I. Einleitung
Die Schlußfolgerung einer Untersuchung zur amerikanischen Außenpolitik mag für manche schokkierend wirken: „Die europäische Einigung war nicht das Ziel, sondern das Ergebnis der containment-Politik.“ Die europäische Integration, d. h. die Außerkraftsetzung innereuropäischer Gegensätze, hatte im beginnenden Kalten Krieg, in der globalen Perspektive der Seemacht USA, eine instrumentell-strategische Funktion als Bollwerk gegenüber einer siegreichen, sich bis nach Berlin erstreckenden totalitären Macht gehabt. Natürlich gab es auch in den USA vehemente Befürworter der Einigung Europas aus normativen Gründen, wie es in Europa bekanntlich namhafte Politiker waren, die das Einigungswerk in Gang setzten und es aus historischen Gründen beförderten. Allerdings existierten diese Politiken und Politiker auch schon in den zwanziger Jahren. Damals, sagte man zu Recht, war die Zeit dafür nicht reif. Aber noch wichtiger ist, daß das westeuropäische Projekt nach wie vor nicht aus sich selbst heraus gedieh, nicht nur entlang der deutsch-französischen Annäherungs-und Freundschaftspolitik gestaltbar war, sondern es entwickelte sich, weil dieses westeuropäische Randgebiet weltpolitisch wichtig ist, es zum Einflußbereich der amerikanischen Global-strategie gehört. Deshalb bot sich die europäische Einigung als notwendiges Befriedungsinstrument der westlichen eurasischen Randzone an.
Das ökonomische Florieren der europäischen Integration -nicht zu vergessen: angestoßen durch den Marshall-Plan -ist eine Erfolgsstory geworden, deren Philosophie des „immer engeren Zusammenschlusses“ innereuropäisch immer mehr die Finalitätsfrage aufwerfen dürfte, das heißt also, ob etwa gesamteuropäisch ein Zentralstaat am Ende des Integrationsprozesses entstehen soll. Aus der Erfolgsgeschichte wachsen aber auch Probleme, insofern sich Europa als Währungsraum zu einem Konkurrenten der USA entwickelt und damit zu einer Belastung innerhalb der nordatlantischen Beziehungen.
II. Geoökonomische Distanzierung Europas von den USA?
Heute wie vor 50 Jahren ist die europäische Integration keinesfalls nur eurozentrisch zu verstehen, sondern allein in einem globalen Kontext, der in Europa und besonders in Deutschland gerne ignoriert wird. Zugespitzt lautet deshalb die These, daß wichtiger, als die normative Sinnhaftigkeit der europäischen Integration aus europäischer Sicht die US-interessenbestimmte Unterstützung der Entstehung der westeuropäischen Integration Gewicht hatte. Und diese realistische Analyse der Genese des westeuropäischen Projekts kommt nun mit der Entstehung des „Eurolandes“ vollends wieder zum Tragen, darstellbar etwa über die hier zentral aufgeworfene, berechtigte Frage, ob nicht europäisch-amerikanische Interessenunterschiede wegen der möglichen geoökonomischen Distanzierung Europas („Euroland“) von den USA durch die Einführung des Euro zunehmen könnten. Deutscherseits bestünde an dieser Distanzierung kein Interesse, sie wäre auch nicht intendiert gewesen -was immer und wie deutlich sich Paris seinerseits äußert. Jedenfalls stünde sie in einem eklatanten Widerspruch zur geostrategischen, transatlantischen Allianz, und letztlich entstünde daraus auch eine Belastung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, dem Deutschland (West) seine Anerkennung im Nachkriegseuropa verdankt und noch mehr die entscheidende Absicherung des Wiedervereinigungsprozesses von 1989/90. Im deutschen Interesse liegt deshalb die fortdauernde Präsenz der USA in Europa -eine besondere geopolitische und neue Situation für den Kontinent um damit nicht mehr mit Frankreich und England allein (gelassen) zu sein. Die geostrategisch bewährte Freundschaft hat Deutschland zur Einheit verhelfen, denn die USA brauchen den Kern Europas als Ruhepol -und nicht etwa ein Deutschland, das zwischen Ost und West changiert. Zugleich mag die bewährte Allianz im Interesse Frankreichs und Englands liegen, weil die Macht in der Mitte des Kontinents in Bündnisverpflichtungen eingebunden ist. Deutschland ist als geographisch vorgegebene Macht in der Mitte wie als Mittelmacht daran interessiert, zu Rußland gute Beziehungen zu pflegen und das Land vor einer Isolierung zu bewahren An der Westbindung Deutschlands besteht parteiübergreifend dennoch kein Zweifel. Jedenfalls war nur auf ihrer Grundlage und über die Präsenz der Amerikaner die Wiedervereinigung möglich.
