„Alle Uhren gehen sehr“ (Jean Paul)
Zu diesem Beitrag siehe insbesondere Karlheinz A. Geißler, Zeit leben, 6. Auflage, Weinheim -Berlin 1997; ders., Zeit. -„ Verweile doch, Du bist so schön!“, 4. Auflage, Weinheim -Berlin 1998.
I. Zeit, Zeit, Zeit
„Hören Sie endlich auf, mich mit Ihrer verdammten Zeit verrückt zu machen? Es ist unerhört!“ schreit Pozzo wütend in Becketts „Warten auf Godot“. Dies geht uns inzwischen allen so. Fast alle beklagen sich über die Hetze, und fast alle produzieren sie diese. „Ach, Du liebe Zeit“: Es ist immer mehr, was wir in der gleichen Zeit erreichen, und es ist auch immer mehr, so erleben wir es, was wir in der gleichen Zeit nicht erreichen. Vor lauter Eile kommen wir täglich zu spät. Haben wir durch die Eile Zeit gewonnen, oder haben wir sie verloren? Sollen wir die Zeit suchen, oder soll die Zeit besser uns suchen? Glauben wir, die Zeit im Griff zu haben, so spüren wir doch sogleich, daß es die Zeit ist, die uns im Griff hat., Und die Folge: Ohne Anfang, ohne Ende reden und schreiben wir über „Zeit“. Dieser Text ist ein Beleg dafür.
Es ist der besondere Charakter des ausgehenden 20. Jahrhunderts, daß die Fragen der Zeit immer dringlicher und immer drängender werden. „Sein und Zeit“ ist zum Alltagsthema geworden. Wir reden und schreiben soviel über Zeit wie niemals zuvor, und doch verstärkt sich der Eindruck: „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu“ (Ö. v. Horvath). Das führt zur aller-orts hörbaren Klage: „Alles hat seine Zeit -nur ich hab’ keine.“
Verständlich, denn das Reden über die Zeit braucht Zeit. Es erlöst uns eben nicht vom Zeitdruck. Es ist nicht der erhoffte Weg, mit dem wir durch den Hintereingang ins zeitlose Paradies zurückkehren können. Welche Mittel man auch immer nutzt, alles Denken, alles Schreiben, alles Reden über „Zeit“ ist Heimweh nach jener Zeit, in der man sich nicht mit der Zeit beschäftigen mußte. Es ist die Sehnsucht nach dem Ursprung und der Wunsch, zu ihm zurückkehren zu können. Wenn wir die Zeit erforschen, wollen wir uns selbst erforschen, um uns endlich einmal selbst zu begegnen. Denn „an vielen ist das Leben schon vorübergegangen, während sie noch die Ausrüstung für das Leben zusammensuchten“, bemerkte Seneca, ohne eine Ahnung davon zu haben, was an Beschleunigung noch so alles auf die Menschheit zukommen sollte.
II. Was ist Zeit?
Was ist „Zeit“? Die Philosophie hat sich seit ihrer Existenz mit dieser Frage beschäftigt, und sie tut es heute mehr denn je. Die „Zeit“ ist -und sie bleibt wohl auch -ein höchst verwickeltes Rätsel. Im Zauberberg stellt sich Thomas Mann eben diese Frage: „Was ist die Zeit?“ Seine Antwort: „Ein Geheimnis -wesenlos und allmächtig.“
Die „Zeit“ läßt sich nicht auf etwas anderes zurückführen, es gibt nichts „hinter“ ihr. Und so werden wir, nachdem Augustinus bereits 1 400 Jahre zuvor zu dem gleichen Ergebnis kam, mit der Auskunft Adalbert Stifters zufrieden sein müssen: „Kein Sterblicher hat noch ausgesagt, was die Zeit ist, und kein Sterblicher weiß, was die Zeit ist. “ Verzichten wir also bei der Frage nach dem, was die „Zeit“ ist, auf eine Antwort. Manche Probleme soll man -so Wittgenstein -nicht lösen, man sollte viel eher von ihnen geheilt werden. Versuchen wir statt dessen herauszufinden, was wir mit dem, was wir „Zeit“ nennen, machen: Mit „Zeit“ füllen wir die Leere, vor der uns graut. Wir konstruieren Gewißheiten und Ordnungen im Hinblick auf das Vergängliche. Es ist nicht die „Zeit“, die wir messen, nein, wir messen Veränderungen, Dynamiken, Prozesse und nennen dies „Zeit“. Die Uhr mißt demnach nicht die „Zeit“,vielmehr ist es der Lauf der Zeiger, den wir als „Zeit“ bezeichnen und mit besonderen Maßstäben etikettieren (Stunde, Minute, Sekunde). Dieser Sachverhalt verleitete Einstein dazu, die „Zeit“ als eine „hartnäckige Illusion“ zu kennzeichnen.
Unser Zeitbewußtsein entwickelt sich in enger Verbindung mit Entwicklungsprozessen in der Umwelt. Dort, wo sich nichts verändert, herrscht die Zeitlosigkeit. Wir sprechen im Alltag davon, daß „die Zeit stehen geblieben ist“. „Zeit“ ist kein Gegenstand, sie ist ein Orientierungsmittel, um Sicherheit in der sich wandelnden Welt zu gewinnen und zu schaffen. Alle jene, die mit „Zeit“ und durch „Zeit“ Ordnung schaffen (zum Beispiel, indem sie Zeiteinteilungen verbindlich festlegen), erzeugen zeitliche Gegebenheiten mit teilweise dramatischen Auswirkungen auf die Individuen, die Gemeinschaften und die Gesellschaft. Daher ist die „Zeit“ ein menschengemachtes Netz, in dem man Spinne und Fliege zugleich ist. Indem wir die „Zeit“ kontrollieren, kontrollieren wir uns selbst. Wir produzieren, so gesehen, jene „Zeit“, die auf uns wirkt.
