Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung; alles muß immer schneller gehen. Das hat dazu geführt, daß wir angefangen haben, viele Prozesse zu vergleichzeitigen. . Simultanes Engineering'und , Speed Management'sind moderne Schlagwörter, die signalisieren, wie sich das Wirtschaftsleben verändert hat. Es sind neue Wettbewerbsspielregeln entstanden, die eine weitere Beschleunigung erfordern; wir leben schon im Geschwindigkeitsrausch. Es zeigt sich jedoch, daß wir in vielen Bereichen schon an die Grenzen der Beschleunigung stoßen, daß wir gewissermaßen mit Höchstgeschwindigkeit in die Beschleunigungsfalle rauschen. Was erwartet uns in der Nach-Beschleunigungswelt? Diese Frage wird unter ökonomischen Aspekten beleuchtet. Dabei wird deutlich gemacht, daß Beschleunigung in gewisser Hinsicht Langsamkeit erfordert, weil wir anderenfalls unsere Identität gefährden.
I. Mit Höchstgeschwindigkeit in die Beschleunigungsfalle
Wir leben in einer Welt der Höchstgeschwindigkeit. Täglich lesen wir in den Zeitungen, daß neue Geschwindigkeitsrekorde aufgestellt werden. Vielleicht werden wir demnächst mit 450 Stundenkilometern im Transrapid zwischen Hamburg und Berlin hin-und hergleiten. Aber auch unser tägliches Alltagsleben unterliegt dem Geschwindigkeitsrausch. Briefeschreiben gehört dem Gestern an. Per E-Mail schicken wir Nachrichten um die Welt -in Sekundenbruchteilen. Und der Empfänger , mailt‘ mal eben kurz zurück.
Abbildung 7
Abbildung 7: Umsatzverlauf bei Verkürzung der Produktlebenszyklen und unterproportional fallenden Umsätzen Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung 7: Umsatzverlauf bei Verkürzung der Produktlebenszyklen und unterproportional fallenden Umsätzen Quelle: Eigene Darstellung.
Wir rasen, ohne zu wissen wohin. Und da wir in einigen Bereichen das Ziel der Beschleunigung aus den Augen zu verlieren drohen, erhöhen wir die Geschwindigkeit um so mehr. Überall wird Zeit eingespart, um Zeit zu gewinnen, ohne daß noch jemand den Widersinn dieser Aussage hinterfragt. Aber die im Beschleunigungsfieber Taumelnden haben den klaren Überblick verloren, weil Beschleunigung zum Selbstzweck geworden ist. Das Motto heißt wie so oft: Der Weg ist das Ziel.
Wer Beschleunigungsprozesse hinterfragt, macht sich verdächtig. So hat das für den Güterverkehr zuständige Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn AG in einem Beitrag in DIE WELT versucht, mit guten Gründen deutlich zu machen, daß der Geschwindigkeitsrausch, in dem wir in einigen Bereichen leben, völlig überzogen ist. Wem selbst vorgeworfen wird, in manchen Leistungsbereichen zu langsam zu sein, der darf solche Sinnfragen aber offenbar nicht stellen, will er sich nicht dem Verdacht aussetzen, parteiisch zu sein. Die Beschleunigungsfetischisten interessiert die Qualität des Arguments nur noch am Rande. Denn Beschleunigung ist „in“ und Entschleunigung ist „out“! Entschleunigen müssen aber die Schnellsten: Sie müssen darüber nachdenken, wo weitere Beschleunigung hinführt. Die Langsamen können diesen Prozeß nicht stoppen; sie würden nur weiter zurückfallen.
II. Verkürzte Entwicklungs-und Produktlebenszeiten
Abbildung 2
Abbildung 2: Entwicklungszeitverkürzung bei der Ford AG Quelle: manager magazin, 26 (1996) 11, S. 245.
Abbildung 2: Entwicklungszeitverkürzung bei der Ford AG Quelle: manager magazin, 26 (1996) 11, S. 245.
