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Das Herzstück der jungen Bundeshauptstadt. Die Anfänge des Deutschen Bundestages in Bonn 1949/50 | APuZ 32-33/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32-33/1999 Rückblick auf Bonn Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen Das Herzstück der jungen Bundeshauptstadt. Die Anfänge des Deutschen Bundestages in Bonn 1949/50 Republikanische Lockerungsübungen Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte

Das Herzstück der jungen Bundeshauptstadt. Die Anfänge des Deutschen Bundestages in Bonn 1949/50

Helmut Vogt

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Zusammenfassung

Der Deutsche Bundestag ist 1949 nicht nur das erste Verfassungsorgan gewesen, das die Arbeit an seinem Bonner Standort aufnehmen konnte. Er erfuhr auch wegen der Entscheidungsgewalt der Abgeordneten in der Frage des Bundessitzes besondere Aufmerksamkeit. Architekt Hans Schwippert erhielt durch das Vorbereitungsland Nordrhein-Westfalen weitgehende Unterstützung für sein modernes Gestaltungskonzept, mußte jedoch in wichtigen Details abweichende Wünsche Konrad Adenauers berücksichtigen und bereits wenig später die notwendige Erweiterung der neugeschaffenen Bundesbaudirektion überlassen. Trotzdem ging das Kalkül der Bonn-Befürworter auf: Die bevorzugte Behandlung der Parlamentarier und der reibungslose, würdige Ablauf der verschiedenen Konstituierungsakte der neuen Verfassungsorgane überzeugten eine ansehnliche Mehrheit, der „rheinischen Hauptstadt“ eine Chance zu geben. Als Ironie der Geschichte bleibt nachzutragen: Während im Bereich der Exekutive sowohl die Masse der Improvisationen als auch die später unter großen finanziellen Schwierigkeiten errichteten Gebäude nach dem Berlin-Umzug sinnvoll weiterverwendet werden können, existiert für den Komplex Bundeshaus -die Keimzelle der deutschen Nachkriegsdemokratie -noch kein überzeugendes Nutzungskonzept.

Während des Hauptstadtstreits mit Frankfurt war er der manifeste Trumpf Bonns: jener weiße, moderne Bundestagskomplex an der weiten Flußbiegung des Rheins, dem Siebengebirge gegenüber. Und besonders herausgestellt im Wettlauf mit der Mainmetropole wurde der Plenarsaal -sowohl gemessen am Baufortschritt als auch an der größeren Fläche, die er aufzubieten vermochte. Sie übertraf sogar diejenige seines Pendants im einstigen Berliner Reichstagsgebäude um ca. ein Drittel Zwar hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes am 10. Mai 1949 die rheinische Universitätsstadt zum provisorischen Sitz von Parlament und Regierung erwählt. Aber der Bundestag konnte, kaum in Bonn zusammengetreten, den Beschluß umstoßen und nach Frankfurt umziehen. So forderten es die Hessen, große Teile der SPD und auch der überwiegende Teil der Presse. Am 3. November 1949 würde es zur finalen Abstimmung kommen. Dann hieß es vorläufig-endgültig: Bonn oder Frankfurt?

Der Bundestag im Kalkül der Verfechter einer „rheinischen Hauptstadt“

Kein Wunder also, daß sich die Bonn-Lobby ganz auf die Abgeordneten einstellte Ihr Arbeitsplatz gehörte zum Feinsten, was im zerstörten und bitterarmen Nachkriegsdeutschland aufzubieten war. Die Pädagogische Akademie, der Kern des Bundeshauses, lag an einer der schönsten Stellen des Mittelrheins; Nordrhein-Westfalen investierte großzügig in ihren Um-und Ausbau. Denn hätte man die von den Ministerpräsidenten erhaltene Vorbereitungsaufgabe zu restriktiv gehandhabt, wären im September 1949 Unzulänglichkeiten wahrscheinlich und Pannen zu befürchten gewesen. Dann konnte es heißen, Bonn habe, wie nicht anders zu erwarten war, bereits im ersten Testlauf seine fehlende Eignung hinlänglich bewiesen, und unter dem frischen Eindruck schlechter Arbeitsund Wohnbedingungen hätten die neuen Bundestagsabgeordneten den schnellstmöglichen Fortzug von Parlament und Regierung beschlossen. Legte man hingegen im Werben um die Stimmen der künftigen Parlamentarier die Vorgaben zu großzügig aus, bestand für das als „Geschäftsführer ohne Auftrag“ handelnde Nordrhein-Westfalen die Gefahr der Verschwendung erheblicher finanzieller Mittel, konnten doch die übrigen Länder bei einer späteren Abrechnung der verauslagten Gelder ihren jeweiligen Anteil herabsetzen. Solche Erwägungen ermutigten die Bonn-Befürworter, in ihren Planungen mit zwei unterschiedlichen Zeithorizonten zu arbeiten: Erstes Etappenziel mußte eine ordentliche Konstitution von Bundestag und Bundesrat sein, unmittelbar gefolgt von einem reibungslosen Ablauf der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung. Nur durch die Überzeugung einer Mehrheit von Bundestagsabgeordneten konnte schließlich ein Verlegungsbeschluß nach Frankfurt durch den neuen Vertreter des Souveräns verhindert werden. So sah es auch der hinter den Kulissen sehr aktive Konrad Adenauer, als er in einem seiner zahlreichen Brandbriefe an Parteifreund Karl Arnold den NRW-Landeschef bat, „bei der Ministerpräsidentönkonferenz in unauffälliger Weise dafür zu sorgen, daß der Bundestag nicht vor dem 8. oder 15. September Zusammentritt. Dadurch würde für die Bauarbeiten hier in Bonn sehr wertvolle Zeit gewonnen werden.“

Konzeption, Bau und Einrichtung des Bundeshauses

Während an den Schwarzen Brettern der Universitäten Suchanzeigen für Stenographen ein Näherrücken der Parlamentseröffnung ankündigten, ging in Bonn der Umbau der Pädagogischen Akademie planmäßig voran. „Das Schwergewicht zwischen Altbau und Neubau hat sich jetzt verschoben“, konstatierte Hermann Wandersieb, der mit der Gesamtplanung befaßte Chef der NRW-Staatskanzlei, am 30. August Drei Wochen zuvor war das örtliche Vorbereitungsteam übereingekommen, das Gebäude fortan konsequent „Bundeshaus“ zu nennen.

