1960 konstatierte Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Das Plebiszit der Verbraucher“ daß die Mehrheit der Bundesbürger in einem unüberschaubaren „Horizont von Waren“ lebe, der für sie zum Inbegriff des „Etwas-vom-LebenHaben“ geworden sei Demgegenüber mußte das SED-Politbüro zeitgleich das Fazit ziehen: „Viele bzw. die meisten Verkäufe kommen nur dadurch zustande, weil die Kundschaft resigniert; sie kauft, weil sie nicht daran glaubt, doch zu der Ware zu kommen, die sie tatsächlich kaufen möchte.“ Im elften Jahr der DDR war es der Staats-und Parteiführung nach wie vor nicht gelungen, an der deutsch-deutschen Konsumfront mit dem Westen gleichzuziehen. Dabei hatte die SED bereits zu einem frühen Zeitpunkt erkannt, daß die Begründung ihrer politischen Legitimität als Interessen-vertreterin der Bürger in der DDR nicht unwesentlich davon abhing, wie es ihr gelingen würde, die Versorgungsprobleme zu lösen und die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Mit programmatischen Verlautbarungen sollte die Bevölkerung dazu gebracht werden, Mängel als vorübergehende Erscheinungen der Aufbauphase zu akzeptieren und optimistisch in eine gut versorgte Zukunft zu blicken.
Die lange Nachkriegszeit
Nach den von Entbehrungen bestimmten ersten Nachkriegsjahren, in denen sowohl in Ost-wie in Westdeutschland die „Leib-und Magenfragen“ im Vordergrund standen, versicherte Walter Ulbricht 1948, daß nun „die Zeit der Erfolge“ gekommen sei, was vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht zu verstehen war Der wirtschaftliche Wettstreit der Systeme hatte sich bereits 1947 deutlich abgezeichnet. Während in den westlichen Besatzungszonen mit dem Marshall-Plan die Weichen für die Einführung der Marktwirtschaft und den materiellen Wohlstand gestellt wurden, mußte für den Osten Deutschlands ein eigenes Konzept gefunden werden, um sowohl die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern und damit den eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurs zu rechtfertigen wie auch gleichzeitig den Reparationsforderungen der Sowjetunion nachzukommen. Unter dem Motto „Mehr produzieren, gerechter verteilen, besser leben“ versuchte der II. Parteitag der SED 1947, die Menschen für eine Steigerung der Produktion und eine höhere Arbeitsleistung zu gewinnen. 1948 wurde ein erster Zweijahrplan aufgestellt, dem zufolge die Arbeitsproduktivität bis 1950 um 30 Prozent gesteigert und 80 Prozent der Produktivität des Standes von 1936 erreicht werden sollten. Den gewünschten Arbeitsleistungen wurde in den im November 1948 eröffneten Läden der staatlichen Handelsorganisation HO ein materieller Anreiz in Form von Waren geboten Die Auswirkungen auf den Alltag der Mehrheit der Bürger formulierten die Aktivisten in den fünfziger Jahre mit dem Slogan: „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“ Sie propagierten Konsumverzicht und vertrösteten auf spätere Zeiten. Allerdings gab es bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auch Ausnahmen. So sollten die Akteure von Bündnispolitik und Industrialisierung, die Landbevölkerung, die technische Intelligenz und die Arbeiterzentren bevorzugt versorgt werden.
In der Bevölkerung jedoch förderte die täglich erlebbare Hintanstellung der Konsumbedürfnisse den Unmut über die Politik der SED. Vor dem Hintergrund der in Westdeutschland seit der Währungsreform 1948 vorhandenen Konsummöglichkeiten erschienen die von der SED unternommenen Anstrengungen als unzureichend. Zwar hatte der II. Parteitag der SED 1950 verheißen, die Konsumgüterproduktion zu erhöhen, aber die 2. Parteikonferenz machte diese Pläne im Sommer 1952 zunichte. Auf ihr beschloß die SED, den Sozialismus aufzubauen, die schwerindustrielle Basis zu erweitern und eigene Streitkräfte zu schaffen. Die knappen Ressourcen flossen fast ausnahmslos in diese Bereiche. Im Juni 1953 mußte die SED schließlich erleben, daß den Konsum-und Versorgungsproblemen eine „systemsprengende Kraft“ innewohnen konnte, wenn sie sich mit einer allgemeinen Unzufriedenheit über die politischen Verhältnisse paarte. Sie zog daraus zweierlei Konsequenzen: Zum einen baute sie ihren Sicherheitsapparat aus, der künftige Unruhen bereits im Keim ersticken sollte. Zum anderen setzte sie den bereits vor dem Aufstand aus Moskau vorgegebenen „neuen Kurs“ fort, der sich auch in einer „Konsumwende“ niederschlagen sollte, um die innenpolitische Lage zu entspannen Dessen Ziel sollte es sein, „in der nächsten Zeit eine ernsthafte Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der politischen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik zu erreichen und auf dieser Grundlage die Lebenshaltung der Arbeiterklasse und aller Werktätigen bedeutend zu heben“
Verbesserung der individuellen Konsumtion lautete nun die Devise. Der laufende Fünfjahrplan wurde geändert, um verstärkt Konsumgüter zu produzieren und Konsummöglichkeiten zu erweitern. Zwar verbesserte sich der Lebensstandard infolgedessen, aber als der erste Fünfjahrplan 1955 endete, konnte die SED-Führung noch keine befriedigende Bilanz ziehen: Der angestrebte Vorkriegsstand von 1936 war weder in der Arbeitsproduktivität noch beim Lebensstandard errreicht worden
Die offiziellen Verlautbarungen von Partei und Regierung nahmen sich in der Folgezeit verstärkt der Wirtschaftsprobleme an. Für den 2. Fünfjahrplan (1956-1960) beschloß die 3. Parteikonferenz der SED eine Direktive, die unter der Parole „Modernisierung, Mechanisierung, Automatisierung“ auf die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die „wissenschaftlich-technische Revolution“ setzte. Die damit erhoffte „industrielle Umwälzung auf der Basis der Ausnutzung von Kernenergie, des weiteren Ausbaus der Schwerindustrie und der ununterbrochenen Entwicklung des technischen Fortschritts“ sollte sich auch auf die Versorgung auswirken. Die SED versprach erneut, die Konsumgüterproduktion bis 1960 um 40 Prozent zu erhöhen Die Versorgungslage stabilisierte sich, und schließlich konnte im Juni 1958 für die letzten Waren -z. B. Fleisch, Butter, Schuhe -die Rationierung abgeschafft werden.
Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Fortschritte -unterstützt durch den erfolgreichen Start des Sputnik 1957 -fühlte sich die SED-Führung stark genug, nun mit der „Vollendung des sozialistischen Aufbaus" -wie ihn die Sowjetunion vorgegeben hatte -zu beginnen. Sie erklärte auf ihrem V. Parteitag die ökonomische Hauptaufgabe mit dem Erreichen des westdeutschen Pro-Kopf-Verbrauchs an Konsumgütern und Lebensmitteln bis 1961 zum Kernstück des sozialistischen Aufbaus „Überholen und einholen“ hieß der dazugehörige Slogan, der später in „Überholen ohne einzuholen“ abgewandelt wurde. Mit dem „Prinzip der materiellen Interessiertheit“ der werktätigen Bevölkerung versuchte die SED dem von Ludwig Erhard 1957 für die Bundesrepublik verkündeten „Wohlstand für alle“ eine ähnliche Konsument-wicklung entgegenzusetzen, nährte damit aber überzogene Konsumhoffnungen in der Bevölkerung. Der 1956 angelaufene Fünfjahrplan wurde durch den „Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks“ ersetzt, der die „ökonomische Hauptaufgabe“ bestätigte und eine komplexe, reichhaltige Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land „auf Weltniveau“ bis 1961 verhieß. Laut Walter Ulbricht wollte man so „die Überlegenheit des Sozialismus beweisen (.. .), nicht mit irgendwelchen Gebrauchsgütern, mit Schund, mit Überplanbeständen, sondern mit Waren, die hohen Gebrauchswert besitzen, die schön und geschmackvoll sind, die der arbeitende Mensch mit Freude kauft und benutzt“
In diesem politischen Umfeld war es nur zu verständlich, daß die Handelskonferenz der SED 1959 die illusionären Zielsetzungen aufgriff und erklärte, es komme nur noch darauf an, „auf neue sozialistische Art Handel zu treiben und die Konsumgüter mit hoher Verkaufskultur anzubieten und schnell zu verkaufen“ um so die Zielsetzungen bis 1961 zu erfüllen. Die Zauberworte hießen „komplexe Versorgung“ auf dem „Weltstand imEinzelhandel“ Und auch der zum Vorzeigeprojekt des DDR-Handels erkorene Versandhandel verkündete 1959: „Ich bin stolz darauf, der Katalog eines sozialistischen Versandhauses zu sein. Auf meinen Seiten wird jetzt schon überzeugend sichtbar: Die Arbeiter in der Industrie und die Werktätigen in der Landwirtschaft schaffen es! Bis 1961 wird Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch an Lebensmitteln und den wichtigsten Konsumgütern überholt.“
Für diese sozialistische Utopie waren die Konsum-bilder dem Kapitalismus entliehen. Entgegen dem Trend, sich auf allen Gebieten eng an die Sowjetunion anzuschließen und dort verfolgte Entwicklungen zu übernehmen, war der für den Konsum-bereich angelegte Maßstab das am westdeutschen Standard definierte Weltniveau, das es zu erreichen galt Entgegen einer sonst auf vielen Gebieten der staatlichen Organisation festzustellenden „Sowjetisierung“ von Staat und Gesellschaft in der DDR blieb der Bereich Konsum und Versorgung weitgehend unberührt. Vielmehr rühmten sich die Ökonomen und Handelspolitiker der DDR, daß die sowjetischen Genossen gerade auf diesem Gebiet auch einmal von der DDR lernen wollten.
Der sozialistische Verbraucher
Die Einführung moderner Handelsformen und Dienstleistungen, die im Zusammenhang mit der umfassenden Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft standen, verfolgte jedoch keinen Selbstzweck. Sie sollte dazu beitragen, bisher unproduktive Arbeitskräfte freizusetzen.
