Kein Zweifel: Die „Third International Mathematics and Science Study" hat für Schlagzeilen gesorgt, und ein Abklingen der Resonanz ist nicht in Sicht. Seit die ersten deutschlandspezifischen Resultate der weltweiten Schülerleistungsschau bekannt wurden, spielt TIMSS die tonangebende Rolle in einer selten erhellenden, dafür oft ärgerlichen oder ungewollt amüsanten „Qualitätsdebatte“, die Presse, Hörfunk und Fernsehen durchzieht und darauf abzielt, schulische Standards zu durchleuchten, Lehr-und Lernerfolge zu erfassen und sie der Permanenz nationaler und internationaler Vergleiche zu unterwerfen. Mit „Aufbruch" -Stimmung hat dieses unverhoffte Interesse indes wenig gemein. Der mit der Autorität des höchsten Staatsamtes formulierte Appell, Bildung angesichts der am Horizont aufziehenden, von globaler Vernetzung und Wettbewerb bestimmten Wissens-gesellschaft von Grund auf zu überdenken, ist zwar nicht verhallt, aber sehr selektiv aufgegriffen und umgesetzt worden. Was Altbundespräsident Roman Herzog 1997 zum zentralen Anliegen seiner Amtsperiode erhob und auf dem „Deutschen Bildungskongreß“ der Bertelsmann-Stiftung am 13. April 1999 in Bonn in einem zweiten „Aufguß“ wiederholte, hat Karriere gemacht. Das designierte „Megathema“ der Jahrtausendwende, das für einen Moment durchaus optimistisch stimmen konnte, schrumpfte im Handumdrehen zu grobgeschnitzten Postulaten aus dem überkommenen Repertoire der Bildungsökonomie. Es kreist um das Humankapital als Investivkraft und Kostenfaktor und um den Königsweg seiner Qualifizierung Und es erschöpft sich in medialer Erregtheit und (partei-) politischen Abnutzungsgefechten. Zu diesem (Deformations-) Prozeß hat TIMSS, deren Urteil zuweilen „amtliches“ Gewicht und den Nimbus der Unantastbarkeit gewann, nicht unwesentlich beigetragen.
I. Megathema TIMSS
Gleichgültig, ob es sich um Befunde aus der Sekundarstufe I (Klassen 7 und 8) handelt, die zwischen 1993 und 1995 in 45 Ländern erhoben wurden (TIMSS II) oder um die Untersuchung der Sekundarstufe II, die sich 1995/96 auf die gymnasiale Oberstufe und die beruflichen Voll-und Teilzeitschulen in 25 Staaten richtete (TIMSS III) -der deutsche Zweig der Studie, dessen Fäden im Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) zusammenlaufen, hat es in Wort und Schrift an Prägnanz, ja Drastik nicht fehlen lassen: Die Schüler zwischen Greifswald und Garmisch-Partenkirchen, so das Hauptergebnis, können in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) und besonders eklatant in Mathematik nur höchst mittelmäßige Leistungen aufbieten. Sie beweisen gerade bei jenen Aufgaben gravierende Schwächen, in denen sie abseits geübter Fertigkeiten gezwungen sind, Problemkonstellationen zu identifizieren, Gelerntes in neue Kontexte zu übertragen und selbständig nach Lösungen zu suchen. Die 13-bis 14jährigen erreichten das Testziel abgeschlagen hinter ihren Altersgenossen aus Singapur, Südkorea, Japan und den meisten Staaten Europas; deutsche Spitzentalente sind in der Weltelite „in bedenklicher Weise“ unterrepräsentiert; ein Fünftel zeigte gar nur Kompetenzen, die sich auf dem Anspruchslevel der Grundschule bewegen. Die Schüler der Sekundarstufe II unterlagen, da ostasiatische Länder nicht an den Start gingen, der Konkurrenz aus Skandinavien, den Niederlanden, der Schweiz und selbst Slowenien. „An der Spitze“, so ließ MPIB-Chef Jürgen Baumert im Focus verlauten, „sieht es grausam aus. Der Befund ist erschreckend. Die Defizite wachsen.“