Es sind nicht alle Zeiten gleich. Wir kennen die Schnelligkeit, die Langsamkeit, die Aktivität, das Ruhen, die Veränderung, die Stabilität. Die Dinge, die Prozesse, die Systeme haben ihre je eigenen Zeiten. Eine Barocktreppe hat -oder besser: assoziiert -eine andere Zeit als eine Rolltreppe. Wir reden, wenn wir schnell gehen, miteinander anders und über etwas anderes, als wenn wir schlendern. Jede Straße, jeder Stadtbezirk, jede Gesellschaft hat ihre eigene zeitliche Bewegungsanweisung, ihren je typischen temporalen Aufforderungscharakter -und wir reagieren darauf. Die Gerade zum Beispiel beschleunigt, der krumme Weg verlangsamt den Schritt. Das Rationale dient in den meisten Fällen der Beschleunigung, der Zeitkontrolle und der Zeitverdichtung. Das Phantastische, das Irrationale, das Gefühlvolle, das Soziale hingegen tendiert zu Verzögerungen, zu Abschweifungen, zu Umwegen. Wir brauchen beides: Schnelligkeit und Langsamkeit. Ein schönes Beispiel dafür liefert uns Charles Dickens. Er schildert präzise Verhaltensweisen zum Einfangen verlorengegangener Kopfbedeckungen: „Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein besonderer Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Man darf nicht zu sehr eilen, sonst stürmt man über ihn hinaus; man darf nicht zu langsam sein, sonst verliert man ihn. Die beste Art ihn einzufangen ist, möglichst in gleicher Linie mit dem verfolgten Gegenstand zu bleiben, behutsam und vorsichtig zu sein, die Gelegenheit hübsch abzuwarten, ihm allmählich vorzukommen, dann plötzlich die Hand auszustrecken, ihn bei der Krempe zu ergreifen und fest auf den Kopf zu drücken. Dabei empfiehlt es sich, fortwährend zu lächeln, als hielte man alles für einen ebenso guten Spaß wie jeder andere. “
Die Moral von der Geschichte: Behütet ist man im Leben nur dann, wenn man sowohl langsam als auch schnell sein kann. Die Schnelligkeit braucht Langsamkeit, wenn sie sinnvoll und erfolgreich sein soll -und ebenso braucht produktive Langsamkeit auch die Möglichkeit zur Schnelligkeit. Die eine zeitliche Lebensform muß in der anderen in fruchtbarem Sinne aufgehoben sein. Das anzustrebende Ideal ist -mit einem Wort von Karl Rahner -die „versöhnte Verschiedenheit“ unterschiedlicher Zeitformen. Nur so können auch wir versöhnt leben. Wir brauchen Beschleunigung und Stillstand, wir brauchen Kurzfristigkeit und Langfristigkeit, wir brauchen Mobilität und Seßhaftigkeit. Norbert Elias, der sehr viel über Zeit und Gesellschaft nachgedacht hat, erzählt die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die in einem unbekannten, sehr hohen Gebäude immer höher stiegen. Die ersten Generationen drangen bis zum fünften Stock vor, die zweiten bis zum siebenten, die dritten bis zum zehnten. Im Laufe der Zeit gelangten die Nachkommen bis in das hundertste Stockwerk. Dann brach das Treppenhaus ein. Die Menschen richteten sich in diesem hundertsten Stockwerk ein. Sie vergaßen im Laufe der Zeit, daß ihre Ahnen je auf unteren Stockwerken gelebt hatten und wie sie auf das hundertste Stockwerk heraufgelangt waren. Sie sahen die Welt und sich selbst aus der Perspektive dieser Höhe ohne zu wissen, wie Menschen dahin gelangt waren. Ja sie hielten sogar die Vorstellungen, die sie sich aus der Perspektive ihres Stockwerks machten, für allgemein menschliche Vorstellungen. So geht’s uns mit dem, was wir „Zeit“ nennen. Es waren und es sind eben nicht alle Zeiten gleich.
Heute nun, in diesen modernen Zeiten, kann man sich vom Dach eines so großen Gebäudes mit dem Hubschrauber abholen lassen und damit den Blick von außen auf den Wolkenkratzer und seine Stockwerke richten. Dies will ich tun. Wir können, bei grober Betrachtung, drei große Bauabschnitte unterscheiden: die Vormoderne, die Moderne und die Postmoderne. Diese dreifache phasische Gliederung bietet sich für den Versuch an, die historische Entwicklung unseres individuellen und gesellschaftlichen Verhältnisses zur „Zeit“ systematisch darzustellen.
III. Die historische Entwicklung unseres Verhältnisses zur Zeit
1. Das vormoderne Zeiterleben Die erste Epoche -sie wird von mir als Vormoderne bezeichnet -ist durch eine enge Verbindung des gesamten Lebens -speziell auch der Arbeit -mit den Dynamiken der Natur gekennzeichnet. Natürliche Zyklen bestimmten den Lebensrhythmus, insbesondere waren das der Wechsel der Gestirne, Ebbe und Flut, Regen-und Trockenzeiten, die Jahreszeiten, Tag und Nacht. An ihnen wurden soziale, kulturelle und individuelle Ereignisse festgemacht. Man lebte in der Natur und mit der Natur, ging mit den Hühnern schlafen und stand beim ersten Hahnenschrei wieder auf. Abstrakte Maße, wie zum Beispiel Jahreszahlen, waren ungebräuchlich. Noch bis ins 17. Jahrhundert, dies läßt sich aus Chroniken ersehen, konnten die wenigsten Menschen jenes Jahr beziffern, in dem sie geboren waren.
