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Die innere Uhr | APuZ 31/1999 | bpb.de

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APuZ 31/1999 Die Zeiten ändern sich Vom Umgang mit der Zeit in unterschiedlichen Epochen Die innere Uhr Im Geschwindigkeitsrausch Die Welt der Wochenenden. Auf dem Weg in die Freizeitgesellschaft Zeit lassen. Ein Plädoyer für eine neue Zeitpolitik

Die innere Uhr

Till Roenneberg/Martha Merrow

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Unser Tagesablauf wird, wie auch bei Pflanzen und Tieren, nicht direkt durch den täglichen Ablauf von Licht und Dunkelheit, sondern indirekt durch eine „innere Tagesuhr“ koordiniert. Diese biologische Uhr wird durch Licht mit der Außenwelt synchronisiert. Sie selbst dirigiert alle zeitlichen Abläufe in unserem Körper während eines 24-Stunden-Tages. Die Wirkung der inneren Uhr erfahren wir in allen Aspekten unseres Alltags, in der Regel ohne uns dessen bewußt zu sein. Evident wird sie nach langen Flügen über Zeitzonen, wenn unsere innere Uhr am Zielort noch auf die Heimatzeit eingestellt ist und wir mindestens eine Woche brauchen, um uns in der neuen Zeit körperlich wohl zu fühlen. Sie ist aber auch der Grund für viele Pathologien, unter anderem solche, die durch langjährige Schichtarbeit hervorgerufen werden. Die Erforschung der Mechanismen dieses universellen biologischen Phänomens durch die Chronobiologie gehört zu den faszinierendsten Aufgaben der biomedizinischen Wissenschaften. Die Ergebnisse dieser Forschung betreffen viele wichtige Bereiche unserer Gesellschaft. Hierzu zählt die Gestaltung von Schichtplänen, Schulzeiten und der individuellen Tagesorganisation ebenso wie die medizinische Diagnostik, die Therapie von körperlichen und seelischen Krankheiten sowie die Vergabe und Wirkung von Medikamenten.

I. Chronotypen

Die achtjährige Anna Müller war wie jeden Morgen, und besonders an Montagen, wieder einmal viel zu spät dran. Verschlafen, wie in Zeitlupe setzte sie sich an den Frühstückstisch. Ihre zwei Geschwister unterhielten sich bereits lebhaft, während ihre Mutter fröhlich für alle sorgte, Schulbrote schmierte, Entschuldigungen schrieb sowie Mitteilungen oder Schulaufgaben unterschrieb. Ihr Vater hingegen war noch nicht ansprechbar. „Du mußt 'was essen, Anna, beeil'Dich“ , mahnte die Mutter eindringlich. Anna reagierte nicht; sie kaute seit fünf Minuten lustlos auf ihrem ersten Bissen Brot herum. Ihr war klar, daß dies wieder einer von diesen erfolglosen Vormittagen werden sollte. In der ersten Stunde hatte sie Rechnen, und sie wußte schon jetzt, daß sie nichts kapieren würde. Dabei war sie gar nicht mal eine mathematische Niete, aber so früh konnte man doch noch nicht denken -malen vielleicht, aber denken nicht.

Ähnliche Szenen spielen sich sicherlich in Deutschland jeden Morgen tausendfach ab. Die Charaktere mögen anders verteilt sein, aber die Situation ist immer die gleiche. Einzelne Mitglieder derselben Familie sind zu bestimmten Tageszeiten so verschieden, daß sie sich gegenseitig wie aus anderen Welten vorkommen -jeder ist ein anderer Chronotyp. Die einen sind „Morgenmuffel“, können aber als „Eulen“ noch bis spät in die Nacht konzentriert arbeiten, die anderen sind schon in der Frühe zwitschernde „Lerchen“, energiegeladen und kompetent, schlafen aber abends im Kino oder Theater ein, sobald das Licht ausgeht. Die Ursache für diese verschiedenen Zeittypen ist eine vererbte Eigenschaft, ein biologischer Mechanismus, den wir als „innere Uhr“ bezeichnen.

II. Die Geschichte der biologischen Uhr

An einem Sommertag im Jahre 1729 saß der französische Astronom Jean Jacques d’Ortous de Mairan an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem Manuskript über die Wirkung des Sonnenlichts. Er betrachtete die Mimose auf seiner Fensterbank, wie sie ihre vielen kleinen Fiederblätter der Sonne entgegenstreckte. Am Vorabend hatte de Mairan noch bis spät in die Nacht gearbeitet, während die Mimose „schlief“, mit all den kleinen Blättern nach unten geklappt. De Mairan räumte die Schubladen aus seinem Schreibtisch, stellte die Pflanze hinein und machte die Tür zu. Während er weiter an seinem Manuskript schrieb, öffnete er in regelmäßigen Abständen die Schreibtischtüre und beobachtete die Stellung der Blätter. Mit Erstaunen stellte er fest, daß die Mimose ihre Fieder den ganzen Tag lang aufgespannt behielt, obwohl sie nun im Dunkeln stand. Erst gegen Abend, als es schließlich draußen dunkel wurde, klappte auch sie ihre Blätter nach unten. Am nächsten Morgen stand de Mairan lange vor Sonnenaufgang auf und bemerkte, daß die Mimose noch schlief. Etwa eine Stunde bevor das erste Tageslicht durch das Fenster, aber nicht in den Schreibtisch drang, bogen sich die Blätter langsam nach oben und verweilten in dieser Stellung den ganzen Tag über.

