I. Die DDR-Jugend im Arbeitsprozeß Eine Forschungslücke
Im Mitte 1998 veröffentlichten Schlußbericht der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages war ein Abschnitt der Jugend der DDR gewidmet. Im Bericht wird vor allem auf staatliche Formen der Jugendkultur eingegangen und hervorgehoben, daß die Jugendpolitik der SED „insgesamt dazu dienen sollte, die Bindung der Jugend an den SED-Staat zu vertiefen, insbesondere aber ihre Wehrbereitschaft und Arbeitsmoral ständig zu verbessern“ Wie die Wehrerziehung und in welchen Formen sich Sport-und Freizeitaktivitäten vollzogen, darauf wird im Bericht näher eingegangen Wie jedoch die „ständige Verbesserung der Arbeitsmoral“ erreicht werden sollte, läßt der Schlußbericht offen. Wenn in ihm von „Jugendarbeit“ die Rede ist, dann ist damit nicht, das Arbeitsleben der Jugendlichen gemeint, sondern wiederum die Jugendpolitik. Damit bleibt die Sphäre, in der einige hunderttausend berufstätige Jugendliche den größten Teil ihres Tages verbrachten, außer Betracht. Was im Schlußbericht als ausgesprochenes Manko erscheint, kann verschiedene Ursachen haben. Eine davon könnte unzureichendes Wissen über diese Materie sein. Denn zur Entwicklung jugendlicher Berufstätiger -speziell zur Arbeiterjugend der DDR -sind seit der Wende nur relativ sparsame Aussagen im Zusammenhang mit der Behandlung der „Massenorganisation FDJ“ bzw.der Berufsbildungspolitik im Sinne von „Jugendpolitik im Betrieb“ gemacht worden
Dieser Beitrag kann die Forschungslücke nicht schließen, will aber am Beispiel der Jugendbrigaden zeigen, daß die berufstätigen Jugendlichen neben Oberschülern, Studenten und Lehrlingen durchaus ein Thema von Bedeutung für die Erforschung der DDR-Geschichte sind. Im Mittelpunkt dieses Beitrages stehen die Entwicklung und die Alltagsprobleme der Jugendbrigaden selbst, auch wenn der „Jugendarbeit“ von FDJ (Freie Deutsche Jugend), FDGB (Freier Deutscher Gewerk schaftsbund) und Betriebsleitung mit den Jungarbeitern zwischen 18 und 25 Jahren der notwendige Platz eingeräumt wird.
Literatur zur Geschichte der Jugendbrigaden steht bis heute kaum zur Verfügung, wenn auch „hervorragende Jugendbrigaden“ in den Betriebs-geschichten, die zur DDR-Zeit entstanden, immer wieder gern mit ihren „Initiativen“ genannt wurden. Für die Betriebsarchive kann der Autor nur bestätigen, was bereits Peter Hübner über das Chemiewerk Schwarzheide schrieb: „Es dürfte nicht ganz unsymptomatisch sein, wenn die Akten-lage zum Wirken der FDJ im Werk . . .sehr dürftig erscheint. Mit dem Übergang von Jugendlichen ins Berufsleben trat in der Regel ein Rückzug aus der FDJ-Mitgliedschaft ein. Das wirkte sich unmittelbar auf die Tätigkeit des Verbandes in den Betrieben aus. Auch dürfte die bei aller Verbürokratisierung des FDJ-Apparates an der Basis wenig professionelle Administration ihre Spuren in Form einer schlechten Quellenüberlieferung hinterlassen haben.“ Brigadetagebücher haben Jugendliche offensichtlich viel weniger angelegt als die Brigaden „älterer Werktätiger“, so daß auch diese Quelle nicht sehr ergiebig ist. Die Archivalien des FDJ-Zentralrates und des FDGB-Bundesvorstandes (beide waren letztinstanzlich für die Arbeit mit den Jugendbrigaden verantwortlich) müssen diesbezüglich noch stärker ausgewertet werden. Nach unvollständigen Recherchen des Autors lassen sie weniger Rückschlüsse auf die Entwicklung der Jugendbrigaden zu, als man angesichts der häufigen Nennung von Jugendbrigaden in der „Tribüne“ und , -, Jungen Welt“ erwarten könnte. Auf die insgesamt schwierige Quellenlage ist es in erster Linie zurückzuführen, wenn dieser Artikel über die Jugendbrigaden nicht mehr als ein erster Versuch sein kann, ihre Geschichte zu erfassen.
II. Die Jugendbrigaden -Bestandteil der Brigadebewegung in der DDR
Die ersten Jugendbrigaden, zunächst noch Jugendaktivs oder Jugendproduktionsgruppen genannt, entstanden in den volkseigen gewordenen Betrieben mit dem Übergang zur Planwirtschaft 1948. Horst-Otmar Henneberg, einer der wenigen Autoren, die zu DDR-Zeiten bereits über Brigaden geschrieben haben, beziffert ihre Zahl für 1948 auf knapp 500 und für 1949 auf knapp 3 000 5. Anfang 1954 hatte der Ministerrat der DDR die Anordnung zum 1950 erlassenen Jugendgesetz beschlossen, die den Betrieben erstmals die Aufstellung von Jugencfförderungsplänen vorschrieb. Seitdem standen die Jugendbrigaden stärker im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von SED, Regierung und Massenorganisation. Zum zweiten Jahrestag des Ministerratsbeschlusses wurde erstmals der Ehrentitel „Hervorragende Jugendbrigade der Deutschen Demokratischen Republik“ verliehen Es war daher kein Zufall, daß es eine Jugendbrigade war, der Anfang 1959 die Aufgabe übertragen wurde, ihren Namen unter den Aufruf „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben" zu setzen. Im Frühjahr 1959 war jede fünfte Brigade, die sich im „Titelkampf“ befand, eine Jugendbrigade. Die Jugendbrigaden zählten 40 000 Mitglieder Seit Anfang der sechziger Jahre galten sie als „beste, tausendfach bewährte Form für die Förderung der Initiative und für die sozialistische Entwicklung unserer Jugend“ Im Jahre 1970 zählte man in der DDR 14 000 Jugendbrigaden mit 178 000 Mitgliedern. Das Jugendgesetz vom Januar 1974 berücksichtigte die Jugendbrigaden an hervorragender Stelle Erstmals am 21. Mai 1977 wurde der „Tag der Jugend“ als ein Höhepunkt der „Woche der Jugend und Sportler“ begangen. Drei Jahre später arbeiteten 433 000 jugendliche Berufstätige in Jugendbrigaden, im Jahre 1986 bereits 575 000. Das waren ca. elf Prozent aller am Titelkampf der sozialistischen Brigaden in der Wirtschaft Beteiligten