Das soziale Leben begann mit dem Aufgang der Sonne, und es endete meist bei Sonnenuntergang. Homer beispielsweise bestimmte den Verlauf der Zeit nach Morgenröten. Das Sonnenzeitmaß bestimmte die Grundgeschwindigkeit der Natur und die des sozialen Lebens. Im Sommer reduzierten die Bauern in Mitteleuropa die Nachtruhe auf die wenigen Stunden der Dunkelheit, im Winter hingegen waren so lange Schlafenszeiten üblich, daß man auf die Idee kommen konnte, der Mensch hätte alle Anlagen für einen ausgiebigen Winterschlaf.
Die von Menschen geschaffenen Signale und Geräte, mit deren Hilfe man Zeitpunkte und Zeit-strecken festlegte, wurden nicht, wie heute, an einem abstrakten Maß „Uhrzeit“, sondern an der Länge des lichten Tages festgemacht. Die dunklen Stunden wurden nicht gezählt. Die Uhren waren Sonnenuhren. Die bewußte Lebensbewältigung durch die nur selten romantische Auseinandersetzung mit der Natur bestimmte das Zeiterlcben und die Zeitwahrnehmung.
An solch konkrete Anschauungen waren auch jene Zeitstrecken geknüpft, die über die Wiederkehr der Jahreszeiten hinausgingen. Nicht das Jahrhundert oder etwa die Legislaturperiode, die für unser heutiges gesellschaftliches Leben so einflußreich sind, waren die bestimmenden Maße, es war die „Generation“. Das Zählen nach Generationen stellte einen zur Orientierung ausreichenden konkreten und langfristigen Zusammenhang der Ereignisse her. Über den familiären Rahmen hinaus wurde Zeit nach den Regentschaftszeiten von Monarchen eingeteilt. Man kennt dies ja aus der Weihnachtsbotschaft in Lukas 2: „Es begab sich aber, in jenen Tagen erging ein Erlaß des Kaisers Augustus, den ganzen Erdkreis aufzeichnen zu lassen. Diese Aufzeichnung war die erste und geschah, als Quirinius Landpfleger in Syrien war.“
Zeit war in der Vormoderne nicht die Summe von Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Zeit war der Zusammenhang von Erlebnissen und Erfahrungen. Es war beispielsweise nicht sechs Uhr, sondern Sonnenaufgang. Die Zeitordnung war eigener Disposition entzogen. Sie war von der Natur vorgegeben und auch von kirchlichen Regeln, die der demütigen, unkritischen und gehorsamen Unterordnung des eigenen Willens unter die göttliche Größe dienten. Zeitorientierung wurde in solchen Ordnungen gefunden. Die Gänse wurden an Kirchweih verspeist, und der Henker tauchte Agnes Bernauer „fünf Vaterunser lang“ unter. Man ging am Sonntagmorgen in die Kirche -heute hört man sich zur gleichen Stunde gerne Zeitvorträge an. Die Kirche strukturierte die Zeit, die säkularisierten Predigten, die als Zeit-vorträge daherkommen, problematisieren die Zeit. Die kosmischen, natürlichen und die sozialen Prozesse gaben in der Vormoderne nicht, wie wir uns das heute vorstellen, die Zeit an, sie waren die Zeit, und sie legten fest, um welche Art Zeit es sich jeweils handelte. Zukunftsperspektiven entwickelten sich bei einem solchen Zeiterleben und Zeitverständnis nur in sehr begrenztem Maße.
Man ging davon aus, daß alles so weitergehen würde wie bisher -die Formulierung aus der Thorner Zunfturkunde von 1523, die den Fortschritt verbietet, ist kennzeichnend für jene Zeit: „Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken oder erfinden oder gebrauchen, sondern jeder soll aus bürgerlicher und brüderlicher Liebe seinem Nächsten folgen und sein Handwerk ohne des nächsten Schaden treiben. “
Die Zeit war kein Besitz des Menschen, sie gehörte Gott, der allen Lebewesen ihre Zeiten gab. „Meine Zeit liegt in Deinen Händen“ sang man und lebte es auch. Sündig wurden jene, die mit der Zeit handelten und aus ihr Profit zogen.
Darum galt im Mittelalter der Wucher, das Geld-verleihen auf Zins, als ganz besonders verwerfliche Sünde. In einem Handbuch für Beichtväter läßt sich das nachlesen: „Der Wucherer leiht dem Schuldner nicht, was ihm gehört, sondern nur die Zeit, die Gott gehört. Er darf also keinen Gewinn aus dem Verleih fremden Eigentums machen. Die Wucherer sind Diebe, denn sie handeln mit der Zeit, die ihnen nicht gehört; und mit dem Eigentum eines anderen gegen den Willen des Besitzers zuhandeln, ist Diebstahl. Und da sie außerdem mit nichts anderem als mit erwartetem Geld, das bedeutet mit Zeit, handeln, treiben sie mit Tagen und Nächten Handel. Der Tag aber ist die Zeit der Helligkeit und die Nacht die Zeit der friedvollen Ruhe. Also handeln sie mit Licht und friedvoller Ruhe. So wäre es nicht gerecht, wenn sie das ewige Licht und den ewigen Frieden erlangten. “
Bei solchem Blick auf das Vergangene darf man sich jedoch nicht zu idyllischer Verklärung verführen lassen. Die Naturnähe war damals auch zwangsläufig mit all jenen Dramatiken verbunden, in die eine nicht beherrschte und nicht beherrschbare Natur die Menschen mit einbezog. Hungersnöten, Überschwemmungen, Trockenheiten war man ausgeliefert, und nicht wenige Männer, Frauen und Kinder fielen den Naturgewalten zum Opfer. Wenn -so Otto Neurath, ein Wiener Philosoph -früher ein Sumpf und ein Mensch zusammenstießen, starb der Mensch, heute stirbt der Sumpf. Das ist zweifelsohne ein Fortschritt, aber eben kein ungetrübter.