III. Die geopolitische, geoökonomische und geostrategische Tradition in den USA
Die amerikanische geographische Lage zwischen dem pazifischen und atlantischen Ozean liefert wie im seelenverwandten England heute wie damals Gründe, über Land und Meer bzw. Land-und Seemächte nachzudenken. Erneut ist die Renaissance geopolitischer Analysen festzustellen, insbesondere entlang angloamerikanischer Traditionen. Längst gibt es eine neue Strategie der „balance of power“ auf der Weltebene Es stellt sich nun die Frage, welche Rolle das „Euroland“ spielen wird. Verselbständigt sich Europa? Wird das „Euro-land“ zur Gefahr für die Dollar-Währungszone? Doch zunächst stellten sich klassisch-geopolitische Themen. Der britische Geograph Haiford Mackinder vertrat die sogenannte Herzlandtheorie, nach der der eurasische Festlandsraum der Dreh-und Angelpunkt des Weltgeschehens sei. Skandinavien, Westeuropa, der nordafrikanische Raum, der Nahe Osten und Ostasien mit Indien und China bildeten den „inner or marginal crescent“, den outer crescent dagegen (zufällig?) die englischsprachigen Länder Großbritannien, Kanada, USA, Südafrika, Australien, aber auch Japan. Das eurasische „world Island“ beherrsche die Welt. Die Weltgeschichte spiele sich im Kampf zwischen heartland und marginal crescent ab bzw. zwischen der eurasischen Landmacht und der die breite
Küstenregion beherrschenden Seemacht; zwischen ihnen könne eine „balance of power“ bestehen, aber auch eine Hegemonie. Zuvor hatte bereits der amerikanische Admiral Alfred Thayer Mahan die Bedeutung der Seemächte hervorgehoben, und zwar im engeren Sinne als überlegene Kriegsflotten, vor allem aber als Mächte, die Überseehandel mit dem Erwerb von Stützpunkten und entsprechend weitläufigen, seegestützten Kontrollen von Weltrouten und Küstenstreifen verbanden. Man könnte sagen, daß die USA bis heute navalistisch geblieben sind. Mehr noch, diese Seemachtspolitik ist heute auch dafür verantwortlich, daß der Globalisierungsprozeß abgesichert werden kann. Die weltweite Präsenz der USA in der Tradition des britischen und später des amerikanischen Stützpunktdenkens sichert den globalen Kapitalismus, ja macht ihn überhaupt erst möglich.
