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Annäherungen an die Quadratur des Kreises. TIMSS und die Folgen | APuZ 35-36/1999 | bpb.de

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APuZ 35-36/1999 Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven internationaler Bildungsforschung: das Beispiel TIMSS/III Annäherungen an die Quadratur des Kreises. TIMSS und die Folgen Welche Bildung braucht die Informationsgesellschaft? Sozioökonomische Bildung -ein Kernelement der Allgemeinbildung

Annäherungen an die Quadratur des Kreises. TIMSS und die Folgen

Alexander Hesse/Detlef Josczok

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Zusammenfassung

Nicht die Bildung, wie von Bundespräsident Herzog verlangt, sondern TIMSS ist zum „Megathema“ geworden. Die „Third International Mathematics and Science Study“ hat den deutschen Schülern im weltweiten Vergleich mathematisch-naturwissenschaftlicher Leistungen ein nur mäßiges Zeugnis ausgestellt -und damit eine staunenswerte Resonanz erzielt. Die beteiligten Wissenschaftler haben eine im Inhalt spröde, methodisch vertrackte und keineswegs sensationelle Untersuchung publikumswirksam verbreitet und fast beliebiger Interpretation überlassen. Seit erste Resultate der Studie bekannt wurden, rufen die Medien die pädagogische Katastrophe und die Gefährdung des „Wirtschaftsstandorts Deutschland“ aus. Die Politik hat TIMSS als Munition im Parteienstreit entdeckt und in den Grabenkämpfen etwa um Gesamtschule, 13. Schuljahr und Abiturregelung in Anschlag gebracht. Als Folge des „TIMSS-Schocks" ist eine regelrechte Prüfungs-und Testeuphorie ausgebrochen, die die veröffentlichte Meinung bedient und die Illusion nährt, bereits auf diese Weise die „Qualität“ der Schule verbessern zu können. Was als (behutsames) Diagnoseinstrument durchaus einen Sinn hat, wird zusehends therapeutisch (über-) strapaziert. Trotz der mittlerweile anerkannten (und richtigen) Programmatik, Vielfalt und Autonomie der Schulen herauszufordern und zu stärken, besteht die Gefahr, daß (zentrale) Normierung und Kontrolle die Oberhand gewinnen. Jedenfalls bleiben Widersprüche ungelöst -die Szenerie erinnert an die Quadratur des Kreises. Der Beitrag versucht, die Hintergründe zu rekonstruieren, die die Erfolgsgeschichte von TIMSS befördert haben. Er warnt zugleich vor den Risiken medialer Erregung und bildungspolitischer Kurzatmigkeit. So nötig eine kritische Bestandsaufnahme und eine Reform der Schule sind -eine „nachhaltige“ Bildungsoffensive erfordert Geduld, Gelassenheit und eine Strategie auf lange Frist. Angeraten scheint ein zentrales Gremium unabhängiger Sachverständiger, ein neuer „Bildungsrat“, der über Bildung nach-und für Bildung vorausdenkt.

Kein Zweifel: Die „Third International Mathematics and Science Study" hat für Schlagzeilen gesorgt, und ein Abklingen der Resonanz ist nicht in Sicht. Seit die ersten deutschlandspezifischen Resultate der weltweiten Schülerleistungsschau bekannt wurden, spielt TIMSS die tonangebende Rolle in einer selten erhellenden, dafür oft ärgerlichen oder ungewollt amüsanten „Qualitätsdebatte“, die Presse, Hörfunk und Fernsehen durchzieht und darauf abzielt, schulische Standards zu durchleuchten, Lehr-und Lernerfolge zu erfassen und sie der Permanenz nationaler und internationaler Vergleiche zu unterwerfen. Mit „Aufbruch" -Stimmung hat dieses unverhoffte Interesse indes wenig gemein. Der mit der Autorität des höchsten Staatsamtes formulierte Appell, Bildung angesichts der am Horizont aufziehenden, von globaler Vernetzung und Wettbewerb bestimmten Wissens-gesellschaft von Grund auf zu überdenken, ist zwar nicht verhallt, aber sehr selektiv aufgegriffen und umgesetzt worden. Was Altbundespräsident Roman Herzog 1997 zum zentralen Anliegen seiner Amtsperiode erhob und auf dem „Deutschen Bildungskongreß“ der Bertelsmann-Stiftung am 13. April 1999 in Bonn in einem zweiten „Aufguß“ wiederholte, hat Karriere gemacht. Das designierte „Megathema“ der Jahrtausendwende, das für einen Moment durchaus optimistisch stimmen konnte, schrumpfte im Handumdrehen zu grobgeschnitzten Postulaten aus dem überkommenen Repertoire der Bildungsökonomie. Es kreist um das Humankapital als Investivkraft und Kostenfaktor und um den Königsweg seiner Qualifizierung Und es erschöpft sich in medialer Erregtheit und (partei-) politischen Abnutzungsgefechten. Zu diesem (Deformations-) Prozeß hat TIMSS, deren Urteil zuweilen „amtliches“ Gewicht und den Nimbus der Unantastbarkeit gewann, nicht unwesentlich beigetragen.

I. Megathema TIMSS

Gleichgültig, ob es sich um Befunde aus der Sekundarstufe I (Klassen 7 und 8) handelt, die zwischen 1993 und 1995 in 45 Ländern erhoben wurden (TIMSS II) oder um die Untersuchung der Sekundarstufe II, die sich 1995/96 auf die gymnasiale Oberstufe und die beruflichen Voll-und Teilzeitschulen in 25 Staaten richtete (TIMSS III) -der deutsche Zweig der Studie, dessen Fäden im Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) zusammenlaufen, hat es in Wort und Schrift an Prägnanz, ja Drastik nicht fehlen lassen: Die Schüler zwischen Greifswald und Garmisch-Partenkirchen, so das Hauptergebnis, können in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) und besonders eklatant in Mathematik nur höchst mittelmäßige Leistungen aufbieten. Sie beweisen gerade bei jenen Aufgaben gravierende Schwächen, in denen sie abseits geübter Fertigkeiten gezwungen sind, Problemkonstellationen zu identifizieren, Gelerntes in neue Kontexte zu übertragen und selbständig nach Lösungen zu suchen. Die 13-bis 14jährigen erreichten das Testziel abgeschlagen hinter ihren Altersgenossen aus Singapur, Südkorea, Japan und den meisten Staaten Europas; deutsche Spitzentalente sind in der Weltelite „in bedenklicher Weise“ unterrepräsentiert; ein Fünftel zeigte gar nur Kompetenzen, die sich auf dem Anspruchslevel der Grundschule bewegen. Die Schüler der Sekundarstufe II unterlagen, da ostasiatische Länder nicht an den Start gingen, der Konkurrenz aus Skandinavien, den Niederlanden, der Schweiz und selbst Slowenien. „An der Spitze“, so ließ MPIB-Chef Jürgen Baumert im Focus verlauten, „sieht es grausam aus. Der Befund ist erschreckend. Die Defizite wachsen.“