Die Lebenden waren damals in guten wie in schlechten Zeiten eins mit der Natur. Sie lieferte die orientierenden Maßstäbe des Handelns und strukturierte die Wahrnehmung dessen, was sich veränderte. Die Rhythmen der Natur verorteten in Raum, Zeit und Gesellschaft. Sie waren die stabilisierenden Ordnungsprinzipien der Lebensführung, in die man sich demütig eingebettet sah. Insofern ist ein solches Zeitverständnis „begrenzt“. „Begrenzt“ ist auch die Lebensform, die ihm entspricht; eine Weisheit aus der Oberpfalz kündet davon: „Die Welt is’ groß, und hinter Straubing soll’s noch weitergehn.“ Von Globalisierung keine Spur. „Zeit“ war zu dieser Zeit daher kein Thema. Man redete nicht über sie. 2. Das moderne Zeiterleben Alles dies änderte sich am Ausgang des Mittelalters, beim Übergang zu jener Epoche, die wir die „Renaissance“ nennen. Die Menschen begannen in einigen europäischen Städten, besonders in den italienischen und den nordfranzösischen, „einen eigenartigen und bislang ungehörten Wunsch zu verspüren. Sie wollten wissen, wie spät es ist“ (Adolf Holl). Damit wurde Zeit als Thema entdeckt. 1358 wurde in Regensburg die erste deutsche Schlaguhr am Rathaus angebracht, andere • Städte wie Nürnberg und Augsburg folgten. Die Stadtbewohner konnten von da an in pünktliche und unpünktliche Einwohner eingeteilt werden. Es ließen sich Termine machen, was fünfhundert Jahre später zum allseits beliebten Volkssport wird.
Die Zeit wurde wertvoll, Turmuhren dienten zur Orientierung bei der Arbeit und beim Geschäft. Die Kaufleute entwickelten sich zu Kalkulatoren und zu Buchhaltern der Zeit. Durch das Aufkommen der verschiedenen Kreditformen, besonders des Wechsels, waren diese zunehmend gezwungen, genau mit der Zeit zu rechnen. Das theologische Verbot, die Zeit durch Zinseneinnahmen zu „verkaufen“, wurde aufgehoben. Nicht länger mehr war Zeit ein Gottesgeschenk, sie wurde vielmehr eine knappe Ressource, mit der kalkulatorisch umgegangen werden konnte. Und konsequent wurde zu dieser Zeit auch die Stunde mit ihrer Unterteilung in sechzig Minuten erfunden.
Das alles vollzog sich langsam, dauerte Jahrhunderte und hatte seinen Schwerpunkt in den wachsenden Städten. Die Verfügungsgewalt über die ordnungspolitisch höchst wichtigen Kommunikationsmittel „Uhr“ und „Glocken“ war im 16. Jahrhundert zwischen Stadtverwaltung und Kirche heftig umstritten. Nicht überall wurde der Konflikt so eindeutig entschieden wie in Venedig. Dort verbot der Doge, eine Uhr an der Markuskirche anzubringen. Diesem Beschluß haben wir den schönsten städtischen Uhrturm der Welt, gleich neben der Markuskirche, zu verdanken.
In Frankfurt am Main, wie in vielen anderen mitteleuropäischen Städten und Gemeinden, wurden Kompromisse, zum Beispiel Mietpachtverhältnisse für Kirchtürme, geschlossen. Im Turm des Frankfurter Doms beispielsweise hingen zu Beginn der neuen Zeit zehn Stadt-und Kirchenglocken, deren Funktion durch eine bis ins kleinste Detail ausgefeilte Läuteordnung geregelt wurde. Die Werkglocke regelt den Arbeitstag, die Wein-bzw. Bierglocke die Ausschankzeiten, die Feuerglocke ermahnte die Bevölkerung zur Verwahrung der Herdfeuer, die Ratsglocke rief zu Ratsversammlungen, die Marktglocke regelte Beginn und Ende des lokalen Handels, und die Zinsglocke mahnte säumige Zahler.