Mahans expansionistisches Denken war mit der Empfehlung zur Bildung von Kolonien, Überseemärkten und Handelsflotten klar in den britischen, imperialen Traditionen eingebettet. Er dachte in der Tradition von Seemächten: „In any Operation, under all circumstances, a decisive naval superiority is to be considered as a fundamental principle, and the basis upon which every hope of success must ultimately depend.“ Die Mahanschen Schriften und Reflexionen im 20. Jahrhundert können hier nicht nachgezeichnet werden, zumal Imperialismus, Internationalismus und Interventionismus in den USA sich ablösten und liberale weltpolitische Auffassungen von der amerikanischen Mission bezüglich Demokratie und Menschenrechten hinzutraten. Immerhin sind damit im Kern diejenigen Zusammenhänge offengelegt, die die Außenpolitik bzw. die Global-und Weltpolitik der USA im gesamten 20. Jahrhundert charakterisieren -eine Logik, aus der sich der Zusammenhang von Geopolitik, Geostrategie und Geoökonomie ergibt. Die Erde oder der Globus werden zum Entfaltungsraum einer Supermacht (Geopolitik), die zur Absicherung ihrer Interessen sich globaler, politikstrategischer Politiken bedienen muß (Geostrategie) und die dafür erforderlichen ökonomischen Grundlagen, z. B.den freien Zugang zu sogenannten strategischen Rohstoffen, offenhalten will. Deshalb bedurfte es schon länger dieser globalen Geoökonomie, aus der heraus erst der erwähnte globale Kapitalismus der vergangenen zwei Jahrzehnte hat entstehen können. Stefan Fröhlich weist auf einen Satz Mackinders von 1919 hin, wonach die Welt als ein „closed political System“ aufzufassen sei, wo „every explosion of social forces, instead of being dissipated in a surrounding circuit of unknown space and barbaric chaos, will be sharply reechoed from the far side of the globe, and weak elements in the political and economic organism of the world will be shattered in consequence“ Der in Deutschland erst seit einigen Jahren auftretende Eindruck, durch Globalisierung würden Entfernungen an Bedeutung verlieren, es entstünde das berühmte „global village“, stellt sich für Staaten mit Seebezug anders dar. Die insulare geopolitische Lage z. B. Großbritanniens, der USA oder Japans fordert geradezu zur Artikulation globaler Interessen heraus, um den insularen Raum unabhängig von gegenüberliegenden Meeresküsten abzusichern. Daß deshalb die Geopolitik in den USA sich in der Tradition von Mahan, Mackinder und vieler anderer selbständig entwickelt, in den amerikanischen Internationalen Beziehungen der Politikwissenschaftler beachtet wird und in der amerikanischen Geostrategie der Streitkräfte ihren Niederschlag findet, versteht sich von selbst. Aus dieser Konstellation heraus entstand das Interesse am westeuropäischen Integrationismus unter dem Dach der NATO -und stets unterstützt von amerikanischem Kapital.
IV. Modernere Ansätze der Geopolitik
Die hiermit skizzenhaft aufgezeigte Folie zur amerikanischen Seemachtentwicklung und ihrer weltpolitischen Interessenwahrnehmung entlang geopolitischer Denkansätze offenbart eine andere Sichtweise auf die europäische Agenda. Um Mißverständnisse auszuschließen, sei angemerkt, daß die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht auf die Position West-Deutschlands als eines amerikanischen Brückenkopfs auf dem Festland reduziert werden können. „Was der amerikanische Sieger anzubieten hatte -den liberalen Rechtsstaat, die offene Gesellschaft, die dezentrale Machtverteilung, die freie Wirtschaft -, wurde von den Westdeutschen geradezu begierig aufgesogen und viel erfolgreicher verinnerlicht als in den traditionsgebundenen Gesellschaften Englands oder Frankreichs. Gewiß: Die demokratische Moderne kam auf den Panzerketten der U. S. Army daher, aber sie wurde von den Besiegten sehr rasch als Geschenk be-und ergriffen ... Die Amerikaner brachten Startkapital, Sicherheit und offene Märkte in die Partnerschaft ein: als strategisches Glacis, als getreue Verbündete, die den größten europäischen Beitrag zum Nordatlantikpakt (NATO) lieferten.“