Jugendbrigaden hatten mit den Arbeitsbrigaden, wie es sie seit 1950 in der Industrie der DDR in großer Zahl gab, und den 1959 geschaffenen „sozialistischen Brigaden“ viel gemein Wie diese unterschieden sie sich von den übrigen im Volkseigenen Betrieb (VEB) existierenden Arbeitsgruppen in drei Merkmalen: Ihre Gründung war erstens das Resultat einer Entscheidung der Arbeitsgruppe selbst, d. h., die Bildung von Jugend-brigaden konnte nicht „von oben“ angeordnet, wohl aber beeinflußt werden. Zweitens schlossen auch die Jugendbrigaden jährlich mit der Werkleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL)
einen Brigadevertrag ab. Sie stellten sich in einem von beiden Institutionen gebilligten „Kampfprogramm“ zusätzliche Produktionsaufgaben, mit denen (meistens) die Menge der herzustellenden Produkte oder (seltener) die Qualität der Produktion gesteigert werden sollte. Wenn sich Jugendbrigaden am betrieblichen Wettbewerb um den Titel „Brigade der sozialitistischen Arbeit“ beteiligten -was sie seit 1959 in der Regel taten -, übernahmen die Jugendlichen auch Verpflichtungen, die über die Bereitschaft, „sozialistisch zu arbeiten“, hinausgingen. Diese Verpflichtungen bezogen sich einerseits auf Qualifizierungsaufgaben („sozialistisch lernen“). Andererseits wurden unter der Rubrik „sozialistisch leben“ Verpflichtungen zur Teilnahme an kulturellen oder geselligen Aktivitäten der Brigademitglieder nach Feierabend bzw. Unterstützungsmaßnahmen für Schulen („Patenschaften“) oder Kommunen („Aufbaueinsätze“) aufgelistet. Werkleitung und BGL verpflichteten sich im Brigadevertrag, die für die Erfüllung und Übererfüllung der Produktionspläne durch die Brigade benötigten Materialien und Zulieferungen „kontinuierlich bereitzustellen“ und die Beteiligung am betrieblichen Wettbewerb sowie die über den Produktionsprozeß hinausgehenden Aktivitäten der Brigaden mit Prämien (für die Besten im Wettbewerb), mit Freistellungen (für Qualifizierungslehrgänge) und durch Subventionierung bei Teilnahme an Kulturveranstaltungen zu unterstützen. Drittens hatten die Jugendbri-gaden direkten Einfluß auf die Bestimmung ihres Arbeitsgruppenleiters, des Brigadiers. Er wurde in der Regel von den Brigademitgliedern gewählt, mußte aber seit Anfang der fünfziger Jahre auch von der Werkleitung bestätigt werden, d. h. für sie akzeptabel sein.
III. Die Zuständigkeit von FDJ, FDGB, SED und „staatlicher Leitung“ für die Jugendbrigaden
Neben vielen Gemeinsamkeiten wiesen Jugendbrigaden gegenüber den „Durchschnittsbrigaden" eine Reihe von Besonderheiten auf, die sich überwiegend aus dem unterschiedlichen Verhalten von Jugendlichen und Erwachsenen gegenüber den gleichen Herausforderungen bzw. Unzulänglichkeiten des Fabrikalltags ergaben. Abgesehen von den Größenunterschieden -Jugendbrigaden umfaßten in den letzten 20 Jahren ihrer Existenz im Durchschnitt zwischen 10 und 13 Personen, andere Arbeitskollektive in der Industrie dagegen 18-20 Kollegen -sei an dieser Stelle nur auf die konstitutiven Verschiedenheiten hingewiesen: Während die für Aktivisten und Wettbewerbsbewegung sowie die Brigaden „zuständige“ Massenorganisation der FDGB war mußte er sich bezüglich der Jugendbrigaden die Verantwortlichkeit mit der FDJ teilen. Im Jahre 1953 erhielten Industriebetriebe der DDR mit mehr als 200 beschäftigten oder auszubildenden Jugendlichen auf Beschluß der Staatlichen Stellenplankommission beim Ministerrat die Anweisung, hauptamtlich politische Mitarbeiter als FDJ-Sekretäre einzustellen Diese traten von nun an beim Abschluß der Jugendförderungspläne als Partner der Werkleitung und im Falle der Jugendbrigaden als Partner der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) auf. Aus der Zuständigkeit (auch) der FDJ-Grundorganisation für die Jugendbrigaden im Betrieb wurde die Forderung nach der FDJ-Mitgliedschaft der Jung-arbeiter abgeleitet, zumindest für die in Jugendbrigaden organisierten. „Kern“ einer jeden Jugend-brigade sollte die FDJ-Gruppe sein.
Anders als für die Arbeitsbrigaden gab es für Jugendbrigaden Teilnahmebeschränkungen: Lehrlinge, die doch 70 Prozent ihrer Lehrzeit als berufspraktische Zeit in einem Betrieb verbrachten, durften keine Jugendbrigaden bilden und auch nicht Mitglieder von Jugendbrigaden werden, selbst wenn sie ihre betriebliche Ausbildung vorwiegend in Jugendbrigaden absolvierten. Damit war die untere Altersgrenze der Jugendbrigaden de facto auf 18 Jahre festgesetzt. Die obere betrug, analog zur FDJ-Mitgliedschaft, 25 Jahre. Nach oben waren jedoch „Übertretungen“ eher zulässig.
Die benannten Verantwortlichkeiten von „staatlicher Leitung", Betriebsparteiorganisation (BPO), BGL und FDJ in den Betrieben legen den Schluß nahe, es habe sich bei ihnen im Vergleich zu den Brigaden „älterer Werktätiger“ um eine viel stärker „von oben“ gesteuerte, bürokratisch reglementierte, eine in größerem Maße politische Bewegung gehandelt. Das starke Interesse der SED, „die gesamte junge Generation für den Sozialismus (zu) begeistern“ bestärkt diese Vermutung. Der Eindruck, daß mit den Jugendgesetzen bzw.den Existenzraum der Jugendbrigaden regelnden Vorschriften Eigeninitiative immer mehr durch Überwachung und Reglementierung ersetzt worden sei, entsteht aber aufgrund einer vorwiegend auf den Proklamationen des Jugendverbandes und den Beschlüssen des Ministerrates basierenden Einschätzung. Die tatsächlichen Gestaltungsräume für Jugendbrigaden können jedoch nur durch Quellen, die „vor Ort“ entstanden sind und in der Regel zu DDR-Zeiten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, erschlossen werden. Aus diesen Quellen -internen Berichten der SED, der FDJ, des FDGB. aber auch der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI) -läßt sich erkennen, daß das mit den Jahren aufgebaute politische Anleitungs-und Kontrollsystem der Jugendbrigaden kaum funktionierte und daß auch die gesetzlich verankerten Vorschriften über Organisation und Aufgabenstellung der Jugendbrigaden vielfach von den Werkleitungen -sie waren der einzig wirklich wichtige Partner bzw. Widerpart der Jugendbrigaden -nicht eingehalten wurden.