Die Erleichterungen beim Einkauf und der Hausarbeit richteten sich in erster Linie an bereits werktätige bzw. neu für eine Berufstätigkeit zu gewinnende Frauen und sollten ihnen den Einstieg in die Erwerbstätigkeit erleichtern „Zeitersparnis“ hieß das Zauberwort. Die Botschaft für die Frauen lautete, daß bügelfreie Stoffe, Schnellkochgerichte, Gefriergemüse, Fertiggerichte und Dauerbackwaren es ihnen ermöglichten, die Hausarbeit in kürzerer Zeit absolvieren zu können Die Männer erhielten eine ähnliche Botschaft: Für sie sollte die Berufstätigkeit ihrer Frauen nicht zu einer Einbuße an häuslicher Bequemlichkeit führen.
Die folgende Entwicklung zeigte jedoch, daß die Mehrfachbelastung von Frauen durch Kinder, Haushalt und Erwerbstätigkeit allein durch technische Hausgeräte nicht aufgefangen werden konnte. Männer sollten nun auch ihren Teil zur Hausarbeit beitragen und die stetig wachsende Diskrepanz zwischen männlicher und weiblicher Freizeit verringern helfen. In den Warenhauskatalogen warben 1971 Männer in Schürzen für Hausgeräte und verkündeten: „Von jetzt ab wasche ich die große Wäsche, denn meine Frau hat das gleiche Recht auf Freizeit und Erholung wie ich!“ Innovationen wie Ins-Haus-Lieferung, Kasse des Vertrauens, Spät-und Frühverkaufsstellen sowie nicht zuletzt die Selbstbedienung und die Möglichkeiten des Bestellkaufs hatten den Kunden ein hohes Maß an Umgewöhnung abverlangt und innerhalb kürzester Zeit die Einkaufswelt verändert. Das 1959 in „Unsere Welt von morgen“ prophezeite Konsum-Dorado, zu dem die DDR nach den Vorstellungen der SED bis 1990 geworden sein würde, verhieß eine glückliche Zukunft
Die Versorgungsprobleme sollten jedoch nicht allein durch Verbesserungen in Wirtschaft und Handel gelöst werden. Auch die Konsumenten sollten ihre Kaufwünsche den wirtschaftlichen Möglichkeiten anpassen. Über ein plan-und berechenbares Kaufverhalten erhofften sich die Ökonomen, volkswirtschaftliche Möglichkeiten, Bevölkerungsbedarf und die Bedürfnisse des einzelnen in Übereinstimmung zu bringen Werbung sollte nun nicht mehr nur die Lust am Kaufen fördern, sondern „volkswirtschaftlich verantwortlich“ dieKäufer auf die Produkte orientieren, von denen man zu viel produziert und zu wenig verkauft hatte, weil sie den Wünschen der Käufer nicht entsprachen. Bei den Waren hingegen, die landläufig als „Mangelwaren“ firmierten, sollte auf kaufanreizende Werbung verzichtet werden, um die Nachfrage nicht weiter zu steigern. Sprach man dem sozialistischen Käufer einerseits Rechte zu -„Unsere Werktätigen sind anspruchsvolle Käufer, und sie haben ein Recht, anspruchsvoll zu sein. Sie sind die Herren der Betriebe -sie sind die Schöpfer unseres ständig wachsenden Reichtums ... sie erwarten auch beim Einkauf beste Qualität“ wurde er andererseits zum zu erziehenden Staatsbürger, bei dem „bürgerliche Konsumtionsgewohnheiten“ bekämpft werden mußten. Zu diesen zählten jede unkontrollierbare Äußerung eines autonomen Käuferwillens wie spontane Käufe, die zu geringe Ausnutzung der physischen Lebensdauer von Waren oder der als unvertretbar hoch eingeschätzte „moralische Verschleiß“ einer „Wegwerfgesellschaft“, wie man ihn in der Bundesrepublik erblickte. Die SED hatte sich als Maßstab für ihre Versorgungsziele einerseits das bundesdeutsche Konsumniveau ausersehen, andererseits benutzte sie dort selbst kritisierte Konsumtionsgewohnheiten als Projektionsfläche für eine Systemkritik und den Nachweis der Überlegenheit der sozialistischen Verhältnisse in der DDR
Dahinter verbargen sich letztlich politische und wirtschaftliche Überlegungen. Die Konsumgüter-wirtschaft kam kaum mit der Produktion der Waren für den Grundbedarf nach. Zudem stellten Handel und Käufer nun fest, daß man sich seit Mitte der fünfziger Jahre zwar verstärkt den Kopf über „hochwertige Konsumgüter“, die zum Systemvergleich ausersehen waren, zerbrochen hatte, darüber aber die „tausend kleinen Dinge“ in Vergessenheit geraten waren. Es fehlte im ganzen Land an Dosenöffnern, Klammern, Schuhanziehern, Eierbechern und Sieben. Und so wandte das 6. Plenum des Zentralkomitees der SED (1959) seine Aufmerksamkeit dem „Programm der 1 000 kleinen Dinge (des täglichen Bedarfs)“ zu, das der Ministerrat 1960 förmlich beschloß
Utopie versus Realität
Trotz der Einbeziehung der Frauen in die Produktion, trotz der Versuche, die Bevölkerung zum sparsamen Kaufen zu erziehen, trotz der punktgenauen Verteilung der Mangelwaren, trotz der immer wieder erhobenen Forderung „Handeln statt Verteilen!“ hatte sich die Versorgungslage nicht nachhaltig gebessert. Wegen der unzureichenden wirtschaftlichen Basis, die durch wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen wie die Vernichtung des privaten Handwerks oder die krampfhafte Einholjagd gegenüber der Bundesrepublik weiter verschärft wurden, konnte keine langfristige Versorgungsstrategie etabliert werden.