Natürlich spielte das geopolitische Denken auch in der Phase des Ost-West-Gegensatzes eine Rolle, ging es ja gerade um die jeweiligen ideologisch entgegengesetzten und besetzten Räume. Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski z. B. haben sich mit entsprechenden Äußerungen einen Namen gemacht. Letzterer hat in den neunziger Jahren eine Studie vorgelegt in der er die gesamte Welt und alle geostrategisch wichtigen Staaten durchdiskutiert -manchmal in einem etwas zu selbstbewußt vorgetragenen Tonfall und anscheinend im Bewußtsein, sozusagen nachrömisch wieder eine imperiale Macht global repräsentieren zu können. Über das eurasische „Spielfeld“ sagt Brzezinski, daß dies der Ort sei, wo Amerika „irgendwann ein potentieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen könnte“ Brzezinski unterstützt ohne Zweifel und mit Nachdruck die europäische Integrationsbewegungv identifiziert aber bei einem der „geostrategischen Akteure“ -Frankreich -dennoch ein eigenes geostrategisches Konzept, „das sich in einigen wesentlichen Punkten von den Vorstellungen der Vereinigten Staaten unterscheidet“. Frankreich neige „zu taktischen Schachzügen, mit denen es Rußland gegen Amerika und Großbritannien gegen Deutschland auszuspielen versucht, obwohl es auf die deutsch-französische Partnerschaft angewiesen ist, um die vergleichsweise schwache Position auszugleichen“ Frankreichs geostrategisches Interesse sei unübersehbar auf eine stärkere Rolle Europas gegenüber den USA ausgerichtet, ohne deshalb antiamerikanisch sein zu müssen.
V. Die euro-französische Sonderrolle
Die eigenständige Politik Frankreichs kann nicht dazu führen, das geostrategische Interesse der USA an Europa und damit am eurasischen Kontinent oder Küstenstreifen zu schwächen, zumal rund ein Fünftel des amerikanischen Handels mit dieser Randzone abgewickelt wird. Noch viel stärker ist das neue Rußland mit den EU-Staaten geoökonomisch verknüpft; 40 Prozent seines Außen-handelsumsatzes erzielt es mit der EU, der GUS-Anteil schrumpfte auf 20 Prozent Die geoökonomische Interdependenz West-und Osteuropas hat also ansatzweise begonnen und ist für alle Beteiligten von Interesse. Sie macht deutlich, daß hier ein gemeinsamer Wirtschaftsraum Kontur erhält.
Frankreichs Interesse läuft darauf hinaus, daß die EU auf allen Gebieten ein „wichtiger Handlungsträger des 21. Jahrhunderts wird“, wie Staatspräsident Chirac am 26. August 1998 anläßlich der Konferenz der französischen Botschafter in Paris erklärte und zwar deshalb, „weil... Europa entscheidend zum Gleichgewicht der Welt beitragen muß. Weil ein auf der internationalen Bühne starkes Europa für Frankreich das beste Mittel ist, um seinen Einfluß zu wahren und seine Interessen in einer globalisierten Welt zu vertreten.“ Frankreich wolle die „unabwendbare Entwicklung einer multipolaren Welt“ fördern. Der Euro verhelfe Frankreich wieder zu einer -mit anderen Ländern geteilten -monetären Souveränität. Er verhelfe Europa, Amerika gegenüber auf dem wichtigen Gebiet der Währung ebenbürtig zu sein. Ebenbürtigkeit ist kein unstatthaftes Ziel, aber der ehemalige Präsidentenberater Henry Kissinger äußert doch Bedenken, wenn der französische Standpunkt allzu instrumenteilen Charakter erhält: Wenn Europa „absichtlich eine Politik betreibt, die darauf hinausläuft, sich selbst durch einen Standpunkt gegenüber den Vereinigten Staaten zu definieren, dann wird es gefährlich, und ich höre so etwas zu oft von Franzosen, die in der politischen Verantwortung stehen“
Wenn man die Einführung des Euro einmal als Kompensation für die Zustimmung Frankreichs zur Wiedervereinigung ansieht -was ein zeitgeschichtlich durchaus legitimer Interpretationsansatz ist -, also von ökonomischen Erklärungen und Begründungen absieht, aus denen heraus der Euro gefördert wurde, so wird auch in der Währungspolitik ein politischer Mehrwert entdeckt, daß also die Einführung der europäischen Währung, wie das Chirac-Zitat zeigt, auch dazu dient, eine politische Gegenposition aufzubauen. Deutschland wurde eingebunden; den USA gegenüber konnte eine neue bipolare Eigenständigkeit demonstriert werden -die klassische Ausgangslage für eine räumlich, ökonomisch und strategisch gegenüber den USA latent oppositionelle Rolle nach der bipolaren Epoche bis 1989, wenn auch diesmal und bisher nur währungspolitisch angelegt Aber allein schon die bipolare Intention, innerhalb eines Freundschaftsbündnisses artikuliert, wird politische Kosten verursachen.