Ursprünglich hatte der Architekt Hans Schwippert, dessen Büro von der Landesregierung mit dem Umbau der Pädagogischen Akademie beauftragt worden war, im Inneren des Plenarsaals eine kreisrunde Sitzordnung vorgesehen. Für die Regierung war ein Sektor des Kreises gedacht, ein Rednerpult fehlte, alle Redner sollten von ihren Plätzen aus sprechen Regierung und Opposition in einem parlamentarischen Rund vereinigt, die vorweggenommene Idee einer Politik des „Run-den Tisches“ -solch radikale Traditionsbrüche waren nicht mit Adenauers Vorstellungen eines politischen Wiederbeginns zu vereinbaren. Es sei dahingestellt, ob er als Präsident des Parlamentarischen Rates mit der schulzimmerähnlichen Vortragsbestuhlung und der herausgehobenen Regierungsbank dezidiert auf Ordnungssymbolik und hierarchische Unterscheidung setzte Fest steht, daß ihm die „politisch-symbolische Dimension des Plenarsaal-Neubaus für die Selbstdarstellung der jungen Demokratie“ bewußt war Wo Schwipperts ursprüngliches Konzept einen Neuanfang wagte, wollte Adenauer den jungen Staat wegen seiner noch stark beschränkten Souveränität zumindest nach außen als ernstzunehmende Größe ausgestattet sehen

Weitgehend durchsetzen konnte der Architekt seine Vorstellungen bei der Konstruktion der Bürogebäude. Zwischen dem Bundestagsflügel im Süden und dem für den Bundesrat neuerbauten Nordflügel zog sich in ganzer Länge der eingeschossige Restaurantneubau mit seiner Glasfront zur Rheinseite hin. Seine Fenstertüren öffneten sich auf eine große Gartenterrasse. Mit einem Fassungsvermögen von 800 bis 1 000 Personen war das Restaurant recht groß dimensioniert und daher auch nicht nur für Abgeordnete bestimmt.

Bundeshaus und Ministerien erhielten „eine einfache, aber gediegene Erstausstattung“. Die verwendeten Möbel sollten, „starker, z. T. höchster Beanspruchung gewachsen sein, ggf. wiederholten Umtransport aushalten können und möglichst eine Haltbarkeit von 10-15 Jahren besitzen“, erläuterte die Landesregierung gegenüber dem Rechnungshof die Beschaffungsgrundsätze Neben dem Provisoriumsgedanken, der sich durch alle Bau-und Ausstattungsüberlegungen zog, schlagen sich hier auch die schlechten Erfahrungen nieder, die man seinerzeit bei der Einrichtung der Verwaltungen des Frankfurter Wirtschaftsrates mit Billigmöbeln gemacht hatte. Die Beschaffungsstelle des Büros Bundeshauptstadt inventarisierte im August 1949 die noch brauchbaren Möbel der Bizonenverwaltungen, „um den Bestand der Möbel bei den Dispositionen in Bonn berücksichtigen zu können“. Ein erheblicher Teil ging beim Transport zu Bruch, der Rest wurde im Bundeshaus eingesetzt und auf die Ministerien verteilt

Wie er selbst erläuterte, stattete der Architekt Schwippert die großen Büroflügel, angefüllt mit „Sitzungsräumen, Treppen, Fluren und vielen Zimmern, kleinen Zimmern vor allem, möglichst vie-len wohnlichen Zellen für einen Menschen . . . alle mit gleichen Möbeln“ aus, „nicht anders der Präsident, nicht anders der Minister als das Vorzimmer, die Sektretärin. Und hier wieder nichts von repräsentativen Leihgaben der Vergangenheit, sondern leichte Geräte, die dienen und nichts verbergen, Raum lassen und die Bewegung des Menschen, der Gedanken und der Dinge erlauben.“ Gisbert Knopp sieht das Bundeshaus als modernen, bewußt demokratischen Definitionsversuch konzipiert, als Identifikationssymbol und politisches Bekenntnis: „Es war eine demonstrativ schlichte Architektur von programmatischer Selbstbescheidung als Grundlage für den vorläufigen Neubeginn, entstanden aus einer inneren Freiheit in großer Not und Armut. In der Transparenz und Beweglichkeit einer Architektur aus Stahl und Glas sollten sich die Freiheiten einer neuen Gesellschaft äußern und zugleich politische Transparenz symbolisiert werden . . . (Schwippert) nutzte die Chance, das Gebäude als Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung für die Repräsentanten des demokratischen neuen Anfangs zu schaffen.“ Termindruck und ungeklärte Kompetenzen

Am Nachmittag des 30. August 1949 besichtigte das Gros der Mitglieder des Technischen Ausschusses der Ministerpräsidenten noch einmal die Baustellen in Bonn. Das Ergebnis war entmutigend: Die Bestuhlung des Sitzungssaales lag noch in Bad Oeynhausen. Die Fraktionsräume waren noch im Bau. Es erschien nicht sicher, ob zumindest ein Teil der Räume rechtzeitig für Ausschußsitzungen fertiggestellt werden konnte Eine gute Woche später hieß es, alle Arbeiten am Bundeshaus seien termingerecht abgeschlossen worden. Auch wenn in der Realität noch einiges zu tun blieb, war dies eine zu Recht immer wieder herausgestellte Leistung in einer Zeit der Baustoffkontingentierung, zumal niemand dem Architekten vor Beginn seiner Arbeit einen präzisen Plan der parlamentarischen Funktionsabläufe vorlegen konnte Hinzu kamen Kompetenzüberschneidungen. Schwippert arbeitete als künstlerischer Bauoberleiter im Landesauftrag; die örtliche Bauleitung lag bei einem Ingenieur des Wiederaufbau-Ministeriums, dem am 18. Juni 1949 als Dienstaufsicht die Hochbauabteilung der Kölner Bezirksregierung vorgesetzt wurde. Adenauers Interventionen schließlich sind ebenso gut belegt wie zu diesem Zeitpunkt schwach begründet: Der Noch-nicht-Bundeskanzler sah sich wohl durch die abgeschlossene Tätigkeit als Präsident des in der Akademie tagenden Parlamentarischen Rates legitimiert. In der Praxis führten der enorme Zeitdruck und die aufgeführten Umstände zu erheblichen Überschreitungen des Kostenrahmens. Da „die für die Durchführung der Bauarbeiten notwendigen Zeichnungen oft nicht so rechtzeitig von dem Architekten fertiggestellt wurden, daß die Arbeiten von der Bauleitung im Wettbewerb vergeben“ werden konnten, fiel das kostendämpfende Instrument der Ausschreibung zuweilen aus, ein Umstand, der später zu erheblichen finanziellen Auseinandersetzungen zwischen dem Bundesfinanzminister und dem Vorbereitungsland Nordrhein-Westfalen führen sollte