Für den relativ geringen Einfluß der „zuständigen“ Massenorganisationen gibt es in den archivalischen Quellen häufig Hinweise. Bereits Anfang März 1959, die Bewegung der „sozialistischen Brigaden“ war noch keine zwei Monate alt, bemängelte der Bericht über eine ins Kulturhaus der Leuna-Werke einberufene Konferenz die nachlässige Leitung der Brigaden: „Die Grundorganisationen des FDGB, der FDJ und der Partei müssen sich mehr um die Bewegung der , Brigaden dersozialistischen Arbeit kümmern und diese unterstüzen. Es gibt solche Tendenzen, daß bei der Übernahme der Verpflichtungen die Leitungen der FDJ, BGL, Partei dabei sind und daß sich danach kein Funktionär dieser Leitungen mehr sehen läßt. .. Die allgemeine Klage war: mangelnde Unterstützung durch die Parteileitungen.“ Ein knappes halbes Jahr später kam die Bezirksleitung der SED Neubrandenburg in einer Sekretariatssitzung zur gleichen Aussage: „Der allgemeine Mangel besteht darin, daß nach der Erklärung, den Kampf um den Titel zu führen, die Unterstützung sowohl durch die PO als auch durch die BGL, FDJ-Leitung und Betriebsleitung nachläßt, wenn nicht sogar aufhört.“ Es handelte sich bei der mangelnden „Betreuung“ der Jugendbrigaden -wie sich im Laufe der Jahre herausstellen sollte -nicht um „Kinderkrankheiten“ einer sich rascher als geplant ausbreitenden Bewegung sondern um eine augenscheinlich „systemimmanente“ (An-) Leitungsschwäche.
Bei einer Kontrolle der Arbeit mit den Jugendbrigaden in einem halben Dutzend Kombinaten der Schwerindustrie im IV. Quartal 1988 wurde wiederholt bemängelt, was im Falle des Betriebes Leipzig des Metallurgiehandels besonders deutlich angesprochen wurde: „Eine Einflußnahme der BGL und der FDJ-Leitung ist absolut nicht vorhanden. Hieraus resultiert z. B. auch die Tatsache, daß das , FDJ-Aufgebot DDR 40 in den Brigaden kein Thema ist.“ Ausgerechnet den „Räten der Jugendbrigaden“, die „das Bindeglied zwischen der FDJ-Leitung und den Jugendbrigaden darstellen“ sollten, wurde mit einer Ausnahme Inaktivität bescheinigt. „Den FDJ-und Gewerkschaftsleitungen schlagen wir vor“, heißt es in einem Bericht aus dem Kombinat Kali, „die Arbeit der Räte der Jugendbrigadiere neu zu bilden.“
Wo die Institutionen versagten, hätten womöglich die „Paten“ oder „Betreuer“ die politische Anleitungs-und Kontrollfunktion gegenüber den Jugendbrigaden übernehmen können. Doch in der Regel wurden auch sie nicht oder nur sporadisch wirksam. Typisch ist eine Einschätzung, wie sie für den VEB Metallurgieofenbau Meißen getroffen wurde: „Durch die staatliche Leitung wurde ein Betreuer der Jugendbrigade eingesetzt. Dieser Betreuer ist aber nur in kritischen Situationen oder anläßlich von Rechenschaftslegungen wirksam geworden.“ Oft wirkte gerade das Bestreben, als Berater „hervorragende Funktionäre“ der Werkleitung einzusetzen, kontraprodukiv, wie im Falle des Kombinats Metallaufbereitung Halle, wo als Betreuer u. a.der Betriebsdirektor, der Technische Leiter und der Produktionsleiter eingesetzt waren. Die hatten für die geforderte kontinuierliche Anleitung der Jugendbrigaden verständlicherweise überhaupt keine Zeit.
Die immer wieder beklagte „mangelnde Anleitung“ -ob nun durch die dafür zuständigen betrieblichen Institutionen oder eingesetzten Personen -ermöglichte andererseits auch weitaus mehr Freiraum für die Selbstorganisation der Jugendbrigaden, als ihnen formal zugestanden war. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, welches die Motivation der Jugendlichen selbst war, in Jugendbrigaden zu gehen, und welche Absichten sie mit ihrem Eintritt in die Brigaden verfolgten.
IV. Die Motivation der Jugendlichen zur Teilnahme an Jugendbrigaden
Ein erstes Motiv klingt vielleicht trivial, hat aber sicher eine große Rolle gespielt: Die Jugendlichen suchten Kontakt zueinander. Man darf nicht vergessen: Die Jungarbeiter bildeten -abgesehen von zentralen und bezirksgeleiteten Jugendobjekten -in allen Betrieben, in denen sie arbeiteten, eine Minderheit. Oft verrichteten sie ihre Arbeit vereinzelt zwischen den älteren Arbeitern, die in vieler Hinsicht andere Interessen hatten. Der Anteil der berufstätigen Jugendlichen betrug z. B. 1988 im Hydrierwerk Böhlen knapp 14 Prozent, im Werk Halsbrücke des Bergbau-und Hütten-kombinats Freiberg 11 Prozent und im Betrieb Muldenhütte nicht ganz sieben Prozent In der Minderheit zu sein, das unterschied die Lage der Jugendlichen in diesem Alter grundsätzlich etwa von dem der Studenten und macht den Wunsch nach Kontakten mit anderen Jugendlichen während der Arbeitszeit verständlich. Jugendbrigaden unterlagen zwar der 1952 getroffenen Regelung, daß sie nur „entsprechend dem technologischen Prozeß“ -also nicht aus politischen oder sozialen Gründen -zugelassen wurden. Dem Wechsel von einer Arbeitsstelle (oder auch Brigade) an eine andere innerhalb des Werkes, wo eine Jugendbrigade bereits existierte oder gegründet wurde, stand allerdings lange Zeit kaum etwas im Wege
Ein zweites Motiv war mit dem ersten eng verbunden und ergab sich aus dem Generationskonflikt, der natürlich auch vor den Werktoren nicht halt-machte: Man konnte in der Jugendbrigade der Unterordnung unter „die Alten“ entgehen. Die Jugendbrigade bot -zumindest auf den ersten Blick -Geborgenheit unter seinesgleichen. War dies die passive Seite der Reaktion auf den Generationskonflikt, so gab es auch eine aktive: Man konnte mit „den Alten“ -dies bot sich vor allem bei Brigaden an, die eine von mehreren Schichten umfaßten -in Konkurrenz treten und ihnen beweisen. was man -ohne sie -zu leisten in der Lage war. Besonders günstig waren die Möglichkeiten, „vorzupreschen“, in der Anfangsphase der Arbeitsbrigaden bzw.der Brigaden der sozialistischen Arbeit, wenn die „Alten“ noch zögerten, sich mit der neuen Organisationsform der „kleinsten Produktionseinheit“ bekanntzumachen. „Ganz besonders hat die Jugend eingeschlagen", berichtete im März 1950 die Gewerkschaftsvertreterin des Chemiewerks Premnitz auf einem vom Bundesvorstand des FDGB einberufenen „Erfahrungsaustausch“ über Arbeitsbrigaden und bezog sich dabei besonders auf eine „Jungaktivistin von 19 Jahren..., die jetzt Brigadeleiterin einer Jugendbrigade ist“ Auf einer weiteren, am Ende des gleichen Monats organisierten Aussprache hieß es über die Entstehung der Qualitätsbrigaden im VEB Maschinenbau Meuselwitz: „Das Beispiel geben zwei Jugendbrigaden, die sich bereits vor einigen Wochen zusammenschlossen, um den Kampf um die Qualitätsverbesserung in kollektiver Arbeit aufzunehmen.