Chirac spricht jedoch von einer multipolaren Welt. Damit hat Frankreich eine Konzeption aufgegriffen, die auch die postsowjetische Außenpolitik bestimmt, um der verbliebenen einzigen Super-macht USA von Moskau aus zu zeigen, daß sie nicht, wie sie es immer wieder zum Ausdruck bringt, die einzige Weltmacht sei. Paris argumentiert hier (wie schon öfter in der Geschichte des 20. Jahrhunderts) wie Moskau und neuerdings auch wie Peking. Die Betonung liegt jeweils auf einer Äquidistanz gegenüber den USA. Natürlich kann der Pariser Anspruch, selbst einer der Pole zu sein in der multipolaren Welt französischerseits allein nicht erfüllt werden. Die Diplomatie Frankreichs -immerhin die zweitgrößte auf der Welt -ist gefordert, um u. a. auch die deutsch-französische Partnerschaft für dieses Unterfangen zu mobilisieren oder um im Weltsicherheitsrat entsprechend abzustimmen woraus jeweils der besondere Rang Frankreichs in der Welt -via Europa, wenn es sein muß -unterstrichen wird. Der Euro unterfüttert, wenn er gelingt, dieses multipolare Denken. Aus ihm entwickeln sich regionale Einflußräume. Peking denkt jedenfalls so, Moskau nicht weniger mit Bezug auf das nahe Ausland, und in Paris gibt es -abgesehen von den viel zurückhaltenderen Äußerungen der Politiker -auch geopolitische Schulen, die eine „Achse Wien-Budapest“, eine „baltische Föderation“, eine „Balkan-Föderation“ lieber heute als morgen verwirklicht sehen würden, um Gegengewichte gegenüber dem „deutschen Block“ zu haben und um „sich von der amerikanischen Vormundschaft zu emanzipieren“ So ließe sich aus französischer Sicht ein erweitertes Europa zum Nutzen Frankreichs entwickeln. Dieser „politische Voluntarismus“ (G. Nonnenmacher) mag illusorisch sein, aber er ist Teil der französischen diplomatischen Aktivitäten.
Der Atlantizismus jedenfalls, in dessen Rahmen deutscherseits gedacht wird, bedarf keiner Multi-polarität, da er nicht polar, sondern kooperativ-partnerschaftlich angelegt ist. Deshalb ist das euro-amerikanische Verhältnis seiner Konstruktion nach gerade kein bipolares und soll es nicht werden, sehr wohl aber aus französischer Sicht der viel stärkeren Betonung der europäischen (Op-) Position. Den Kernpunkt einer potentiellen Bruch-linie -einer analytisch benennbaren, nicht einer schon aufgetretenen -stellt deshalb die Definition der weltpolitischen Lage als multipolare dar. Sie hat Indikatorwert, so unscheinbar und deskriptiv der Begriff auch sein mag Die diplomatisch-politisch-strategische Umsetzung dieses Postulats gaullistischer Tradition widerspräche aber, jedenfalls als außenpolitische Grundlage, der deutschen Politik, dem Atlantizismus. Sofern und falls also mit der Einführung des Euro währungspolitisch die Multipolaritätsthese untermauert wird -und es wäre abwegig, dies zu bestreiten -, muß mit der Einführung des Euro von Anfang an auf dieses Konfliktpotential hingewiesen werden. Dem deutsch-französischen Tandem in der EU können realistische Hinweise dieser Art nur zuträglich sein. Es wäre unredlich, die atlantische Richtungsentscheidung der deutschen Außenpolitik nach dem Krieg im aktuellen währungspolitischen und ökonomischen Themenspektrum der vermeintlich nur innereuropäischen Angelegenheiten nicht anzusprechen.