Am schlechten Image des DDR-Handels hatte sich Anfang der sechziger Jahre trotz vielfältiger Initiativen wenig geändert. Auch das angestrebte bundesdeutsche Versorgungsniveau war 1961 nicht erreicht. Die der Dorfbevölkerung versprochene „komplexe Landversorgung“, mit der bis 1965 überall „Großraumlandverkaufsstellen“ und moderne Dienstleistungszentren entstehen sollten, war nur in drei Pilotprojekten erreicht worden. Diese brachten für die im Umkreis lebenden Menschen Erleichterungen sowie ein modernes Einkaufsgefühl und kündeten als utopische Verheißung „So wird es einmal sein“ von den ehrgeizigen Versorgungsplänen. Denn so wünschenswert diese Einrichtungen für eine verbesserte Versorgung waren, es zeigte sich sehr schnell, daß diese politisch zwar gewollt und unterstützt, aber nicht in dem angestrebten Maße zu realisieren waren. Bei den Planungen auf höchster politischer Ebene hatte man sich um Baukapazitäten, Maschinen oder Waren wenig Gedanken gemacht. Die Hoffnung, diese Großprojekte eines Tages flächendekkend auf dem Land errichten zu können, blieb unerfüllt.
Die SED-Propaganda orientierte sich bei ihrer Suche nach Schuldigen an alten Mustern Sie lastete die wirtschaftlichen Probleme in einer ideologischen Offensive „Spionen und Saboteuren“ aus dem Westen und den noch verbliebenen etwa 250 000 Betrieben in privater Wirtschaft, Handwerk und Handel in der DDR an.1960 startete sie einen neuen Versuch, die 1953 abgebrochene sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft zu einem Ende zu bringen. Insbesondere in Handwerk und Landwirtschaft sollten die noch bestehenden privaten Unternehmen „freiwillig“ in Genossenschaften zusammengefaßt und so die Produktivität gesteigert werden. In Stadt und Land wurden privaten Unternehmen rigoros die Existenzmöglichkeiten beschnitten. 1961 war die Situation schließlich wieder so angespannt, daß sich selbst Walter Ulbricht zu mahnenden Worten veranlaßt sah und seinen Genossen befahl, das Tempo der Umgestaltung zu drosseln: „Die paar privaten Geschäftsleute, die da noch sitzen, die gefährden den Sozialismus nicht, und die paar Fleischermeister, die ihr noch habt, die gefährden den Sozialismus auch nicht. Und dann macht ihr einfach eine ganze Anzahl von Bäckerläden wieder auf, und sollen sie selber backen. Aber sorgt dafür, daß die Bevölkerung Brot kriegt.“ So einfach, wie sich Walter Ulbricht die Lösung der festgefahrenen innenpolitischen Lage vorstellte, war es jedoch nicht. Immer mehr Menschen entschlossen sich zum letzten Schritt und überquerten die noch durchlässigen Landesgrenzen gen Westen, um den Repressionen in der DDR zu entgehen. Am 13. August 1961 schließlich griff die DDR-Führung zum letzten ihr noch zur Verfügung stehenden Mittel. Sie riegelte die Grenze zu Westberlin ab.
Die SED versprach ihren Bürgern wieder, daß der sozialistische Aufbau nunmehr ohne Störungen durch den „imperialistischen Klassenfeind“ ruhig und erfolgreich vonstatten gehen würde. An ihrem Lebensstandard sollten sie täglich erfahren, daß sie im besseren Teil Deutschlands lebten und daraus ihr Vertrauen in die Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung ziehen. Die systemeigenen sozialistischen Vorzüge sollten durch spürbare Verbesserungen in der Versorgung erlebbar gemacht werden. Keine Ware des täglichen Bedarfs war zu nichtig, um nicht zum Thema auf den Sitzungen von Zentralkomitee und Politbüro zu werden. In den „Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung“ sah die Parteiführung eine gute Gelegenheit, um der Bevölkerung zu zeigen, wie ernst sie dieses Thema nahm, indem sie es in das Zentrum politischer Entscheidungen rückte
Trotz aller Rückschläge und Einschränkungen ihrer in den fünfziger Jahren verkündeten Pläne konnte die SED zu Beginn der sechziger Jahre auf wenigstens einem Gebiet durchweg Erfolge vermelden: Die Ernährungssituation hatte sich stabilisiert; die Bevölkerung hatte sich erfolgreich an die Weltspitze gegessen. Sie nahm pro Tag durchschnittlich 33 Prozent mehr Kalorien zu sich -das waren etwa 1 000 Kilokalorien mehr, als energetisch notwendig war. Allerdings sah man sich nun völlig überraschend mit anderen Problemen konfrontiert. So verständlich nach den langen Jahren des Hungers und der Rationierung die Sehnsucht der Menschen nach gutem Essen auch war, die dadurch auftretenden gesundheitlichen Probleme hatte niemand bedacht. Nun sollte die Bevölkerung über diese Folgen aufgeklärt und zu einer gesunden Ernährung gebracht werden Der wirtschaftliche Hintergrund dieser Bestrebungen war außerdem die Erkenntnis, daß die Landwirtschaft und die Nahrungsgüterindustrie in der DDR einerseits nicht in der Lage waren, das versprochene qualitative Versorgungsniveau tatsächlich zu liefern. Andererseits führten die Probleme mit Über-gewicht und Fettsucht -die als Merkmal aller hochindustrialisierten Staaten relativiert wurden -durch krankheitsbedingten Ausfall zu volkswirtschaftlichen Verlusten.