Die zunehmende Beschleunigung wird in allen Lebensbereichen evident. Gerade in wirtschaftlichen Prozessen wird dies an einer Vielzahl von Indikatoren deutlich. Empirische Untersuchungen am Betriebswirtschaftlichen Institut für Anlagen und Systemtechnologien haben gezeigt, daß sich die Produktlebenszyklen in den letzten 20 Jahren deutlich verkürzt haben (vgl. Abbildung
Stark verkürzte Lebenszyklen sind ein Indikator dafür, daß die Innovationsrate dramatisch angestiegen ist. Steigende Innovationsraten und damit verkürzte Lebenszyklen haben enorme ökonomische Auswirkungen 1. Mit sich verkürzenden Marktpräsenzzeiten bei gleichzeitig nachweisbar erhöhten Entwicklungsaufwendungen müssen Innovationen in immer kürzeren Marktpräsenzzeiten rentabilisiert werden. Daraus ergeben sich neue ökonomische und technische Herausforderungen. So ist es z. B. notwendig, die Forschungs-und Entwicklungszeiten drastisch zu verkürzen. Abbildung 2 zeigt, daß die Firma Ford aufgrund der schnelleren Fahrzeugmodellwechsel von 1986 bis 1996 die Entwicklungszeit fast halbiert hat, und eine entsprechende Entwicklungszeitreduzierung ist bis zum Jahre 2000 geplant. Wenn dies gelingt, haben sich die Entwicklungszeiten für ein neues Fahrzeugmodell von durchschnittlich 60 Monaten auf ca. 25 Monate im Jahre 2000 verkürzt.
Aber trotz der Anstrengungen im Forschungs-und Entwicklungsbereich ist die Verkürzung der Entwicklungszeiten durch noch stärker fallende Marktpräsenzzeiten überkompensiert worden. Abbildung 3 (S. 20) zeigt am Beispiel der IBM, daß es Leistungsbereiche gibt, in denen die Entwicklungszeiten länger geworden sind als die Marktpräsenzzeiten. Das ist logisch kein Problem, stellt aber ökonomisch eine Herausforderung dar. Diese Herausforderung ergibt sich daraus, daß es zwar denkbar ist, eine Leistungsgeneration über vier Jahre zu entwickeln und in einer Marktpräsenzzeit vonzwei Jahren zu verkaufen, aber es ist notwendig, mehrere aufeinanderfolgende Leistungsgenerationen gleichzeitig, wenn auch zeitversetzt, zu entwickeln. Das erhöht insbesondere dann das ökonomische Risiko, wenn die zu entwickelnden Leistungsgenerationen aufeinander aufbauen und nicht jede einzelne Leistungsgeneration in ihrer Erfolgsträchtigkeit am Markt getestet werden kann Berücksichtigt man ferner, daß die Forschungs-und Entwicklungsausgaben für neue Leistungsgenerationen insbesondere im Bereich der Hochtechnologie ständig wachsen und die hiermit verbundenen Auszahlungen bis zur Produktionsaufnahme „versunken“ sind, dann entsteht von Leistungsgeneration zu Leistungsgeneration ein zunehmender Volumensdruck, von dem alle Marktteilnehmer betroffen sind. Um Absatzvolumen zu erzeugen, versuchen die Anbieter, mit Preissenkungen Märkte zu stimulieren. Und das ist auch ökonomisch sinnvoll. Aufgrund der steigenden Fixkostenintensität sinkt die Preisuntergrenze. Dabei gilt: Je mehr Absatzvolumen ein Anbieter realisiert hat, um so günstiger ist seine Position auf der Fixkostendegressionskurve. Dieser Fixkostendegressionseffekt läßt sich im Preis weitergeben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß auf hochbeschleunigten innovativen Technologiemärkten erhebliche Preis-erosionen nachweisbar sind (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4 zeigt, daß der Preis für 64-k-bit-Chips innerhalb eines Jahres von 150, -DM auf 40, -DM gefallen ist. Der Zeitdruck steigt damit weiter an. Es ist dann ökonomisch nicht mehr gleichgültig, wann man am Markt auftritt. Vielmehr ist es notwendig, möglichst eine Pionierposition zu gewinnen, um das Geschäft rentabel halten zu können. Das führt dazu, daß neue Vermarktungsinstrumente entwickelt werden, die die Pionierposition sichern sollen: Vorankündigung oder neudeutsch „Pre-Announcing“ heißt ein solches Instrument.