TIMSS kontrolliert und beschreibt „Lernerträge“, dahinter tritt die umsichtige Relativierung der „Ertragslagen“ -Messung zurück. Für die offerierten Wertungen fehlt der Maßstab, die Etiketten von Schrecknis und Grausamkeit sind willkürlich gesetzt -und nicht zuletzt gilt zu beachten, daß die Jeremiade über Begabungsrückgang, sinkende Lernlust und intergenerativen Leistungsverfall so alt ist wie die Schule selbst Gewiß mag der Umgang mit Zahlen, Formeln und Funktionen zur Lebensbewältigung gehören, er scheint in einem von Technik und Technologie geprägten Gemeinwesen unverzichtbar; nicht anders die Einsicht in die Natur und die naturwissenschaftliche Deutung der Welt. Doch über das Was, Wieviel und Wofür des notwendigen Wissens herrscht nirgendwo Einvernehmen. Und was besagen die Kenntnisse, die TIMSS ins Examen nimmt, über die Güte eines Schulsystems, was über die vielbeschworene Innovations-und Modernisierungsfähigkeit einer Gesellschaft? Sind sie die Garanten von Stabilität, Wachstum und Wohlstand in einer Epoche revolutionärer Umbrüche? Dazu äußert sich TIMSS nicht. Die Studie begnügt sich mit der lapidaren Feststellung, „immer mehr Staaten“ betrachteten eine fundierte mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung ihrer Jugend als unerläßliche Investition zur Wahrung ihrer Wettbewerbs-und Überlebenschancen

Was immer die TIMSS-Diagnostik über das „Versagen“ deutscher Schüler ermittelt hat -welche Gründe dafür verantwortlich sind, bleibt weitgehend der Spekulation überlassen. Auf der Basis der vorliegenden Daten können weder definitive Aussagen über Irrtümer, Fehler und Versäumnisse in Pädagogik und Politik getroffen, noch Initiativen unternommen werden, sie zu beheben. TIMSS mag schockieren, alarmieren, aufrütteln (oder lähmen) -zur Lösung jener Probleme, die sie selbst aufwirft, vermag sie nicht beizutragen. Sie ist durch ihr Erklärungsdefizit geradezu prädestiniert, für vielfältige Interessen ausgebeutet zu werden. Zwar hat die Studie klargestellt, daß Schülerleistungen, international betrachtet, nicht von Faktoren wie der (zentralen oder föderalen) Schulaufsicht, der (gegliederten oder integrierten) Schulstruktur oder dem (zentralen oder dezentralen) Prüfungssystem abhängen, und betont, kein verläßliches Material zu bieten, das für den intranationalen Glaubens-streit um die Schule geeignet sei. Doch da die Forscher selbst ihr Gebot der Mäßigung und Neutralität nicht immer ernst nahmen und sich zu kausalen Verknüpfungen vorwagten, ist TIMSS rasch zum Spielball der Medien und zum Zankapfel der (Bildungs-) Politik geworden.

TIMSS hat mit flinkem Strich ein Panorama entworfen und ihm klare Konturen verliehen. Viele Einzelheiten liegen indes nach wie vor im dunkeln. Namentlich für TIMSS III gilt, daß die beteiligten Wissenschaftler sich schon auf die mediengerechte Vermarktung verlegten, noch ehe die Arbeit getan und wenigstens in einer ersten, „deskriptiven“ Übersicht zugänglich war Zwar ist dieses Vorgehen gelegentlich auf Unbehagen gestoßen, da es die Beurteilung erschwert oder gar verhindert: „Generell“, so Ulf Preuss-Lausitz, „ist die Publikation von Ergebnissen ohne zeitgleiche Präsentation aller Methoden, Instrumente und Detaildaten höchst fragwürdig." Aber die Strategie hat ihren Akteuren eingetragen, was sie sich erhofften; sie sind zu allseits umworbenen Experten aufgestiegen. Sie steht für einen Stil der Eigenwerbung, der an Akzent gewinnt, je mehr sich die Forschung bei strapazierten Etats gegen finanzielle Auszehrung und schleichende Demontage behaupten muß. „Je einflußreicher die Medien in der Strukturierung öffentlicher Diskurse werden, desto wichtiger wird es für die Wissenschaften, die Aufmerksamkeit der Medien für sich zu gewinnen, weil sie diese zur Legitimierung ihrer Ansprüche auf Ressourcen braucht.“

II. Journalistische Simplifizierungen

Lethargie und Stillstand zu beenden und „das Thema Bildung“ aus der Abgeschiedenheit intimer Fachgespräche „auf die Titelseiten zu holen“ -so definierte Roman Herzog auf dem besagten Bertelsmann-Kongreß den Anspruch seiner Präsidentschaft. Der Wunsch ist Wirklichkeit geworden: Die Schule, gewöhnlich kein allzu attraktiver Stoff für die Massenmedien, gewinnt an Publizität. Diese ist maßgeblich dem Widerhall gedankt, den die TIMSS-Studie gefunden hat. Presse, Funk und Fernsehen sind, wie Niklas Luhmann analysiert hat, unter den Pressionen von Auflage und Einschaltquote gezwungen, durch „die serielle Produktion von Neuigkeiten“ Beachtung zu finden, Irritationen zu wecken und Erregung zu schüren; dabei fungieren „Quantifikationen" als besonders wirkungsvolle „Aufmerksamkeitsfänger“, da sie in der Lage sind, „vertraute Kontexte“ und die vermeintliche Präzision der (großen) Zahl in „substanzlose Aha-Effekte“ zu verschmelzen. Die TIMSS-Forschungen, von sprödem Wissenschaftsballast befreit, auf eine griffige Version zurechtgestutzt und leicht verständlich angerichtet, verhießen in diesem Sinne einen respektablen Unterhaltungswert, und sie haben diese Erwartung bislang mit Bravour eingelöst. Sie sind „anschlußfähig“; sie passen sich füglich ein in die mit Macht geführte Diskussion um Optionen, Zwänge und Risiken der Informations-und Wissensgesellschaft -ein Topos, der selbst unter der besonderen Pflege der Medien steht, schon deshalb, weil er sich auf ein überschaubares Arsenal eingängiger Vokabeln und Kernformeln mit hohem Signalwert reduzieren läßt. So bedient TIMSS einen schnellebigen Nachrichtenmarkt, der ihre Befunde bereitwillig rezipiert, vervielfältigt und nicht selten in Losungen von beeindruckender intellektueller Schlichtheit verformt. Seit die TIMSS-Akteure erstmals die Öffentlichkeit suchten, rufen Print-, Ton-und Bildmedien mal mit lodernder Empörung, mal im Gestus des feierlichen Abgesangs die „Qualitätskatastrophe“ aus: Die Selbstgewißheit, „daß die deutschen Schulen zu den besten der Welt gehören“, so der Tenor, sei ein für allemal „als Aberglauben entlarvt“ die Schuldigen des „Bildungsnotstands“ werden mit dem Skandalen der notorisch faulen Lehrer und ihres jämmerlich schlechten Unterrichts oft gleich mitgeliefert Zug um Zug haben sich damit die Medien ihre eigene Wirklichkeit geschaffen. Nahezu übereinstimmend interpretieren sie den defizitären Kenntnisstand von Kindern und Jugendlichen als Indikator und Menetekel für die von Stagnation, Paralyse, kreativer Versteppung und Reformstau geprägte deutsche Misere schlechthin. Sie entwerfen unter dem Stichwort „Schlechte Noten für Deutschland“ das Schreckensbild eines nationalen Verhängnisses. Und sie klagen vehement und mit großer Selbstverständlichkeit einen Sieger-oder Medaillenplatz in ihrer fiktiven „Schulleistungsolympiade“ ein.