TIMSS kontrolliert und beschreibt „Lernerträge“, dahinter tritt die umsichtige Relativierung der „Ertragslagen“ -Messung zurück. Für die offerierten Wertungen fehlt der Maßstab, die Etiketten von Schrecknis und Grausamkeit sind willkürlich gesetzt -und nicht zuletzt gilt zu beachten, daß die Jeremiade über Begabungsrückgang, sinkende Lernlust und intergenerativen Leistungsverfall so alt ist wie die Schule selbst Gewiß mag der Umgang mit Zahlen, Formeln und Funktionen zur Lebensbewältigung gehören, er scheint in einem von Technik und Technologie geprägten Gemeinwesen unverzichtbar; nicht anders die Einsicht in die Natur und die naturwissenschaftliche Deutung der Welt. Doch über das Was, Wieviel und Wofür des notwendigen Wissens herrscht nirgendwo Einvernehmen. Und was besagen die Kenntnisse, die TIMSS ins Examen nimmt, über die Güte eines Schulsystems, was über die vielbeschworene Innovations-und Modernisierungsfähigkeit einer Gesellschaft? Sind sie die Garanten von Stabilität, Wachstum und Wohlstand in einer Epoche revolutionärer Umbrüche? Dazu äußert sich TIMSS nicht. Die Studie begnügt sich mit der lapidaren Feststellung, „immer mehr Staaten“ betrachteten eine fundierte mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung ihrer Jugend als unerläßliche Investition zur Wahrung ihrer Wettbewerbs-und Überlebenschancen
Was immer die TIMSS-Diagnostik über das „Versagen“ deutscher Schüler ermittelt hat -welche Gründe dafür verantwortlich sind, bleibt weitgehend der Spekulation überlassen. Auf der Basis der vorliegenden Daten können weder definitive Aussagen über Irrtümer, Fehler und Versäumnisse in Pädagogik und Politik getroffen, noch Initiativen unternommen werden, sie zu beheben. TIMSS mag schockieren, alarmieren, aufrütteln (oder lähmen) -zur Lösung jener Probleme, die sie selbst aufwirft, vermag sie nicht beizutragen. Sie ist durch ihr Erklärungsdefizit geradezu prädestiniert, für vielfältige Interessen ausgebeutet zu werden. Zwar hat die Studie klargestellt, daß Schülerleistungen, international betrachtet, nicht von Faktoren wie der (zentralen oder föderalen) Schulaufsicht, der (gegliederten oder integrierten) Schulstruktur oder dem (zentralen oder dezentralen) Prüfungssystem abhängen, und betont, kein verläßliches Material zu bieten, das für den intranationalen Glaubens-streit um die Schule geeignet sei. Doch da die Forscher selbst ihr Gebot der Mäßigung und Neutralität nicht immer ernst nahmen und sich zu kausalen Verknüpfungen vorwagten, ist TIMSS rasch zum Spielball der Medien und zum Zankapfel der (Bildungs-) Politik geworden.
TIMSS hat mit flinkem Strich ein Panorama entworfen und ihm klare Konturen verliehen. Viele Einzelheiten liegen indes nach wie vor im dunkeln. Namentlich für TIMSS III gilt, daß die beteiligten Wissenschaftler sich schon auf die mediengerechte Vermarktung verlegten, noch ehe die Arbeit getan und wenigstens in einer ersten, „deskriptiven“ Übersicht zugänglich war Zwar ist dieses Vorgehen gelegentlich auf Unbehagen gestoßen, da es die Beurteilung erschwert oder gar verhindert: „Generell“, so Ulf Preuss-Lausitz, „ist die Publikation von Ergebnissen ohne zeitgleiche Präsentation aller Methoden, Instrumente und Detaildaten höchst fragwürdig." Aber die Strategie hat ihren Akteuren eingetragen, was sie sich erhofften; sie sind zu allseits umworbenen Experten aufgestiegen. Sie steht für einen Stil der Eigenwerbung, der an Akzent gewinnt, je mehr sich die Forschung bei strapazierten Etats gegen finanzielle Auszehrung und schleichende Demontage behaupten muß. „Je einflußreicher die Medien in der Strukturierung öffentlicher Diskurse werden, desto wichtiger wird es für die Wissenschaften, die Aufmerksamkeit der Medien für sich zu gewinnen, weil sie diese zur Legitimierung ihrer Ansprüche auf Ressourcen braucht.“
II. Journalistische Simplifizierungen
Lethargie und Stillstand zu beenden und „das Thema Bildung“ aus der Abgeschiedenheit intimer Fachgespräche „auf die Titelseiten zu holen“ -so definierte Roman Herzog auf dem besagten Bertelsmann-Kongreß den Anspruch seiner Präsidentschaft. Der Wunsch ist Wirklichkeit geworden: Die Schule, gewöhnlich kein allzu attraktiver Stoff für die Massenmedien, gewinnt an Publizität. Diese ist maßgeblich dem Widerhall gedankt, den die TIMSS-Studie gefunden hat. Presse, Funk und Fernsehen sind, wie Niklas Luhmann analysiert hat, unter den Pressionen von Auflage und Einschaltquote gezwungen, durch „die serielle Produktion von Neuigkeiten“ Beachtung zu finden, Irritationen zu wecken und Erregung zu schüren; dabei fungieren „Quantifikationen" als