Die Konstituierung der Verfassungsorgane im September 1949

Härte und Grobheit in der Verteufelung des politischen Gegners kennzeichneten den ersten Bundestagswahlkampf; zahlreiche Beobachter befürchte-ten für die kommende Parlamentsarbeit bereits die Fortsetzung der parteipolitischen Kämpfe der Weimarer Republik. Kurt Schumachers „Amoklauf gegen alle Andersdenkenden“ setzte Adenauer ein mehr staatsmännisches Auftreten entgegen; um so wirkungsvoller und überzeugender gelangen ihm jene schlicht und beiläufig vorgebrachten Unterstellungen und Verdächtigungen, die zu seinem Politikstil gehörten. Nach einer spannenden Wahlnacht sollte es noch bis zum Vormittag des 15. August dauern, bevor aus dem Büro der Ministerpräsidenten in Wiesbaden das Endergebnis verkündet wurde Die unter der Flagge der Sozialen Marktwirtschaft angetretene CDU konnte -zusammen mit der bayerischen Schwesterpartei CSU -insgesamt 139 Abgeordnete nach Bonn senden. Der Vorsprung gegenüber der SPD (131 Abgeordnete) war nicht üppig, doch ließ das gute Ergebnis der damals noch überwiegend nationalliberal geprägten FDP -unter Einbeziehung der konservativen Deutschen Partei aus Niedersachsen -immerhin rein rechnerisch die Fortsetzung der im Wirtschaftsrat erprobten bürgerlichen Koalition zu 49 Abgeordnete brachten bereits Erfahrungen aus dem Bizonenparlament ein -damit war fast die Hälfte der Mitglieder des Frankfurter Wirtschaftsrates in den Bundestag gewählt worden. Dennoch dominierten insgesamt gesehen die Neulinge: 217 Mitglieder des Hohen Hauses hatten noch nie zuvor in einem Parlament gesessen. Vinzenz Koppert, Chef des Stenographischen Dienstes beim Parlamentarischen Rat und jetzt auch beim Bundestag, summierte nach einigen Monaten Arbeit seinen Eindruck vor Fachkollegen recht drastisch: „Dieses Mal war es schon nicht mehr sehr schön. Da tauchten 402 Abgeordnete auf, von denen bestenfalls 10 Prozent etwas vom parlamentarischen Betrieb verstanden. Die anderen waren vollkommene Neulinge. Sie kommen mit Anforderungen aller Art, verstehen nichts, reden daher, daß sich einem die Fingernägel aufbiegen.“ Mit dem Abschluß der Bundestagswahl begann für das Bonner Koordinationsteam die heiße Phase der Vorbereitung im Hinblick auf die bevorstehende Entscheidung über den Sitz der Bundesre­ gierung und damit über die zukünftige Bundes-hauptstadt. Alle Überlegungen und Maßnahmen waren jetzt darauf gerichtet, bei der öffentlich stark beachteten Konstituierung der einzelnen Staatsorgane Pannen zu vermeiden, vor allem aber die für die Bestätigung der Bundessitzentscheidung maßgeblichen Bundestagsabgeordneten für die Stadt am Rhein zu gewinnen. In der Abteilungsleiterbesprechung vom 16. August 1949 wurden die Mitarbeiter noch einmal darauf eingeschworen, „gegebenenfalls vorsprechenden Abgeordneten besonders entgegenzukommen in bezug auf die zu erteilenden Auskünfte und ihnen jegliche Unterstützung angedeihen zu lassen“.

Am 6. September 1949, einen Tag vor dem ersten Test, gab sich das Vorbereitungsteam optimistisch. Wenn hier und dort auch die Preisforderungen von Hoteliers und Privatvermietern zu korrigieren waren -Adenauer hatte in einem Brief an den Bonner Oberstadtdirektor schlicht von „Wucher“ gesprochen so hatte man doch alle Abgeordneten untergebracht und für Notfälle noch eine Reserve freier Hotelzimmer Und so konnten Stadt und Landkreis Bonn in einem gemeinsamen Presseaufruf die Bevölkerung auffordern, „ein Meer von Bundesfahnen zu hissen und in würdevoller Feierlichkeit“ am politischen Neuanfang Anteil zu nehmen. Vorsorglich orderte das Büro Bundeshauptstadt auf Kosten des Landes NRW die erforderliche „Massenverpflegung“ in Form von Würstchen und forderte von der Stadt Bonn „ein verstärktes Feuerwehrkommando“ zum Schutz der „Gebäudlichkeiten des Bundesparlaments“ an. Die detaillierte Auflistung der Objekte (5 Blocks Pressehäuser, eigentliches Parlamentsgebäude, fertiger Nordflügel, fast fertiger Südflügel, Plenarsaal, Fahrerunterkunft Gronau) unterstreicht die Sorge, durch einen etwaigen Unglücksfall in letzter Minute den funktionsbereiten Parlamentskomplex und damit die wichtigste Trumpfkarte Bonns zu verlieren

Für den ersten Zusammentritt des Bundestages hatten die Ministerpräsidenten „größere Feierlichkeit vorgesehen“ eine entsprechend starke öffentliche Beachtung fand die Eröffnung des Deutschen Bundestages am Nachmittag des 7. September 1949. Ein nächtliches Gewitter hatte die Treibhausatmosphäre, die mit dem Bonner Politikbetrieb später gern assoziiert werden sollte, beseitigt, und pünktlich zum Nachmittag hellte der Himmel wieder auf, so daß zahlreiche Schaulustige an den Zufahrtsstraßen die Ankunft der Prominenz vom Regen unbehelligt erleben konnten. Im Plenarsaal war die noch unbesetzte Regierungsbank mit bunten Blumensträußen geschmückt. Rechts davon bildeten die drei Hohen Kommissare und ihre Begleitungen eine eigene Gruppe für sich. Von der Bundesratsbank aus wohnten die Ministerpräsidenten der Veranstaltung bei. In der ersten Reihe der Abgeordneten erkannten die Zuschauer unschwer die aus den Kundgebungen des Wahlkampfes bekannten Gesichter. Unter den feierlich gekleideten Abgeordneten stach -zur Freude der Photographen -der 29jährige Hauer Arthur Grundmann (FDP) in festlicher Bergmannstracht hervor.