Mit Pre-Announcing soll demonstriert werden, daß das Unternehmen technologisch führend ist und auch in Zukunft sein wird; es soll verhindert werden, daß die Nachfrager in der Zwischenzeit ihre Kaufentscheidung zugunsten von Konkurrenzprodukten fällen, die aktueller und besser sind als die eigenen. Hierfür kündigt man ein gegenüber dem Wettbewerb noch weiter verbessertes Produkt an, um dem Nachfrager zu suggerieren, daß er mit der Entscheidung für das Konkurrenzprodukt eigentlich schon nicht mehr up to date ist. Damit ist schon das ausgesprochen, was mit diesem Verhalten nicht nur erreicht wird, sondern offenbar auch beabsichtigt ist: der Aufschub von Kaufentscheidungen. Natürlich wird auf diese Weise nicht nur die Kaufentscheidung zugunsten des Konkurrenzproduktes, sondern auch die Kaufentscheidung für das eigene Produkt verhindert. Die Konkurrenz fährt ja im Zweifel die gleiche Strategie. Auf diese Weise können ganze Märkte in ihrer Entwicklung gehindert werden. Die Wirkung ist paradox: Die Beschleunigung verzögert gleichzeitig die Marktprozesse. Die immer schnelleren Ankündigungen führen dazu, daß ganze Leistungsgenerationen nicht gekauft, sondern übersprungen werden. Für dieses Verhalten existiert auch schon ein Anglizismus: Leapfrogging.
III. Vergleichzeitigung und Antizipation als Ziel
Abbildung 3
Abbildung 3: Quelle: Ibm 1990. Verhältnis von Entwicklungszeiten zu Marktpräsenzzeiten
Abbildung 3: Quelle: Ibm 1990. Verhältnis von Entwicklungszeiten zu Marktpräsenzzeiten
Die Ausführungen haben deutlich gemacht, daß das Beschleunigungsfieber bei ökonomischen Prozessen eine Antizipations-bzw. Vergleichzeitigungsepidemie ausgelöst hat. Dies gilt allerdings nicht nur für wirtschaftliche Prozesse. Auch im täglichen Leben begegnen wir ständig Hinweisen zur Vergleichzeitigung. So werden wir konfrontiert mit Kursen im Schnellesen, Diagonallesen, Schwerpunktlesen. Die Kirche bietet als neue Alternative die Zehn-Minuten-Andacht
Alles ist darauf ausgerichtet, Zeit zu gewinnen. Auch dafür gibt es eine Vielzahl von Beispielen aus dem täglichen Leben. Die technische Entwicklung beim Fernsehen ermöglicht uns das Zapping, mit dem wir in kürzester Zeit von einem zum anderen Programm springen können. Andere Angebote richten sich auf die Aufteilung eines Fernsehbildschirms in 9 oder 16 Felder, mit denen man im Kleinstausschnitt 9 bzw. 16 Fernsehprogramme gleichzeitig verfolgen kann. Es muß eben alles kurz sein, spontan zu bekommen. Wir stehen an für die Last-Minute-Reise und entscheiden uns für die Drei-Tage-Kurz-Städte-Reise nach Prag. Das Fast-food-Restaurant erlöst uns vom Zeitdruck eines ausgiebigen und geruhsamen Mittagsmahls. Und mit Hilfe von E-Mail, Fax und Handy sind wir allgegenwärtig und überall erreichbar. Der Concorde-Flug trägt uns demnächst in so kurzer Zeit über den großen Teich, daß wir in den USA früher landen, als wir in Europa abgeflogen sind. Danach wird dann alles nur noch virtuell. Warum sollte man nach Prag fahren, wenn man mit der 3-D-Brille im Wohnzimmer über den Hradschin oder in die Kleinseite (Stadtteil in Prag) gehen kann? Dann haben wir endgültig die ausgetretenen Verkehrswege verlassen und rauschen über die so viel propagierte Datenautobahn.
Aber auch diese wird schon eng, wie die Beispiele aus San Francisco belegen: Um die Mittagszeit bringt dort die Vielzahl der Internet-Benutzer das Breitband-Telekommunikationsnetz in der „Bay Area“ zum Erliegen.
IV. Für einen Moment innehalten
Abbildung 4
Abbildung 4: Quelle: Preiserosionen bei dynamischen Speicherchips Eigene Darstellung.
Abbildung 4: Quelle: Preiserosionen bei dynamischen Speicherchips Eigene Darstellung.