“ Die größere Aufgeschlossenheit der Jungarbeiter gegenüber neuen Organisationsformen der Arbeit dürfte auch ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, daß der Bundesvorstand des FDGB, als er unter Hinzuziehung des FDJ-Zentralrates die Bewegung „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“ inszenierte die Auffassung vertrat: „Es entspricht dem Wesen dieser Bewegung, daß sie zunächst von Jugendbrigaden ausgeht. . . Die Bewegung sollte fast gleichzeitig von fünf Jugend-brigaden aus verschiedenen Wirtschaftszweigen begonnen werden.“ Die Idee, den Elan der Jugend bzw. die Rivalitäten zwischen den Generationen zu nutzen, hätte fast die sorgfältig geplante neue „Masseninitiative“ an den Rand des Scheiterns gebracht. In einem „Problem-Bericht von der Konferenz der sozialistischen Presse mit , Brigaden der sozialistischen Arbeit 1“ wurde Ende Februar 1959, d. h. sieben Wochen nach dem Start der neuen „Bewegung“, besorgt festgestellt: „Bemerkenswert ist, daß -bis auf wenige Ausnahmen -fast ausschließlich Jugendbrigaden sprachen. Das zeigt, daß die Bewegung noch nicht auf die älteren Kollegen übergegriffen hat. In den Buna-Werken war die Reaktion bei den , Alten'so, daß sie sagten: , Uns wollen die (da oben) nicht mehr haben.“
Die Initiatoren der „sozialistischen Brigaden“ sannen auf Abhilfe und machten als Sündenbock die Presse aus. „Es muß ernsthaft kritisiert werden“, hieß es in einer ersten Analyse des Bundesvorstandes des FDGB über die Entwicklung der sozialistischen Brigaden im Januar und Februar 1960, „daß ungenügend auf die Bedeutung der Teilnahme der Brigaden älterer Kollegen eingegangen wird. Aus kleinen Notizen geht aber hervor, daß die Zahl der Teilnehmer aus den Reihen älterer Kollegen weit schneller wächst, als darüber geschrieben wird. Doch die Zeitungen heben nicht die weit komplizierteren Bedingungen solcher Brigaden hervor und würdigen nicht genug ihre Verpflichtungen . . . Es hat den Anschein, als wären die Bezirkszeitungen nur an Jugendbrigaden interessiert.“
Ein weiteres Motiv für Jungarbeiter, sich Jugend-brigaden anzuschließen, lag in ihrer Unzufriedenheit mit der Arbeit von Vertretern der Werkleitung -vom unmittelbar vorgesetzten Meister bis hin zum Direktor -und der Hoffnung, als Jugend-brigade eher Druck auf die (in den Brigadeverträgen stets enthaltene) Sicherung kontinuierlicher Materiallieferungen ausüben zu können. Wie die meisten Arbeiter empfanden es die berufstätigen Jugendlichen als unbefriedigend, zeitweilig wegen stockendem Materialfluß nicht beschäftigt zu sein. Die Leistungslöhner unter ihnen wußten auch, daß Warte-und Stillstandszeiten mit Lohneinbußen verbunden waren. Die Formulierung auf einer der „Ökonomischen Konferenzen“ der Neptunwerft in Rostock: „Wie wollen wir die Arbeitsproduktivität steigern, wenn die Leistungen unserer Arbeiter durch Entstehen von Lücken in der Produktion in ihrer Initiative gehemmt werden“, ging auf dieses Bewußtsein der Arbeiter ein Bei guter Arbeit -und deshalb in der Lokalpresse gefeiert -sowie ohne Zustimmung der Regional-behörden von FDGB und FDJ nicht auflösbar, hofften sicher viele Jugendbrigaden, beim in der Regel in den Brigadeverträgen vereinbarten „monatlichen Treff Leiter“ gegen das, was ihrer Meinung nach Mißmanagement durch unfähige Betriebsangestellte war, besser vorgehen zu können als in den eigentlich dafür vorgesehenen Produktionsberatungen
Schließlich darf bei der Untersuchung der Ziele, die die SED mit den Jugendbrigaden verfolgte, nicht ignoriert werden, daß die bei Aufrufen zur Teilnahme an Wettbewerben bzw. an der Bildung von Brigaden niemals fehlende politische Argumentation bei Jungarbeitern durchaus auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Wenn im Jahre 1950 z. B. von Brigadevertretern im VEB Maschinenbau Meuselwitz die Brigadebildung u. a. mit den Worten begründet wurde: „Wir müssen zusammenstehen, um unser großes Ziel, die Einheit Deutschlands, einen gerechten Frieden zu erreichen und darüber hinaus zum Weltfrieden zu kommen“ dann wäre es sicher falsch, das als „ideologisches Beiwerk“ abzutun. Ähnlich dürfte es sich mit Äußerungen verhalten, die von der Identifikation mit der DDR und vom Stolz auf das Errungene zeugen, die aber im Alltag eher als Ablehnung der Entwicklung im Westen Deutschlands denn als Lobeshymne auf die DDR vorgetragen wurden, wie z. B. die Passage aus dem Protokoll einer Belegschaftsversammlung . zur Frage der Bildung von Arbeitsbrigaden in der Gießerei eines sächsischen Metallbetriebes vom März 1950, die lautet: „Wir müssen dem Westen zeigen, daß wir auf dem richtigen Weg sind und nur durch eigene
Kraft vorwärts kommen können ohne hinterhältige Unterstützung der Westmächte.“ 35
Solche Äußerungen -so wenig sie heute nachvollziehbar sein mögen -unterscheiden sich deutlich von den Phrasen, derer sich Jugendfunktionäre aus Betrieben, auch Jugendbrigadiere, im offiziellen Schriftverkehr mit dem Zentralrat der FDJ bedienten. Die Brigade „Karl Marx“ des Jugend-objektes „ 1. Mai“ der Kleinschmiede im Edelstahlwerk „ 8. Mai 1945“ in Freital z. B. versicherte dem 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, daß sie „die allseitige Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik“ als eine der wichtigsten Aufgaben betrachtete, „damit es unserem Klassengegner niemals wieder gelingt, in irgendeiner Weise Einfluß auf unser Territorium zu nehmen“