Alterspräsident Paul Lobe (SPD) wußte, wovon er sprach, als er in seiner Eröffnungsrede an die. Abgeordneten appellierte, den Ton der Wahlveranstaltungen nicht in die Parlamentsdebatten zu übertragen, doch auf der anderen Seite vermochte auch der langjährige Präsident des Deutschen Reichtstages selbst in dieser besonderen Stunde nicht aus seinem eigenen politischen Lager auszubrechen. Kritisch vermerkt wurde zum einen, daß er im Totengedenken die Opfer aus seiner eigenen Partei den anderen voranstellte, aber auch seine offensichtlich gegen den in Aussicht genommenen Bundespräsidenten Heuss gerichteten Aussagen zum Ermächtigungsgesetz hielten zahlreiche Zuhörer in dieser Stunde des Neubeginns für deplaziert Daß die SPD dann -angesichts des rein formalen Charakters der konstituierenden Sitzung unerwartet -einige Anträge zum Thema Demontage stellte, mußte wiederum die geladenen Vertreter der Besatzungsmächte befremden; ein französischer Diplomat bemerkte gegenüber Adenauer-Berater Herbert Blankenborn, die Deutschen „sollten froh sein, daß in Paris Herr Schuman Außenminister sei, der die Dinge nicht allzu tragisch nehmen werde“ Gewiß in den Auswirkungen harmloser, wenngleich ebenso Ausdruck einer nicht zu leugnenden Verbissenheit, war Ollenhauers Ankündigung, in der ersten Arbeitssitzung des Hauses einen Antrag zur Verlegung des Bundessitzes nach Frankfurt stellen zu wollen. In der Praxis waren allerdings in den folgenden zehn Sitzungen erst einmal weit wichtigere Tagesordnungspunkte abzuarbeiten

Im Anschluß an die Konstituierung des Ersten Deutschen Bundestages strömten alle Beteiligten in die mit Herbstblumen geschmückten Wandel­ gänge oder ins hellerleuchtete Bundestagsrestaurant, an dessen Decke Hunderte von Glühbirnen in gelben Metallfassungen „das Gefühl eines Himmels voller leuchtender Sterne vermittelten“

Wachsendes Selbstbewußtsein der neuen Nutzer

Mit der Übergabe des Bundeshauses durch Ministerpräsident Arnold an die Vertreter von Bundestag und Bundesrat endete die Verantwortung des Landes Nordrhein-Westfalen für den Gebäudekomplex Zunehmend verlor der verantwortliche Architekt den Einfluß auf den Abschluß der Inneneinrichtung bzw. auf die Beachtung seines Gesamtkonzepts. Bei den Schlußarbeiten herrschte, so Schwipperts beredte Klage, im Bundeshaus „weitgehend Faustrecht“. Die für den Nord-und Südtrakt vorgesehenen Ausstattungsteile wurden teilweise „willkürlich aufgestellt, angeordnet, verteilt, gehortet und vor allem unwirtschaftlich und funktionshemmend verwendet“ Offenbar wichen die konkreten Bedürfnisse der neuen Nutzer (Abgeordnete, Verwaltungspersonal, Fraktionsmitarbeiter) erheblich von den Vorstellungen der Planer ab.

Mit der Konstituierung des Deutschen Bundestages sah die Bonner Stadtverwaltung ihre Aufgabe als „im wesentlichen gelöst“ an. Nach dem bestandenen ersten Härtetest der Konstituierungswoche konnten sich die Bonn-Promotoren wieder mehr Zeit für die Beeinflussung der Abgeordneten neh-men. Eine Werbebroschüre „An die Mitglieder des Bundestages“ führte die Baufortschritte vor Augen. „Die weiteren Entscheidungen“, so der mahnende Schluß, lägen „nunmehr in den Händen der zuständigen Bundesorgane“ Über den noch höchst provisorischen Charakter der Unterbringung zahlreicher Volksvertreter machte man sich bei der Stadt keineswegs Illusionen. Bis zum Abzug der Belgier und dem Abschluß der Instandsetzungs-und Neubauprogramme würde sicher noch einige Zeit vergehen, und so lange galt es, die Zuzügler vor Übervorteilung zu schützen. Ein Aufruf richtete an alle Abgeordneten die „dringende und herzliche Bitte“, jeden Beschwerdeanlaß unverzüglich an das Büro Bundeshauptstadt oder das städtische Quartieramt weiterzuleiten: „Der gute Ruf des rheinischen Beherbergungsgewerbes und insbesondere der Stadt Bonn darf nicht durch die Gewinnsucht einzelner Personen und Unternehmen beeinträchtigt werden.“

Es versteht sich, daß die während der Bewerbungsphase solchermaßen hofierten Abgeordneten ihrerseits nicht zimperlich waren, die in den diver-sen Rundschreiben zugesagte Betreuung auch im konkreten Falle einzufordern. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie als Oberhaupt der schönen Stadt Bonn dafür sorgen würden, daß die angeforderten Wünsche auch ihre Erfüllung finden“, schrieb der Abgeordnete Rademacher (FDP) am 4. Oktober an den Bonner Oberbürgermeister. Und schon einen Monat später besaß er den gewünschten Telephonanschluß

Die Bundessitzentscheidung des Parlaments

Nicht unbeträchtlich gehemmt wurde der Neuanfang der einzelnen Bundeskörperschaften während der ersten beiden Monate durch die schwebende Aussicht auf einen eventuellen Umzug nach Frankfurt. Die Ungewißheit lähmte sowohl Abgeordnete als auch Beamte. Oberkirchenrat Hermann Ehlers (CDU), ab Herbst 1950 Nachfolger Erich Köhlers im Amt des Bundestagspräsidenten, kommentierte in der Sprache seines Berufs: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, die zukünftige suchen wir!“ Man hätte erwarten können, daß die Mehrheitsparteien alles daransetzen würden, die überfällige Entscheidung sobald wie möglich herbeizuführen. Im Sinne der Bonner Sache hielt man jedoch an der bedächtigen Gangart fest -eine Taktik, die sich am Ende auszahlen sollte. Die Weichen hierzu wurden schon gestellt, bevor sich der Deutsche Bundestag überhaupt konstituiert hatte. Vor der Fraktion sagte Adenauer am 5. September 1949 den Versuch der SPD voraus, im Parlament sofort über die Bundessitzfrage abstimmen zu wollen. Dazu sei die Angelegenheit jedoch zu kompliziert, und außerdem widerspreche die Entscheidung über eine so wichtige Frage ohne vorherige Ausschußberatung parlamentarischem Brauch. Vor allem gelte es jedoch, den offensichtlichen Versuch der SPD zu vereiteln, „die kleine Koalition in einer ersten Abstimmung vor der ganzen deutschen Öffentlichkeit als zerbrechlich“ hinzustellen und damit ihn, den künftigen Bundeskanzler, zu demontieren Anders als im Falle der Berlin-Bonn-Entscheidung vom 20. Juni 1991 fiel am 3. November 1949 die befürchtete emotionsgeladene Debatte aus. Die Parteien vereinbarten im Ältestenrat, zur Vermeidung unerfreulicher Auseinandersetzungen die Abstimmung ohne weitere Aussprache unmittelbar auf die Berichterstattung durch den Vorsitzenden des Hauptstadtausschusses folgen zu lassen. Der CDU-Abgeordnete Theodor Blank beantragte die geheime Abstimmung: ein Vorstoß an die Adresse potentieller Abweichler im sozialdemokratischen Lager; 17 SPD-Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen sollen denn auch am 3. November für Bonn gestimmt haben (endgültiges Resultat 200 zu 176 Stimmen).