Kaum jemand fragt heute, wohin wir uns eigentlich beschleunigen. Dabei sind die Folgen allgegenwärtig. Schon jetzt gibt es beim Computerkauf keinen optimalen Kaufzeitpunkt mehr. Die Innovationsrate ist so hoch geworden, daß sie Käufe verhindert, mindestens aber verzögert. Wenn man beispielsweise noch drei Monate mit dem Kauf eines Computers wartet, bekommt man die gleiche Leistung mit einigen zusätzlichen Merkmalen um 20 Prozent billiger. Aber wenn man die drei Monate gewartet hat, ist das Problem nicht behoben. Das Warten um weitere drei Monate beschert den gleichen Effekt usw. Solche Beschleunigungsspitzengeschwindigkeiten erzeugen neues Käufer-verhalten, mit denen die Ökonomen erst umgehen lernen müssen. Ein typisches Beispiel ist das bereits angesprochene Leapfrogging-Verhalten, bei dem Nachfrager ganze Leistungsgenerationen überspringen, weil sie nicht mehr bereit sind, z. B. gerade erlernte Software-Programme, an die man sich soeben gewöhnt hat, neuen Programmen, mithin neuen Lernprozessen zu opfern.
In diesem Beschleunigungsrausch droht immer stärker die Orientierung verlorenzugehen, weil wir keinen Ruhepunkt mehr haben, von dem wir die Geschwindigkeit registrieren und reflektieren können. Wer im Strom mitschwimmt, kann die Geschwindigkeit nicht mehr erkennen oder nicht richtig einschätzen. Wir haben so weit beschleunigt, daß wir uns wieder darauf zurückbesinnen müssen, wozu die Beschleunigung eigentlich dient.
Sten Nadolny hat dies in seinem berühmt Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ wi derbar beschrieben: „Die Arbeit auf dem Sei beobachtete John sehr genau. Er ließ sich ar beibringen, wie man Knoten machte. Er stel einen Unterschied fest: Beim Üben schien es mt darauf anzukommen, wie schnell man einen Kr ten fertig hatte, bei der wirklichen Arbeit aber d auf, wie gut er hielt.“
V. Die Endlichkeit der Beschleunigung
Abbildung 5
Abbildung 5: Umsatzverlauf bei zehn-bzw.sechsjährigem Produktlebenszyklus Quelle: Eigene Darstellung.
Abbildung 5: Umsatzverlauf bei zehn-bzw.sechsjährigem Produktlebenszyklus Quelle: Eigene Darstellung.
Wer denkt eigentlich darüber nach, was passie wenn die Beschleunigungsprozesse endlich sir also Beschleunigung nicht unendlich weitergeh kann? Für wirtschaftliche Prozesse kann davi ausgegangen werden, daß Beschleunigung geg einen Grenzwert konvergiert. So haben Unters chungen in den USA gezeigt, daß die Modellfol. japanischer Autos bereits so schnell geworden i daß viele amerikanische Konsumenten gar nie mehr in der Lage sind zu beurteilen, welch Modell aus welchem Produktlebenszyklus stamn Wenn sich dies generalisieren läßt, dann ergi weitere Beschleunigung vor dem Hintergrur beschränkter Aufnahmemöglichkeiten auf d Nachfragerseite keinen Sinn mehr. Die Grenze der Beschleunigung sind erreicht.Viele Unternehmen täten gut daran, im Beschleunigungsrausch innezuhalten und zu fragen, was nach Ende der Beschleunigungsprozesse passieren wird. Die Perspektiven sind z. T. wenig erfreulich, wie Simulationen einer Post-Beschleunigungswelt zeigen.
Carl-Friedrich von Braun hat ein Simulationsmodell unter relativ engen Prämissen entwickelt Aufbauend auf diesem Grundmodell wurde am Betriebswirtschaftlichen Institut für Anlagen und Systemtechnologien ein umfassenderes „Labor" -Modell erstellt, aus dem sich verschiedene Szenarien für die Nach-Beschleunigungswelt generieren lassen. Wir betrachten zwei Szenarien
Szenario 1: Der Strohfeuer-Effekt In Szenario 1 werden in einem ersten Schritt die Produktlebenszyklen stufenweise von zehn auf sechs Jahre verkürzt. Anschließend sollen sich die Produktlebenszeiten bei sechs Jahren einpendeln, weil davon ausgegangen wird, daß jeder Beschleunigungsprozeß einmal zu Ende gehen muß. Weiterhin wird zunächst angenommen, daß der Umsatz während der Lebenszeit eines Produktes und damit die Fläche unter der Lebenszykluskurve konstant bleibt. Zum Vergleich sind in Abbildung 5 ein zehnjähriger und ein sechsjähriger Verlauf gegenübergestellt.