Seit diesen ersten Beobachtungen von de Mairan haben sich viele Philosophen und Naturforscher, etwa Carl von Linne, Georg Christoph Lichten-berg, Christoph Wilhelm Hufeland oder Charles Robert Darwin mit dem Phänomen der inneren Tagesuhr beschäftigt. Sie erkannten, daß Tagesrhythmen nicht allein passive Antworten auf Licht und Dunkel sind, sondern eine harmonische Anpassung zwischen einer inneren Rhythmik des Organismus und den physikalischen Rhythmen des astronomischen Tages. In unserem Jahrhundert untersuchten die beiden deutschen Pflanzenphysiologen Wilhelm Pfeffer und Erwin Bünning die „innere Uhr“ mit naturwissenschaftlichen Methoden. Zu den wichtigsten Pionieren der neu entstandenen Forschungsrichtung Chronobiologie gehören nach 1945 der deutsche Physiologe Jürgen Aschoff und der amerikanische Ökologe Colin Pittendrigh. Ihren Arbeiten verdanken wir die grundlegenden Regeln und Gesetze über die innere Tagesuhr. Untersuchungen der biologischen Uhr, vor allem in den USA, mit molekularen Methoden brachten wichtige Ergebnisse. Einzelne Gene wurden isoliert, die für das Zustandekommen des inneren (von innen geschaffenen, also endogenen)

Rhythmus verantwortlich sind. In den letzten Jahren kam es zu einer Explosion in der Erforschung der inneren Tagesuhr. Heute beschäftigen sich etwa ein Prozent aller wissenschaftlichen Arbeiten mit diesem Thema.Wie kaum eine andere Forschungsrichtung ist die Chronobiologie auf interdisziplinäre Ansätze angewiesen. Die traditionelle Verflechtung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen -Zellbiologie, Psychiatrie oder Arbeitsmedizin -innerhalb der Chronobiologie ist ein Indiz für die fundamentale Rolle der zeitlichen Regulation auf allen biologischen Ebenen. Während die Amerikaner die Relevanz dieser Forschungsrichtung erkannten und große Zentren zur Erforschung der inneren Uhr gründeten, gibt es in Deutschland seit der Emeritierung von Jürgen Aschoff in den frühen achtziger Jahren keine offizielle Basis mehr für die Chronobiologie an deutschen Universitäten oder anderen Forschungseinrichtungen. Aschoff leitete eine chronobiologische Abteilung am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen (gegründet von Konrad Lorenz und Erich von Holst), wo er unter anderem viele Menschen in seinem legendären „Bunker“ untersuchte, einer unterirdischen Isolationseinheit, die er speziell für diese Forschung bauen ließ.

III. Menschen in zeitlicher Isolation

Philip Klaas saß in einem kleinen Appartement und schrieb schon seit sechs Wochen in selbstgewählter Isolation an seiner Dissertation. Gleichzeitig verdiente er jeden Tag ein wenig Geld, ohne daß er außer Haus gehen oder auch nur seine Schreibarbeiten unterbrechen mußte. Er war Versuchsperson in einem chronobiologischen Experiment. Seine „Wohnung“ hatte keine Fenster, weder im Wohn-und Schlafraum noch in der Kochnische, noch im winzigen Bad. Es gab keine Uhr, kein Radio und keinen Fernseher -Philipp Klaas lebte in vollkommener zeitlicher Isolation und konnte sich seinen Arbeitstag selbst nach seinem eigenen Gefühl einteilen. Noch zwei Wochen, dann hatte er die Einsamkeit überstanden und würde mit einer fertigen Doktorarbeit in die normale Welt zurückkehren.

Philip hatte gerade eine Einkaufsliste geschrieben und die innere Türe seines Appartements geöffnet, um die Liste in die Schleuse zwischen seinem zeitlosen Appartement und der zeitlichen Außenwelt zu legen, als sich die Türe auf der anderen Seite der Schleuse öffnete. Mit großer Überraschung sah er sich seinem Versuchsleiter gegenüber. Philip war wie vor den Kopf gestoßen. Hatte er doch klar ausgemacht, acht Wochen auszuharren und den Versuch nur dann abzubrechen, wenn er es nicht mehr aushielt -„schlappmachte“, wie er es formulierte, was nun wirklich nicht der Fall war. Warum hatte die andere Seite die Vereinbarung nicht eingehalten und das Experiment vorzeitig abgebrochen? Was war schiefgegangen? Philip wußte genau, daß es erst sechs Wochen waren, hatte er doch jeden Tag w'ie Robinson einen Strich gemacht.