Schlimmer noch bestand die Grußbotschaft der Delegiertenkonferenz der FDJ-Grundorganisation des VEB Lokomotivbau Hennigsdorf an den 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ vom November 1968 fast nur aus Versatzstücken offizieller Rhetorik: „Unter Führung unserer ruhmreichen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ versprach die FDJ-Grundorganisation, die Werks-jugend zu „glühenden Patrioten“ und zu „kompromißlosen Kämpfern für die Sache des So-zialismus (zu) erziehen“, sich an den „jugendlichen Schrittmachern“ des Werkes zu orientieren und „echte Pioniertaten in Wissenschaft und Technik“ zu vollbringen In bezug auf die offiziellen Kontakte zwischen Jugendbrigaden und Betriebs-FDJ einerseits sowie FDJ-Zentralrat andererseits trifft durchaus zu, was im Schlußbericht der zweiten Enquete-Kommission so formuliert wurde: „In der Öffentlichkeit mußte man die ideologischen Sprachmuster beachten.“ Ob das für die betroffenen berufstätigen Jugendlichen bereits die Anerziehung „opportunistischer Verhaltensweisen“ zur Folge hatte, wie die Kommission vermutet, sei dahingestellt
Es erscheint allerdings angesichts des nach 1990 entwickelten Geschichtsbildes über die DDR notwendig, explizit darauf hinzuweisen, daß viele Anzeichen dafür sprechen, daß über Jahre eine beträchtliche Identifikation der ostdeutschen Arbeiterjugend mit der DDR existierte. In den fünfziger Jahren gab es in der DDR, anders als in der Bundesrepublik, noch keine Meinungsforschung. Ersatzweise können jedoch Informationen über die Entwicklung der Haltung der DDR-Bevölkerung herangezogen werden, die in Auffanglagern von DDR-Flüchtlingen in Berlin(West) gewonnen wurden. So wurde vom Meinungsforschungsinstitut infratest bei unveröffentlichten, d. h. nur für den internen Gebrauch bestimmten „Tiefeninterviews“ mit aus der DDR abgewanderten Arbeitern, die „mit Bemühen um Repräsentanz“ ausgewählt worden waren, für die Jahre 1953 bis 1959 ermittelt, daß 65 Prozent der Befragten nicht frei „von marxistischer Ideologie“ waren. Bezüglich der für die Ideologen von Plan-und auch Marktwirtschaft wichtigen Frage des Eigentums an der Produktion („soll es privat oder staatlich sein“) vertraten mehr als 40 Prozent .der Befragten „radikale“ bzw. „gemäßigt marxistische“ Positionen, und nur acht Prozent glaubten uneingeschränkt an die Notwendigkeit privaten Eigentums
Für die siebziger und achtziger Jahre kann auf DDR-eigene, gleichfalls nicht veröffentlichte und nur für den internen Gebrauch bestimmte Befragungen zurückgegriffen werden. Im Jahre 1966 war in Leipzig das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZU) gegründet worden, dessen langjähriger Direktor der Psychologe Walter Friedrich war. Seit 1970 waren dort in Intervallstudien, ebenfalls mit dem Bemühen um Repräsentanz, Jugendliche befragt worden. Aus den Befragungsergebnissen geht hervor, daß von der Gruppe „junge Arbeiter“ die vom Meinungsforschungsinstitut vorgegebene Auffassung: „Der Sozialismus wird sich in der ganzen Welt durchsetzen. Das ist meine Meinung“ im Jahre 1970 35 Prozent „vollkommen“ bejahten; fünf Jahre später waren es 56 Prozent und im Jahre 1984 noch 44 Prozent, während der Prozentsatz derjenigen, die mit „kaum“ oder „nicht“ antworteten, von 24 Prozent 1970 auf zehn Prozent 1984 zurückging Die Befragungsergebnisse von infratest (fünziger Jahre) und des ZU (von Anfang der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre) lassen m. E. die Schlußfolgerung zu, daß für nicht wenige Jugendliche auch die Bejahung der Politik des „ersten deutschem Bo-Arbeiter-und-Bauern-Staatesauf den“ ein Motiv war, Jugendbrigaden beizutreten und in deren Rahmen Wettbewerbsverpflichtungen zu erfüllen
V. Der Fabrikalltag einer Jugend-brigade Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre
Politische Bekenntnisse, ob ehrlich gemeint oder ohne persönliches Engagement im „Funktionärsdeutsch“ verfaßt, gehörten allerdings nicht zum Alltag der Jugendbrigaden in den VEB. Der stand vor allem unter ökonomischen Vorzeichen Hier ging es um höhere Produktion, höhere Produktivität und höhere Qualität, um „strengste Sparsamkeit“, um die Anwendung „fortschrittlicher Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik“ -nicht anders als bei den „Alten“. In der Sprache der betrieblichen Wettbewerbe drückten sich diese Zielstellungen in der Verpflichtung der Brigaden aus, sich an „sozialistischen Arbeits-und Forschungsgemeinschaften“ zu beteiligen bzw. „mit jeder Minute, mit dem Gramm Material, mit dem Pfennig“ zu sparen. Die Bemühungen, diesen Forderungen nachzukommen, führten früher oder später auch zu Auseinandersetzungen der Leiter der Jugendbrigaden mit dem Meister oder der Werkleitung um „kontinuierliche Zulieferungen und die Vermeidung von Warte-und Stillstandszeiten“
Bei Jugendbrigaden waren im Brigadevertrag im Abschnitt „Sozialistisch lernen“ generell höhereVerpflichtungen zur Qualifizierung enthalten. In der Regel handelte es sich darum, daß Jungarbeiter sich bereit erklärten, noch fehlende Schulabschlüsse nachzuholen, daß junge Facharbeiter sich entschlossen, einen zweiten -in der Brigade anwendbaren -Beruf zu erlernen, Meisterlehrgänge zu besuchen oder ein Studium aufzunehmen. Hinzu kamen eine ganze Reihe „FDJ-spezifische“ Verpflichtungen, auf die von Seiten der FDJ-Betriebsleitung besonderer Wert gelegt wurde: Jugendliche Brigademitglieder verpflichteten sich zur Teilnahme am FDJ-Schuljahr und zur Erlangung des „Abzeichens für gutes Wissen“. Sie versprachen, die „Junge Welt“ zu abonnieren und am „Zirkel junger Sozialisten“ teilzunehmen.