Abbildung 6 zeigt den Gesamtumsatzverlauf des Unternehmens. Nach einem beschleunigungsbedingten Anstieg des Gesamtumsatzes fällt der Umsatz nach Erreichen des neuen konstanten Sechs-Jahres-Rhythmus wieder auf den alten Wert zurück. Die Beschleunigung hat somit außer einem „Strohfeuer“ nichts gebracht.
Szenario 2: Der Absturzeffekt bei Pseudowachstum Im zweiten Szenario soll bei dem gleichen Verkürzungsprozeß die realitätsnähere Annahme getroffen werden, daß in einem sechs Jahre langen Zeitfenster nicht der gleiche Umsatz getätigt werden kann wie in zehn Jahren, sondern daß der Umsatz mit der Verkürzung der Marktzeit unterproportional fällt. Diese Annahme ist durchaus sinnvoll, wie man sich am Extremfall des Vergleichs eines 50jährigen Produktlebenszyklus mit einem einjährigen veranschaulichen kann. Es wäre unrealistisch anzunehmen, daß in einem Jahr die gleiche Menge abgesetzt werden kann wie in 50 Jahren. Unter dieser Prämisse erhält man das Ergebnis, daß auch hier zunächst der beschleunigungsbedingte Umsatzzuwachs eintritt, nach Erreichen der neuen Lebenszyklusdauer von sechs Jahren der Umsatz aber sogar unter das alte Niveau fällt (vgl. Abbildung 7).
Damit läßt sich als erstes Ergebnis festhalten, daß der zunächst ansteigende Umsatz nach Beendigung der Beschleunigungsphase einen Einbruch erleidet und auf ein niedrigeres als das Anfangsniveau zurückfällt. Für das Management besonders dramatisch ist die Tatsache, daß der Umsatzrückgang nach Ende der Beschleunigung wesentlich abrupter vor sich geht als der Anstieg zu Beginn.
Der Rückgang ist darauf zurückzuführen, daß kein echtes Wachstum stattgefunden hat; schließlich sind die Umsätze pro Produkt konstant geblieben bzw. sogar gesunken. Durch die Beschleunigung hat nur eine Vorwegnahme zukünftiger Umsätze stattgefunden. Nach Ende des Beschleunigungsprozesses „fehlen“ diese Umsätze dann, was zwangsläufig zu einem entsprechenden Umsatzrückgang führen muß.
Man kann aus diesem Ergebnis lernen, daß man unterscheiden muß zwischen echten Wachstumsprozessen und „Pseudowachstum“, wie es durch Beschleunigungsprozesse entsteht. Hierbei werden lediglich Umsätze, die sich eigentlich erst in der Zukunft einstellen würden, vorweggenommen, weil man sonst befürchten muß, durch Konkurrenten, die immer neue Produkte einführen, aus dem Markt gedrängt zu werden. Aber die vorweggenommenen Umsätze fehlen in der Zukunft. Geräte, die man im nächsten Jahr hätte verkaufen können, sind nicht mehr abzusetzen, weil zu Hause schon das neue Modell steht. Die Beschleunigung wurde mit dem Verzicht auf künftige Nachfrage erkauft. Um das Loch zu füllen, muß man wiederum neue Produkte auf den Markt werfen, die aber erneut zukünftige Umsätze vorwegnehmen. Letztlich gerät man in eine Beschleunigungsfalle, die für viele Unternehmen tödlich ausgehen kann, wenn das Ende der Beschleunigung erreicht ist. Wir werden dies in Zukunft noch verstärkt erleben.