Der Wissenschaftler lächelte nur über seine Argumente und bestand darauf, daß alles seine Richtigkeit hätte -die ausgemachten acht Wochen wären heute vorüber. Diese Verwirrung träte öfter bei Probanden auf. Es käme im Laufe des Versuchs nicht selten zu beträchtlichen Verschiebungen zwischen der eigentlichen Anzahl der Tage und den individuell durchlebten. Erst als der Versuchsleiter ihm die Tageszeitung zeigte, glaubte Philip dieses zeitliche Paradox. Er war froh, wieder in die Gemeinschaft der Uhrenträger entlassen zu werden, aber auch ein wenig enttäuscht, daß er seine Arbeit nicht fertiggeschrieben hatte.

Zahlreiche Versuchspersonen durchleben in zeitlicher Isolation, in der nur ihre innere Uhr den Tag organisiert, extrem lange Tage. Bei den meisten von ihnen dauern sie etwa 25 Stunden, bei manchen jedoch bis zu 50. Keine der Versuchspersonen merkt diese große Abweichung vom 24-Stunden Tag. Sie drücken gewissenhaft einen Klingelknopf, immer wenn sie meinen, eine Stunde wäre vorüber, und dann noch einmal nach einer geschätzten Minute. An den extrem langen Tagen drücken sie diesen Stundenknopf auch nicht öfter als an den kürzeren. Obwohl ihre Aktivitätszeit bis zu 33 Stunden betragen kann und sie 17 Stunden schlafen, essen sie die gleiche Menge, verteilt auf drei Mahlzeiten, und gehen mit der gleichen Häufigkeit auf die Toilette wie an normalen Tagen. An den langen Tagen ist ihre Biologie und Psyche verlangsamt, aber ohne eine Referenzuhr merken sie es nicht. Nur ihr Gefühl für kurze Zeiten wird nicht zusammen mit der Länge ihres eigenen Tages gedehnt oder komprimiert. Ihre Minuten-schätzungen bleiben von der jeweiligen Tageslänge unabhängig. Auch das trägt dazu bei, daß sie die Veränderungen nicht merken. Anderenfalls hätten sie das Gefühl, daß ihr Lieblingsmusikstück zu schnell oder zu langsam abgespielt werde, und würden dies gewissenhaft in ihrem Versuchstagebuch vermerken.

IV. Eigenwillig, präzise, aber nicht genau

Im Experiment, unter konstanten Bedingungen, zeigt der endogene Tagesrhythmus eine erstaunliche Präzision, ist aber nicht notwendigerweise genau. Die Bewegungsaktivität eines blindenAffen wurde über fast drei Jahre hinweg in konstanten Bedingungen aufgezeichnet. Seine Rhythmik hatte eine Periodenlänge von 24, 5 Stunden, das heißt, der Affe begann jeden Tag seine Aktivität eine halbe Stunde später und wich von dieser Regelmäßigkeit innerhalb der aufgezeichneten Jahre jeweils nur wenige Minuten ab. Unter konstanten Bedingungen zeigt die innere Tagesuhr ihre eigene Periodik. Da diese zwar präzise über Jahre durchgehalten, aber von 24 Stunden abweichen kann, spricht man auch von einer circadianen Periode (ungefähr ein Tag). In vielen Fällen, besonders bei Pflanzen und Tieren, beträgt die circa-diane Periode auch weniger als 24 Stunden. Außerdem hängt ihre Länge davon ab, ob das Experiment im Dauerdunkel, bei schwachem oder hellen Dauerlicht durchgeführt wird.

Je nachdem, ob die circadiane Periode unter konstanten Bedingungen schneller oder langsamer läuft, ordnet sie sich unter synchronisierten Bedingungen anders in den 24-Stunden Tag ein. „Schnellere“ innere Uhren eilen dem Tag voraus, langsamere hinken ihm hinterher, auch wenn beide Uhrentypen ihre eigene Tagesstruktur unter den synchronisierten Bedingungen alle 24 Stunden wiederholen. Die unterschiedliche „Geschwindigkeit“ ist der Grund dafür, daß Anna und ihr Vater morgens Muffel sind, während der Rest der Familie schon in den frühen Morgenstunden fidel ist.

„Eulen“, die jeden Tag durch den Wecker um sechs Uhr geweckt werden, können ohne Schwierigkeiten am Wochenende mehrere Stunden länger schlafen. Vielleicht wachen sie zur gewohnten Werktagszeit auf, drehen sich aber wieder um und schlafen mühelos weiter. Anders die „Lerchen“, sie wachen werktags oft schon vor dem Wecker auf und haben an Wochenenden Schwierigkeiten, länger zu schlafen.

V. Das Auge der Zeit

Da die innere Uhr zwar präzise, aber nicht genau geht, muß sie täglich neu gestellt werden, muß mit dem 24-Stunden-Tag der Umwelt synchronisiert werden. Nur so kann sie zuverlässige Informationen über die Zukunft liefern (wann mit dem Sonnenaufgang zu rechnen ist, wann die besten Bedingungen für Pollenflug oder für das Finden von zeitlich begrenzten Futterquellen bestehen). Das „Stellen“ der inneren Uhr erfolgt mit Hilfe von speziellen Umweltsignalen (Zeitgebern), von denen das Licht wegen seiner Zuverlässigkeit die wichtigste Rolle spielt. Die innere Uhr zahlreicher Organismen kann zwar auch durch andere Zeit-geberwie Temperatur, Nährstoffe und ähnliches gestellt werden, das Licht ist dennoch für die allermeisten Organismen der Hauptzeitgeber.