Ernährungsphysiologisch wertvolle Nahrungsmittel wie Obst, Gemüse oder Fisch, die bei einer gesunden Ernährung eine wichtige Rolle spielen und den Werktätigen zu „Gesundheit und Schaffenskraft“ verhelfen sollten, fehlten in den Geschäften. Man war sich der Vielschichtigkeit der Problematik sehr wohl bewußt: „Die Unkontinuität im Angebot von Nahrungsmitteln hemmt die sozialistische Bewußtseinsbildung und untergräbt das Vertrauen der Bevölkerung in ihren Staat. Da Nahrungsmittel täglich konsumiert werden, und sie über ein Drittel der Ausgaben für Waren ausmachen, sind sie bei breiten Kreisen der Werktätigen zum ersten Kriterium für die Bewertung des Lebensstandards geworden. Die Gewährleistung eines niveauvollen, kontinuierlichen Angebots ist somit nicht ausschließlich eine Versorgungsfrage, sondern ein Politikum ersten Ranges.“ Während die Partei-und Staatsführung in den fünfziger Jahren auf vielen Gebieten zu einer Aufholjagd gegenüber der Bundesrepublik gerufen hatte, verfolgte sie im Bereich von Mode und Bekleidung andere Ziele. Die Versuche, das Bekleidungsverhalten der Bürger zu beeinflussen, orientierten sich nicht daran, die Bundesrepublik in der Pro-Kopf-Ausstattung an Kleidern, Schuhen und Mänteln zu überholen. Hier sollte genau der gegenteilige Effekt erreicht werden: Mäßigung war angesagt. Wie auf anderen Gebieten sollte der internationale Entwicklungsstand -das Weltniveau -die Grundlage für eine eigene sozialistische DDR-Modelinie sein. Entsprechend den Erfordernissen des „modernen Industriestaats DDR“ sollten die Käufer vor allem im Bereich der Mode ihren bisherigen Kauf-und Tragegewohnheiten abschwören und sich einer zeitlosen, modeunabhängigen Modelinie zuwenden. Mit dieser sollte dem „westlichen Konsumterror“ und hektischem Modewechsel, dem Sich-Kleiden nach dem „letzten Schrei“ ein sozialistisches Modebewußtsein entgegengesetzt und durch planvolles Zukaufen, Komplettieren und Kombinieren der Bedarf an modischen Artikeln beeinflußt werden. Modische Veränderungen sollten sich kontinuierlich, berechenbar und nicht in schnellen Wechseln vollziehen. Darauf sollte auch beim Import von modischen Textilien geachtet werden, um nicht durch unbedachte Einfuhren das sozialistische Erziehungsanliegen zu unterwandern Entsprechend der modernen Lebensweise sollte die Kleidung „praktisch, langlebig und modeunabhängig“, „adrett“ und sorgfältig gepflegt sein. Farbenfroh und optimistisch sollte sie vom sozialistischen Lebensstil künden.
Enttäuschte Hoffnungen
Zum Ende der sechziger Jahre konnten viele DDR-Bürger feststellen, daß sich ihre Lebenssituation verbessert hatte. Zwar war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalisierung Mitte der sechziger Jahre abgebrochen worden, der Bereich der individuellen Konsumtion jedoch war weitgehend verschont geblieben. Hier galten noch immer die Pläne vom Erreichen des Weltniveaus. Die Austattung der Haushalte mit Waschmaschinen, Kühlschränken und Fernsehgeräten hatte durchschnittlich 60 Prozent erreicht. Die Ernährungslage galt seit Jahren als stabil. Die gesättigten Menschen verlagerten ihre Kaufwünsche zunehmend in den Bereich der hochpreisigen Genußmittel wie Süßwaren, Kakaoerzeugnisse, Kaffee und Alkohol
Darüber hinaus hatte der Staat seinen Bürgern eine Reihe von Erleichterungen im täglichen Leben gewährt. Polikliniken, Kulturhäuser, Kur-einrichtungen und Ferienplätze waren in großer Zahl eingerichtet worden und wurden hoch subventioniert. Das Angebot an Dienstleistungen hatte sich erweitert. Ganz dem internationalen Trend folgend, wurde Freizeit als Ergänzung zur Arbeitszeit gesellschaftlich und privat hochgeschätzt.
Nach dem hoffnungsvollen Start, mit dem Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag die kommenden zwanzig Jahre sozialistischer Entwicklung umrissen hatte, konnte der IX. Parteitag im Mai 1976 stolz eine erste Bilanz ziehen. Mit der Realisierung der 1971 versprochenen Vorhaben wurde rasch begonnen. Die DDR-Bevölkerung konnte auf den höchsten Lebensstandard im Ostblock blicken, das allgemeine Lohn-und Rentenniveau war gestiegen, Arbeitszeitverkürzungen und das „Babyjahr“ waren eingeführt. Die Ausstattung der Haushalte mit Bekleidung, Möbeln und technischen Geräten hatte sich weiter erhöht. Hunderttausende Wohnungen waren seit der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED 1972 entstanden. Auf dem internationalen Parkett hatte sich die DDR zu einem anerkannten Partner entwickelt, und auch die sportlichen Erfolge der DDR-Nationalmannschaften, die als „Botschafter für den Frieden“ um die Welt reisten, konnten sich sehen lassen.