Inzwischen hat TIMSS eine Reihe journalistischer Trittbrettfahrer und Nachahmungstäter gefunden. Da der Bedarf anhält und „die Ware sich verkauft“ der Datenfluß aus der TIMSS-Werkstatt aber ins Stocken geriet, sind einzelne Presseorgane eigene Wege zur Etablierung der neuen „Testkultur“ gegangen. Zwei Beispiele: Bankangestellte, so faßt das Verbrauchermagazin Plus eine stichprobenartige Erkundungsreise durch deutsche Geldinstitute zusammen, die einen Schuß Rabulistik und Schadenfreude nicht verhehlen kann zeigen sich in ihrer Mehrzahl selbst unter Einsatz von Computern und Taschenrechnern unfähig, Sparraten und Zinsen korrekt zu kalkulieren. Anders ausgedrückt: Die Finanzberater mußten vor den verdeckten Ermittlern der Zeitschrift, die mit ausgesucht kniffligen Problemen und listigen Fangfragen armiert waren, kapitulieren. Was bei Plus unverblümt als flott komponierte Übertreibung und zündende Provokation daherkommt, findet im Stern eine Bestätigung, die um Ernsthaftigkeit bemüht ist. Der Stern ließ republikweit einer bunten Mischung aus knapp 2000 Haupt-, Real-, Gesamt-und höheren Schülern und 103 (!) Lehrern 40 ausgewählte Fragen aus einer Lernkartei vorlegen, die ursprünglich zum Gebrauch für Selbststudien und Ratespiele („Trivial Pursuit“) entwickelt wurde und „einen respektablen Querschnitt“ allgemeiner Bildung widerzuspiegeln verspricht Nicht unerwartet konstatiert das Blatt als Fazit seiner Auszählung ein beiderseits „alarmierendes“ Wissensdefizit, das über die Grundrechenarten des Kreditgewerbes weit hinausreicht, und wagt sogar die These eines leistungsmäßigen „SüdNord-Gefälles“ Die Titelgeschichte schlug die vorhersehbar hohen Presse-Wogen und mit ihrer Rand-und Schlußnotiz über die Bildungslücken der einbezogenen Pädagogen, die die Autoren als „nicht repräsentativ, aber aufschlußreich“ einstuften, animierte sie auch (mutmaßliche) Sachverständige wie den Präsidenten der Kultusminister-konferenz und Sächsischen Staatsminister Hans Joachim Meyer, lautstark in ihr Schullamento einzustimmen

Was die TIMSS-inspirierten „Nach-Prüfungen“ eint, ist dies: Das Wohl und Wehe der Republik erscheint abhängig vom (momentan gestörten) Verhältnis der Schule zu ihren Aufgaben und der jungen Generation zum Lernen. Dem liegt die meist kaum reflektierte Hypothese zugrunde, nach der die Rettung Deutschlands im Zuge voranschreitender Globalisierung „irgendwie“ mit dem Reservoir und der Exzellenz seiner „Manpower“ Zusammenhängen müsse. Pure Mutmaßungen über den „Standortfaktor Bildung“ haben ausgereicht, um mühsam erreichte didaktische und politische Nachdenklich-und Behutsamkeiten ohne viel Federlesen beiseite zu schieben und als „Spaß“ -und „Kuschelecken‘°-Pädagogik zu denunzieren. Gleichzeitig rückt in einer komplexen Gesellschaft, deren Prognose-und Reaktionsfähigkeit schon mit dem Ausblick von einem Konjunkturzyklus zum nächsten heillos überfordert ist, die Schule pauschal und vorsorglich in die Rolle des Sündenbocks für die Krisen und Gefährdungen von morgen.

Die TIMSS-Verantwortlichen haben wenig Energie darauf verwandt, solche Mißgriffe zu verhindern. Mehr noch: Sie haben Fehldeutungen billigend in Kauf genommen, herausgefordert, bestärkt -und von ihnen profitiert. Zu Recht kommentierte Die Zeit: „Hätte nur einer der beteiligten deutschen Forscher rechtzeitig in Deutschland eine Pressekonferenz veranstaltet, wäre mancher Blödsinn gar nicht aufgekommen, der jetzt kaum noch aus den Köpfen zu kriegen sein wird.“ Die Print-und TV-Redaktionen, so scheint es, haben sich in ihre Urteile, Vorwürfe und Schuldzuweisungen verbissen. Und die Erklärung des MPIB-Leiters Jürgen Baumert, die Berichterstattung sei „nicht steuerbar“ und „eher eine Frage der politischen Kultur“, mutet wenig überlegt an; sie dokumentiert die Sorglosigkeit und Nonchalance der Protagonisten Es drängt sich der Verdacht auf, als hätten es beide Seiten des Zweckbündnisses, die TIMSS-Publizistik und ihr Medienecho, vom Start weg -ganz im Sinne Vilem Flussers -mehr auf Public Relations denn auf Verständigung abgesehen: Was nicht kommuniziert wird, ist nicht; nur was kommuniziert wird, ist etwas wert, und je mehr es kommuniziert wird, desto wertvoller ist es; wer kommunizieren will, darf wenig informieren