Die Prinzipien der zeitlichen Kontrolle des Lebens durch die innere Uhr und ihre Synchronisation mit der Außenwelt sind auf allen biologischen Ebenen vom Einzeller bis zum Menschen gleich. So besitzen zum Beispiel alle inneren Tagesuhren eigene Lichtrezeptoren, die sich von denen der visuellen Raumwahrnehmung unterscheiden. Beim Menschen, wie bei allen Säugetieren, sind es nicht die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut, mit denen das Licht und die Farben unserer räumlichen Umwelt wahrgenommen werden, sondern eigene Lichtrezeptoren, die auch im Auge sitzen und die in der Evolution wahrscheinlich weit vor den Stäbchen und Zapfen entstanden sind. Das Gehirn „sieht“ also die Zeit mit anderen „Augen“ als den Raum. Hierfür gibt es erstaunliche Beispiele. Im Nahen Osten leben blinde Wühlmäuse, deren ganzer Körper mit einem kurzen, fast schwarzen Fell bedeckt ist. Nur über den „Augen“ wird der dunkle Pelz durch zwei weiße Fellflecken unterbrochen. Hinter jedem dieser Flecken liegt ein völlig verkümmertes Auge, ohne Linse, Iris oder Glaskörper, das nur noch aus einer rudimentären Netzhaut besteht, in der sich die Lichtrezeptoren für das circadiane System befinden. Die innere Uhr dieser Wühlmäuse wird über diese „Augen“, die zu keiner Raumwahrnehmung fähig wären, vom Licht gestellt.

IV. Mittags sind wir alle Japaner

Herr Müller wird von einem Geschäftspartner zum Mittagessen eingeladen. Auf die Frage, was er trinken möchte, antwortet er: „Nur Wasser, bitte.“ „Aber Sie haben doch, als wir uns vor ein paar Tagen abends trafen, gerne Wein getrunken“, bemerkt sein Gastgeber. „Ja, abends regen mich ein oder zwei Gläser geradezu an, aber mittags kann ich mir nach einem halben Glas gleich ein Bett mitbestellen.“

Auch dieses Phänomen, das die meisten Menschen schon einmal erfahren haben, ist auf die circadiane Periode zurückzuführen. Ihre Kontrolle betrifft die gesamte Organisation des Organismus -vom Verhalten und der Funktion von Organen bis hin zu der Biochemie der Zellen und ihrer Moleküle. Gene werden von der inneren Uhr zu verschiedenen Zeiten an-und ausgeschaltet. Enzyme, die chemischen Werkzeuge der Zelle, werden -je nachdem, welche innere Stunde es geschlagen hat -aktiviert oder deaktiviert. Komplexe Prozesse,wie etwa die Vermehrung von Zellen durch Zellteilung, werden zu bestimmten Tageszeiten eingeleitet. So sind auch Wachstum oder Heilungsprozesse tageszeitlich geregelt. Diese zeitliche Kontrolle ist bei pathologischem Wachstum (also Krebs) defekt. Es gibt also enge Zusammenhänge zwischen der inneren Uhr und pathologischen Zuständen, die zum Beispiel bei der Therapie eine wichtige Rolle spielen sollten. Erneuerung von Sinneszellen, wie den Stäbchen und Zapfen unserer Netzhaut, findet nur zu bestimmten Zeiten statt, nämlich während der Nacht, da die „frischen“ Rezeptorproteine noch zu lichtempfindlich sind.

Das Ausmaß der circadianen Kontrolle über die Vorgänge im Organismus ist so groß, daß zwei verschiedene Individuen zur gleichen Tageszeit biochemisch ähnlicher sind als das jeweilige Individuum mit sich selbst im Abstand von zwölf Stunden. Diese tiefgreifende Kontrolle hat Herr Müller am eigenen Leib beobachtet und trinkt daher mittags keinen Alkohol. Die Alkoholdehydrogenase, das den Alkohol abbauende Enzym, wird von der inneren Uhr erst in den Abendstunden aktiviert, so daß die Alkoholwirkung mittags viel stärker ist als abends. Japaner haben übrigens eine veränderte Alkoholdehydrogenase und vertragen daher zu jeder Tageszeit weniger Alkohol als beispielsweise Europäer. Auch bei Reisen über Zeitzonen erfahren wir, wie lange die Umstellung des körpereigenen. Zeitprogramms dauert. Asthmatiker, die wegen der Kontrolle der inneren Uhr in der zweiten Nachthälfte die größten Atembeschwerden haben, werden feststellen, daß sie nach einem Flug von Europa an die Westküste von Amerika besser schlafen können, da dort die Beschwerden schon am Abend ihren Höhepunkt erreichen. Allerdings gilt das nur für ein paar Tage, denn dann hat sich die circadiane Uhr langsam umgestellt und mit ihr auch der Zeitpunkt, zu dem die Atemwege besonders anfällig sind.