Anfang der siebziger Jahre versuchte die SED nun die Politik der individuellen Bedürfnisbefriedigung durch eine verstärkte Hinwendung zu den „sozialistischen Errungenschaften“ zu ersetzen. Die Bürger sollten nicht mehr mit Blick nach Westen ihre Kühlschränke, Fernseher, Fleisch-und Butterkilos zählen, sondern die längst als selbstverständlich geltenden hochsubventionierten sozialen Leistungen in den Blick nehmen.
Der IX. Parteitag verkündete die „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“, mit der die neue Sachlichkeit der Politik ihren Slogan finden sollte. Das individuelle Lebensniveau, Löhne und Sozialleistungen sollten nur noch im Gleichklang mit der wirtschaftlichen Entwicklung steigen. Mit diesem ökonomisch durchaus vernünftigen Programm ver-suchte die SED-Führung einmal mehr, die Ausgaben für die Erhaltung des Lebensstandards der Bürger den tatsächlichen Möglichkeiten der DDR-Wirtschaft anzupassen. Die Bevölkerung jedoch hatte wie immer hoffnungsvoll auf die Beschlüsse des Parteitages geblickt und war enttäuscht. Um dem Unmut der Bevölkerung zu entgehen, wurden nur eine Woche nach dem Parteitag Erhöhungen der Mindestlöhne und Renten verkündet. Die SED-Führung fürchtete den Unmut der Bürger über nicht gewährte Verbesserungen im Lebensstandard mehr als die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen einer ökonomisch nicht fundierten weiteren Anhebung des Lebens-niveaus
Statt die innenpolitische Lage zu entspannen, provozierte die SED mit der im gleichen Jahr erfolgten Ausbürgerung Wolf Biermanns den schlimmsten intellektuellen Aderlaß der ohnehin durch die Abwanderung von ca. vier Millionen Bürgern seit 1949 betroffenen DDR. Die SED-Führung geriet nicht nur bei den Intellektuellen unter Druck. Auch die politisch und ökonomisch stets umworbene Jugend, deren Loyalität man mit vielerlei materiellen Anreizen zu erkaufen versucht hatte, wandte sich resigniert mehr und mehr von der „Partei der Arbeiterklasse und Interessenvertreterin des gesamten Volkes“ ab. Es zeigte sich, daß die Bevölkerung nicht mehr -wie in den Anfangsjahren -gewillt war, materielle Anreize als Stillhaltebonus für politische Zumutungen zu akzeptieren. Zwar hatte sich der Lebensstandard der DDR-Bürger erhöht, aber die erhoffte Zufriedenheit mit den Lebensumständen war nicht eingetreten. Vielmehr befand sich inzwischen der Staat in der Rolle desjenigen, der durch die Erfüllung ständig wachsender Forderungen und Bedürfnisse unter Druck gesetzt wurde.
Der Zusammenhang zwischen Preissteigerungen auf dem Weltmarkt, Mangelerscheinungen in der DDR und wachsender Unzufriedenheit der Bürger zeigte sich 1977 in der sogenannten „Kaffeekrise“ besonders deutlich. Seit Honeckers Machtantritt hatte sich die Auslandsverschuldung der DDR um ein Vielfaches erhöht. Das Politbüro suchte angesichts der steigenden Weltmarktpreise und der Exportschwäche der DDR-Wirtschaft nach Wegen, um über die Drosselung von Importen die Verschuldung abzubauen Über die reduzierte Einfuhr von Kaffee hoffte die SED, einen Teil der aufgehäuften Schulden abbauen zu können. Da Kaffee zu den beliebtesten und größten
Ausgabepositionen der DDR-Bevölkerung im Nahrungs-und Genußmittelbereich gehörte, traf die SED der Unmut der Bevölkerung unmittelbar hart: Die Bevölkerung nahm diesen Angriff auf ihren Lebensstandard nicht unwidersprochen hin. Es hagelte Eingaben und Drohungen
Eine „delikate'4 Versorgungsstrategie
Allen Plänen zum Trotz hatten die Versorgungsprobleme im Laufe der Zeit nicht ab-, sondern zugenommen. Die offiziellen Berichte sprachen von einer „stabilen Versorgungssituation“. Diese erwies sich in nichtveröffentlichten Analysen als „stabil kritisch“, woran sich den Prognosen zufolge auch in absehbarer Zeit nichts ändern würde. Hauptaufgabe war es, das „erreichte Versorgungsniveau zu sichern“ und eine Reihenfolge der Bedarfsdeckung zu erstellen. Die als „sozialistische Errungenschaften“ popularisierten niedrigen Mieten sowie die Preise für Energie, Brot und Milch zählten zu den Punkten, die nicht angetastet werden durften. Gleichzeitig legte die Abteilung Handel und Versorgung beim Zentralkomitee der SED Listen über die aktuellen Mangelwaren an. Auf ihnen fanden sich fast alle Waren wieder, die ursprünglich den Wettstreit mit der Bundesrepublik entscheiden sollten Die Bürger empfanden die Versorgungslage als so schlecht wie seit den fünfziger Jahren nicht mehr.