besonders wirkungsvolle „Aufmerksamkeitsfänger“, da sie in der Lage sind, „vertraute Kontexte“ und die vermeintliche Präzision der (großen) Zahl in „substanzlose Aha-Effekte“ zu verschmelzen. Die TIMSS-Forschungen, von sprödem Wissenschaftsballast befreit, auf eine griffige Version zurechtgestutzt und leicht verständlich angerichtet, verhießen in diesem Sinne einen respektablen Unterhaltungswert, und sie haben diese Erwartung bislang mit Bravour eingelöst. Sie sind „anschlußfähig“; sie passen sich füglich ein in die mit Macht geführte Diskussion um Optionen, Zwänge und Risiken der Informations-und Wissensgesellschaft -ein Topos, der selbst unter der besonderen Pflege der Medien steht, schon deshalb, weil er sich auf ein überschaubares Arsenal eingängiger Vokabeln und Kernformeln mit hohem Signalwert reduzieren läßt. So bedient TIMSS einen schnellebigen Nachrichtenmarkt, der ihre Befunde bereitwillig rezipiert, vervielfältigt und nicht selten in Losungen von beeindruckender intellektueller Schlichtheit verformt. Seit die TIMSS-Akteure erstmals die Öffentlichkeit suchten, rufen Print-, Ton-und Bildmedien mal mit lodernder Empörung, mal im Gestus des feierlichen Abgesangs die „Qualitätskatastrophe“ aus: Die Selbstgewißheit, „daß die deutschen Schulen zu den besten der Welt gehören“, so der Tenor, sei ein für allemal „als Aberglauben entlarvt“ die Schuldigen des „Bildungsnotstands“ werden mit dem Skandalen der notorisch faulen Lehrer und ihres jämmerlich schlechten Unterrichts oft gleich mitgeliefert Zug um Zug haben sich damit die Medien ihre eigene Wirklichkeit geschaffen. Nahezu übereinstimmend interpretieren sie den defizitären Kenntnisstand von Kindern und Jugendlichen als Indikator und Menetekel für die von Stagnation, Paralyse, kreativer Versteppung und Reformstau geprägte deutsche Misere schlechthin. Sie entwerfen unter dem Stichwort „Schlechte Noten für Deutschland“ das Schreckensbild eines nationalen Verhängnisses. Und sie klagen vehement und mit großer Selbstverständlichkeit einen Sieger-oder Medaillenplatz in ihrer fiktiven „Schulleistungsolympiade“ ein.
Inzwischen hat TIMSS eine Reihe journalistischer Trittbrettfahrer und Nachahmungstäter gefunden. Da der Bedarf anhält und „die Ware sich verkauft“ der Datenfluß aus der TIMSS-Werkstatt aber ins Stocken geriet, sind einzelne Presseorgane eigene Wege zur Etablierung der neuen „Testkultur“ gegangen. Zwei Beispiele: Bankangestellte, so faßt das Verbrauchermagazin Plus eine stichprobenartige Erkundungsreise durch deutsche Geldinstitute zusammen, die einen Schuß Rabulistik und Schadenfreude nicht verhehlen kann zeigen sich in ihrer Mehrzahl selbst unter Einsatz von Computern und Taschenrechnern unfähig, Sparraten und Zinsen korrekt zu kalkulieren. Anders ausgedrückt: Die Finanzberater mußten vor den verdeckten Ermittlern der Zeitschrift, die mit ausgesucht kniffligen Problemen und listigen Fangfragen armiert waren, kapitulieren. Was bei Plus unverblümt als flott komponierte Übertreibung und zündende Provokation daherkommt, findet im Stern eine Bestätigung, die um Ernsthaftigkeit bemüht ist. Der Stern ließ republikweit einer bunten Mischung aus knapp 2000 Haupt-, Real-, Gesamt-und höheren Schülern und 103 (!) Lehrern 40 ausgewählte Fragen aus einer Lernkartei vorlegen, die ursprünglich zum Gebrauch für Selbststudien und Ratespiele („Trivial Pursuit“) entwickelt wurde und „einen respektablen Querschnitt“ allgemeiner Bildung widerzuspiegeln verspricht Nicht unerwartet konstatiert das Blatt als Fazit seiner Auszählung ein beiderseits „alarmierendes“ Wissensdefizit, das über die Grundrechenarten des Kreditgewerbes weit hinausreicht, und wagt sogar die These eines leistungsmäßigen „SüdNord-Gefälles“ Die Titelgeschichte schlug die vorhersehbar hohen Presse-Wogen und mit ihrer Rand-und Schlußnotiz über die Bildungslücken der einbezogenen Pädagogen, die die Autoren als „nicht repräsentativ, aber aufschlußreich“ einstuften, animierte sie auch (mutmaßliche) Sachverständige wie den Präsidenten der Kultusminister-konferenz und Sächsischen Staatsminister Hans Joachim Meyer, lautstark in ihr Schullamento einzustimmen