Von der strikten Kontrolle durch die innere Uhr sind Schichtarbeiter besonders -und zwar negativ-betroffen. Sie leben während der Nachtschichten „gegen ihre innere Uhr“, da sich das circadiane System mit dem Schichtwechsel nicht umstellen läßt. Auch wenn die Beleuchtung am Arbeitsplatz besonders hell ist, kann sie mit Sonnenlicht, selbst an einem regnerischen Tag, nicht im mindesten mithalten. Diese Tatsache führt dazu, daß Schichtarbeiter nachts zu einer Zeit aktiv sind, in der die gesamte Physiologie des Körpers auf andere Aktivitäten eingestellt ist -unter anderem auf Schlaf. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist dann am geringsten, ihre Netzhaut ist besonders lichtempfindlich, weshalb sie durch Licht am stärksten geschädigt werden kann. Der Säuregehalt ihres Magens ist niedrig und nicht auf die nach den (nächtlichen) Mahlzeiten notwendige Verdauung eingestellt. Wenn sie dann aber am Tage schlafen, ist der Säuregehalt im leeren Magen hoch. Ihre Niere ist stärker auf Ausscheidung eingestellt, so daß selbst ihr Erschöpfungsschlaf oft durch Toilettengänge unterbrochen wird. Dieses Leben gegen die innere Uhr führt langfristig zu chronischen Krankheitsbildern.

VII. Die Zeit im Reiskorn

Die meisten Funktionen in unserem Körper lassen sich klar lokalisieren -wir wissen, wo das Organ liegt, das für den Pulsschlag selbst in unserem Fuß verantwortlich ist. Dies gilt auch für die innere Uhr. Es ist bekannt, wo die zentralen „Schrittmacher“ liegen, die für den circadianen Rhythmus verantwortlich sind. Bei Säugetieren und auch beim Menschen liegen sie in einem paarigen, reiskorngroßen Gehirnkern (Nucleus) hinter unserem Nasenrücken über der Sehnervenkreuzung (Chiasma). Dieser „suprachiasmatische“ Nucleus (SCN) erhält seine Lichtinformationen aus dem Auge über die Sehnerven und steuert die gesamte zeitliche Tagesorganisation des Körpers. Auch die einzelnen Zellen dieses Uhrenzentrums können, jede für sich, circadiane Rhythmen erzeugen. Neben diesem besitzen vermutlich fast alle Zellen des Körpers diese Fähigkeit. Die einzelnen Zellrhythmen werden durch körpereigene Signalstoffe vom zentralen Schrittmacher synchronisiert. Einer dieser zeitlichen Signalstoffe ist das Melatonin, das von der Zirbeldrüse im Gehirn unter der Kontrolle des SCN tagesrhythmisch ausgeschüttet wird -es signalisiert dem Körper Nacht. Circadiane Rhythmen werden also von einem zentralen Gehirnkern koordiniert, aber durch biochemische Prozesse in einzelnen Zellen generiert. Diese zellulären circadianen Mechanismen werden zur Zeit weltweit mit modernen biologischen Methoden intensiv erforscht.

VIII. Zeitökologie

Die wissenschaftliche Ökologie befaßt sich fast ausschließlich mit der räumlichen Umwelt, die grob unterteilt (Land und Wasser) oder genauer eingegrenzt werden kann (z. B. die Nadelwälder der Alpen). An die Eigenschaften dieser Lebensräume (Biotope) haben sich alle Lebewesen im Laufe der Evolution angepaßt. In der Erdgeschichte sind immer neue Lebensräume entstanden, die von Organismen besiedelt wurden, und wir wissen viel über die Mechanismen der Evolution und der speziell angepaßten Physiologie in räumlichen Biotopen.

Demgegenüber wird die zeitliche Ökologie, werden die Zusammenhänge und die Spezialisierung innerhalb von Zeiträumen weit weniger beachtet, obwohl sie an den Organismus vergleichbare Aufgaben stellen. Auch in dieser Chrono-Ökologie existieren „Nischen“ (Chronotope), die durch voraussagbare Strukturen gebildet werden. Der Tag ist heller und wärmer, die Nacht dunkler und kühler; viele physikalische (z. B. Feuchtigkeit, Winde und Luftdruck), aber auch biologische Faktoren (z. B. das tageszeitliche Auftreten von Freßfeinden) ändern sich systematisch. Organismen müssen also zeitliche Strategien für Fortpflanzung, Brutpflege oder Nahrungsaufnahme entwickeln. Hier liegt die Erklärung dafür, daß sich im Laufe der Evolution tagaktive, nachtaktive oder dämmerungsaktive Tiere spezialisieren konnten. Werden Chronotope gewechselt, gehen damit drastische Veränderungen (z. B.der Sinnesorgane) einher: Für Nachtaktive ist vor allem das Riechen und Tasten wichtig, für Tagaktive wie den Menschen mehr das Sehen, erstere sehen meist schwarz-weiß, letztere oft bunt.