Ab dem 17. Jahrhundert „läuft“ die Zeit schneller. Ein völlig neues Gefühl entwickelt sich, es ist das Gefühl, daß einem die Zeit davonläuft. Dies alles geschieht mit massivem Rückenwind dessen, was Max Weber als „protestantische Ethik“ beschrieb. Die Protestanten mußten kalkulatorisch und sparsam mit Zeit umgehen, denn das ewige Leben, die Zeitlosigkeit, ist über Arbeit und Verzicht zu erlangen, während die Katholiken eine Erlösung durch die Befolgung der Sakramente, eine völlig andere Art von Arbeit, die nicht auf materiellen Wohlstand zielt, zu erreichen versuchten. Trotzdem stand das vormoderne Zeitverständnis über lange Zeit in Konkurrenz zu jener Zeitauffassung, die wir die moderne Zeit nennen. Bereits vorlanger Zeit wurde der ungleiche Kampf entschieden. Wer sich heute in seinem Alltag nach der Natur und dem gestirnten Himmel richtet, der gilt als Sonderling, häufig als Aussteiger. Aber es gibt auch noch in unseren Lebensbereichen deutliche Anzeichen für einen gelebten Bezug zu den irdischen und auch den überirdischen Perioden und Rhythmen. In dem in Bayern noch mancherorts üblichen Begriff des „Tagwerks“ als eines Maßes für die bäuerliche Arbeitsleistung und als Maßstab der zu bearbeitenden Fläche gleichermaßen ist dieser ebenso enthalten wie in den abnehmenden ländlichen Bräuchen und Festen. Im englischen Ausdruck „journey“ für die Reise wird jene Wegstrecke benannt, die man an einem Tag zurücklegen kann. Eine kurze Zeiteinheit nennen wir in unserem Sprachgebrauch immer noch einen „Augen-Blick". In allen diesen Begriffen drückt sich -heute nur noch bei sehr genauem Hinsehen - der qualitative Charakter der Beziehung zur Natur und zu den Perioden und Rhythmen dieser Natur aus. Es hat sich viel geändert -aber nicht alles. Hat man in der Vormoderne Zeitpunkte nach auffälligen Ereignissen markiert -„Das war damals, als sich die Oma das Bein gebrochen hatte“, „als der Josef von der Kuh getreten wurde“ -, so sind es heute zwar andere Ereignisse, die wir für solche Zwecke nutzen, aber es sind immer noch Ereignisse, an denen man sich zeitlich festhält. So hört man im Alltag immer noch Formulierungen wie:
„Ach, das war doch, als wir noch unseren ersten Mercedes hatten“, oder eher fragend: „Hatten wir damals eigentlich schon unseren Computer?“ Sind es also auch heute noch häufig Ereignisse, in denen wir uns zeitlich lokalisieren, so ist doch auffällig, daß es immer seltener Ereignisse sind, die auf Personen oder auf das natürliche Leben hinweisen. Aber nicht nur die Sprache transportiert heute noch Reste des zyklischen Zeitverständnisses. Einzelne Arbeits-und Lebensbereiche sind in unserer Gesellschaft immer noch so organisiert, daß innere und äußere Natur und deren Veränderungen den Umgang in und mit der Zeit bestimmen. Dies ist, trotz aller Technisierung, der bäuerliche Arbeitsbereich sowie der Lebensbereich „Haushalt und Familie“. Dort ist die Gleichung „Zeit ist Geld“
nur teilweise gültig. Aber auch das Industrie-system kann noch nicht ganz als von Naturzyklen losgelöst gelten. Die Angestellten der Bundesanstalt für Arbeit etwa investieren sehr viel Energie, um die Jahreszeiten und deren Einflüsse auf die Arbeitslosenzahlen wieder herauszurechnen.
„Saisonbereinigt“ sieht eben alles anders aus. Die Veränderung der Lebensauffassung von der Vormoderne zur Moderne läßt sich pauschalierend mit dem Etikett versehen: „Vom heiligen Geist zum eiligen Geist.“ Oder ernsthafter: Von der lebensorientierten Arbeitszeit zur arbeitsorientierten Lebenszeit. Und dies geschah mit kirchlicher, speziell mit pietistisch-protestantischer Rücken-deckung. Max Weber hat die Wurzeln des Kapitalismus, dem ja die arbeitsorientierte Beschleunigungsdrift wie ein Wasserzeichen eingeprägt ist, aus dem Geist der protestantischen Askese entwikkelt. Ich habe nirgends eine treffendere Schilderung dieser arbeitsorientierten Zeitauffassung gefunden als bei Paul Scheerbart. 1902 veröffentlichte dieser folgende mit dem Doppeltitel „Die gebratene Ameise, Arbeitsspaß“ versehene kleine Geschichte: „Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, daß durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe. Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tag gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, daß eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt: , Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, daß Ihr mich so ehren wollt! Ich muß Euch aber gestehen, daß es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften! 1 . Wozu denn?'schrien die Ameisen ihres Stammes -und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne -sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.“
Die zweite Phase der Entwicklung, die wir Moderne nennen, ist dort zeitlich zu lokalisieren, wo menschliche und tierische Arbeitskraft durch Maschinen ergänzt und ersetzt wurden. An die Stelle der rhythmisch gestalteten Produktivität der Natur trat die Produktivität der industriell organisierten Arbeit. Die technisch-industrielle Produktion löste das Zeiterleben von der Natur. Zeit wurde nicht mehr an konkreten Erlebnisinhalten bzw. an anschaulichen Erfahrungen festgemacht, sondern weitgehend als von Ereignissen losgelöst verstanden. Auf den Erziehungsbereich bezogen, heißt das: Die Schule beginnt situationsunabhängig um 8. 00 Uhr und nicht zum Beispiel, wenn es hell wird oder wenn alle Schüler da sind, wie dies noch in ähnlicher Form vom Kirchgang in Südtirol aus dem letzten Jahrhundert berichtet wird, wo das sonntägliche Glockenläuten zum Gottesdienst erst dann einsetzte, wenn der am weitesten entfernt wohnende Bauer auf dem Hügel von der Kirche aus gesehen werden konnte.Technik und Ökonomie setzen den Takt -die Wiederkehr des Gleichen -an die Stelle der rhythmischen Gliederung des Werdens und Vergehens. Nicht mehr natur-und aufgabenbezogene Rhythmik bestimmen in der Moderne das Leben, sondern die Eigendynamik des Ökonomischen und des Mechanischen. Die „Zeit“ und die Zeiteinteilung werden an das abstrakte Medium Geld gekoppelt, sie werden kapitalisiert. Die Verrechenbarkeit von Geld und Zeit -„Time is money“ -macht die Zeit zur knappen Ware und fördert damit die Beschleunigung der Arbeits-und der Lebensverhältnisse.