Tatsächlich entsteht durch den europäischen Währungsraum eine noch stärkere Asymmetrie zwischen dem wirtschaftlichen Potential der EU und ihren schwachen sicherheitspolitischen Fähigkeiten -ein Defizit, das die USA immer noch bzw. immer wieder ausgleichen müssen, womit sie weiterhin die Risiken der atlantischen Sicherheitskonstruktion tragen Die währungspolitische Verselbständigung Europas stellt den Kontinent -jedenfalls der Intention nach -wirtschaftlich besser, und zwar womöglich langfristig zu Lasten der amerikanischen Währung, was wiederum die Sicherheitsarchitektur bzw. die beschriebenen geo-politischen Verknüpfungen von geostrategischer Sicherheitsgarantie (Kosovo u. a. m.) und geoökonomischen Separierungstendenzen im gemeinsamen geopolitisch-atlantischen Raum belasten könnte.
Gefördert wird diese Entwicklungstendenz durch außenpolitische Beratungen, die der gegenwärtigen deutschen Regierung entgegenkommen dürften. In ihnen wird eine europäische „Wcltpolitik“ formuliert, die „defensiv“ sein, „auf sanfter Macht“ und „nur im äußersten Notfall auch auf militärischer Gewalt“ beruhen solle Der Gewalt-begriff dürfte sich in der Realität insbesondere gegen die Interventionspraxis der USA richten, die bei diesen Interventionen durchaus auch geoökonomische Interessenwahrnehmung betreiben (Golfkrieg) und realpolitisch strategische Energie-ressourcen abzusichern gedenken -im Zweifel auch unabhängig von Zustimmungsvorbehalten Moskaus oder Pekings. Ansonsten wäre die einzige verbliebene Supermacht nur Mandatar der Vereinten Nationen -und als solche muß sie sich nicht verstehen, auch völkerrechtlich nicht.
VI. Dilemma
Die USA stehen vor einem Dilemma: Sie müssen den europäischen Einigungsprozeß fördern. Ein Rückfall in alte europäische, nationalstaatlich-isolierte Gegensätzlichkeiten und Scharmützel würde die globale Politik der USA erheblich beeinträchtigen. Zugleich können sie sich aber nicht in die Interna des Einigungsprozesses einmischen. Die strittige Frage bei allen Konzeptionalisierungen ist stets der Grad der Einheit und Einigung Europas, derzeit diskutiert unter dem Rubrum „Vertiefung“ oder mit der Frage formuliert: Wieviel national-staatliche Vielfalt verträgt die EU?