Um der wachsenden Unzufriedenheit entgegenzuwirken, hatte das Politbüro beim ZK der SED im Frühjahr 1977 beschlossen, die Delikat-und Exquisit-Läden auszubauen. Denn unter der Bevölkerung riefen nicht nur die fehlenden Waren Unmut hervor; vor allem sorgten Ungerechtigkeiten in der Verteilung der Produkte für Ärger. Erich Honecker äußerte sich vor SED-Funktionären noch optimistisch, daß die Läden, die die DDR-Bevölkerung zunehmend in zwei Gruppen spalteten, nicht von langer Dauer sein würden: „Gestattet mir ein offenes Wort zu den Intershop-Läden. Diese Läden sind selbstverständlich kein ständiger Begleiter des Sozialismus. Natürlich übersehen wir nicht, daß Bürger der DDR, die keine Devisen besitzen, in gewissem Sinne im Nachteil gegenüber denen sind, die über solche Währung verfügen. Mit dieser Frage haben wir uns befaßt und festgelegt, das Netz der ExquisitLäden auszubauen. Auch die Anzahl der Delikat-Läden wird erhöht.“ Sie sollten den Bedarf der -devisenlosen -Bevölkerung an hochwertigen Import-Nahrungsmitteln befriedigen und über die dort erzielten höheren Preise zum Abbau der ständig wachsenden Spareinlagen beitragen. 60 Prozent der Waren sollten hochwertige, dem Westen in Verpackung und Art entsprechende Waren aus einheimischer Produktion sein, 40 Prozent aus Importen vor allem der Bundesrepublik stammen.
Das Angebot in den Delikat-Läden entsprach anfangs auch den Erwartungen der Verbraucher. Mängel im Angebot konnten mit der Anlaufphase begründet werden Bereits 1981 war jedoch eine „generelle Angebotsverschlechterung“ eingetreten. Es gelang nicht, einen festen Käuferkreis mit seiner Kaufkraft zu binden. Die angebotenen Artikel aus DDR-Produktion wurden nicht als Alternative zu den zunehmend weniger im Angebot befindlichen Importen akzeptiert. Sie galten als „nachgemacht“ und entsprachen nicht den Erwartungen an ein westliches Erscheinungsbild der Waren. Auch litt die Akzeptanz des Delikathandels als sinnvolle Ergänzung zum sonstigen Warenangebot, da mehr und mehr Waren aus dem normalen Warensortiment nun in den Delikat-Läden auftauchten. Die Bürger fühlten sich betrogen und unterstellten, daß Mangelwaren aus dem normalen Sortiment zu höheren Preisen im „Delikat“ käuflich waren. Der Ärger über die eingeschränkten Konsummöglichkeiten wurde noch durch die seit den sechziger Jahren betriebene Bevorzugung von Berlin bei der Belieferung mit Mangelwaren verstärkt
Bei ihrem Versuch, für hausgemachte Probleme externe Ursachen zu benennen, griff die DDR-Führung auf altbekannte Repertoires zurück. War bereits 1953 die verschobene Aufhebung der Rationierung dem „Abkauf“ der Westberliner Bevölkerung in Ostberlin angelastet und auch der Mauerbau mit dem drohenden Ausverkauf der DDR durch Westberliner begründet worden, so boten sich in den achtziger Jahren wiederum Touristen und Ausländer als Sündenböcke an. 1980 wurde im Auftrag der Regierung untersucht, welche Auswirkungen der ausgesetzte Reiseverkehr zwischen Polen und der DDR auf die Versorgungslage hatte. Man stellte fest, daß dieser auf 33 Prozent des Vorjahresstandes zurückgegangen sei, wobei die Einreisenden zu 90 Prozent als Arbeitskräfte in die DDR kamen. Diese wiederum kauften weniger Waren, wodurch für DDR-Bürger mehr Waren zur Verfügung stünden. Im Klartext hieß das: „Infolge des Rückgangs der Käufe polnischer Touristen wurden die verfügbaren Waren-fonds in stärkerem Maße für die Versorgung der Bevölkerung in der DDR wirksam.“ 1988 wurde eine Zahl von über zehn Millionen Einreisen aus sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern in die DDR errechnet: „Damit partizipieren Ausländer an den Errungenschaften, die im Zuge der Verwirklichung der Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik in unserem Land ereicht worden sind. Das bedeutet einen Schaden für die Wirtschaft der DDR und beeinflußt das politische Klima negativ.“
Epilog
Bis 1989 verbesserte sich die Versorgungslage nicht mehr. Sie verschlimmerte sich vielmehr wei ter -ebenso wie die innenpolitische Lage nach der Weigerung der SED-Führung, eine Liberalisierung nach Gorbatschows Vorbild zuzulassen. Bisherige Tabuthemen wie „Intershop“ und Westpakete wurden aufgegriffen. Ende der achtziger Jahre wurde in dem von der SED in Auftrag gegebenen „Sonderauftrag zur gegenwärtigen Versorgungssituation“ erneut in Wiederholung des 1976 von Erich Honecker auf dem IX. SED-Parteitag gesprochenen Wortes festgestellt, daß nur das verbraucht werden könne, was vorher produziert wurde. Der Bericht verwies darauf, daß die seit Ende der siebziger Jahre unter dem Eindruck der polnischen Entwicklung verfolgte Einkommenspolitik zu einem schnelleren Wachstum der Einkommen als der Produktion geführt habe. Hinzu komme, daß das produzierte Angebot nicht den Kaufwünschen der Bevölkerung entspreche, deren freie Geldmengen weder über die hochpreisigen Waren in den „Delikat“ -und „Exquisit“ -Läden noch über andere Konsumgüter gebunden werdenkönnten. Auch hätten die seit 1975 erzielten Umsatzsteigerungen im Handel nichts mit einem erhöhten Kaufverhalten durch die Bevölkerung zu tun, sondern mit Preiserhöhungen. Hinzu komme, daß die Bevölkerung sich sowieso auf Waren aus dem Nichtsozialistischen Währungsgebiet (NSW) orientiert habe und diesen einen größeren moralischen und materiellen Wert als entsprechenden DDR-Produktionen beimesse.