Das Zeitmuster des Taktes wird zum beherrschenden zeitlichen Organisationsprinzip. Chaplin hat für dieses Leben auf die Minute in „Modern Times“ die treffenden Bilder gefunden. Die Maschine liefert das Zeitmaß, an diesem gilt es sich primär auszurichten und nicht mehr an den Rhythmen des Lebendigen. Der „Fortschritt“ als eine auf Zukunft gerichtete Heilserwartung bestimmt die temporale Lebensform. Die unendliche Ausdehnung in die Zukunft hinein macht „Zeit“ grenzenlos teilbar und zerstückelbar. Zeit läßt sich quantifizieren, Zeiträume lassen sich planen. In dem häufigen und verbreiteten Gebrauch von Uhren, von Kalendern, von Fristen und Zeit-normen entwickelt sich dieses primär geldbestimmte Zeitverständnis schließlich zum dominierenden sozialen Ordnungsprinzip des Alltags. Der immer wiederkehrende Blick zur Uhr macht etwas davon deutlich, wie wir mit Zukunft rechnen und die Gegenwart dafür opfern, wie wir aus unserer Zeitkultur eine arithmetische Zeitkultur machen.
Die folgende chassidische Geschichte problematisiert dieses Zeitverständnis: „Der Rabbi sah einen auf der Straße eilen, ohne rechts und links zu schauen. „Warum rennst du so?“ fragte er ihn. -„Ich gehe meinem Erwerb nach“, antwortete der Mann. -„End woher weißt du“, fuhr der Rabbi fort zu fragen, „dein Erwerb laufe vor dir her, daß du ihm nachjagen mußt? Vielleicht ist er dir im Rücken, und du brauchst nur innezuhalten, um ihm zu begegnen, du aber fliehst vor ihm. “
Eine historisch gänzlich neue Produktionsform entsteht im 17. Jahrhundert: die der Fabrikarbeit. Das Zeitbewußtsein wird dort von der Knappheit der Zeit bestimmt; „Zeit“ wird eine „ausbeutbare Ressource“. Die Meßtechnik dominiert das menschliche Zeitverhalten. Sie wird immer präziser und die Zeitplanung immer kleinteiliger. Die Stechuhren, die Terminpläne, die Fabriksirenen zerhacken die fließende Zeit. Die zeitlichen Ordnungsleistungen werden durch die streng geregelten Arbeitszeiten und zunehmend auch von den vielfältigen Konsum-bzw. Medienangeboten erbracht. Die Werbung für das Mittwochs-lottoaus den siebziger Jahren macht es offensichtlich: Montags kommt der Spiegel, dienstags kommt Dallas, mittwochs kommt das Glück.
Die Abkoppelung der Zeitorientierung von den kosmischen und den natürlichen Vorgaben führt dann schließlich dazu, daß Regeln (zum Beispiel in Tarifverträgen, in Betriebsordnungen, durch Arbeits-und Verwaltungsgerichte usw.) entwickelt werden (müssen), die die Menschen vor den negativen Effekten einer naturfernen Zeitordnung schützen. Kaffeepausen, Urlaub, Freizeit, Fünftagewoche, all dies sind Errungenschaften einer Gesellschaft, die die Zeit und ihre Strukturierung selbst in die Hand genommen hat. Letztlich haben wir unseren Güterwohlstand diesem Perspektiven-wechsel zu verdanken -aber auch unseren Zeit-notstand. Die Ablösung der Naturrhythmen durch den menschengemachten mechanischen Takt hat uns zu neuen Horizonten der Freiheit geführt -jedoch um den Preis wachsender funktionaler Abhängigkeiten. Wir sind heute weitgehend unabhängig von den Folgen der Naturgewalten, dafür abhängiger vom Ölpreis. Unsere Erlösungs-Hoffnungen richten sich nicht mehr auf die Ewigkeit, sondern auf die rechtzeitige Auszahlung unserer Lebensversicherung. 3. Das postmoderne Zeiterleben Eines Tages, es ist noch nicht allzu lange her, entdeckte man, daß „Flexibilisierung“ der richtige Name für das sei, woran es uns noch fehlt. Dies war der Anfang vom Ende taktmäßiger Zeitordnung. Das Zeitalter fremdbestimmter und fremdgesteuerter Pünktlichkeitsmoral geht heute seinem Ende entgegen. Die Zeitorganisation wird zum individuellen Problem und damit zur Aufgabe der Selbstdisziplinierung. Untrügliches Zeichen dafür ist das offensichtliche Verschwinden öffentlicher Uhren. Geht man in Frankfurt vom Hauptbahnhof zu Fuß ins Bankenviertel, durchquert man einen uhrlosen, aber keinen zeitlosen Raum. Weder an den Litfaßsäulen, noch an den U-Bahneingängen und auch nicht mehr an den vielen Geschäftshäusern findet man Orientierung in der Vergänglichkeit des Tages. Man muß selbst eine Uhr besitzen. Dies wird als Normalität vorausgesetzt. So kommt es zu dem bedauerlichen Sachverhalt, daß wir alle zwar einen Zeitmesser, aber dafür keine Zeit mehr haben.