Was die TIMSS-inspirierten „Nach-Prüfungen“ eint, ist dies: Das Wohl und Wehe der Republik erscheint abhängig vom (momentan gestörten) Verhältnis der Schule zu ihren Aufgaben und der jungen Generation zum Lernen. Dem liegt die meist kaum reflektierte Hypothese zugrunde, nach der die Rettung Deutschlands im Zuge voranschreitender Globalisierung „irgendwie“ mit dem Reservoir und der Exzellenz seiner „Manpower“ Zusammenhängen müsse. Pure Mutmaßungen über den „Standortfaktor Bildung“ haben ausgereicht, um mühsam erreichte didaktische und politische Nachdenklich-und Behutsamkeiten ohne viel Federlesen beiseite zu schieben und als „Spaß“ -und „Kuschelecken‘°-Pädagogik zu denunzieren. Gleichzeitig rückt in einer komplexen Gesellschaft, deren Prognose-und Reaktionsfähigkeit schon mit dem Ausblick von einem Konjunkturzyklus zum nächsten heillos überfordert ist, die Schule pauschal und vorsorglich in die Rolle des Sündenbocks für die Krisen und Gefährdungen von morgen.
Die TIMSS-Verantwortlichen haben wenig Energie darauf verwandt, solche Mißgriffe zu verhindern. Mehr noch: Sie haben Fehldeutungen billigend in Kauf genommen, herausgefordert, bestärkt -und von ihnen profitiert. Zu Recht kommentierte Die Zeit: „Hätte nur einer der beteiligten deutschen Forscher rechtzeitig in Deutschland eine Pressekonferenz veranstaltet, wäre mancher Blödsinn gar nicht aufgekommen, der jetzt kaum noch aus den Köpfen zu kriegen sein wird.“ Die Print-und TV-Redaktionen, so scheint es, haben sich in ihre Urteile, Vorwürfe und Schuldzuweisungen verbissen. Und die Erklärung des MPIB-Leiters Jürgen Baumert, die Berichterstattung sei „nicht steuerbar“ und „eher eine Frage der politischen Kultur“, mutet wenig überlegt an; sie dokumentiert die Sorglosigkeit und Nonchalance der Protagonisten Es drängt sich der Verdacht auf, als hätten es beide Seiten des Zweckbündnisses, die TIMSS-Publizistik und ihr Medienecho, vom Start weg -ganz im Sinne Vilem Flussers -mehr auf Public Relations denn auf Verständigung abgesehen: Was nicht kommuniziert wird, ist nicht; nur was kommuniziert wird, ist etwas wert, und je mehr es kommuniziert wird, desto wertvoller ist es; wer kommunizieren will, darf wenig informieren
III. Politische Atemlosigkeit
„Schüler in Bayern besser als in NRW“, berichtet im März 1997 die Welt am Sonntag. Zwölf Monate später meldet Bild „Schüler in NRW können kaum lesen und rechnen“ und ergänzt den Aufmacher mit dem Hinweis: „Sie werden immer dümmer!“ Und im Juni 1998 sekundiert die Landes-CDU unter Berufung auf TIMSS-Erkenntnisse, Nordrhein-Westfalen nähere sich bedrohlich „den Bildungswerten von Südafrika“ der Kap-Staat bildet das Schlußlicht der TIMSS-Rangliste. Für Polemiken wie diese ist die Schule nur noch Mittel zum Zweck; mit dem Gespür für Themen, die polarisieren, Emotionen freisetzen und Zustimmung mobilisieren, hat die Politik ihre „Kampagnenfähigkeit“ entdeckt. Der inszenierte Schuldisput degeneriert zum wohlfeilen Politikersatz, der von der resignativen Taten-und Erfolglosigkeit in den klassischen Ressorts Wirtschaft, Arbeit und Finanzen ablenken soll. TIMSS und der Stereoeffekt der Medien werden genutzt, um alte Konflikte aufzuwärmen und offene Rechnungen zu begleichen. Dem kommt die Magie vermeintlich „objektiver“ Daten entgegen, die bei Verzicht auf interpretatorische Sorgfalt beinahe universell verwendbar sind. Auch wenn sich die TIMSS-Forscher beeilten, die Untauglichkeit ihrer Resultate für die zum Ritual erstarrten Grabenkämpfe um Gesamtschule, 13. Schuljahr oder Zentralabitur zu beteuern -das Dementi hat kaum jemanden davon abgehalten, für diese Scharmützel genau dort nach Munition zu suchen Und eben darin dokumentieren sich Reiz und Erfolg der Studie. TIMSS wäre ein akademisches und abseits der Alma mater belangloses Streitobjekt unter Fachleuten geblieben, hätte sie nicht in Anlage, Ergebnis und Präsentation der Adaption Tür und Tor geöffnet.