Von einem internationalistischen Ansatz kann bei den sozialdemokratischen Regierungen Europas trotz der Euro-Einführung nicht gesprochen wer-den Mithin ist auch für die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte davon auszugehen, daß ein bundesstaatliches Europa nicht entsteht. Zugleich aber wird eine erweiterte Union und NATO hohe Integrationskapazitäten und der Euro zugleich die Aufmerksamkeit binden. Es wird vom Erfolg, d. h.der Stabilität des Euro abhängen ob er die transatlantischen Beziehungen belastet oder nicht. Im schlimmsten Fall wären die Europäer ganz mit sich beschäftigt und nicht in der Lage, im eurasischen Raum partnerschaftlich mit den Amerikanern zu agieren. Im Euro-Erfolgsfall träten womöglich Belastungen für den US-Dollar auf
VII. Alternativen
In dieser Situation bieten sich Lösungen an, die schon vor Jahren diskutiert wurden Sie haben den Sinn, die Geschäftsgrundlage der transatlantischen Beziehungen zu erneuern, vor allem nach nicht ausschließbaren währungspolitischen Turbulenzen. Einmal ist von einem geoökonomisch sinnvollen, die nördliche Hemisphäre verdichtenden gemeinsamen transatlantischen Markt die Rede, von dem erwartet werden könnte, daß er einen Wachstums-schub für die Weltwirtschaft auslösen würde. Dabei ist dann auch eine Entscheidung nötig, wie währungspolitisch kooperiert werden kann, ob es z. B. ein Wechselkursbündnis geben muß, was ja bereits im Rahmen der Globalisierungsdebatte diskutiert wurde. Jedenfalls bedarf es der Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft, nicht multilateraler oder gar multipolarer Anläufe, die zur Distanzierung von den USA führen. Partnerschaft ist das passende Stichwort, von dem amerikanischerseits auch immer wieder gesprochen wird, so z. B.der Abteilungsleiter im US-Außenministerium, Marc Grossmann, am 1. Oktober 1998 vor dem World Council in Houston: „Die Vereinigten Staaten sind die einzige verbliebene Supermacht der Welt. Aber wir können und sollten nicht alleine handeln, wenn es um die Verteidigung der gemeinsamen Werte und Interessen des Westens geht. In der heutigen, zunehmend interdependenten Welt brauchen wir solide, verläßliche und effektive Partner zur Erlangung unserer außenpolitischen Ziele ... Der Kalte Krieg ist zwar vorbei, die Notwendigkeit einer Partnerschaft und eines Bündnisses mit Europa besteht jedoch fort. Heute ist unser Schicksal nicht weniger eng verbunden als vor 50 Jahren. Wenn Europa in Frieden lebt, ist Amerika sicherer. Wenn es Europa gut geht, geht es auch Amerika gut. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat beide Seiten des Atlantiks gelehrt, daß wir eine Partnerschaft benötigen, in der Europa auf uns zählen kann und wir auf Europa. Diese Lektion müssen wir für das 21. Jahrhundert ebenfalls lernen.“
Zweitens müßte das geostrategische Konzept der Osterweitenmg der einzig verläßlichen Sicherheitsstruktur, der NATO, umgesetzt werden. Dabei ist insbesondere Rußland zu beachten und durch neue Formen der Hilfen zu integrieren. Seine Vision, einen geopolitischen Beitrag im eurasischen Raum zu leisten, benötigt teilnehmende Unterstützung. Die nördliche Hemisphäre kann nur über Rußland räumlich und staatlich konsolidiert werden. Ein zerfallendes Rußland kann sich die Welt nicht auch noch leisten. Das eurasische Festland wie seine Küsten haben nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes noch nicht zu einer festen Ordnung gefunden. Im übrigen ist die räumliche Entwicklung Chinas offen, wenn man daran denkt, daß ein nicht auszuschließendes postsozialistisches China neue Entwicklungskräfte freisetzen würde