Wir sind -dies kann man bereits bei dem weitsichtigen Novalis nachlesen -„aus der Zeit der allgemein geltenden Formen heraus“. In dieser gegenwärtigen historischen Phase, die man meines Erachtens mit guten Gründen Postmoderne nennen kann, befreien wir uns von der zeitlichenOrientierung am mechanischen Weltbild des Uhrwerks und des regelmäßigen Taktes. Dafür werden Leitbilder des Nicht-Linearen, des Chaos, der Diskontinuität, der Zeitvielfalt für uns sinnbestimmend. Konkret heißt das, daß die Bindung an äußere Zeitgeber generell verringert wird, und zwar zugunsten individueller zeitlicher Orientierungsmaße. Diesem Sachverhalt haben die Wekker, von denen es mehr als Einwohner in unserer Republik gibt, ihren Siegeszug in die Schlafzimmer der Nation zu verdanken. Die Flexibilisierung der Arbeits-und der Lebensverhältnisse hat sie unverzichtbar gemacht. Wir erleben es heute mehrheitlich als Freiheitsgewinn, jeden Abend neu entscheiden zu können, wann man am nächsten Morgen das Bett verläßt. Dafür zahlen wir einen Preis. Die Entroutinisierung sozialer Zeitorientierung belastet uns mit zusätzlichem Entscheidungsstreß. Wer heute guten Gewissens aus dem Bett steigt oder dieses aufsucht, braucht ein Motiv. Das schlichte Naturereignis, daß die Sonne unter-oder aufgeht, reicht nicht mehr aus -nicht einmal mehr, um unsere Kinder von dem Spiel mit dem schnellsten Haustier, der Computermaus, loszureißen. Jahrtausendelang hat die untergehende Sonne der Menschheit den Weg in völlig unproblematischer Art und Weise ins Bett gewiesen, und die aufgehende Sonne hat sie dazu motiviert, es wieder zu verlassen. Die letzten 40 Jahre hat, wenigstens was den Beginn der Nachtruhe betraf, der Sendeschluß des Fernsehens diese Funktion übernommen, und jetzt, wo die Sender keinen Sendeschluß mehr kennen, müssen wir täglich neu entscheiden, wann wir uns zur Ruhe begeben. Die Orientierung an der Natur wurde von der des Taktes (des Sende-taktes) abgelöst und diese wiederum von der Notwendigkeit, das Zeitmaß der Orientierung selbst finden zu müssen.
Wird der Raum durch das Prinzip des „Überall“ lückenlos besetzt, so die Zeit durch die Pausenlosigkeit des „Immer“. Die Erfindung des elektrischen Lichtes hat die Nacht erleuchtet. Die wochentagsunabhängigen Supermärkte haben die Markttage, die ehemals die Wochen und Monate strukturierten, abgelöst. Die Veränderung der Ladenöffnungszeiten verführen zum Dauerkonsum. Die Freizeitindustrie und das Telebanking haben den Sonntag bereits seit längerem säkularisiert. Die beschleunigten Transportmöglichkeiten setzen die Jahreszeiten außer Kraft, und dies u. a. mit der Folge, daß Weihnachtsgeschenke das ganze Jahr über zum Verkauf angeboten werden und daß sich so mancher Tourist im Hochsommer „Stille Nacht, heilige Nacht“ von der Musik erbittet -warum auch nicht, wenn frischer Spargel auch im Dezember zu erwerben ist. Ständig, das scheint das Ideal zu sein, soll alles per Knopfdruck zur Verfügung stehen, unabhängig von Tageszeiten, von Wochentagen und Jahreszeiten, jederzeit fertig und abgelöst von der sozialen und der natürlichen Rhythmik des Lebendigen. Wir fangen nicht mehr an, wir hören nicht mehr auf, wir tun immer vieles zur gleichen Zeit und das dann möglichst rasch.
Dies alles wird als Fortschritt gefeiert, zumindest als solcher akzeptiert. Es ist zweifelsohne auch einer, da wir durch ihn u. a. von Hunger, Dunkelheit und erzwungener Seßhaftigkeit befreit wurden und weil er uns viele Möglichkeiten des Handelns eröffnete, die früheren Generationen verschlossen blieben. Aber diese Entwicklung zieht eine Schleppe von allerlei Mißliebigkeiten nach sich, die wir „Nebenfolgen“ zu benennen gelernt haben. Wir sind Nomaden zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen und verschiedenen Zeitmustern, die es gilt, mit relativ viel Zeitaufwand täglich, ja stündlich, zu koordinieren und zu balancieren. Das Problem, an dem wir alle in dieser verschärften Moderne laborieren, ist der Sachverhalt, daß die erwünschte zeitliche Flexibilität durch eine prinzipielle Vorgabe, also eine Meta-Ordnung, abgesichert werden muß; d. h., Flexibilität braucht ein orientierendes Maß, das stabil bleibt, also nicht flexibel ist. Die Natur, die Kirche, soziale und einflußreiche Menschen haben dies in der Vormoderne und in der Moderne bis in unser Jahrhundert hinein geleistet. Ihre Orientierungsfunktionen finden heute kaum mehr Anerkennung. Jaques Delors hat darauf aufmerksam gemacht, als er behauptete, nicht alle Deutschen glaubten an Gott, aber alle an die Bundesbank (und neuerdings an die Europäische Zentralbank). Wir leben in einer beschleunigt bewirtschafteten Zeit, d. h. in einer aufgeregten Zeit. Aber das Geld, mit dem wir unsere Entscheidungen über Zeit gerne koppeln, lädt uns das Problem des Maßes in verstärkter Art und Weise auf, es erlöst uns nicht von ihm. Geld kennt kein „genug“, es ist inhaltsleerer Tauschwert. Nur das, was ich mit dem Geld mache, kaufe, unternehme (das ist der Gebrauchswert), kann Kriterien für das „Genug“ abgeben. Wenn man aber die Gleichung „Zeit ist Geld“ aufstellt, dann gilt die Maßlosigkeit neben dem Geld auch für die Zeit. So kommt es, daß, völlig losgelöst von inhaltlichen Bestimmungen, in unserer Gesellschaft mehr Schnelligkeit, höhere Beschleunigung, gesteigerte Zeitgewinne für fast alle Lebensbereiche gefordert werden. Was mit der gewonnenen Zeit schließlich gemacht wird oder gemacht werden soll, steht nicht zur Debatte. So führt der Beschleunigungsdruck zu noch mehr Zeitsparanstrengungen. Denn die gewonnene Zeit wird dazu genutzt, noch mehr Zeit zu gewinnen. Es gibt bei dieser Spirale kein Ende, weil’s kein„Genug“ gibt -es sei denn das Ende aller Zeit, der Tod, setzt ihr ein gewaltsames. Dann ist’s wirklich genug. Ein führender Wirtschaftsmanager hat vor nicht allzu langer Zeit im „Spiegel“ behauptet: In Zukunft wird es nur noch zwei Arten von Unternehmen geben: die schnellen und die toten. Er hat dies als Mahnung verstanden, noch schneller zu werden. Vor lauter Schnelligkeit ist er nicht dazu gekommen, Schiller zu lesen. Der nämlich prophezeite: „Das langsamste Volk wird all’ die schnellen, flüchtigen, einholen.“ Schöne Aussichten!