III. Politische Atemlosigkeit

„Schüler in Bayern besser als in NRW“, berichtet im März 1997 die Welt am Sonntag. Zwölf Monate später meldet Bild „Schüler in NRW können kaum lesen und rechnen“ und ergänzt den Aufmacher mit dem Hinweis: „Sie werden immer dümmer!“ Und im Juni 1998 sekundiert die Landes-CDU unter Berufung auf TIMSS-Erkenntnisse, Nordrhein-Westfalen nähere sich bedrohlich „den Bildungswerten von Südafrika“ der Kap-Staat bildet das Schlußlicht der TIMSS-Rangliste. Für Polemiken wie diese ist die Schule nur noch Mittel zum Zweck; mit dem Gespür für Themen, die polarisieren, Emotionen freisetzen und Zustimmung mobilisieren, hat die Politik ihre „Kampagnenfähigkeit“ entdeckt. Der inszenierte Schuldisput degeneriert zum wohlfeilen Politikersatz, der von der resignativen Taten-und Erfolglosigkeit in den klassischen Ressorts Wirtschaft, Arbeit und Finanzen ablenken soll. TIMSS und der Stereoeffekt der Medien werden genutzt, um alte Konflikte aufzuwärmen und offene Rechnungen zu begleichen. Dem kommt die Magie vermeintlich „objektiver“ Daten entgegen, die bei Verzicht auf interpretatorische Sorgfalt beinahe universell verwendbar sind. Auch wenn sich die TIMSS-Forscher beeilten, die Untauglichkeit ihrer Resultate für die zum Ritual erstarrten Grabenkämpfe um Gesamtschule, 13. Schuljahr oder Zentralabitur zu beteuern -das Dementi hat kaum jemanden davon abgehalten, für diese Scharmützel genau dort nach Munition zu suchen Und eben darin dokumentieren sich Reiz und Erfolg der Studie. TIMSS wäre ein akademisches und abseits der Alma mater belangloses Streitobjekt unter Fachleuten geblieben, hätte sie nicht in Anlage, Ergebnis und Präsentation der Adaption Tür und Tor geöffnet.

Inzwischen mag sich, vom „TIMSS-Schock“ und „-Alarm“ herausgefordert oder zermürbt, keine Landesregierung mehr gegen weitere Evaluationsprojekte und Qualitätskontrollen sperren. Die Kultusministerkonferenz hat unlängst den Beginn einer „Kultur der Anstrengung“ eingeläutet. Sie möchte die „Wertschätzung des Lernens“ und den „Stellenwert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen“ stärken und meint diese Absicht primär mit dem Aufbau einer auf Überwachung bedachten Infrastruktur einlösen zu können Seither grassiert eine regelrechte Test-euphorie. Fast überall, mit länderspezifischen Variationen, müssen Schüler (und Schulen) zu Leistungschecks, identischen Klassenarbeiten und Abschlußprüfungen antreten. TIMSS-Nachfolgepläne, etwa in Gestalt des OECD-Vorhabens „Internationale Bildungsindikatoren“ (PISA), das auf die Kompetenzen 15jähriger in den Segmenten „reading“, „mathematics" und „Science“ abhebt, sind über das Jahr 2006 hinaus abgesegnet und mit Millionenbeträgen etatisiert -„ein schwindelerregendes Programm“ auch wenn seine Administratoren unter dem Slogan „Keine Angst vor PISA“ um Sympathiewerbung bemüht sind. Die „Testkultur“, einst Mittel der Diagnose, entwickelt nach TIMSS ein Eigenleben und wird zur Zauber-formel der Therapie. Was als Panikreaktion auf den „Wahnsinn Schule“ und als kopfloses Krisenmanagement begann, um die Medien zu bedienen und das verunsicherte Publikum zu beruhigen, hat sich zum politischen Konzept verfestigt. Das Unterfangen gliche dem (unsinnigen) Versuch eines Automobilherstellers, der die Kurvenstabilität seiner Fahrzeuge dadurch verbessern wollte, daß er den „Eichtest“ bis zur Perfektion treibt. Atemlosigkeit, Aufgeregtheit und Aktionsdrang haben dabei verhindert, Fragen zu stellen und Widersprüche zu lösen.

Erstens: Ist die Mathematik wirklich der Passe-partout für die Fährnisse und Forderungen des 21. Jahrhunderts? Die Erkenntnis, die moderne Welt sei eine mathematisch-naturwissenschaftlich durchwirkte und bestimmte, mutet fast wie eine Binsenweisheit an. Doch ist die Szenerie paradox: Zu Recht stellt Hans Werner Heymann fest, daß zwar die Mathematik spürbar Einzug in alle Sphären des täglichen Lebens hält. Doch je weiter sie vordringt, desto mehr verbirgt sie sich hinter „ihren technischen Anwendungen“. Wer einen elektronischen Miniaturrechner zu Rate zieht, eine multifunktionelle Registrierkasse bedient „oder mit einem modernen Textverarbeitungssystem umgeht, braucht von der in diese Produkte investierten Mathematik keine Ahnung zu haben. Der größte Teil der üblichen, im Sekundarschulbereich gelehrten mathematischen Inhalte läßt sich nicht über seinen lebenspraktischen Nutzen rechtfertigen.“ Mit anderen Worten: Schüler sollen verstehen, was in ihrem Alltag immer weniger sichtbar, „handgreiflich“ erlebbar und in seiner Bedeutung zu erahnen ist. Will man nicht Gefahr laufen, daß sich Unterricht zunehmend auf mechanische Aneignungsprozesse von hoher Flüchtigkeit beschränkt, müßte sich das Engagement darauf richten, diese Abstraktheit zu überwinden und das Lernen auf die Probe seiner Sinnhaftigkeit, Transparenz und Überzeugungskraft zu stellen. Das ministerielle Rezept, „die Schulen auf den Test-zug“ zu setzen, dessen „Endstation mehr Druck, mehr Kontrolle, mehr Effizienz und weniger Pädagogik heißt“ ist in dieser Hinsicht anachronistisch und kontraproduktiv.

Zweitens: Die charakteristische Stärke deutscher Schüler ist nach TIMSS, ihr Fakten-und Regelwissen schematisch anzuwenden, die Schwäche, es abseits von Schablonen und Routinen nicht aktivieren und vernetzen zu können. Dem Manko soll nun mit einem regelmäßigen Abfragen eindeutig definierter, abruf-, meß-und vergleichbarer Kenntnisse begegnet werden. Die Absurdität liegt darin, daß als Medizin dienen muß, was als Kern des Übels gilt. Wird diese Praxis zur Regel, kann dies nicht ohne Rückwirkung auf den Unterricht bleiben. Es steht zu befürchten, daß aus Vorsorge oder Angst vor schlechtem Abschneiden trainiert wird, was die (externen) Tests verlangen. Konsequenz wäre ein informelles Kerncurriculum, das seine Inhalte nach den Kriterien ihrer Reproduzierbarkeit und Prüfungsrelevanz wählt, ein Zuwachs normierten, enzyklopädischen Lernens und der Vormarsch rezeptiver GedächtnisÜbungen

Und drittens: Auch in der Erziehungswissenschaft heißt die Parole der neunziger Jahre „Deregulierung“ -wiewohl sie hier und da mißtrauisch als trojanisches Pferd der Haushaltskonsolidierung beäugt wird. Jede Schule ist gehalten, sich mittelfristig ein unverwechselbares Profil zu schaffen und ihrem „Haus des Lernens“ eine passende Architektur zu verleihen. Um dies zu erreichen, wird ihr der Status relativer Selbständigkeit zugebilligt; sie erhält erweiterte Ressourcen und Kompetenzen bei der Gestaltung ihres Lernmilieus, der Personalauswahl und der Budgetierung. Tests und Prüfungen, der Aufruf zur Normerfüllung, kehren diesen Trend um und stärken das Element der Zentralisierung und Kanonisierung.