Inzwischen mag sich, vom „TIMSS-Schock“ und „-Alarm“ herausgefordert oder zermürbt, keine Landesregierung mehr gegen weitere Evaluationsprojekte und Qualitätskontrollen sperren. Die Kultusministerkonferenz hat unlängst den Beginn einer „Kultur der Anstrengung“ eingeläutet. Sie möchte die „Wertschätzung des Lernens“ und den „Stellenwert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen“ stärken und meint diese Absicht primär mit dem Aufbau einer auf Überwachung bedachten Infrastruktur einlösen zu können Seither grassiert eine regelrechte Test-euphorie. Fast überall, mit länderspezifischen Variationen, müssen Schüler (und Schulen) zu Leistungschecks, identischen Klassenarbeiten und Abschlußprüfungen antreten. TIMSS-Nachfolgepläne, etwa in Gestalt des OECD-Vorhabens „Internationale Bildungsindikatoren“ (PISA), das auf die Kompetenzen 15jähriger in den Segmenten „reading“, „mathematics" und „Science“ abhebt, sind über das Jahr 2006 hinaus abgesegnet und mit Millionenbeträgen etatisiert -„ein schwindelerregendes Programm“ auch wenn seine Administratoren unter dem Slogan „Keine Angst vor PISA“ um Sympathiewerbung bemüht sind. Die „Testkultur“, einst Mittel der Diagnose, entwickelt nach TIMSS ein Eigenleben und wird zur Zauber-formel der Therapie. Was als Panikreaktion auf den „Wahnsinn Schule“ und als kopfloses Krisenmanagement begann, um die Medien zu bedienen und das verunsicherte Publikum zu beruhigen, hat sich zum politischen Konzept verfestigt. Das Unterfangen gliche dem (unsinnigen) Versuch eines Automobilherstellers, der die Kurvenstabilität seiner Fahrzeuge dadurch verbessern wollte, daß er den „Eichtest“ bis zur Perfektion treibt. Atemlosigkeit, Aufgeregtheit und Aktionsdrang haben dabei verhindert, Fragen zu stellen und Widersprüche zu lösen.
Erstens: Ist die Mathematik wirklich der Passe-partout für die Fährnisse und Forderungen des 21. Jahrhunderts? Die Erkenntnis, die moderne Welt sei eine mathematisch-naturwissenschaftlich durchwirkte und bestimmte, mutet fast wie eine Binsenweisheit an. Doch ist die Szenerie paradox: Zu Recht stellt Hans Werner Heymann fest, daß zwar die Mathematik spürbar Einzug in alle Sphären des täglichen Lebens hält. Doch je weiter sie vordringt, desto mehr verbirgt sie sich hinter „ihren technischen Anwendungen“. Wer einen elektronischen Miniaturrechner zu Rate zieht, eine multifunktionelle Registrierkasse bedient „oder mit einem modernen Textverarbeitungssystem umgeht, braucht von der in diese Produkte investierten Mathematik keine Ahnung zu haben. Der größte Teil der üblichen, im Sekundarschulbereich gelehrten mathematischen Inhalte läßt sich nicht über seinen lebenspraktischen Nutzen rechtfertigen.“ Mit anderen Worten: Schüler sollen verstehen, was in ihrem Alltag immer weniger sichtbar, „handgreiflich“ erlebbar und in seiner Bedeutung zu erahnen ist. Will man nicht Gefahr laufen, daß sich Unterricht zunehmend auf mechanische Aneignungsprozesse von hoher Flüchtigkeit beschränkt, müßte sich das Engagement darauf richten, diese Abstraktheit zu überwinden und das Lernen auf die Probe seiner Sinnhaftigkeit, Transparenz und Überzeugungskraft zu stellen. Das ministerielle Rezept, „die Schulen auf den Test-zug“ zu setzen, dessen „Endstation mehr Druck, mehr Kontrolle, mehr Effizienz und weniger Pädagogik heißt“ ist in dieser Hinsicht anachronistisch und kontraproduktiv.