Adenauers Anteil an der Hauptstadtentscheidung

Ausgerechnet der für seine kleinen Giftigkeiten berüchtigte Francois Ponget mußte Adenauer an seine dominierende Rolle in der Bundessitzfrage erinnern und mit dem entsprechenden Hinweis auch noch eine politische Forderung untermauern: Im Bundestag eine Mehrheit für die deutsche Teilnahme am Europarat zu sichern, sei für ihn schließlich „nicht schwieriger als die Erreichung der Mehrheit dafür, daß Bonn als Bundeshauptstadt gewählt wird“. Des Kanzlers kleinlautes: „Das habe ich nicht getan“ kann sich nur auf die Abwehr des französischen Ansinnens bezogen haben, nicht auf die Leugnung des Sachverhaltes an sich. Allein eine flüchtige Durchsicht der edierten Teile der Adenauer-Korrespondenz während des Sommers 1949 beweist das Gegenteil. Und für die an den Vorbereitungen des Hauptstadtprojekts Beteiligten war er, noch bevor er tatsächlich zum Kanzler gewählt wurde, allemal die letzte Instanz: „Kann Herr Dr. Adenauer bereits jetzt Zusagen, daß die Kosten ... vom Bund getragen werden?“, heißt es zum Beispiel am 26. August 1949 zur Frage eines städtischen Feuerwerks am Tag der Bundesversammlung Von Gewicht erscheint die Einschätzung von Adenauer-Intimus Blankenborn, der sich in der täglichen Zusammenarbeit gewiß ein einigermaßen zutreffendes Bild von den Motiven des Kanzlers machen konnte: „Damit hat der Bundeskanzler seinen mit großer Zähigkeit verfolgten und aus einer Mischung von politischen und persönlichen Interessen motivierten Wunsch durchgesetzt. Für ihn war sicher wesentlich bestimmend, die Hauptstadt in einer Landschaft zu haben, deren Bevölke-rung überwiegend seinen eigenen politischen Überzeugungen nahesteht. Auch hat bei ihm stark mitgespielt, daß die Bundesorgane in einer Stadt arbeiten, in der sie frei von allzu großen Einflüssen der Besatzungsmächte die notwendige Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit besitzen.“ Letzteren Punkt greift auch Hermann Josef Abs in seiner Bewertung als zentral auf. Adenauer betrachtete die Zweizonenverwaltung kritisch, „ja fast mit Verachtung“. Ihn störten die teilweise engen Verflechtungen zwischen den Spitzen der deutschen Stellen und der vor Ort ansässigen amerikanischen Militärregierung: „Durch die Wahl Bonns statt Frankfurt hat Adenauer mit einem Schnitt diese Beziehung durchgeschnitten.“

Abgesehen von der Tatsache, daß die Mainmetropole SPD-Pflaster war, während Adenauer in seinem Wahlkreis Bonn als Direktkandidat der CDU komfortable Mehrheiten besaß, galt Frankfurt wegen seiner „unruhigen“ Vorstädte und der rekordverdächtigen Zahl von Demonstrationen als ungeeignet: „Frankfurt ist gefährlich, da könnte die Regierung unter die Gewalt der Straße kommen“, soll der Kanzler einmal zu diesem Thema bemerkt haben Noch im Abstand eines Vierteljahrhunderts schrieb Heinrich Hellwege, der erste Bundesratsminister, über die damalige Situation: „Aus diesem Grunde durfte eine sozial-konservative Regierung ... auf keinen Fall ihren Sitz in einem Land und in einer Stadt einnehmen, in der die SPD mehr oder minder bis zum heutigen Tag die Alleinherrschaft ausübt.“ Auch Gegner des Beschlusses und politisch Adenauer wenig gewogene Zeitgenossen sahen solche Zusammenhänge und erkannten die Handschrift des Kanzlers: „Viel Heuchelei und Bauernfängerei einer bestimmten, klerikal-regional orientierten Gruppe“, ereiferte sich der spätere Außenstaatssekretär Lahr in einem Tagebucheintrag. „Eines ihrer Argumente ist ehrlich, aber zugleich von besonderer Kümmerlichkeit: daß die Stadt Frankfurt eine SPD-, Bonn hingegen eine CDU-Verwaltung besitze. Es ist erstaunlich, wie weit ein eigensinniger Greis eine solche Aktion treiben kann ... Er ist in der Tat in seinem Leben nie richtig aus dem Rheinland herausgekommen, hat kein rechtes Verhältnis zu den anderen deutschen Landschaf-ten, nicht zu Berlin . . . und zu Preußen schon gar nicht. Er kennt auch nicht das Ausland.“ Und Adenauer tat alles, um den ihm unterstellten Regionalpatriotismus zu bestätigen. Bezeichnenderweise heißt es am Anfang des Dankschreibens an den Düsseldorfer Finanzminister Weitz: „Nunmehr sind die Würfel in dem Spiel Bonn -Frankfurt endgültig gefallen, zugunsten Bonns, zugunsten des Rheinlandes.“