VI. Beschleunigung braucht Langsamkeit
Abbildung 6
Abbildung 6: Umsatzverlauf bei Verkürzung der Produktlebenszyklen von zehn auf sechs Jahre
Abbildung 6: Umsatzverlauf bei Verkürzung der Produktlebenszyklen von zehn auf sechs Jahre
Können wir die Beschleunigungsepidemie, die schon manche in den Taumel des Beschleunigungsfiebers hat fallen lassen, überhaupt noch stoppen? Oder sind nicht ganze Branchen dabei, sich aus der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit herauszubeschleunigen? Die Computerbranche ist seit Jahren eine der am stärksten wachsenden Branchen. Fast alle Firmen aber haben trotz der hohen Wachstumsraten zeitweise eine unbefriedigende Gewinnsituation. Beobachter gehen davon aus, daß dies die Folge der im Vergleich zu den Entwicklungsaufwendungen zu kurzen Produktlebenszyklen ist. Trotz der Probleme ist aber offenbar kein Unternehmen in der Lage, aus der Beschleunigungsspirale auszuscheren, da man in diesem Fall sofort den Anschluß an den Markt verlieren würde und nicht mehr wettbewerbsfähig wäre. Den Unternehmen bleibt also oftmals keine andere Wahl, als das Beschleunigungsrennen mitzumachen -selbst wenn man erkennt, daß es im Abgrund enden wird.
Die betroffenen Unternehmen befinden sich in einer klassischen Drama-Situation: Beide zur Verfügung stehenden Alternativen -weiter zu beschleunigen oder alleine stehen zu bleiben -führen ins Verderben. Was tun? Lassen sich die zu erwartenden Zusammenbrüche vermeiden?
Eine Chance hierfür besteht nur, wenn alle Anbieter das Innovationstempo verringern. Aber so etwas kann sich kein Anbieter alleine leisten, weil er sonst hoffnungslos zurückfallen würde. Nur wenn alle gemeinsam -oder doch wenigstens die Vordersten -die Vorteile der Langsamkeit wieder-entdecken würden wie der Held John Franklin in Sten Nadolnys Roman, wäre die Falle zu knacken.
Dafür gibt es in Japan bereits mehrere Anzeichen. So hat das japanische Handelsministerium MITI vor einiger Zeit die japanischen Chip-Produzenten aufgefordert, die Produktlebenszyklen wieder zu verlängern und damit den Innovationsprozeß zu verlangsamen Die Japaner können sich das in diesem Sektor trotz schärfster Konkurrenz leisten, weil sie genügend Zeitvorsprung vor dem nächsten Konkurrenten haben. In vielen anderen Branchen -etwa der Werkzeugmaschinenindustrie -, in denen die Zeitvorsprünge der Konkurrenten kleiner sind, wäre das nicht so einfach.
Im Grunde müßten sich also die in der Beschleunigungsfalle Gefangenen absprechen, gemeinsam das Tempo zu drosseln. Mit einem solchen Zusammenschluß kann eine Gruppe von Unternehmen die nötige Marktmacht aufbringen, um die Beschleunigungsspirale zu durchbrechen. Auf diese Weise könnte eine neue Art von Kartellen entstehen. Aber das ist aufgrund der Kartellvorschriften untersagt. Oder sollte man Verlangsamungskartelle zulassen?
Die Antwort auf diese Frage will ernsthaft bedacht sein, denn ein solcher Schulterschluß zwischen den Anbietern ist nur möglich, wenn sich alle wechselseitig auf die Einhaltung der Vereinbarungen verlassen können, die Spielregeln also akzeptieren. Solche Spielregeln müssen langfristig bindenden Charakter haben und dürfen sich nur wesentlich langsamer ändern als die Marktgeschehnisse. Sie stellen damit die Plattform dar, auf der sich Geschwindigkeit erst effizient entwickeln kann. Effektive Geschwindigkeit auf der Handlungsebene läßt sich nur erreichen durch Langsamkeit auf der Ebene der Spielregeln. Eine Dauerhaftigkeit der zugrundeliegenden Regeln läßt sich um so leichter erreichen, je mehr sich die Marktparteien, insbesondere die Anbieter, einig über das Regel-werk werden. Auch hier gilt also das Prinzip, daß gemeinsames Handeln von Unternehmen den Umgang mit Geschwindigkeit erleichtert -eine Möglichkeit, der Beschleunigungsfalle zu entkommen?
Klaus Backhaus, Dr. rer. oec., geb. 1947; Universitätsprofessor und Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Anlagen und Systemtechnologien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Mitglied verschiedener Firmenbeiräte. Veröffentlichungen u. a.: Das Märchen vom Marketing, 3. Aufl., Stuttgart 1991; (Hrsg. zus. mit Holger Bonus) Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, 3. Aufl., Stuttgart 1998.
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