Zweitens: Die charakteristische Stärke deutscher Schüler ist nach TIMSS, ihr Fakten-und Regelwissen schematisch anzuwenden, die Schwäche, es abseits von Schablonen und Routinen nicht aktivieren und vernetzen zu können. Dem Manko soll nun mit einem regelmäßigen Abfragen eindeutig definierter, abruf-, meß-und vergleichbarer Kenntnisse begegnet werden. Die Absurdität liegt darin, daß als Medizin dienen muß, was als Kern des Übels gilt. Wird diese Praxis zur Regel, kann dies nicht ohne Rückwirkung auf den Unterricht bleiben. Es steht zu befürchten, daß aus Vorsorge oder Angst vor schlechtem Abschneiden trainiert wird, was die (externen) Tests verlangen. Konsequenz wäre ein informelles Kerncurriculum, das seine Inhalte nach den Kriterien ihrer Reproduzierbarkeit und Prüfungsrelevanz wählt, ein Zuwachs normierten, enzyklopädischen Lernens und der Vormarsch rezeptiver GedächtnisÜbungen
Und drittens: Auch in der Erziehungswissenschaft heißt die Parole der neunziger Jahre „Deregulierung“ -wiewohl sie hier und da mißtrauisch als trojanisches Pferd der Haushaltskonsolidierung beäugt wird. Jede Schule ist gehalten, sich mittelfristig ein unverwechselbares Profil zu schaffen und ihrem „Haus des Lernens“ eine passende Architektur zu verleihen. Um dies zu erreichen, wird ihr der Status relativer Selbständigkeit zugebilligt; sie erhält erweiterte Ressourcen und Kompetenzen bei der Gestaltung ihres Lernmilieus, der Personalauswahl und der Budgetierung. Tests und Prüfungen, der Aufruf zur Normerfüllung, kehren diesen Trend um und stärken das Element der Zentralisierung und Kanonisierung.
Insgesamt erinnert die politische Reaktion auf TIMSS an die Quadratur des Kreises. Man setzt auf Pioniergeist, Vielfalt und Phantasie vor Ort, ist aber zugleich von tiefem Argwohn gegenüber den beteiligten Subjekten gepeinigt und möchte, wenn es „hart auf hart“ geht, auf hoheitliche Ein-und Zugriffsrechte nicht verzichten; man versucht sogar, wie es scheint, das „System in zwei sich ausschließende Richtungen zu optimieren“ Was als Herzogscher „Ruck“ unter dem Motto „Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit“ begann, endet gegenwärtig bestenfalls in einer „Schulautonomie an der kurzen Leine“
IV. Ferne Aussichten
Die Bundesrepublik ist trotz mancher Defizite und Desiderate weder bildungspolitisches Entwicklungsland noch pädagogische Wüstenei. Eben deshalb scheint der (keineswegs originelle) Ruf berechtigt, die Schule -nicht zuletzt angesichts des Volumens der Kultusetats -einem „rollenden“ Prozeß der Revision und Reform zu unterwerfen. Doch zu diesem Zweck muß Klarheit darüber bestehen, worauf die ebenso komplexe wie schillernde Forderung nach „Qualität“ abzielt. Augenblicklich fungiert sie als „mächtige Leerformel“ im Austausch vorgefaßter Meinungen. Sie reüssiert, weil sie geeignet ist, Stimmungen zu kanalisieren, Interessen zu bündeln und (disparate) Ideen und Programme zu lancieren.
Es ist legitim, nach Wegen zur Objektivierung und Optimierung des Leistungsstandes öffentlich verantworteter Bildung zu forschen -auch auf internationalem Parkett. Doch darf die Suche nicht zu einem Output-Denken führen, das Qualität allein an meßbaren Lernergebnissen und an deren Vergleich mißt. Ranking und Benchmarking sind bei aller Beliebtheit in Volks-und Betriebswirtschaft die kurzatmigsten Vehikel der Reform. Das Bemühen, dem fortwährend plakatierten Standort-und Globalisierungsdruck schon im schulischen Vorfeld mit der Forderung nach Spitzenleistungen im Olympia-Format -„schneller, höher, weiter“ -Tribut zu zollen, wird kaum die ersehnten Früchte tragen. Was immer die Politik in Angriff nimmt, um den angeblich aus den Fugen geratenen Lehranstalten die Korsettstangen einer neuen „Bildungsoffensive“ einzuziehen -es gilt das, was Hartmut von Heutig über die Kreativität gesagt hat: Wer von ihr Wunderdinge erwartet, wird enttäuscht. Man kann sie weder „fördern“ noch „herstellen“, man muß sich ihre „Verhinderungen klarmachen und diese vermeiden oder ausräumen.