IX. Ein inneres Bild von Raum und Zeit

Herr Müller ist auf Geschäftsreise. Als er am Abend sein Hotelzimmer betritt, packt er als erstes das Wichtigste aus -Biologen würden sagen, er markiert sein Territorium. Er stellt Rasierpinsel und Zahnbürste auf das Regal über dem Waschtisch, legt sein Nachthemd auf das Bett und hängt einige seiner Sachen in den Schrank. Er muß heute abend noch mit seinen Geschäftspartnern essen gehen und morgen früh Verhandlungen führen. Nach einer Dusche verläßt er sein Zimmer und kommt erst gegen Mitternacht wieder zurück. Da es schon spät ist und er zum Essen Wein getrunken hat, schläft er sofort ein und wird erst wieder vom Wecker aus einem tiefen Schlaf gerissen. Als er -noch im Halbschlaf -die Augen öffnet, weiß er nicht, wo er ist -nichts paßt zusammen. War da nicht ein Schrank, wo jetzt ein Fenster ist, war da nicht eine Tür, wo jetzt ein geschmackloses Bild an der Wand hängt? Nach kurzer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erscheint, fällt es ihm dann wie Schuppen von den Augen. Er ist in seinem Hotelzimmer, muß schnell aufstehen und zu einer wichtigen Besprechung gehen.

In unserem Gehirn ist ein Lageplan unserer Umwelt schon präsent, bevor wir sie eigentlich wahrnehmen. Dieses innere „Bild“ (die endogene Repräsentation) wird ständig über die Wahrnehmung mit der Außenwelt abgeglichen. Bisweilen kommt es jedoch vor, daß wir zum Beispiel beim Aufwachen in einem fremden Zimmer nicht wissen, wo wir sind: Wir wachen auf mit der Erwartung, uns in unserem eigenen Schlafzimmer zu befinden, und stellen fest, daß dies mit der eigentlichen Räumlichkeit (dem Hotelzimmer) nicht übereinstimmt. Bemerkenswert dabei ist, daß unser Gedächtnis die Lagepläne für beide Räume gespeichert hat. Dennoch erkennen wir keinen von beiden. Es ist ein Fehler in der endogenen Repräsentation aufgetreten, der erst korrigiert werden muß. Ein Abgleich zwischen dem inneren Lageplan und der Realität ist nicht möglich, da sie zwei völlig verschiedene Räume betreffen. Erst wenn es dem Gehirn gelingt, den Fehler unserer unbewußten Erwartung zu korrigieren, den richtigen Raum im Gedächtnis zu „finden“ und sein inneres Bild aufzubauen, klappt der Abgleich zwischen Repräsentation und Realität, und uns wird schlagartig klar, wo wir uns befinden.

Unser Gehirn nimmt also seine Umwelt ganz aktiv wahr -geht mit Erwartungen an die unmittelbare Zukunft heran, sagt sie voraus (antizipiert sie) mit Hilfe einer endogenen Repräsentation. Über die Mechanismen dieser Gehirnleistungen ist bezüglich der Raumwahrnehmung noch wenig bekannt. Die Funktion der inneren Tagesuhr hängt auch mit endogener Repräsentation zusammen, in diesem Fall nicht mit der eines Raumes, sondern eines Zeitraumes -dem Tag. Wie in der räumlichen Umgebung gibt es in der Zeit voraussagbare Strukturen, die durch die innere Uhr antizipiert werden können. So kann die innere Uhr beispielsweise die Blätter der Mimose noch vor Sonnenaufgang aufstellen und die Biochemie für die Photosynthese rechtzeitig optimieren, weil sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem nächsten Sonnenaufgang ausgehen kann. Ähnliche Repräsentationen von Zeiträumen stellen auch die anderen drei biologischen Uhren dar, die es dem jeweiligen Organismus erlauben, sich auf die Voraussagbarkeiten von Ebbe und Flut, von Mondphasen oder Jahreszeiten vorwegnehmend einzustellen.

