals bedürfen, eine stärkere Lohnspreizung daher kaum zu einer Ausweitung der Dienstleistungen, etwa im Gesundheits-und Ausbildungsbereich, führen würden Weiterhin werden die hohen Kosten einer allgemeinen Subventionierung von Niedriglohntätigkeiten angeführt und Zweifel an den erwarteten Beschäftigungseffekten, zumal für die besonders von Arbeitslosigkeit betroffene Gruppe der Niedrigqualifizierten, erhoben Schließlich gelten die Befürchtungen dem'möglichen Mißbrauch und Mitnahmeeffekten, die dazu beitragen könnten, Sozialstandards in einen Abwärtssog zu ziehen und das institutionelle System industrieller Beziehungen auszuhöhlen 2. Arbeitsumverteilung durch Arbeitszeitverkürzung Während Konzeptionen zur Ausweitung des Niedriglohnsektors auf die Erschließung zusätzlicher Beschäftigungspotentiale setzen, zielen Strategien der Arbeitszeitverkürzung auf eine, gleichmäßigere Verteilung eines, gegebenen Erwerbsarbeitsvolumens, indem Beschäftigte ihren Arbeitsplatz zeitweise oder teilweise für Erwerbslose freimachen.

Es gibt inzwischen zahlreiche Ansätze der Arbeitsumverteilung auf betrieblicher, tariflicher und/oder gesetzlicher Ebene, die im. Gegensatz zu früher verfolgten Politiken der Arbeitszeitverkürzung nicht mehr einen (vollständigen) Einkommensausgleich vorsehen Dazu zählen: Regelungen, die Rechte auf Teilzeitbeschäftigung für bestimmte Beschäftigtengruppen (etwa Lehrer, Ältere) schaffen und dafür Neueinstellungen vorsehen; der Abbaü von Überstunden; die Erweiterung von Freistellungen (Elternurlaub,: Sabbaticals) mit befristeten Ersatzeinstellungen; schließlich auch betriebliche Bündnisse für Arbeit, welche eine befristete kollektive Arbeitszeitreduzierung ohne Lohnausgleich im Tausch gegen Beschäftigungsgarantien vorsehen (so etwa das VW-Modell).Anders als in Fällen freiwilliger, optionaler Arbeitszeitverkürzung, welche die Interessenabwägung den einzelnen überlassen (wie Elternurlaub oder Sabbaticals, aber auch das Gros der Teilzeitbeschäftigung), dürften der kollektiven Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich enge Grenzen gesetzt sein. Es scheint kaum durchsetzbar, allgemeine, kollektive Verkürzungen dauerhaft akzeptabel zu machen, die weder nach besonderen Gruppen und ihren Zeit-und Einkommenspräferenzen differenzieren noch Spielräume für freiwillige Entscheidungen lassen. Schwierig ist dies insbesondere dort, wo Arbeitsumverteilung nicht so sehr auf die Stabilität der Beschäftigung im eigenen Betrieb, sondern allgemein auf die Verminderung von Arbeitslosigkeit zielt und somit „abstrakte Solidarität“ mit den Erwerbslosen einfordert.

Aber auch die optionalen Formen der Arbeitszeit-verkürzung sind mit Restriktionen befrachtet, die die Reichweite der Arbeitsumverteilung beschränken. Sie sind nämlich entweder mit Einbußen -vor allem bei den Ansprüchen an Einkommen und soziale Sicherung -verbunden oder belasten öffentliche Sozialkassen zugunsten bestimmter Gruppen (etwa Ältere); auch gibt es kaum Garantien dafür, daß freigewordene Arbeitsplätze auch tatsächlich wieder neu besetzt und nicht zu Rationalisierungszwecken eingespart werden. 3. Vermittlung von Erwerbsarbeit mit anderen Tätigkeiten jenseits des Markts Eine zentrale Rolle kommt der Arbeitszeitpolitik auch in Vorschlägen zu, welche nicht nur Räume für die Umverteilung der Erwerbsarbeit, sondern auch für eine bessere, flexiblere Abstimmung von Erwerbstätigkeit und nicht marktvermittelten Tätigkeiten wie Familien-, Eigen-und Gemeinwesenarbeit öffnen und so eine gleichmäßigere Verteilung der verschiedenen Tätigkeitsarten zwischen den Lebensphasen der Individuen sowie zwischen den Geschlechtern ermöglichen sollen. Strategien umfassen vor allem verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung, sei es als dauerhafte oder phasenweise Reduzierung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit, sei es als blockartige Freistellung wie Sabbaticals oder Elternurlaub.