. . . Wir liefern zuviel Ordnung, zuviel fertige Lösungen, zuviel Perfektion und System.“ Ler-nen verlangt ein Klima der Muße und Geduld, dazu ein Labyrinth von Um-, Schleich-und Irrwegen. Schule ist ein zu facettenreiches und sensibles Gebilde, als daß sie sich auf einen (quantitativen) Nenner bringen und mit gestanzten Impulsen auf Kurs halten ließe.
Deshalb ist Widerstand geboten gegen eine „Justin-time-Ideologie" (Oskar Negt) der raschen Entschlüsse, die sich „in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft“ kontinuierlich in den Vordergrund drängt. Wer sich mit Qualität befaßt, muß sich Rechenschaft darüber ablegen, wie sie zu definieren ist, wie sie entsteht, welche Faktoren ihr Entstehen begünstigen, welche es hemmen. Gegenwärtig kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als liege die erhoffte Lösung in einer modernisierten Version des Nürnberger Trichters, als herrsche eine triviale Automatenmentalität, bei der vorwiegend „in Tonnage“ gedacht und gehandelt und all das aus dem Blick verloren wird, was eine „nachhaltige“ Schule für die Herausforderungen der zwischen Sachzwängen und Visionen nur umrißhaft erkennbaren demokratischen Wissens-und Informationsgesellschaft zu leisten hätte. „Nichts, was bleiben soll, kommt schnell“, notiert von Hentig Die Dringlichkeit einer „Politik auf lange Frist“ ist evident; um so mehr wird eine notorisch selektive Wahrnehmung zum Risiko. Ein ums andere Mal richtet und verengt sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf Partikel und Marginalien, die ins (tagespolitische) Kalkül passen und zu aktionistischer Problembewältigung verleiten. Das mag heute die Mathematik sein, morgen sind es die Religion als Notbehelf der „Werteerziehung“ oder die Neuen Medien, die sich anschicken, als ökonomisches und pädagogisches Allheilmittel aufzutreten. Wie auch immer -hier spiegelt sich ein altbekannter und scheinbar unvermeidlicher (curricularer) Kurzschluß. Die Schulfächer, schreibt von Hentig, werden „behandelt, als seien sie die Bildung selbst. Sie sind jedoch nur eine Ressource, ein Übungsfeld, eine von vielen Orientierungsmöglichkeiten“ von Bildung ist, so Marianne Grönemeyer, „in allen Debatten um die Schule auffallend wenig ... die Rede“ Welche Rigorismen dieses konzeptionelle Vakuum hervorbringt, illustriert exemplarisch der Schlußbericht der von den Ministerpräsidenten Bayerns und Sachsens eingesetzten Kommission für Zukunftsfragen Die Kommission entdeckt als wegweisende Aufgabe der Schule die „Persönlichkeitsformierung“, deren zentrales Ziel sie -unter der Prämisse einer fortschreitenden „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ -im Idealbild des „unternehmerisch handelnden Menschen“ sieht. Unterschlagen wird dabei, daß Bildung „keine Angelegenheit des ökonomischen und technischen Bedarfs (ist), sondern Bürgerrecht, eine einklagbare Verfassungsnorm des demokratischen und sozialen Rechtsstaates“
Es ist nicht ohne Ironie, daß TIMSS in ihren „diskreten“, von journalistischen Multiplikatoren und politischen Rezipienten meist übersehenen Botschaften durchaus Perspektiven anbietet, die zuversichtlich stimmen. So offenbaren bisher erst in Ansätzen ausgewertete Video-Mitschnitte aus deutschen und japanischen Schulen „typische“ Differenzen, die einem „kulturellen Skript“ zu folgen scheinen: hier ein Mathematikunterricht, der nach Wissenserwerb strebt, von Formeln, Regeln und Routinen überlagert wird und (unbewußt) Gefahr läuft, „menschliche Taschenrechner“ hervorzubringen; dort eine Lehr-und Lernpraxis, die primär Denken und Verständnis schult und auf die Selbsttätigkeit der Schüler setzt. In der konträren Auffassung von Didaktik, nicht etwa in Schulstruktur und Auslesemodus -Japan unterhält bis zum Ablauf der Klasse neun eine ungegliederte Einheitsschule ohne Vorsortierung, Niveaukurse und Sitzenbleiben -, vermutet TIMSS die Ursache für das bilaterale Leistungsgefälle, das sie identifiziert hat. So verführerisch dieser (suggestive) Schluß sein mag, er gibt zu Skepsis Anlaß, da vor allem die Rolle und Wirkung der japanischen „Erziehungsindustrie“, des