X. Ein Mensch für alle Jahreszeiten

Der Zeitraum Jahr spiegelt sich bei Mensch, Tier und Pflanze in vielen Körperfunktionen wider. Blattbildung und Laubabfall bei Pflanzen, Mauser,Fell-und Geweihwechsel, Winterschlaf oder Vogelzug bei Tieren, Schlaf-und Eßverhalten beim Menschen und seine Gemütsstimmung sind saisonal, um nur einige Beispiele zu nennen. Wie für den Tagesrhythmus ist auch für den Jahresrhythmus eine innere (circaannuale) „Uhr“ verantwortlich. Unter „konstanten“ Bedingungen (für den Jahres-rhythmus bedeutet dies zum Beispiel eine konstante Tageslänge von zwölf Stunden über das ganze Jahr hinweg) wiederholt sich der endogene Jahresablauf ungefähr alle 365 Tage. Wie die Tages-uhr, muß auch die Jahresuhr gestellt werden, und wieder ist Licht das wichtige Signal, in diesem Falle die Tageslänge. Auch Veränderungen der Temperatur beeinflussen und stellen die Jahresrhythmik. Die saisonale Fortpflanzung ist bei Pflanzen und Tieren besonders auffällig. Auch beim Menschen ist die Fortpflanzung je nach Jahreszeit unterschiedlich erfolgreich. Eine weltweite Untersuchung monatlicher Geburtenraten zeigte, daß der menschliche Fortpflanzungsrhythmus auf einer jahreszeitlich unterschiedlichen Erfolgsrate der Empfängnis beruht. Die größte Zunahme der Empfängnisraten liegt weltweit zum Zeitpunkt des stärksten Anstiegs in der Tageslänge (am 21. März auf der Nord-bzw. 21. September auf der Südhalbkugel), während das eigentliche Maximum dann auftritt, wenn die Durchschnittstemperaturen in den jeweiligen Regionen der Erde etwa 16 °C erreichen -im Süden unserer Halbkugel also früher als im Norden. In den meisten Ländern hat sich dieser Empfängnisrhythmus allerdings in den letzten 50 Jahren stark verändert und ist in Industrieländern kaum noch nachweisbar. Dies liegt -bedingt durch elektrisches Licht und Zentralheizung -an der zunehmenden Abschirmung des Menschen von den Umweltsignalen (Tageslänge und Temperatur), die diese saisonale Rhythmik stellen könnten.

XI. Auswirkungen auf Wissenschaft, Medizin und Gesellschaft

Die großen tageszeitlichen Unterschiede in der menschlichen Physiologie wirken sich auf alle Aspekte des Verhaltens aus und sollten in der Medizin und der Arbeitswelt, aber auch in allen anderen Lebenssituationen berücksichtigt werden. Die medizinische Meßtechnik muß zum Beispiel den Chronotypus des Patienten berücksichtigen, wenn sie wirklich genaue Diagnosen ermöglichen soll. Messungen des Blutdrucks, der Reaktionsgeschwindigkeit oder der Sehschärfe, um nur einige Beispiele zu nennen, sind ohne circadiane Informationen nicht exakt. Dies gilt ebenso für medizinische wie für experimentell wissenschaftliche Messungen. Wenn eine „Lerche“ und eine „Eule“ früh nüchtern zur Blutuntersuchung erscheinen, werden ihre gemessenen Werte unterschiedlich sein, nur weil sie verschiedene Chronotypen sind und nicht, weil der eine von ihnen kränker ist als der andere. So sind zum Beispiel die Blutfettwerte auch bei Gesunden nachts wesentlich höher als am Tag -die „Eule“ wird daher einen höheren Cholesterinspiegel zeigen als die „Lerche“.

Wirkung und Zeitverlauf vieler Medikamente (z. B. Herz-Kreislauf-Mittel, Antiasthmatika, Analgetika, Lokalanaesthetika, Zytostatika, Antibiotika, Antihistaminika, Opioide und Psychopharmaka, wie Benzodiazepine, Antidepressiva, Neuroleptika, oder -wie bereits beschrieben -Alkohol) sind nachweislich circadian unterschiedlich. Zur optimalen Tageszeit eingenommen, würde -bei gleicher Wirkung und weniger Nebenwirkungen -eine niedrigere Dosis ausreichen.

Die Verteilung der Arbeitszeit sollte -soweit dies im Sozialgefüge (z. B. Familien) möglich ist -den Chronotypus berücksichtigen. In großen Betrieben ließen sich, bis auf wenige Nachtstunden, Schichten entsprechend der Chronotypen so einteilen, daß sie 24 Stunden abdecken und dennoch kein Arbeitnehmer gegen seine innere Uhr leben müßte. Die Effektivität der Arbeit würde sich dadurch drastisch erhöhen, und die Folgekosten für chronische Krankheiten würden drastisch sinken.

Ein wichtiger sozialer Zeitgeber für unsere Kinder ist der morgendliche Schulbeginn. Berücksichtigt man die schon in der Kindheit ausgeprägten Chronotypen wie Anna und ihre Geschwister, wird verständlich, daß die „Eulen“ unter ihnen, die bei Jugendlichen in der Pubertät aus Entwicklungsgründen überwiegen, Schwierigkeiten haben. Jeden Morgen müssen sie den Tag vor ihrem inneren Morgen beginnen, und sich dennoch den Erfordernissen stellen. Internationale Studien haben gezeigt, daß schon eine Verschiebung des Schulbeginns um eine halbe Stunde zu weniger Verspätungen, deutlichen Leistungsverbesserungen und geringerer Krankheitsanfälligkeit führt. Dennoch spielen diese klaren Ergebnisse bei der Gestaltung unseres täglichen Lebens nur eine geringe Rolle.