Schließlich müßte die EU beginnen, sich im Erweiterungsprozeß auch endlich der ungelösten und aufgeschobenen Finalitätsdiskussion des europäischen Integrationsprozesses zu stellen -zu welchem Ende bzw.organisatorischem Ziel der „immer engere“ Zusammenschluß führt, da sonst die über Jahrzehnte geweckten Erwartungen des Integrationi^mus sich gegen die EU richten, weil der Zusammenschluß bei allen Gipfelkonferenzen des Europäischen Rates von den Medien eigenmächtig jeweils als zu wenig zielführend kritisiert wird. Deshalb ist viel Realismus erforderlich Wenig Realismus (im Sinne einer Universalisierbarkeit) kennzeichneten die konservativen britischen Europapositionen Thatchers und Majors, die zwar im Ton der Verallgemeinerbarkeit vorgetragen worden waren, in der politischen Praxis aber wohl nur den britischen Standpunkt beschreiben sollten, nicht jedoch eine gesamteuropäische Vision mittrugen, für die auf dem Kontinent hätte geworben werden müssen. Die Thatcherschen antideutschen Ressentiments verhinderten vielmehr diese Sicht mit der Folge der Selbstisolierung des Vereinigten Königreiches. So wurde den britischen Argumenten wenig Aufmerksamkeit zuteil. Der Konservative Leon Brittan hatte 1995 noch sehr bedenkenswerte Vorschläge unterbreitet, wie die Handlungsfähigkeit der EU zu bewahren sein würde Brittan hatte zur Handlungsfähigkeit der EU-Kommission die Bildung von Voll-und Junior-kommissaren vorgeschlagen. Auch bedürfte es seiner Ansicht nach zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten eines „Ausschusses der Parlamente“, in welchem Mitglieder sämtlicher nationaler Parlamente vertreten sein würden, wodurch mehr Bürgernähe und Verantwortlichkeit der Parlamentarier entstehen könnte. Der national gewählte Abgeordnete könnte über die Delegation in den Ausschuß europapolitisch mitentscheiden. Diese Überlegungen fanden damals wenig Beachtung, werden aber vielleicht wieder interessant, wenn die Osterweiterung der EU praktisch umgesetzt werden muß. Im Konzert eines sozialdemokratischen Europa wird es erneut auf den britischen Standpunkt insofern ankommen, als Großbritannien den transatlantischen Brückenschlag am vorbehaltlosesten verteidigt (und noch nicht in die Euro-Vision eingebunden ist), seinerseits also die hier entwickelte Trias aus Geopolitik, -Ökonomie und -Strategie mit-trägt. Der neue europäische Währungsraum muß in dieser Kaumqualität Gegenstand der Untersuchung werden.
Das „Euroland“ dürfte in vielerlei Hinsicht das Aktivitätsspektrum seiner Politiker absorbieren, obgleich eine größere weltpolitische Aufmerksamkeit Europas dringend erforderlich wäre, um den Globalisierungsprozeß sinnvoll zu bewältigen Auch hier wird die Erwartung geweckt, daß Amerika diese Aufgabe schultert. Niemand kann sagen, wie sich der Euro weiter entwickeln, wie er aufgenommen und wie er sich stabilitätspolitisch behaupten wird Doch die Kehrseite der Euro-Medaille dürfte zunächst jedenfalls die latente Strapazierung der atlantischen Beziehungen sein. Der Euro hat auch seinen politischen Preis. Deshalb müßte zu einem realpolitischen Konzept der EU gehören, daß sie ein längerfristig angelegtes Nach-Euro-Szenario entwikkelt und für den Fall der Fälle bereithält getreu dem Satz von Kardinal de Bernis: „Man muß mit allem rechnen, darf aber nicht alles befürchten.“ Niemand kann wollen, den einmal beschlossenen Euro kurzfristig zur Disposition zu stellen. Andererseits ist die europäische Integration so wertvoll, daß sie nicht für alle Zeiten irreversibel von Turbulenzen eines Währungsprojektes abhängig gemacht werden darf. Im Zweifel wäre es wichtiger, den transatlantischen Zusammenhang zu pflegen. Im übrigen sollten die wieder von Berlin aus regierenden Deutschen ihrerseits nicht eine multipolare Weltordnung betreiben Deutschland (West) war über fünf Jahrzehnte an der Seite der USA bestens aufgehoben. Dieses Vertrauenskapital bildet nach wie vor die wichtigste Währung der Deutschen.