Insgesamt erinnert die politische Reaktion auf TIMSS an die Quadratur des Kreises. Man setzt auf Pioniergeist, Vielfalt und Phantasie vor Ort, ist aber zugleich von tiefem Argwohn gegenüber den beteiligten Subjekten gepeinigt und möchte, wenn es „hart auf hart“ geht, auf hoheitliche Ein-und Zugriffsrechte nicht verzichten; man versucht sogar, wie es scheint, das „System in zwei sich ausschließende Richtungen zu optimieren“ Was als Herzogscher „Ruck“ unter dem Motto „Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit“ begann, endet gegenwärtig bestenfalls in einer „Schulautonomie an der kurzen Leine“

IV. Ferne Aussichten

Die Bundesrepublik ist trotz mancher Defizite und Desiderate weder bildungspolitisches Entwicklungsland noch pädagogische Wüstenei. Eben deshalb scheint der (keineswegs originelle) Ruf berechtigt, die Schule -nicht zuletzt angesichts des Volumens der Kultusetats -einem „rollenden“ Prozeß der Revision und Reform zu unterwerfen. Doch zu diesem Zweck muß Klarheit darüber bestehen, worauf die ebenso komplexe wie schillernde Forderung nach „Qualität“ abzielt. Augenblicklich fungiert sie als „mächtige Leerformel“ im Austausch vorgefaßter Meinungen. Sie reüssiert, weil sie geeignet ist, Stimmungen zu kanalisieren, Interessen zu bündeln und (disparate) Ideen und Programme zu lancieren.

Es ist legitim, nach Wegen zur Objektivierung und Optimierung des Leistungsstandes öffentlich verantworteter Bildung zu forschen -auch auf internationalem Parkett. Doch darf die Suche nicht zu einem Output-Denken führen, das Qualität allein an meßbaren Lernergebnissen und an deren Vergleich mißt. Ranking und Benchmarking sind bei aller Beliebtheit in Volks-und Betriebswirtschaft die kurzatmigsten Vehikel der Reform. Das Bemühen, dem fortwährend plakatierten Standort-und Globalisierungsdruck schon im schulischen Vorfeld mit der Forderung nach Spitzenleistungen im Olympia-Format -„schneller, höher, weiter“ -Tribut zu zollen, wird kaum die ersehnten Früchte tragen. Was immer die Politik in Angriff nimmt, um den angeblich aus den Fugen geratenen Lehranstalten die Korsettstangen einer neuen „Bildungsoffensive“ einzuziehen -es gilt das, was Hartmut von Heutig über die Kreativität gesagt hat: Wer von ihr Wunderdinge erwartet, wird enttäuscht. Man kann sie weder „fördern“ noch „herstellen“, man muß sich ihre „Verhinderungen klarmachen und diese vermeiden oder ausräumen.

. . . Wir liefern zuviel Ordnung, zuviel fertige Lösungen, zuviel Perfektion und System.“ Ler-nen verlangt ein Klima der Muße und Geduld, dazu ein Labyrinth von Um-, Schleich-und Irrwegen. Schule ist ein zu facettenreiches und sensibles Gebilde, als daß sie sich auf einen (quantitativen) Nenner bringen und mit gestanzten Impulsen auf Kurs halten ließe.

Deshalb ist Widerstand geboten gegen eine „Justin-time-Ideologie" (Oskar Negt) der raschen Entschlüsse, die sich „in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft“ kontinuierlich in den Vordergrund drängt. Wer sich mit Qualität befaßt, muß sich Rechenschaft darüber ablegen, wie sie zu definieren ist, wie sie entsteht, welche Faktoren ihr Entstehen begünstigen, welche es hemmen. Gegenwärtig kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als liege die erhoffte Lösung in einer modernisierten Version des Nürnberger Trichters, als herrsche eine triviale Automatenmentalität, bei der vorwiegend „in Tonnage“ gedacht und gehandelt und all das aus dem Blick verloren wird, was eine „nachhaltige“ Schule für die Herausforderungen der zwischen Sachzwängen und Visionen nur umrißhaft erkennbaren demokratischen Wissens-und Informationsgesellschaft zu leisten hätte. „Nichts, was bleiben soll, kommt schnell“, notiert von Hentig Die Dringlichkeit einer „Politik auf lange Frist“ ist evident; um so mehr wird eine notorisch selektive Wahrnehmung zum Risiko. Ein ums andere Mal richtet und verengt sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf Partikel und Marginalien, die ins (tagespolitische) Kalkül passen und zu aktionistischer Problembewältigung verleiten. Das mag heute die Mathematik sein, morgen sind es die Religion als Notbehelf der „Werteerziehung“ oder die Neuen Medien, die sich anschicken, als ökonomisches und pädagogisches Allheilmittel aufzutreten. Wie auch immer -hier spiegelt sich ein altbekannter und scheinbar unvermeidlicher (curricularer) Kurzschluß. Die Schulfächer, schreibt von Hentig, werden „behandelt, als seien sie die Bildung selbst. Sie sind jedoch nur eine Ressource, ein Übungsfeld, eine von vielen Orientierungsmöglichkeiten“ von Bildung ist, so Marianne Grönemeyer, „in allen Debatten um die Schule auffallend wenig ... die Rede“ Welche Rigorismen dieses konzeptionelle Vakuum hervorbringt, illustriert exemplarisch der Schlußbericht der von den Ministerpräsidenten Bayerns und Sachsens eingesetzten Kommission für Zukunftsfragen Die Kommission entdeckt als wegweisende Aufgabe der Schule die „Persönlichkeitsformierung“, deren zentrales Ziel sie -unter der Prämisse einer fortschreitenden „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ -im Idealbild des „unternehmerisch handelnden Menschen“ sieht. Unterschlagen wird dabei, daß Bildung „keine Angelegenheit des ökonomischen und technischen Bedarfs (ist), sondern Bürgerrecht, eine einklagbare Verfassungsnorm des demokratischen und sozialen Rechtsstaates“