Unterschiede zu den Verträgen der Brigaden mit überwiegend „älteren Kollegen“ gab es auch im Abschnitt „Sozialistisch leben“ des Brigadevertrages. Auffällig ist einmal die Ausrichtung der Verpflichtungen auf die Vorbereitung des (bis 1962 noch nicht obligatorischen) Militärdienstes. „Um die sozialistische Heimat gegen Überfälle des Feindes zu schützen, eigne ich mir auf der Grundlage des GST die Grundfertigkeiten der Waffen-technik an“, lautete eine typische Individualverpflichtung im Rahmen eines Brigadevertrages. Andere Mitglieder von Jugendbrigaden versprachen, „durch . . . regelmäßige Teilnahme in den Kampfgruppen waffentechnische Kenntnisse zu erweitern und die Verteidigungsbereitschaft zu erhöhen“. Bereits „gediente“ Jugendliche verpflichteten sich, „den Reservistenlehrgang der NVA zu besuchen“.
Stärker als in den Verträgen der Brigaden mit vorwiegend „älteren Kollegen“ waren in Jugendbrigaden auch Verpflichtungen zur Teilnahme am „Nationalen Aufbauwerk“ (Enttrümmerungsarbeiten) und an der Ernte in den 1959/60 im Ergebnis der vollständigen Kollektivierung entstandenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Häufig hatten Jugendbrigaden auch Patenschaften mit Schulklassen.
Wie aber sah es mit der Verwirklichung der „jugendspezifischen Vorsätze“ in den Brigadeverträgen aus? Aus einer Analyse des Bundesvorstandes des FDGB aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre (1963) geht hervor, daß die Jugendbrigaden das unzureichende Angebot an Fortbildungsmöglichkeiten im Betrieb oder am Ort monierten. Die Erfüllung der Verpflichtung, „sozialistisch zu leben“, litt nach ihren Aussagen oftmals unter den langen Wegen von und zur Arbeit, aber auch an der Aufsplitterung der Jugendbrigade auf verschiedene Schichten. Die gemeinsamen Veranstaltungen nach Feierabend kamen oft schon deshalb nicht mehr zustande, weil abends die Schichtbusse nicht mehr fuhren. Positiv hoben die „Kontrolleure“ vom Bundesvorstand bei Jugendbrigaden hervor, daß diese „ein ehrliches Verhältnis zur Prämie“ hätten. Anders als in Kollektiven „älterer Kollegen“ würden Jugendbrigaden vielfach begründen, „warum ein Kollege Prämie bekommt“. Zu den generell gut erfüllten Vertragspunkten gehörten bei Jugendbrigaden Patenschaften mit Schulklassen. Brigademitglieder führten Hospitationen durch, gestalteten Pioniergruppennachmittage und luden die Schüler zu Feierstunden des Jugendkollektivs ein.
Sorgfältig vermieden wurde in den normalen Brigadeabrechnungen des FDGB-Bundesvorstandes, auf sogenannte „besondere Vorkommnisse“ mit Jugendbrigaden einzugehen, die dann eintraten, wenn die zum Fabrikalltag gehörenden Auseinandersetzungen mit den Betriebsfunktionären über Lohn, Leistung und Materialzufuhr einmal eskalierten
Jugendbrigaden genossen bei den Werkleitungen einerseits besonderes Wohlwollen, weil sie in der Regel auf neue Wettbewerbsinitiativen -mit denen sich der Betrieb schmücken wollte, insbesondere wenn es mit der regulären Planerfüllung nicht so klappte -positiver und schneller reagierten als das Gros der Arbeiter. Andererseits blieb das Verhältnis der Werkleitung zu den Jugendbrigaden insofern ambivalent, als die „staatlichen Leiter“ aus Erfahrung wußten, daß sich gerade Jugendbrigaden energischer gegen Maßnahmen der Betriebsleitung wehrten (bis hin zu Arbeitsniederlegungen als ältere Arbeiter, wenn sie erst einmal zu der Auffassung gekommen waren, daß ihnen von Seiten ihrer Vorgesetzten Unrecht geschah.
VI. Der Fabrikalltag von Jugend-brigaden Mitte der achtziger Jahre
Manches hatte sich Mitte der achtziger Jahre in den Jugendbrigaden gegenüber dem Ende der fünfziger bzw.dem Anfang der sechziger Jahre geändert. Wenn der FDJ-Zentralrat 1985 eine Erfolgsbilanz seiner „Arbeit mit den Jugendbrigaden“ hätte aufmachen müssen, hätte er zweifellos an erster Stelle die Zunahme der Zahl der Brigaden und der Brigadeteilnehmer genannt. Allein seit 1970 -man bezog sich in der DDR nicht mehr gern auf die Zeit vor der Honecker-Ära -war die Zahl der Brigaden auf das 3, 2fache und die Zahl der Teilnehmer auf das 2, 8fache gestiegen Beim Zentralrat der FDJ schätzte man ein, daß damit ca. 30 Prozent der Jugendlichen mit abgeschlossener Berufsausbildung in Jugendbrigaden erfaßt waren Aus der einstigen „Elite“ -Bewegung war eine Massenbewegung geworden, auch wenn, wie es der 1. Sekretär des FDJ-Zentralrats formulierte, „von den jungen Facharbeitern im Alter von 18 bis 25 Jahren im Republikdurchschnitt noch nicht einmal ein Drittel die . . . Atmosphäre einer Jugend-brigade erleben“