Eine im Februar 1989 fertiggestellte Studie über den Paket-und Postverkehr mit der Bundesrepublik förderte zutage, daß die DDR-Wirtschaft und der Handel auf die private Einfuhr von Konsumgütern und Nahrungsmitteln regelrecht angewiesen waren. Teilweise überstieg die private Einfuhrmenge von Kaffee, Kakao, Oberbekleidung und Schuhen die Menge der in der DDR produzierten Waren Es sei ein „Trugschluß“, den Stellenwert der Genußmittel in den Paketen geringzuschätzen, da ein Teil der angespannten Versorgungslage auf dem DDR-Markt darüber ausgeglichen werde. Hierbei würde es sich „in jedem Einzelfall um versorgungspolitisch relevante Mengen“ handeln, „die maßgeblich das Versorgungsniveau bei diesen Sortimenten prägen. Stets muß mit Nachdruck darauf verwiesen werden, daß Textilwaren in dieser Größenordnung seit Jahrzehnten über den Postpaket-und Päckchenverkehr in die DDR gelangen und in den Garderobefonds unserer Bevölkerung eingehen. Diese Einfuhrmengen an Textilwaren bieten den Empfängern die Möglichkeit, qualitative und strukturelle Mängel im Warenangebot auch über längere Zeiträume zu überdecken.“ Problematisch sei lediglich, daß über die Einfuhr von hochmodischer Kleidung die Kleidungsansprüche in die Höhe geschraubt würden, ohne daß der Handel in der DDR dem etwas Entsprechendes entgegenzusetzen habe. Auch sei das hierüber an die Nichtempfänger von Paketen vermittelte Frustrationspotential nicht zu unterschätzen: „Anders ist das natürlich bei den Bevölkerungskreisen, die nicht über derartige Kontakte verfügen. Hier wird eine permanente Unzufriedenheit genährt, die durch den Augenschein im Straßenbild oder an der Arbeitsstelle ständig neu geschürt wird. Dieser politische Aspekt, der schon in der Schule beginnt, darf in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden.“ Doch derartige Warnungen verhallten ungehört.
Die Marktforscher und Ökonomen entwickelten immer wieder das gleiche Szenario, um diese Entwicklung aufzuhalten. Solange das Angebot nicht dazu angetan sei, die Geldüberhänge wirksam abzubauen, sollte auf das Mittel der Kaufkraftstimulierung über Einkommenserhöhungen verzichtet werden. Mehr noch wurde gefordert, die Preise für Mieten, Energie und soziale Leistungen zu erhöhen, um so die Belastung des Staates und die wachsenden Spareinlagen der Bevölkerung abzubauen. Hierfür sollten Preise erhöht, Löhne und Gehälter eingefroren und technisch hochmoderne Waren bereitgestellt werden. All diese Maßnahmen lehnte die SED aus politischen Gründen ab: Sie fürchtete, durch unpopuläre Maßnahmen auf dem Konsumsektor ihre Legitimität noch mehr zu untergraben Statt Preiserhöhungen anzuordnen, gewährte sie weitere Einkommenserhöhungen, für die bereits seit langem keine Warendeckung mehr vorhanden war. So schien es nur eine Frage der Zeit, bis die SED-Führung ihren politischen und ökonomischen Offenbarungseid leisten mußte. Dies tat Werner Jarowinsky, Sekretär für Handel und Versorgung beim ZK der SED, am 10. November 1989, indem er vor der versammelten SED-Spitze erklärte, die DDR habe seit dem Ende der sechziger Jahre über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt
Mit der Öffnung der Grenze im November 1989 verschaffte sich die Mehrheit der DDR-Bürger auch Zugang zu den ihnen seit den fünfziger Jahren immer wieder versprochenen Waren. Im Westen konstatierte man, daß die DDR-Bürger das gerade empfangene Begrüßungsgeld unverzüglich in Lebensmittel wie Kaffee, Schokolade und Südfrüchte umsetzten 49. Alle diese Produkte waren bis dahin nur sporadisch über Westpakete, „Intershop“ oder die Delikatläden in den Konsum der DDR-Bürger eingegangen, hatten aber ihre Konsumerwartungen wesentlich mitgeprägt