Es ist nicht ohne Ironie, daß TIMSS in ihren „diskreten“, von journalistischen Multiplikatoren und politischen Rezipienten meist übersehenen Botschaften durchaus Perspektiven anbietet, die zuversichtlich stimmen. So offenbaren bisher erst in Ansätzen ausgewertete Video-Mitschnitte aus deutschen und japanischen Schulen „typische“ Differenzen, die einem „kulturellen Skript“ zu folgen scheinen: hier ein Mathematikunterricht, der nach Wissenserwerb strebt, von Formeln, Regeln und Routinen überlagert wird und (unbewußt) Gefahr läuft, „menschliche Taschenrechner“ hervorzubringen; dort eine Lehr-und Lernpraxis, die primär Denken und Verständnis schult und auf die Selbsttätigkeit der Schüler setzt. In der konträren Auffassung von Didaktik, nicht etwa in Schulstruktur und Auslesemodus -Japan unterhält bis zum Ablauf der Klasse neun eine ungegliederte Einheitsschule ohne Vorsortierung, Niveaukurse und Sitzenbleiben -, vermutet TIMSS die Ursache für das bilaterale Leistungsgefälle, das sie identifiziert hat. So verführerisch dieser (suggestive) Schluß sein mag, er gibt zu Skepsis Anlaß, da vor allem die Rolle und Wirkung der japanischen „Erziehungsindustrie“, des Geflechts kommerzieller Nachhilfe-und Ergänzungsschulen („juku“), nicht systematisch berücksichtigt wurde. Vielleicht aber trägt das „Modell Nippon“ dennoch, ohne naiv und voreilig den plötzlichen Verheißungen des „ex Oriente lux“ zu verfallen seinen Teil dazu bei, die alte Frage nach einem besseren Mathematikunterricht neu zu stellen -einem lebendigen, aktiv-entdeckenden Unterricht, der Raum läßt für Fehler, Umwege und alternative Lösungen. Nur mit solchen, aus „dichter Beschreibung“ (Clifford Geertz) gewonnenen Anregungen vermag die Debatte um die Qualität der Schule jene Dignität und Seriosität zurückzugewinnen, die sie nach TIMSS (vorerst) verloren hat. Klaus Klemm hat die Sache auf den Punkt gebracht: „Die Lenkung des Blicks auf die fachdidaktische Unterrichtsrealität und damit auch auf den niederen Rang, den Fachdidaktik in der Lehrerausbildung deutscher Hochschulen hat, ist der produktive und weiterführende Ertrag der Internationalen Vergleichs-studie. Es macht Mut, daß der Mathematikunterricht in Deutschland ins Gerede gekommen ist. Wenn allerdings die Ergebnisse der Studien nur zu Schülerbeschimpfung, Politikerschelte und neuerlichen Systemstreitereien genutzt werden, ohne zu einer didaktischen Neubesinnung zu führen, dann wäre die Arbeit vergeblich gewesen.“

V. Bildungs-Rat

Was soll mit der Schule, was mit der Bildung geschehen? Die Frage, die leicht den Wunsch nach endgültigen Lösungen provoziert, ist verfrüht, überstürzt und im Blick auf eine bündige Antwort chancenlos. Schon aus Gründen der Pragmatik scheint es im Augenblick vordringlich, einen Modus des Disputs und der Verständigung zu finden, der respektiert, daß Bildung ein „schützenswertes Gut“ ist, und mehr der Aufklärung als der „Entfachung öffentlicher Erregung“ bedarf. Erforderlich, so befindet Ingo Richter, Direktor des Deutschen Jugendinstituts München, sind „keine neuen Forschungsprogramme“. Es gilt, „das bekannte Wissen zu nutzen“ -und es gegen mediale Vulgarisierung, lobbyistische Vereinnahmung, den Profilierungsdrang der Parteien und die Egoismen der Bundesländer zu verteidigen. Wer aber kann verhindern, daß Bildung nur ins Gerede kommt, statt über den Tag hinaus im Gespräch zu bleiben? Wem wird die Möglichkeit zugestanden, über Wahlkampagnen und Legislaturperioden hinaus über Bildung nach- und für Bildung vorauszudenken? Wie lassen sich Sachverstand, Langmut und Autorität bündeln, um die Basis für eine differenzierte Diskussion zu bereiten und die Werbetrommel für einen stabilen gesellschaftlichen Konsens zu rühren?

Gewiß nicht zum ersten Mal lautet der Vorschlag, ein zentrales, unabhängiges Beratungsgremium zu installieren. Die unlängst verstorbene Publizistin Jutta Wilhelmi hat in einem ihrer letzten Essays die Umrisse eines neuen „Bildungsrates“ skizziert: „Lehrer und Eltern rufen schon lange nach Vor-denkern, Warnern, Mitdenkern, nach einer Gruppe unbestechlicher Männer und Frauen, die vermitteln, verbinden, daran erinnern, was bereits sinnvoll gedacht wurde, die auch beruhigen in der allgemeinen Aufgeregtheit, nach Ratgebern.“ Garantien bietet ein solcher (ständiger) Ausschuß nicht, aber er weckt Hoffnungen. „Die Konturen alter Bildungswelten lösen sich auf im Nebel der Beliebigkeit. Auch einem Bildungsrat dürfte es heute schwerfallen, neue Konturen herauszumodellieren. Und doch wäre es sicher preiswerter, Rat einzuholen, statt nur zu löschen, wo es gerade brennt.“

Angesichts dessen, was die Debatte um „Leistung“ und „Qualität“ fast täglich an Überraschungen bereithält, mag dies utopisch klingen. Dennoch ist zu wünschen, daß sich in Wissenschaft und Gesellschaft eine Koalition einflußreicher Kräfte zusammenfindet, um den Anstoß für das von Wilhemi verlangte „uneigennützige“ Gremium der Politik-beratung zu geben. Mag sein, der Gedanke stößt beim neuen Bundespräsidenten auf Wohlwollen, hat er doch als Regierungschef in Nordrhein-Westfalen mit der Kommission „Zukunft der Bildung -Schule der Zukunft“, die er 1992 ins Leben rief, sein Interesse an der Sache unter Beweis gestellt Das „Megathema Bildung“ jedenfalls hätte einen zweiten Anlauf verdient.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Rutz (Hrsg.), Aufbruch in der Bildungspolitik. Roman Herzogs Rede und 25 Antworten, München 1997, S. 13-33.

  2. So der Kommentar von Jutta Roitsch („Herzogs Aufguß“), in: Frankfurter Rundschau vom 14. 4. 1999; zur Einschätzung des Bildungskongresses vgl. Albrecht Müller, Die „Wohltäter“ aus Gütersloh. Wie ein Konzern Einfluß auf die Bildungsdebatte gewinnt, in: Vorwärts, (1999) 5, S. 24.

  3. Vgl. dazu Alexander Hesse/Detlef Josczok, TIMSS, die Medien -und die Schule? Anmerkungen zum „Bildungsstandort Deutschland“, in: Zeitschrift für Berufs-und Wirtschaftspädagogik, 95 (1999) 1, S. 106-116.