Heute ist das Muster der rationalen Zeitbewirtschaftung in Turbulenzen geraten. Wir spüren, daß wir uns mit dem Gewinn an neuen, bisher ungeahnten Möglichkeiten auch immer neue Entscheidungsprobleme zusammenrasen. So kommt es zu dem lästigen Zustand, daß man immer mehr Zeit braucht, um mehr Zeit zu haben. Häufig ist unser Leben nur mehr eine fortwährende Ablenkung, die, wie Kafka das vorausahnend formulierte, „nicht einmal zur Besinnung darüber kommen läßt, wovon sie ablenkt“. Man sieht, auch dies ist ein Fortschritt, der bei näherem Hinsehen nur halb so groß ist, wie er auf den ersten Blick aussieht. Bestes Beispiel dafür ist der Computer. Er ist eine Zeitsparmaschine, die viel, sehr viel Zeit kostet. Die Idee des Fortschritts, nach der Europa zirka 250 Jahre gelebt hat, ist heute erschüttert. Wir wissen: Morgen geht gestern nicht weiter. Aber wir wissen nicht: Wie soll’s weitergehen? Alle leben wir heute auf eigene Gefahr.
Orientierung ist notwendig. Zunehmend wird dieser Bedarf auch angemeldet. Die Enttraditionalisierung, d. h. die Ablösung von sozial verbindlichen Zeitvorgaben, belastet die Individuen mit zeitaufwendigen Koordinations-und Integrationsaufgaben. Der Fremdzwang wird zum Selbst-zwang. Die Abhängigkeiten von der Zeit sind letztlich nicht weniger, sie sind nur anders geworden. Der Ertrag eines Bauern hängt heute nicht mehr von seiner Arbeitsleistung, auch nur mehr in geringem Maße von der Fruchtbarkeit des Bodens ab, er wird von den Manipulationen an den Warenterminbörsen bestimmt. Weit mehr Angst als vor einem Crash durch ein Erdbeben haben wir vor dem an den Finanzmärkten.
Mit Hilfe von Zeitmanagementseminaren, durch Zeitplanbücher und Terminkalender, jetzt auch in elektronischer Ausführung, werden Orte und Zeiten gesucht, in und an denen man verweilen kann, die dem raschen Veränderungsprozeß entzogen sind. Und trotzdem kommen wir vor lauter Schnelligkeit immer häufiger zu spät. Die Unsicherheiten nehmen überall zu, die Orientierungsprobleme wachsen, Selbstüberforderungssymptome werden allerorten offensichtlich. Befreit von Zeitzwängen landen wir schließlich bei anderen Zeitzwängen. Alle müssen wir -auch wenn wir nicht wollen -zu Zeitexperten werden. Dieser Text will seinen Teil dazu beitragen.
Wir versuchen, durchs Denken über Zeit und durchs Organisieren der Zeit aus den Zwängen der Zeit herauszükommen. Das wird nicht gelingen. Denn das Denken über Zeit und das Organisieren von Zeit ist seinerseits infiziert von jener Zeithetze, der wir eben damit zu entfliehen versuchen. Indem wir die Zeit analysieren und organisieren, treiben wir die Zeit und uns voran. Unser modernes Zeitverständnis löst uns nicht von der Herrschaft der Zeit, sondern vollstreckt eben diese Herrschaft, die manchmal zur Tyrannei wird. Darauf machte bereits Goethe aufmerksam, der in seinen „Maximen und Reflexionen“ mahnte: „Mit Ungeduld bestraft sich zehnfach Ungeduld; man will das Ziel heranzieh’n und entfernt es nur.“
Wenn das, was gilt, nur auf Zeit gilt, herrscht die Zeit über alles, was gilt, denn alles wird veränderbar und letztlich unhaltbar. Der Entwertungsprozeß von Traditionen, von Weltanschauungen liefert uns alle an den Fundamentalismus der steten Veränderung aus. Hat man einmal mit Veränderungen angefangen, lassen sich diese auch beschleunigen. Die Philosophie der postmodern gewordenen Industriegesellschaft heißt: „Es gibt keine feste Wahrheit mehr, sondern nur eine, die permanent, und dies immer rascher, unterwegs ist.“ Der Irrtum liegt jedoch darin, daß eben diese Überzeugung eine feste Wahrheit voraussetzt -nämlich die steter Bewegung und rascher Veränderungen, letztlich also die des Handels mit Zeit. Nur die Heiligung der Zeit, d. h. die Stillstellung der permanenten Bewegung, erlöst uns von der Zeit, von Zeitdruck und dem Gefühl, etwas zu verpassen. Man muß das Zeitliche -um von dessen Tyrannei erlöst zu werden -bereits zu Lebzeiten segnen. „Denn das gerechte Leben“, so eine Weisheit Epikurs, „ist von Unruhe am freisten. Das ungerechte aber ist voll von jeglicher Unruhe.“ Während wir uns mehrheitlich immerzu damit beschäftigen, noch schneller zu werden, sind die Langsamen vielleicht schon am Ziel, an dem die Schnellen immer wieder vorbeilaufen, so wie jene, die, weil sie sich verirrt haben, ihre Schrittgeschwindigkeit erhöhen und dabei häufig tiefer in jenen Wald hineingeraten, aus dem zu fliehen sie versuchen.