Bislang ist die Abstimmung der Erwerbsarbeit auf die differenzierten Lebenslagen und -ansprüche problematisch, weil „optionale“, spezifischen Interessen entsprechende Erwerbsformen -sofern sie überhaupt zugänglich sind -häufig nicht die individuelle Existenz sichern, meist auch mit erhöhten Risiken behaftet sind. Einen interessanten Vorschlag macht Günther Schmid mit der „Strategie flexibler Arbeits-marktübergänge". Dabei geht es vor allem darum, bisher blockierte oder riskante Übergänge zwischen verschiedenen Erwerbsformen und Tätigkeitsbereichen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu erleichtern und sozial abzusichern: Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, zwischen Bildung und Beschäftigung, zwischen Haushalts-und Erwerbstätigkeit, zwischen Erwerbstätigkeit und Rente, zwischen Kurz-und Vollzeitbeschäftigung. Dazu soll das vorhandene Instrumentarium der aktiven staatlichen Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik und der Tarifpolitik genutzt und ausgestaltet werden Die Strategie der Übergangsarbeitsmärkte zielt auf eine spürbare Verminderung der Arbeitslosigkeit zugleich aber auch auf eine flexiblere, den differenzierten Lebenslagen und -interessen entsprechende Gestaltung des Erwerbssystems mit einer Vielzahl unterschiedlicher Formen, die aber in höherem Maße als „abweichende Erwerbsformen“ im Regime des herkömmlichen Normalarbeitsverhältnisses sozial abgesichert sind.

Die hier nur skizzierten Konzeptionen und Strategien zeigen neue -teils komplementäre, teils alternative -Wege in der Arbeitsmarktpolitik auf. Bislang wenig ausgeschöpft sind die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Umverteilung von Erwerbsarbeit -zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen Vollzeit-und Teilzeitbeschäftigung. Wenig, entwickelt sind auch noch Politiken, die flexiblere Abstimmungen und Übergänge zwischen Erwerbs-arbeit und anderen, nicht marktorganisierten Tätigkeitsbereichen fördern. Eine weitere gesellschaftliehe Umverteilung von Erwerbsarbeit verlangt nicht nur materielle und soziale Anreize zur Reduzierung von Arbeitszeit oder zum phasenweisen Ausscheiden aus dem Erwerbsarbeitsmarkt zugunsten erwerbsloser Personen, sondern auch langfristige soziale Sicherungen und Garantien; es wird dies nicht ohne die Aufgabe herkömmlicher Prinzipien gehen, die Anrechte auf die soziale Sicherung an die Erwerbstätigkeit zu binden. In jedem Fall verlangen die neuen Wege einen Umbau des etablierten, am Normalarbeitsverhältnis orientierten institutionellen Regulierungssystems -so von Arbeits-und Sozialrecht und industriellen Beziehungen. Sie rühren stets auch an etablierte Ansprüche und Privilegien und erfordern daher neue gesellschaftliche Pakte und Konzessionen der korporativen Akteure.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main 1984, S. 210 ff.

  2. Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: Mitteilungsblatt der Zentralen wissenschaftlichen Einrichtung „Arbeit und Betrieb", (1985) 11/12, Bremen, S. 4.

  3. Vgl. Martin, Osterland, „Normalbiographie" und „Normalarbeitsverhältnis", in: Peter A. Berger/Stefan Hradil, Lebenslagen', Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband der Sozialen Welt, Göttingen 1990,'S. 351 ff:

  4. Vgl. Karl Hinrichs, Das Normalarbeitsverhältnis und der männliche Familienernährer als Leitbilder der Sozialpolitik, in: Sozialer Fortschritt, 45 (1996) 4, S. 104; vgl. auch Birgit Pfau-Effinger, Der Mythos von der Hausfrauenehe. Entwicklungspfade der-Familie in Europa, in: Soziale Welt, (1998) 2, S. 167 ff.; Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung, Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit, Bohn 1998, S. 269ff.

  5. Vgl. Wolfgang Streeck/Rolf Heinze, An Arbeit fehlt es nicht, in: Der Spiegel 1, Nr. 19 vom 10. Mai 1999, S. 38.

  6. Vgl. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1996, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. -Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Bonn 1997, Band I, S. 64.

  7. Die Schätzungen der geringfügig Beschäftigten zeigen allerdings eine beträchtliche Spannweite auf, wie auch die Beiträge in: Jürgen'Schupp/Felix Büchel/Martin Diewald/Roland Habich (Hrsg.), Arbeitsmarktstatistik zwischen Realität und Fiktion, Berlin 1998, zeigen. Vgl. Edeltraud Hoffmann/Ulrich Walwei, Das Arbeitsverhältnis aus Sicht der Rechtsökonomie und der Arbeitsmarktprognostik, in: ebd., S. 318, und Jürgen Schupp/Johannes Schwarze/Gert Wagner, Methodische Probleme und neue empirische Ergebnisse der Messung geringfügiger Beschäftigung, in: ebd. S. 95 ff.