  4. Vgl. Jürgen Baumert/Rainer Lehmann u. a., TIMSS -Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich. Deskriptive Befunde, Opladen 1997. An einer Untersuchung der Primarstufe (TIMSS I) nahm die Bundesrepublik nicht teil.

  5. Wachsende Defizite, in: Focus, Nr. 13 vom 23. 3. 1998, S. 47.

  6. Vgl. Rainer Block/Klaus Klemm, Lohnt sich Schule? Aufwand und Nutzen: eine Bilanz, Reinbek 1997, S. 74-90.

  7. J. Baumert/R. Lehmann u. a. (Anm. 4), S. 17, 34.

  8. Erste TIMSS III-Ergebnisse wurden Anfang 1998 der Presse vorgestellt und danach von den beteiligten Forschern „häppchenweise“ (Klaus Klemm) in Vorträgen, Aufsätzen und Interviews erläutert und ergänzt. Eine Monographie, die über die Anlage der Studie, ihre Analysen und Bewertungen näheren Aufschluß hätte geben können, sollte im Frühherbst 1998 erscheinen, liegt aber ein dreiviertel Jahr später (Juni 1999) noch immer nicht vor.

  9. Ulf Preuss-Lausitz: Demokratische Selbstvergewisserung anstelle von Black-Box-Messungen. Folgerungen für eine andere Schulforschung, in: Hans Brügelmann (Hrsg.), Was leisten unsere Schulen? Zur Qualität und Evaluation von Unterricht, Seelze-Velber 1999, S. 56; vgl. Klaus Klemm, TIMSS III: Als Munition im Schulstreit ungeeignet, in: Erziehung und Wissenschaft, (1998) 7/8, S. 14-17.

  10. Peter Weingart/Petra Pansegrau, Reputation in der Wissenschaft und Prominenz in den Medien. Die Goldhagen-Debatte, in: Rundfunk und Fernsehen, 46 (1998) 2-3, S. 195.

  11. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 19962, S. 54, 59 f.

  12. Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 21. 5. 1998.

  13. Ein „blauer Brief“, in: Rheinische Post vom 20. 5. 1998.

  14. Dumm, faul und teuer? -Der neue Bildungsnotstand, in: ZDF vom 21. 7. 1998, 21. 00-21. 45 Uhr.

  15. Vgl. als besonders schrille Variante: Luftleerer Raum, in: Wirtschaftswoche, Nr. 24 vom 4. 6. 1998, S. 30-38.

  16. Deutsche Universitäts-Zeitung, 53 (1997) 5, S. 8.

  17. Gernot Wersig, Probleme postmoderner Wissenskommunikation, in: Rundfunk und Fernsehen, 46 (1998) 2-3, S. 225.

  18. Vgl. Rechnen mangelhaft, in: Plus, (1998) 7, S. 18-24.

  19. Vgl. Thomas Unruh, Grundwissen Allgemeinbildung. Alles, was man wissen sollte, aus Literatur, Kunst, Musik, Mathematik, Geografie und vielen anderen Wissenschaften -kompakt auf 384 Lernkarten, Lichtenau 19984 (unpag.). Die Kartei umfaßt etwa im „Bereich“ Musik so unterschiedliche Fragen wie jene (im Stern berücksichtigten) nach dem Komponisten der „Zauberflöte“, dem Urheber der „Brandenburgischen Konzerte“ und dem Interpreten des Pop-Klassikers „Thriller“. Die Aufgaben werden gleichsam in der Form eines „Trockenkurses“ geübt, gelernt und beantwortet. „Gebildet“ ist, wer den Lernstoff beherrscht, unabhängig davon, ob er je eine Note der besagten Tondichtungen gelesen oder gehört hat.

  20. Wie schlau sind Deutschlands Schüler? Der Bildungstest, in: Stern, Nr. 4 vom 21. 1. 1999, S. 52-68. Wenig später, ähnlich auf Effekt bedacht, aber textlich moderat und deeskalierend verpackt: Schlechte Noten für die Schule, in: GEO-Wissen, (1999) I. S. 22-24; Wer ist der Klügste im ganzen Land?, in: ebd., S. 146-149; mit gegenläufiger Tendenz aus der Feder des Hamburger Universitätspädagogen Peter Struck, Unsere Schule: Besser als ihr Ruf!, in: Familie & Co., (1999) 4, S. 40-47.

  21. Vgl. Sind wir wirklich die dümmsten Deutschen?, in: Düsseldorf-Express vom 22. 1. 1999; Studie: NRW hat die dümmsten Schüler Deutschlands, in: Bild-Zeitung vom 27. 1. 1999.

  22. Vgl. Kultusminister beklagt Mängel bei Lehrer-Bildung, in: Welt am Sonntag vom 24. 1. 1999; vgl. Bildungsstand der Lehrer in der Kritik, in: Stuttgarter Zeitung vom 25. 1. 1999; Lehrer sind auch nicht doofer als Minister, in: ebd. vom 26. 1. 1999; Sind Lehrer wirklich ungebildet?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 1. 1999.

  23. Herbert Reul, Spaßschule gefährdet die Exportnation, in. Focus, Nr. 39 vom 22. 9. 1997, S. 106. Reul, damals bildungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Düsseldorfer Landtag, ist heute Generalsekretär der nordrhein-westfälischen CDU. Wie sehr die Rede von der „Spaßpädagogik“ bereits zum Kampfbegriff gereift ist, zeigt Josef Kraus, Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 1998, bes. S. 173-184. Kraus, Schulleiter in Vilsbiburg (Niederbayern) und Präsident des Deutschen Lehrer-verbandes, war Kandidat für das Amt des Kultusministers in der (unterlegenen) Regierungsmannschaft Kanther (CDU) bei der Landtagswahl in Hessen 1995.

  24. Vgl. Vom Kuscheln und Schmusen im Unterricht, in: Frankfurter Rundschau vom 27. 8. 1998. Dem Begriff hat Roman Herzog in seiner „Aufbruch" -Rede von 1997 (Anm. 1) zu zweifelhafter Bekannt-und Beliebtheit verholfen.

  25. Mathe verwirrt, in: Die Zeit vom 19. 3. 1998.

  26. So Jürgen Baumert in einem FR-Interview: Es hat keinen Sinn, einzelne Länder vorzuführen, in: Frankfurter Rundschau vom 12. 6. 1998.

  27. Vgl. Vilem Flusser, Hauptsätze der Kommunikation, in: Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim 1995, S. 8.

  28. Welt am Sonntag vom 2. 3. 1997; Bild-Zeitung vom 7. 3. 1998.

  29. Westfälische Rundschau vom 5. 6. 1998; Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 5. 6. 1998.

  30. Vgl. Jürgen Baumert, Keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme, in: Profil, 50 (1997) 12, S. 16-19.

  31. Vgl. Rüttgers setzt auf Revolution. Kongreß der NRW-CDU: Bildung -Die Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts, in: Neue Westfälische vom 10. 3. 1998; Wer hat die beste Schule? und: Der Kreml läßt schön grüßen, in: Die Zeit vom 20. 5. 1998.