Allerdings befanden sich unter den 44 500 Brigaden vermutlich etliche tausend „Karteileichen“. Eine ABI-Kontrolle im Kombinat Metallaufbereitung mußte z. B. für das Werk Dresden feststellen, daß „im Pendelbogen A 2 Jugendbrigaden ausgewiesen waren, die sich als nicht auffindbar erwiesen“. Auf Nachfrage bestätigte der Betriebsdirektor, „daß diese Jugendbrigaden nicht mehr bestehen“. In den Betrieben des VEB Kombinat Kali schwankte die Zahl der Jugendbrigaden zwischen 186 und 194, je nachdem, ob man sich auf den „Maßnahmeplan des Generaldirektors“ oder die „Abrechnung im Formblatt 0158“ stützte. Bei einer nicht genau zu ermittelnden Anzahl von Jugendbrigaden wurden nicht mehr alle Brigademitglieder in die Vorbereitung, Realisierung und Abrechnung von Vereinbarungen mit der Werkleitung einbezogen. „Bescheid“ wußten teilweise nur noch die Vertreter der BGL, FDJ und der staatlichen Leitung des Betriebes sowie der Jugendbrigadier selbst
Derartige „statistische Wunder“ und „Strohmänner“ -Verträge hatten allerdings die Brigadebewegung von Anfang an begleitet und waren als „Zahlenhascherei“ immer wieder bekämpft worden -offensichtlich aber ohne Erfolg Ungeachtet dessen kann davon ausgegangen werden, daß auch Mitte der achtziger Jahre Tausende, wenn nicht Zehntausende Jugendbrigaden real existierten, ihren Brigadevertrag kannten und viele -keineswegs alle -darüber auch am Jahresende Rechenschaft abgaben. Der auch ohne Berücksichtigung der „Papier-Jugendbrigaden“ beträchtliche Anstieg der Anzahl der Kollektive zwischen dem Beginn der siebziger und der Mitte der achtziger Jahre dürfte vor allem durch einen Wechsel in der „Rekrutierung“ der Jugendbrigaden gelungen sein. Erhoffte man sich Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre Zulauf für die Jugend-brigaden vor allem durch die Propagierung von attraktiven Beispielen, so hatte man im Laufe der siebziger Jahre einen weniger anstrengenden und sichereren Weg gefunden: Die Werkleitungen verlagerten die in der Regel an drei Tagen in der Woche stattfindende berufspraktische betriebliche Ausbildung ihrer Lehrlinge, soweit das vom Ausbildungsprofil her möglich war, in die Jugendbrigaden. Die Lehrlinge für den eigenen Bedarf des Werkes nahmen in den Jugendbrigaden nach Abschluß der Lehre ihre Arbeit auf. „Besonders positiv hat sich bewährt, daß die Lehrlinge das letzte halbe Jahr ihrer Berufsausbildung in den Jugendbrigaden absolvierten, in denen sie nach Abschluß ihrer Lehre eingesetzt werden.“ Dieses Verfahren -auch als „die planmäßige Zuführung von Lehrlingen zur Ausbildung in Jugendbrigaden nach Beendigung der Lehrzeit“ bezeichnet -kam eigentlich allen Beteiligten entgegen: Das Leitungskollektiv im Betrieb einschließlich der SED und der Massenorganisationen kam so relativ problemlos auf eine angemessene Zahl von Jugend-brigaden. Die Lehrlinge selbst waren froh, den Fabrikalltag unter Angehörigen der gleichen Generation aufzunehmen und nicht -als Anfänger auf sich gestellt -„zwischen den Alten“ ihr Berufsleben beginnen zu müssen. Kopfzerbrechen machte dagegen Mitte der achtziger Jahre ein Problem, das in der „Jugendzeit“ der Jugendbrigaden noch keine Rolle gespielt hatte. Ein Kombinat formulierte dies so: „Die Jugendbrigaden jung zu erhalten, ist ein kardinales Problem.“ Im Jugendgesetz von 1974 war noch einmal festgelegt worden, daß die Altersabgrenzung nach oben bei 25 Jahren liegen sollte Das zu beachten fiel auch dann schwer, wenn reichlich Lehrlinge ausge bildet wurden. Die Betriebsleitung wehrte sich dagegen -aus, wie sie es nannte, politischen Gründen Arbeiter in Jugendbrigaden hineinzulassen und sie nach Ablauf von sieben Jahren wieder aus den Brigaden zu entlassen, bloß damit dem Gesetz Genüge getan war. Schließlich waren die Brigade-mitglieder nach etlichen Jahren aufeinander eingespielt, wiesen überdurchschnittliche Leistungen auf. Das Problem, „die Jugendbrigaden planmäßig zu verjüngen .. ohne das bestehende Leistungsniveau zu verlassen“, war offensichtlich kaum zu lösen. Die Herausnahme gerade der Arbeiter mit mehrjähriger Praxis aus der Brigade mußte zu Effektivitätsverlusten führen. Diese Arbeiter blieben folglich in der Jugendbrigade, deren Durchschnittsalter dadurch von Jahr zu Jahr stieg. „So hat z. B. die Jugendbrigade im Betrieb MAB (Maschinen-und Anlagenbau) Rostock ein Durchschnittsalter von 26, 7 Jahren“, berichtete die ABI-Inspektion Anfang 1989. „Bei ihrer Gründung im Jahre 1983 waren 66 Prozent der Mitglieder Jugendliche. Zur Zeit sind es noch 28 Prozent. Die Brigade besteht aus Lokfahrern, Kranführern, Rangierern und Anschlägern. Diese für ihre Aufgabenstellung qualifizierten Kräfte der Jugendbrigade können nicht (in andere Bereiche des Betriebes, J. R.) umgesetzt werden. Mit ihrer jetzigen Zusammensetzung und ihrer Arbeitsweise stehen sie im sozialistischen Wettbewerb an der Spitze.“ Die eigentlich anstehende, seit den siebziger Jahren geübte Praxis der „feierlichen Auflösung“ der überalterten Jugendbrigaden, verbunden mit ihrer Überführung in den Kreis der „erwachsenen“ Brigaden, blieb in diesem wie in vielen anderen Fällen aus.