  8. Vgl. Kommission (Anm. 6) und Harald Bielinski, Befristete Beschäftigung, in: ebd., S. 171 ff.

  9. Vgl. Edeltraud Hoffmann/Ulrich Walwei, Längerfristige Entwicklung von Erwerbsformen in Westdeutschland, in: IAB-Kurzbericht, (1998) 2, S. 4.

  10. Ebd.

  11. Vgl. Armin Höland, Normenwandel statt Normen-erosion: Atypische Erwerbsformen aus rechtssoziologischer Sicht, in: Monika Frommel/Volkmar Gessner (Hrsg.), Normenerosion, Baden-Baden 1996, S. 100.

  12. Vgl. Berliner Memorandum zur Arbeitszeitpolitik 2000, Berlin 1995.

  13. Vgl. John Haisken-De New/Gustav Hörn/Jürgen Schupp/Gert Wagner, Das Dienstleistungs-Puzzle: Ein aktualisierter deutsch-amerikanischer Vergleich, in: DIW-Wochenbericht, 65 (1998) 35.

  14. Vgl. Christoph Deutschmann, Die Arbeitsgesellschaft in der Krise? Paradoxien der arbeitspolitischen Debatten der achtziger Jahre, in: Hans-Georg Zilian/Jörg Flecker (Hrsg.), Pathologien und Paradoxien der Arbeitswelt, Wien 1997, S. 42

  15. Vgl. Stefan Kühl, Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien, Frankfurt am Main—New York 1998; Ralf Rogowski/Günther Schmid, Reflexive De-regulierung. Ein Ansatz zur Dynamisierung des Arbeitsmarkts, in: WSl-Mitteilungen, 50 (1997) 8, 568 ff.

  16. Vgl. Elke Holst/Jürgen Schupp, Arbeitszeitpräferenzen, in West-und Ostdeutschland, in: DIW-Wochenbericht, 65 (1998) 37.

  17. Vgl. zum folgenden auch Rainer Dombois, Auf dem Weg zu einem neuen Normalarbeitsverhältnis?, Arbeitspapier Nr. 36 der Zentralen wissenschaftlichen Einrichtung (ZWE) . Arbeit und Region 1, Universität Bremen (i. E.).

  18. Claus Offe/Susanne Fuchs, Wie schöpferisch ist die Zerstörung?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1998) 3; S. 297.

  19. Vgl. Kommission (Anm. 6), Band III, S. 19.

  20. Zur Kritik s. auch Joachim Bergmann, Die negative Utopie des Neoliberalismus oder Die Rendite muß stimmen, in: Leviathan, (. 1998) 3, 319 ff.; Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen (Hrsg.), Die Sackgassen der Zukunftskommission. Streitschrift wider die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, Senats-Verwaltung für Arbeit; Berlin 1998.

  21. Vgl. Gerhard Bosch, Zukunft der Erwerbsarbeit. Zur Rolle von Bildung und Löhnen im internationalen Vergleich, Berlin 1999 (unv. Man.).

  22. Vgl. Jürgen Schupp/Joachim Volz/Gert Wagner/Rudolf Zwiener, Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen im Niedriglohnbereich: Wenig zielgerichtet und teuer, in: DIW-Wochenbericht, (1999) 27; Stefan Bender/Bruno Kaltenborn/Helmut Rudolph/Ulrich Walwei, Die Diagnose stimmt, die Therapie noch nicht, IAB-Kurzbericht,. (1999) 6.

  23. Vgl. Senatsverwaltung (Anm. 22), S. 135ff; Ursula Engelen-Kefer, Niedriglohn als Beschäftigungschance?, in: Einblick, (1999) 39. S. 1 ff.

  24. Vgl. Hartmut Seifert, Arbeitszeitpolitik in Deutschland: 'auf der Suche nach neuen Wegeri, in: WSI-Mitteilungen, 51 (1998) 9, S. 579 ff.

  25. Vgl. Günther Schmid, Übergänge in die Vollbeschäftigung. Perspektiven einer zukunftsgerechten Arbeitsmarktpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12-13/94, S. 9-23; Anmerkung der Redaktion'. Siehe auch den Beitrag des Autors in diesem Heft.

  26. So kalkuliert G. Schmid einen Gewinn von 1, 7 Millionen Arbeitsplätzen.

Weitere Inhalte

Rainer Dombois, Dr. rer. pol., geb. 1943; Privatdozent an der Universität Bremen. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Arbeitsmarkt und Arbeitsbeziehungen in Deutschland und in Lateinamerika, zuletzt: (zus. mit Ludger Pries) Neue Arbeitsregimes im Transformationsprozeß Lateinamerikas. Arbeitsbeziehungen zwischen Markt und Staat, Münster (i. E.)