  32. Vgl. Prüfen statt fördern. Deutsche Kultusministerien frönen der Testkultur, in: Die Zeit vom 10. 9. 1998.

  33. Schule auf dem Prüfstand, in: Pädagogik, 50 (1998) 6, S. 5.

  34. Frankfurter Rundschau vom 7. 5. 1999. Autor Jochen Schweitzer ist Grundsatzreferent beim Bremer Bildungssenator, KMK-Beauftragter im OECD-Projekt PISA und Mitglied des deutschen PISA-Beirats.

  35. Wahnsinn Schule -Bildung vor dem Absturz, Hessen 3, 8. 9. 1998, 20. 15-20. 45 Uhr; von „TIMSS-Panik" spricht Hans-Günter Rolff, Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung Dortmund, vgl. Immer die Nase im bildungspolitischen Wind, in: Frankfurter Rundschau vom 8. 10. 1998.

  36. Hans Werner Heymann. Mehr als nur Rechnen . . . Kann Mathematikunterricht „allgemeinbildend“ sein?, in: ders. (Hrsg.), Allgemeinbildung und Fachbildung, Hamburg 1997, S. 21. Vgl. ausführlich die Bielefelder Habilitationsschrift Heymanns, Allgemeinbildung und Mathematik, Weinheim -Basel 1996, S. 134-154.

  37. Hans-Günter Rolff, Schulentwicklung in der Auseinandersetzung, in: Pädagogik, 51 (1999) 4, S. 40.

  38. Über dieses Problem ist in den siebziger Jahren anläßlich der Einführung bundeseinheitlicher Stoff-und Anforderungskataloge für die Reifeprüfung ausgiebig gestritten worden; vgl. Andreas Flitner/Dieter Lenzen (Hrsg.), Abitur-Normen gefährden die Schule, München 1977, bes. S. 7-20, 60-87.

  39. Was können wir aus TIMSS lernen -für Leistungsvergleiche deutscher Schulen? Ein Interview mit Hans Werner Heymann, in: H. Brügelmann (Anm. 9), S. 69.

  40. M. Rutz (Anm. 1), S. 33; Hans-Günter Rolff, zit. n. Experten warnen vor der „Janusköpfigkeit der Schulentwicklung“, in: Frankfurter Rundschau vom 11. 3. 1999.

  41. Wolfgang Böttcher, Für eine Allianz der Qualität. Bildungspolitische Perspektiven einer mächtigen Leerformel, in: Die Deutsche Schule, 91 (1999) 1, S. 21.

  42. Hartmut von Hentig, Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff, München -Wien 1998, S. 72-73.

  43. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 31.

  44. Hartmut von Hentig, Ach, die Werte! Ein öffentliches Bewußtsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine, Erziehung für das 21. Jahrhundert, München-Wien 1999, S. 76.

  45. Wolf Lepenies, Benimm und Erkenntnis, Die Sozialwissenschaften nach dem Ende der Geschichte. Zwei Vorträge, Frankfurt am Main 1997, S. 17, 38.

  46. Hartmut von Hentig, Bildung. Ein Essay, München-Wien 1996, S. 181.

  47. Marianne Grönemeyer, Lernen mit beschränkter Haftung. Über das Scheitern der Schule, Berlin 1996, S. 14.

  48. Auszugsweise dokumentiert in: Wie die Deutschen zu unternehmerischen Kräften kommen sollen, in: Frankfurter Rundschau vom 2. 12. 1997; vgl. Joachim Bergmann, Die negative Utopie des Neoliberalismus oder Die Rendite muß stimmen. Der Bericht der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission, in: Leviathan, 26 (1998) 3. S. 319-340.

  49. Oskar Negt. Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche, Göttingen 1997, S. 29.

  50. Schüler zu „menschlichen Taschenrechnern“ erzogen, in: Frankfurter Rundschau vom 4. 3. 1997.

  51. Von Japanern Rechnen lernen, in: Neue Westfälische vom 18. 6. 1997; In Fernost wird nicht nur gepaukt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 12. 1997.

  52. Nur am Rande sei vermerkt, daß die heute glorifizierte japanische Schule noch vor wenigen Jahren hierzulande als kinderfeindliche Paukanstalt übel beleumundet war; vgl. Streß in weißen Söckchen, in: Frankfurter Rundschau vom 25. 4. 1992; Druck und Drill, in: Die Zeit vom 12. 3. 1993. Donata Elschenbroich, Japan-Expertin beim Deutschen Jugendinstitut München, schrieb seinerzeit: „Von der japanischen Mittel-und Oberschule kann die deutsche Bildungspolitik . . . nichts lernen." (Die frühen Jahre, in: Frankfurter Rundschau vom 27. 6. 1995.)

  53. Klaus Klemm, Eine „typische“ Mathestunde in Japan und eine in Deutschland. Ein kritischer Blick auf die internationale Studie zum naturwissenschaftlichen Unterricht, in: GGG-fesch-Info, (1997) 1, S. 6.

  54. So Gabriele Behler (Schulministerin von Nordrhein-Westfalen), zit. n. Gute Bildung braucht ein bildungsfreundliches Klima, in: Welt am Sonntag vom 25. 4. 1999.

  55. H. von Heutig (Anm. 44), S. 120.

  56. Ingo Richter, Die sieben Todsünden der Bildungspolitik, München-Wien 1999, S. 198.

  57. Jeder ist seines Glückes Schmied. Auch wenn er nicht schmieden kann, in: Frankfurter Rundschau vom 23. 1. 1998.

  58. Vgl. die Denkschrift der Bildungskommission NRW (Zukunft der Bildung -Schule der Zukunft, Neuwied u. a. 1995), deren Potential bis heute nicht ausgeschöpft ist.

Weitere Inhalte

Alexander Hesse, Dr. phil., Dipl. -Päd., geb. 1951. Veröffentlichungen u. a.: „Bildungsinflation“ und „Nachwuchsmangel“. Zur deutschen Bildungspolitik zwischen Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, Hamburg 1986; Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926-1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933-1941), Weinheim 1995; (Hrsg., zus. mit Siegfried Mrochen/Elisabeth Berchtold) Standortbestimmung sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Methoden, Weinheim 1998. Detlef Josczok, Dr. phil., M. A., Dipl. -Päd., geb. 1952; Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Veröffentlichungen u. a.: Selbstorganisation und Politik, Münster 1989; Abschied vom Pluralismus?, in: Liberal, 38 (1996) 2; Lernen als Beruf. Arbeit und Lernen in der Informations-und Wissensgesellschaft, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 9/99.