Auch im Jahresverlauf sollte eine moderne Technik auf die biologischen Rhythmen eingehen. Da wir in der industriellen Arbeitswelt die meiste Zeit in Innenräumen verbringen, sind wir von den natürlichen Lichtverhältnissen während des Tages abgeschirmt. Die normale Beleuchtung eines Innenraums liegt etwa zwischen 50 und 500 Lux. Da das Licht aber unser wichtigster Zeitgeber und für unsere biologische Uhr erst bei Intensitätenüber 1 000 Lux wirksam ist, verbringen wir den größten Teil unserer Zeit in chronobiologischer Finsternis. Was aber ist die Folge, wenn Sonnenlicht als ein wesentlicher Faktor bei der effektiven Anpassung des Menschen an seine Umwelt fehlt und die Uhr nur unzureichend synchronisiert? Ein Mangel an Tageslicht kann über längere Zeit zu Schlafstörungen, Energielosigkeit, Verstimmungen und sogar zu Depressionen führen. Eine jahreszeitliche Anpassung der Physiologie, des Hormon-und Immunsystems ist für unsere Gesundheit notwendig, und das Ausbleiben der hierfür nötigen Umweltsignale könnte mit ein Grund für zahlreiche jahreszeitlich bedingte Krankheiten sein, von Allergien bis hin zu saisonalen Depressionen.

Statistische Untersuchungen zeigen, daß die meisten Menschen im Verlauf des Jahres Stimmungsveränderungen ausgesetzt sind. Bei manchen Menschen sind diese Schwankungen so stark ausgeprägt, daß sie zu psychiatrischen Fällen werden. Erste Symptome wie mangelnde Energie, überlanges Schlafen, vermehrter Appetit und ein unwiderstehliches Verlangen nach Kohlenhydraten, besonders Süßigkeiten, und daraus resultierende Gewichtszunahme beginnen meist im Herbst. Diese saisonale Depression (SAD, seasonal affective disorder) ist an die Funktion der biologischen Uhren gebunden und kann mit Hilfe von chronobiologischem Wissen therapiert werden, wie zum Beispiel durch zeitlich gezielte Darbietung von hellem Licht (Phototherapie, Licht über 2 500 Lux für wenige Stunden am Morgen und am Abend). Studien über die Wirksamkeit der Phototherapie zeigen, daß sich die Symptome bei 65 Prozent aller SAD-Patienten verbessern.

Die Chronobiologie brachte auch wichtige Erkenntnisse für die Geriatrie und die Schlafpathologie. Das circadiane System wird mit zunehmendem Alter schwächer und weniger präzise. Diese natürliche Erscheinung führt im Alter zu Schlaf-und Aktivitätsproblemen. Da sich das statistische

Lebensalter immer mehr erhöht, betreffen diese Probleme in zunehmendem Maße eine immer größere Anzahl von Menschen. Auch hier könnten die Forschungsergebnisse der Chronobiologie therapeutische Ansätze liefern. Bestimmte Schlafstörungen -auch bei jüngeren Patienten, deren SCN noch kräftig oszilliert -sind auf eine mangelnde Synchronisation der inneren Uhr mit der Umwelt zurückzuführen. Patienten mit „verzögertem Schlafphasensyndrom“ können erst sehr spät ins Bett gehen und schlafen lange in den Tag hinein (sie sind sozusagen pathologische „Eulen“). Im Extremfall sind die Schlafphasen überhaupt nicht mehr mit dem 24-Stunden-Tag synchronisiert. Dieses Syndrom ist sehr häufig bei Blinden, bei denen nicht nur die Lichtrezeptoren für die Raumwahrnehmung, sondern auch die der inneren Uhr erblindet sind. Nur selten tritt ein „vorverschobenes Schlafphasensyndrom“ auf, bei dem Patienten viel zu früh einschlafen und sehr früh erwachen (pathologische „Lerchen“). Die extremste Variante dieser chronobiologischen Schlafpathologien ist die Schlaf-Wach-Umkehr, wie sie aus der Geriatrie bekannt ist und sich besonders bei Alzheimerpatienten zeigt. Eine abendliche Einnahme des „Dunkelhormons“ Melatonin kann in all diesen Fällen neben Lichttherapie erfolgreich eingesetzt werden. Selbstverschriebene Einnahmen dieses Hormons, etwa bei Jet-lag, sollten allerdings vermieden werden, da über die verschiedenen Wirkungen des Melatonins bis hin zu Einflüssen auf die Fruchtbarkeit noch zu wenig bekannt ist.

Für die Lösung all der beschriebenen Beispiele und geschilderten Schwierigkeiten muß die chronobiologische Forschung in Zukunft weit mehr als bisher gestärkt und unterstützt werden. Die Chronobiologie sollte offiziell an biologischen und medizinischen Fakultäten vertreten sein, und die Lehre über chronobiologische Zusammenhänge müßte zur Routineausbildung aller Lebenswissenschaften gehören. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Till Roenneberg, PD, Dr. rer. nat., Dr. med. habil., geb. 1953; seit 1988 Leiter der Arbeitsgruppe Chronobiologie an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München; 1993, Honma Prize der Universität Sapporo; 1998/99 Forschungspreisträger des „Aschoffs Ruler"; Mitglied des Programmkomitees „Molecular Physiology" der European Science Foundation. Zahlreiche Publikationen zum Thema Chronobiologie. Martha Merrow, Dr. rer. nat., Ph. D., geb. 1957; 1992-1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dartmouth College, New Hampshire; seit 1996 Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Chronobiologie der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zahlreiche Publikationen zur Molekularbiologie des circadianen Systems.