Der Beginn der parlamentarischen Arbeit

Der Regulierungsbedarf des Neuanfangs auf allen politischen und gesellschaftlichen Gebieten war riesig nach den Jahren der Diktatur und des Krieges. Die zahlreichen Bundestagsausschüsse belegen dies ebenso wie die häufigen Parlamentssitzungen, die sich nicht selten bis weit in die Nacht erstreckten. Da bewährte sich die Voraussicht, für das Kabinett Räumlichkeiten im Bundeshaus vorzuhalten. So konnten Kanzler und Minister ungestört tagen, bei Bedarf jedoch auch schnell zur Verstärkung der knappen Koalitionsmehrheit ins Plenum eilen. Trotz des unbestreitbaren Einsatzes ihrer Mitglieder ist der Volksvertretung durchweg ein schwächerer Start bescheinigt worden als beispielsweise der von ihr zu kontrollierenden Regierung Der Vergleich ist insofern erhellend, als es dem erfahrenen Politiker Adenauer nicht nur rasch gelang, seine Autorität im Kabinett zu festigen und das Kanzleramt zu einem Instrument seines Willens zu gestalten. Auch in der Abgrenzung der Exekutivbefugnisse gegenüber den Kontrollaufgaben des Parlaments hat er dem Bundestag und seinen Ausschüssen jedes Hineinreden in seine Organisationsgewalt verwehrt, ja sogar selbst versucht, Geschäftsordnung und Arbeitsweise des Verfassungsorgans zu beeinflussen. Worunter der erste Bundestag in seinen Anfängen zusätzlich litt, war das Fehlen einer angemessenen, eingespielten Streitkultur. Jüngere Abgeordnete der Kriegsgeneration hatten kein Verständnis dafür, wenn -nach langer, anstrengender und ernsthafter Ausschußarbeit -schließlich im Plenum ein Etatposten des Bundeshaushaltes in polemischer Weise und fern aller Sachlichkeit pauschal in Grund und Boden kritisiert wurde. Graf von Spreti (CSU), enttäuscht „von dem parlamentarischen Leben und der politischen Entwicklung der vergangenen Zeit“ und nicht länger bereit, „am laufenden'Band Wintermärchen“ hören zu müssen, nannte solchen Populismus einmal „eine Politik .. .des . billigen Jakobs des Parlaments“, worauf der angesprochene Abgeordnete Leuchtgens (DRP) in Anspielung auf das Fehlverhalten anderer Mitglieder nur antworten konnte, „das Bildungsniveau des Bundeshauses (sic!)“ sei „verflucht niedrig“ An solche Selbstkritik mochte Bundespräsident Theodor Heuss gedacht haben, als er in seiner ersten Silvester-Ansprache die parlamentarischen Defizite benannte und gleichzeitig das Publikum um Nachsicht bat: „Der Arbeitsstil der neuen gesetzgebenden Körper muß erst gesichert sein und sich einspielen -er ist noch recht unvollkommen. Das wissen die Nächstbeteiligten selber am besten.“ Unter solchen Bedingungen war Bundestagspräsident Erich Köhler, der den Frankfurter Wirtschaftsrat mit seinen nur 104 Mitgliedern durchaus kompetent und geschickt geleitet hatte, mit der Steuerung des weit größeren Bonner Parlaments von Beginn an sichtbar überfordert. Auch gesundheitliche Beeinträchtigungen machten es ihm schwer, zu jedem Augenblick die nötige Übersicht zu behalten. Bereits im Herbst 1950, nach weniger als einem Jahr Amtsführung, trat er zurück Maßgeblich zu diesem Entschluß trugen die ständigen Konflikte mit Adenauer hinsichtlich seiner Amtsführung bei -auch sie wieder Beleg für die permanente Einflußnahme des Kanzlers auf die Arbeit des Parlaments: „Herr Köhler hat als Präsident des Bundestages versagt“, erklärte der Regierungschef kurz und bündig in einem Schreiben an den Bundespräsidenten, in dem es um die weitere Verwendung Köhlers ging. „Er war nicht in der Lage, ein Parlament von diesem Umfang richtig zu leiten. Gegen seine Person liegt nichts vor.“ Erweiterungsbedarf und städtebauliche Probleme Da der Deutsche Bundestag bereits mit vergleichsweise hohem Personalbestand angefangen hatte -man leistete sich zum Beispiel eine eigene Pressestelle zur Betreuung der beim Bundestag zugelassenen Journalisten -, war das weitere Wachstum, auch wenn es im Parlament immer wieder kritisch begleitet wurde, nur noch moderat (1949: 434 Planstellen, 1950: 467; 1951: 564). Stärkeres Aufsehen erregte die schnelle räumliche Ausdehnung. Nur 14 Monate nach der Konstituierung des Bundestages begannen Beratungen über den Entwurf eines Erweiterungsbaus zur Linderung der drückenden Raumnot, denn was die Arbeitsmöglichkeiten der einzelnen Abgeordneten anging, hatte auch das Jahr 1950 keine Fortschritte gebracht.

Mindestens 250 Abgeordnete besaßen, wie ein SPD-Redner im Plenum beklagte, überhaupt keinen Arbeitsplatz im Hause, hatten somit auch „gar keine Möglichkeit zu ernsthafter Arbeit", obwohl sie aus dem ganzen Lande und vorzugsweise aus ihren Wahlkreisen mit Papier überflutet wurden, zuweilen auch mit Besuchern. Die meisten Gäste konnten von , ihren'Abgeordneten nur auf dem Gang oder im Restaurant empfangen werden. Plötzlich benötigte Redekonzepte wurden auf Treppenstufen sitzend entworfen, wobei ein Knie als Schreibtischersatz herhalten mußte.

Das zeitraubende Detailstudium von Gesetzen und Vorlagen aller Art war nur zu Hause möglich. Zur Information der Abgeordneten dienten in jenen Tagen Zeitungen noch mehr als die Unterlagen der Fraktionen. Selbst bekannte Unternehmerpersönlichkeiten wie Robert Pferdmenges und Gerd Bucerius mußten sich einen Büroraum teilen. Nur für die „maßgebendsten“ Abgeordneten waren außerhalb des Bundestagsgebäudes Arbeitsräume in einem der „Pressehäuser“ geschaffen worden

Das geplante Abgeordnetenhaus war also ohne Zweifel notwendig. Gleichzeitig bedeutete seine Planung und Ausführung durch die Bundesbaudirektion in mancherlei Hinsicht einen Traditionsbruch. Dies zeigte beispielhaft, wie selbstsicher der Bund bereits ein Jahr nach Bezug seiner Hauptstadt die eigene Existenz gestaltete und wie entschieden er sich dabei von Vorstellungen und Planungen seiner architektonischen Geburtshelfer emanzipierte. Insgesamt 170 Büroräume für Abgeordnete waren laut Beschluß des Bundestages zu schaffen, dazu vier Sitzungssäle, ein Lesesaal und Raum für Bibliothek und Archiv. Da in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bundeshaus und dem Plenarsaal kein geeigneter Bauplatz mehr vorhanden war, der bestehende Gebäudekomplex schon eine „ziemliche Weitläufigkeit“ aufwies, „die nicht uferlos weiter getrieben werden durfte“, blieb nur die Stelle übrig, welche der zweistöckige Gronau-Bunker einnahm. Schließlich setzte man den ca. 5 000 Tonnen schweren Erweiterungsbau einfach auf den ca. 20 000 Tonnen schweren Bunker. So entfielen teure Abrißkosten, zudem entstand, durchaus gewollt, der Eindruck eines kleinen Hochhauses. Mehrfach haben die seinerzeit für die architektonische und städtebauliche Gestaltung Verantwortlichen ihre weitere Beteiligung verlangt. Es sollte damit erreicht werden, daß die Gesamtplanung wie das Niveau der einzelnen Bauten in Bonn der zu erwartenden politischen und geistigen Haltung einer Bundeshauptstadt entspräche. Vergeblich allerdings forderte man den Bund auf, „die seinerzeit in der Sorge um das Landschaftsbild und die besondere Bedeutung von Bonn als Bundeshauptstadt getroffenen Maßnahmen des Landes . . . fortzusetzen“, indem die neugeschaffene Bundesbaudirektion die unter der Ägide Nordrhein-Westfalens beschäftigten Architekten beteiligte 4A 7uch Hermann Wandersieb sah das von ihm mitgeprägte ursprüngliche Konzept gefährdet und erinnerte an die große Sorgfalt, mit der sich seinerzeit kein geringerer als Konrad Adenauer mit den Bauplänen beschäftigt hatte. In jedem Falle bedeutete der Bruch mit dem Ursprungskonzept einen ersten Schritt hin zu jenen oft kritisierten städtebaulichen Sündenfällen. Mit dem Wachstum der Bundesbürokratie wurde das Regierungsviertel mehr und mehr „heterogenes Konglomerat . . . geprägt von Liberalismus bis hin zu Richtungslosigkeit“, orientiert „an reiner Zweckmäßigkeit, Anspruchslosigkeit und Unauffälligkeit“