Geflechts kommerzieller Nachhilfe-und Ergänzungsschulen („juku“), nicht systematisch berücksichtigt wurde. Vielleicht aber trägt das „Modell Nippon“ dennoch, ohne naiv und voreilig den plötzlichen Verheißungen des „ex Oriente lux“ zu verfallen seinen Teil dazu bei, die alte Frage nach einem besseren Mathematikunterricht neu zu stellen -einem lebendigen, aktiv-entdeckenden Unterricht, der Raum läßt für Fehler, Umwege und alternative Lösungen. Nur mit solchen, aus „dichter Beschreibung“ (Clifford Geertz) gewonnenen Anregungen vermag die Debatte um die Qualität der Schule jene Dignität und Seriosität zurückzugewinnen, die sie nach TIMSS (vorerst) verloren hat. Klaus Klemm hat die Sache auf den Punkt gebracht: „Die Lenkung des Blicks auf die fachdidaktische Unterrichtsrealität und damit auch auf den niederen Rang, den Fachdidaktik in der Lehrerausbildung deutscher Hochschulen hat, ist der produktive und weiterführende Ertrag der Internationalen Vergleichs-studie. Es macht Mut, daß der Mathematikunterricht in Deutschland ins Gerede gekommen ist. Wenn allerdings die Ergebnisse der Studien nur zu Schülerbeschimpfung, Politikerschelte und neuerlichen Systemstreitereien genutzt werden, ohne zu einer didaktischen Neubesinnung zu führen, dann wäre die Arbeit vergeblich gewesen.“
V. Bildungs-Rat
Was soll mit der Schule, was mit der Bildung geschehen? Die Frage, die leicht den Wunsch nach endgültigen Lösungen provoziert, ist verfrüht, überstürzt und im Blick auf eine bündige Antwort chancenlos. Schon aus Gründen der Pragmatik scheint es im Augenblick vordringlich, einen Modus des Disputs und der Verständigung zu finden, der respektiert, daß Bildung ein „schützenswertes Gut“ ist, und mehr der Aufklärung als der „Entfachung öffentlicher Erregung“ bedarf. Erforderlich, so befindet Ingo Richter, Direktor des Deutschen Jugendinstituts München, sind „keine neuen Forschungsprogramme“. Es gilt, „das bekannte Wissen zu nutzen“ -und es gegen mediale Vulgarisierung, lobbyistische Vereinnahmung, den Profilierungsdrang der Parteien und die Egoismen der Bundesländer zu verteidigen. Wer aber kann verhindern, daß Bildung nur ins Gerede kommt, statt über den Tag hinaus im Gespräch zu bleiben? Wem wird die Möglichkeit zugestanden, über Wahlkampagnen und Legislaturperioden hinaus über Bildung nach- und für Bildung vorauszudenken? Wie lassen sich Sachverstand, Langmut und Autorität bündeln, um die Basis für eine differenzierte Diskussion zu bereiten und die Werbetrommel für einen stabilen gesellschaftlichen Konsens zu rühren?
Gewiß nicht zum ersten Mal lautet der Vorschlag, ein zentrales, unabhängiges Beratungsgremium zu installieren. Die unlängst verstorbene Publizistin Jutta Wilhelmi hat in einem ihrer letzten Essays die Umrisse eines neuen „Bildungsrates“ skizziert: „Lehrer und Eltern rufen schon lange nach Vor-denkern, Warnern, Mitdenkern, nach einer Gruppe unbestechlicher Männer und Frauen, die vermitteln, verbinden, daran erinnern, was bereits sinnvoll gedacht wurde, die auch beruhigen in der allgemeinen Aufgeregtheit, nach Ratgebern.“ Garantien bietet ein solcher (ständiger) Ausschuß nicht, aber er weckt Hoffnungen. „Die Konturen alter Bildungswelten lösen sich auf im Nebel der Beliebigkeit. Auch einem Bildungsrat dürfte es heute schwerfallen, neue Konturen herauszumodellieren. Und doch wäre es sicher preiswerter, Rat einzuholen, statt nur zu löschen, wo es gerade brennt.“
Angesichts dessen, was die Debatte um „Leistung“ und „Qualität“ fast täglich an Überraschungen bereithält, mag dies utopisch klingen. Dennoch ist zu wünschen, daß sich in Wissenschaft und Gesellschaft eine Koalition einflußreicher Kräfte zusammenfindet, um den Anstoß für das von Wilhemi verlangte „uneigennützige“ Gremium der Politik-beratung zu geben. Mag sein, der Gedanke stößt beim neuen Bundespräsidenten auf Wohlwollen, hat er doch als Regierungschef in Nordrhein-Westfalen mit der Kommission „Zukunft der Bildung -Schule der Zukunft“, die er 1992 ins Leben rief, sein Interesse an der Sache unter Beweis gestellt Das „Megathema Bildung“ jedenfalls hätte einen zweiten Anlauf verdient.