Als Folge der Rentabilitätsüberlegungen der Werkleitungen lag der Anteil der Jugendlichen in den Jugendbrigaden in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in sieben untersuchten Betrieben zwischen 60 Prozent und 26 Prozent Angesichts dieser Alterszusammensetzung verwundert es nicht, wenn die FDJ-Gruppe in der Regel nicht (mehr) der „Kern“ des Jugendkollektivs war, auch wenn in den achtziger Jahren etwa 60 Prozent der Jungarbeiter in der Industrie formal Mitglieder der FDJ waren. In noch weniger Jugend brigaden existierten Partei gruppen
Die Qualifizierungsvereinbarungen spielten in den Brigadeverträgen -verglichen mit dem Ende der fünfziger Jahre -eine geringere Rolle. Dafür gab es objektive Gründe: Die Jugendlichen gingen in der Regel als voll ausgebildete Facharbeiter in die Jugendbrigade. Als Qualifizierungsverpflichtung kam nunmehr in erster Linie die Teilnahme an der MMM-Bewegung in Frage. Die Zahl der auf dem Leipziger Messegelände gezeigten Exponate erreichte 1985 210 000
Die im Jugendgesetz von 1974 geforderte Bestätigung des Jugendbrigadiers durch die Werkleitung als voll verantwortlicher „staatlicher Leiter seines Kollektivs“ wurde mancherorts, in einigen Betrieben durchgängig, nicht beachtet. Den Jugendbrigaden räumte man oft nur einen -im Verhältnis zu den übrigen Brigaden -minderen Status ein, d. h., die Verantwortlichkeit für die Aufteilung der Arbeit und die Berechnung des Lohnanteiles der Brigademitglieder blieb beim Meister. In anderen Fällen wurden die meist vom Kollektiv gewählten Jugendbrigadiere nicht offiziell von der Werkleitung „berufen und bestätigt“, wodurch verhindert wurde, daß sich die Regionalleitungen der FDJ oder des FDGB „einmischen“ konnten, wenn die Werkleitungen eine unbequem gewordene Jugend-brigade auflösten
Wichtigster Teil der Brigadeverträge waren, wie schon Ende der fünfziger Jahre, die ökonomischen Festlegungen. Die Probleme mit der unzureichenden Materialzufuhr, mit den Warte-und Stillstandszeiten waren auch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nicht behoben. Beim republikweiten Treffen der Jugendbrigadiere in Zeitz im April 1988 hagelte es von Seiten der Brigadeleiter Kritiken: Die Werkleitungen nähmen den Betriebs-plan als „Gesetz des Handelns“ oft nicht ernst und verließen sich auf „Planpräzisierungen“ Die Bereitschaft zu Sonderschichten am Wochenende müsse zurückgehen, wenn das damit bezweckte Aufholen eines Planrückstandes „durch Ausfallzeiten in der Woche“ wieder zunichte gemacht werde. „Unplanmäßige und teilweise noch immer ungeklärte Zulieferungen“ seien „immer noch das Hauptproblem beim Kampf um die Planerfüllung“. Jugendbrigadiere aus dem Bauwesen und der Landwirtschaft schließlich machten auf den verschlissenen Zustand ihrer Maschinen und Geräte aufmerksam Der Bericht über die Beschwerden der Jugendbrigadiere ging immerhin bis ins Politbüro. Zur Beseitigung offensichtlicher Mißstände wurde ein Ministerratsbeschluß „zur Arbeit und Förderung der Jugendbrigaden“ gefaßt und die ABI mit Kontrollen zur Feststellung der Situation in den Betrieben beauftragt Doch um diese Zeit war der Niedergang der Jugendbrigaden bereits nicht mehr aufzuhalten.
VII. Die Jugendbrigaden am Ende der DDR
Wenn die Statistik der Jugendbrigaden in mancher Hinsicht auch geschönt war: Daß es mit den Jugendbrigaden bergab ging, ließ sich auch an ihr erkennen. Im Jahre 1986 überschritt die Bewegung der Jugendbrigaden auch quantitativ ihren Höhepunkt. Seit 1987 verringerte sich die Zahl der Mitglieder von Jugendbrigaden jährlich um mehr als 30 000, obwohl die Überalterung der Brigaden und sicher auch die Zahl der „Karteileichen“ zunahm. Die Betriebe waren Ende 1988/Anfang 1989 noch bemüht, den Rückgang auf die aus demographischen Gründen nachlassende Zahl der ins Berufsleben eintretenden Lehrlinge zurückzuführen Nur in einigen Berichten -so in einem aus dem Verarbeitungsbetrieb Halsbrücke des Braunkohle-Heizkraftwerks Freiberg vom September 1988 -wurde zugegeben: „Obwohl die Lehrlinge ihre praktische Ausbildung vorwiegend in den Jugendbrigaden erhalten und planmäßig nach Lehrabschluß dort eingesetzt werden, reichen die Anstrengungen der staatlichen Leiter, diese Kollektive als Jugendbrigaden zu erhalten, nicht aus.“ Die Beschwerden auf dem Zeitzer Kongreß der Jugendbrigadiere, die Schwierigkeiten der Betriebe, Jugendliche für Jugendbrigaden zu rekrutieren, legen den Schluß nahe, daß sich im Verhältnis der Jugendlichen zu „Partei und Regierung“ ab Mitte der achtziger Jahre ein Wandel vom überwiegenden Vertrauen in die Richtigkeit von deren Politik zu Mißtrauen und zu Resignation vollzogen hat. Die Meinungsumfragen des Instituts für Jugendforschung belegen diesen Trend: Die Identifikation mit der DDR, die bei jungen Arbeitern 1985 noch 57 Prozent betragen hatte, sank 1986 auf 46 Prozent, auf 32 Prozent im Mai 1988 und auf 19 Prozent im Oktober 1988
Von der historischen Perspektive des realen Sozialismus waren im Jahre 1984 noch 44 Prozent der Jungarbeiter überzeugt, im Oktober 1988 dagegen nur noch sechs Prozent Wer sich als „Star" -Jugendbrigadier weiterhin exponierte, riskierte Spannungen mit seiner Brigade
Angesichts des rasanten Vertrauensverlustes von „Partei und Regierung“ unter der Jungarbeiterschaft mußte es geradezu makaber wirken, wenn selbst Anfang 1989 noch einmal der Geist der Jugendbrigade „Nikolai Mamai“ -1959 als „sozialistische Starbrigade“ in den DDR-Medien gefeiert -beschworen wurde, um für sozialistische Tugenden zu demonstrieren. Auf der dieses Mal allein vom FDGB organisierten Konferenz mit Mitgliedern „langjährig erfolgreicher sozialistischer Kollektive“, die am 5. Januar 1989 im Chemiekombinat Bitterfeld stattfand, eröffnete den „Erfahrungsaustausch“ ein seinerzeitiges Mitglied der Brigade „Nikolai Mamai“. Ihm wie auch dem halben Dutzend weiterer Redner war als „Ziel des Erfahrungsaustausches“ aufgetragen worden, „zu zeigen, wie der Kampf um den Ehrentitel dazu beiträgt, im sozialistischen Wettbewerb vorbildliche Leistungen zur erzeugnis-, Sortiments-und vertragsgerechten Erfüllung und Überbietung der Planaufgaben zu vollbringen, sozialistische Denkund Verhaltensweisen bei allen Werktätigen auszuprägen, das Bedürfnis nach ständiger Aneignung der Weltanschauung der Arbeiterklasse und beruflich-fachlicher Weiterbildung sowie an einem interessanten und vielseitigen kulturellen und sportlichen Leben“ zu fördern
Wie dreißig Jahre zuvor ging es in Bitterfeld erneut um die Verwirklichung einer von „oben“ bis ins Detail entworfenen Konzeption. Während diese 1959 -bei aller Inszenierung -doch auf eine grundsätzlich aufgeschlossene Arbeiterjugend traf, von der Kollektive wie die „Mamais“ ein besonders aktiver Teil waren, stieß die Veranstaltung vom Januar 1989 völlig ins Leere. Die Jugendbrigaden, 40 Jahre zuvor mit deutlicher Anteilnahme der Arbeiterjugend gebildet, sollten in der Wende ebenso sang-und klanglos auseinandergehen wie die sozialistischen Brigaden der „Alten“