Berlin-Vorbehalt und Hauptstadtverlegung

Am 9. Mai 1953 übereignete das Land Nordrhein-Westfalen nach Klärung der Kostenerstattung das Parlamentsgebäude an den Bund. Für den Fall einer Verlegung der Bundeshauptstadt vereinbarte man eine Rückübertragung des Komplexes am Rhein. Ähnliche Berlin-Klauseln finden sich in zahlreichen anderen Verträgen der Zeit. So sicher ging man von einer baldigen Rückkehr in die alte Hauptstadt aus, daß z. B. das Bundesfinanzministerium die Förderung von Wohneigentum von Beamten und Angestellten in Bonn ausdrücklich ablehnte: Man befürchtete im Verlegungsfall Entschädigungsansprüche der Betroffenen an den Bund Doch je länger die Rückkehr nach Berlin ausblieb, desto stärker verfestigte sich das „Provisorium“ am Rhein.

Daß es dennoch nach dem Verlegungsbeschluß vom 20. Juni 1991 nicht zu der vielbeschworenen Katastrophe für Bonn und seine Region kam, hat eine Reihe von Gründen. Von großer Bedeutung ist der Zeitfaktor. Acht Jahre Übergangsfrist standen zwischen der Entscheidung des Bundestages und dem eigentlichen Umzug; es gab keine sachlichen Gründe für eine übermäßige Eile, der Politikbetrieb in Bonn konnte sich ohne Schwierigkeiten auf die neue Situation des wiedervereinigten Deutschland einstellen. Ganz anders 1949: Nur wenige Monate standen den Hauptstadtplanern zur Verfügung, dann mußten die Mitglieder von Bundestag und Bundesrat ihre Tätigkeit aufnehmen können. Im Falle der Exekutive strebte Adenauer die Arbeitsfähigkeit bis Mitte 1950 an -ein nicht zu erreichendes Ziel, denn die Zahl der Ministerien und ihre Personalausstattung übertrafen die Annahmen der Planer beträchtlich. Der Bonner Wohnungsmarkt stieß schnell an seine Grenzen, der Bund konnte nicht rasch genug bauen, und hinsichtlich der Büroraumversorgung der einzelnen Ressorts reihte sich -trotz Inanspruchnahme von insgesamt fünf Kasernenkomplexen -ein Provisorium ans andere. Doch die damals 100 000-Einwohner-Stadt mußte 1949/50 die Wucht der Veränderungen ertragen, sollte nicht die ohnehin schwierige Staatsgründung bereits an organisatorischen Schwierigkeiten scheitern. Verschärfend kam hinzu, daß sich Adenauer gegen die ursprünglich erwogene Arbeitsteilung zwischen Bonn und Frankfurt entschied: Alle Teile der aufzulösenden Bizonenverwaltung, die in die neuen Ministerien eingegliedert wurden, mußten nach Bonn: ein veritabler Regierungsumzug im Jahre 1950 mit allen menschlichen und logistischen Problemen also, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist.

Nach dem Beschluß von 1991 werden ansehnliche Teile der Exekutive in der „Bundesstadt“ mit nunmehr über 300 000 Einwohnern verbleiben, zusammen mit den umfassenden Ausgleichsmaßnahmen sicherlich ein weiterer Grund für das Ausbleiben eines Anpassungsschocks. Und wenn die lange Übergangszeit genutzt werden konnte, Bonn neben einem profilierten Wissenschaftszentrum zu einem bevorzugten Dienstleistungsstandort auszubauen, so profitieren Stadt und Region durchaus von der vergangenen Hauptstadtrolle. Gerade die Ansiedlung der Schwerpunktbereiche Post und Telekommunikation z. B. ist unübersehbar mit dem inzwischen aufgelösten Postministerium verbunden. Für das Bundeshaus allerdings fehlt bis heute ein überzeugendes Nutzungskonzept. Dieses wird auch anspruchsvoll sein müssen -symbolträchtig ist die Stelle, von der aus im September 1949 der neugegründete Staat seine ersten Schritte tat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gisbert Knopp, Das Bundeshaus in Bonn. Von der Pädagogischen Akademie zum Parlamentsgebäude der Bundesrepublik Deutschland, in: Bonner Geschichtsblätter, 35 (1984), S. 269.

  2. Vgl. Helmut Vogt, „Der Herr Minister wohnt in einem Dienstwagen auf Gleis 4“. Die Anfänge des Bundes in Bonn 1949/50, Bonn 1999, S. 32.

  3. Konrad Adenauer, Briefe 1949-1951, bearb. von Hans Peter Mensing, Berlin 1985, Nr. 61 vom 4. 8. 1949 (S. 74); Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 1994, S. 503, 507.

  4. Hans-Dieter Kreikamp (Bearb.), Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5: Januar bis September 1949, München -Wien 1981, Dok. 79 (S. 1079).

  5. Vgl. Gisbert Knopp. Der Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Hans Schwippert und seine Planungsideen für das erste „moderne“ Parlamentsgebäude der Welt, in: 40 Jahre Bundeshauptstadt Bonn 1949-1989, Karlsruhe 1989, S. 62.

  6. Vgl. Jan Thorn-Prikker, Keine Experimente. Alltägliches am Rande der Staatsarchitektur, in: Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock (Hrsg.), Architektur und Demokratie, Stuttgart 1992, S. 251.

  7. Heinrich Wefing, Parlamentsarchitektur, Berlin 1995, S. 167.

  8. Vgl. J. Thorn-Prikker (Anm. 6), S. 250.

  9. Stadtarchiv und Wissenschaftliche Stadtbibliothek Bonn (= StA Bonn), N 80/21, Stellungnahme vom 15. 11. 1950 zum Bericht des Landesrechnungshofs vom 5. 8. 1950.

  10. StA Bonn, Sammlung Wandersieb 19, Vermerk Becker vom 4. 8. 1950.

  11. Hans Schwippert, Das Bonner Bundeshaus, in: ders., Denken, Leben, Bauen, Düsseldorf -Wien 1982, S. 183 f.

  12. Gisbert Knopp, Das (alte) Bundeshaus, in: Geschichte im Westen, 3 (1988), S. 188f.

  13. Vgl. H. -D. Kreikamp (Anm. 4), Dok. 79 (S. 1080 ff.).

  14. Vgl. G. Knopp (Anm. 12), S. 186f.

  15. StA Bonn IN 80/21, Prüfbericht des Landesrechnungshofes vom 5. 8. 1950; H. Vogt (Anm. 2), S. 246-251.

  16. Vgl. Wolfgang Benz, Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1984, S. 252, 259 f., 269 f.

  17. Vgl. Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland, München 19953, S. 21.

  18. Vinzenz Koppert, „Zu Protokoll genommen“, in: Wolfgang Benz/Detlev Moos (Hrsg.), Das Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, München 1989, S. 29; Tilmann Pünder, Das bizonale Interregnum. Die Geschichte des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1946-1949, Köln -Berlin 1966, S. 282; Hans-Peter Schwarz. Die Ära Adenauer, Stuttgart 1981, S. 86.

  19. Vgl. StA Bonn, Sammlung Wandersieb 17; vgl. K. Adenauer. Briefe (Anm. 3), Nr. 74 vom 16. 8. 1949 (S. 87).

  20. Vgl. H. Vogt (Anm. 2), S. 89.

  21. H. -D. Kreikamp (Anm. 4), Dok. 78 (S. 1061).

  22. Vgl. Heinrich Krone, Tagebücher, Bd. 1: 1945-1961, bearb. von Hans-Otto Kleinmann, Düsseldorf 1995, S. 72.

  23. Herbert Blankenborn, Verständnis und Verständigung. Blätter eines politischen Tagebuchs, Stuttgart 1980, S. 54.

  24. Vgl. Reiner Pommerin, Von Berlin nach Bonn. Die Alliierten, die Deutschen und die Hauptstadtfrage nach 1946, Köln -Wien 1989, S. 174 f.

  25. Erich Mende, Die neue Freiheit 1945-1961, München -Berlin 1984, S. 113 f.

  26. Vgl. StA Bonn, Sammlung Wandersieb 1.

  27. H. Vogt (Anm. 2), S. 95.

  28. StA Bonn, Sammlung Wandersieb 1,

  29. StA Bonn, N 80/70, Teil 1.

  30. Zitiert bei Otto Bertram, Ausgerechnet Bonn, Bonn 1989, S. 94.

  31. Vgl, Udo Wcngst (Bearb.), Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949, Düsseldorf 1985. Dok. 59 (S. 233-236), Sitzung der Bundestagsfraktion der CDU/CSU vom 5. 9. 1949.

  32. Hans-Peter Schwarz (Bearb.), Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1, München 1989, S. 168; ders., Adenauer. Der Aufstieg, Stuttgart 19913, S. 676.

  33. StA Bonn, Sammlung Wandersieb 17 Teil I, Vermerk Büro Bundeshauptstadt für Wandersieb vom 26. 8. 1949.

  34. H. Blankenborn (Anm. 23), S. 70f.

  35. Diskussionsbeitrag, abgedruckt in: Rudolf Morsey, Konrad Adenauer und der Weg zur Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Konrad Adenauer und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 19862, S. 73.

  36. Diskussionsbeiträge von Paul Wilhelm Wenge und Kurt Birrenbach, in: ebd., S. 74 f.

  37. Zitiert bei: Otto Schumacher-Hellmold, Bonn -Eine Entscheidung des Herzens, in: Bonn 1949-1974. Ein Vierteljahrhundert Bundeshauptstadt, in: Bonner Geschichtsblätter, 26 (1974), S. 270.

  38. Rolf Lahr, Zeuge von Fall und Aufstieg, Hamburg 1981, S. 142 f.

  39. K. Adenauer, Briefe 1949-1951 (Anm. 3), Nr. 139 vom 9. 11. 1949 (S. 136).

  40. Vgl. Rudolf Morsey, Konrad Adenauer und der Deutsche Bundestag, in: Hans Buchheim (Hrsg.), Konrad Adenauer und der Deutsche Bundestag, Bonn 1986, S. 20, auch für die folgenden Angaben.

  41. 1. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 51. Sitzung vom 24. 3. 1950 (S. 1815).

  42. Abgedruckt bei Toni Pippon. Was jeder von der Bundesregierung wissen muß, Kevelar 1950, S. 17.

  43. Vgl. R. Morsey (Anm. 40), S. 30 f.

  44. K. Adenauer, Briefe 1949-1951 (Anm. 3), Nr. 336 (S. 298).

  45. So der Abgeordnete Ritzel in der 55. Bundestagssitzung vorn 30. 3. 1950, 1. Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, S. 2033; vgl. auch Karl Badberger, Erweiterungsbau des Bundeshauses in Bonn, in: Die Bauverwaltung, 1 (1952), S. 87-91; HStAD. NW 53-153, NRW Staatskanzlei an Presse-und Informationsamt vom 26. 1. 1951.

  46. StA Bonn, Sammlung Wandersieb 1, Konrad Rühl an den Präsidenten des Bundestages vom 24. 2. 1951.

  47. Angelika Schyma, „Eine kleine Stadt in Deutschland“. Das Regierungsviertel der ehemaligen Bundeshauptstadt, in: Denkmalpflege im Rheinland, 16 (1999) 2, S. 49.

  48. Vgl. H. Vogt (Anm. 2), S. 153, 251.

Weitere Inhalte

Helmut Vogt, Dr. phil., geb. 1951; Studium der Fächer Geschichte und Anglistik in Bochum und Bonn; Gymnasiallehrer in Köln. Veröffentlichungen u. a.: (Bearb. u. Hrsg.) Bonn im Bombenkrieg, Bonn 1989; Die Wirtschaftsregion Bonn/Rhein-Sieg im Industriezeitalter, Alfter 1991; 150 Jahre Interessenvertretung des Einzelhandels in der Region Bonn, Bonn 1995; „Der Herr Minister wohnt in einem Dienstwagen auf Gleis 4“. Die Anfänge des Bundes in Bonn 1949/50, Bonn 1999.