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Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde | APuZ 26/1999 | bpb.de

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APuZ 26/1999 Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen und soziologisch-pädagogische Defizite Berufliche Chancen Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland

Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde

Christian Pfeiffer/Peter Wetzels

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die polizeilichen Kriminalstatistiken zeigen seit Ende der achtziger Jahre drastische Anstiege der Jugendgewalt. Die Befunde geben Anlaß zu differenzierter Betrachtung. So ist eine Veränderung der Deliktschwere und der Tater-Opfer-Beziehungen zu konstatieren: Fälle mit weniger starken Verletzungsfolgen und geringeren finanziellen Schäden haben besonders stark zugenommen. Ferner ist der Anteil solcher Gewaltvorfälle erheblich größer geworden, bei denen Täter und Opfer verschiedenen ethnischen Gruppen angehören. Der größte Teil der Jugendgewaltdelikte geschieht zwischen Gleichaltrigen und wird der Polizei nicht angezeigt. Fälle aber, die sich zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen ereignen, haben eine erhöhte Anzeigewahrscheinlichkeit. Wegen des Anstiegs solcher Täter-Opfer-Konstellationen hat die Jugendgewalt real nicht so stark zugenommen, wie die polizeilichen Daten es zeigen. Ein Teil des Anstiegs ist auch auf erhöhte Anzeigequoten zurückzuführen. Jugendgewalt ist ferner nicht geschlechtsneutral. Täter wie Opfer sind überproportional häufig junge Männer mit schlechten Bildungschancen aus sozial benachteiligten Familien. Gewalt im Elternhaus ist eine weitere wichtige Einflußgröße. Schlechte Bildungschancen, sozioökonomische Belastungen sowie innerfamiliäre Gewalterfahrungen sind maßgebliche Risikofaktoren. Je mehr solche Belastungen Jugendliche aufweisen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich in devianten Jugendgruppen zusammenschließen und Gewalttaten begehen. Junge Ausländer sind besonders stark mit solchen Risikofaktoren belastet. Bei ihnen sind dementsprechend die Taterraten deutlich überhöht. Dies gilt vor allem für junge Migranten, die schon längere Zeit in der Bundesrepublik Deutschland unter den Bedingungen sozialer Benachteiligung aufwachsen.

Am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen wurden im Jahr 1998 drei umfangreiche Untersuchungen zum Thema Jugendgewalt durchgeführt: eine Repräsentativbefragung von Jugendlichen neunter Schulklassen zu ihren Gewalterfahrungen und -handlungen, eine Analyse aller Akten der Jahrgänge 1990, 1993 und 1996 der Staatsanwaltschaft Hannover, die junge Menschen unter 21 Jahre betreffen, die als Tatverdächtige von Gewaltdelikten polizeilich registriert worden sind, und eine Untersuchung der Entwicklung der Kriminalität junger Menschen anhand von Statistiken der Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte auf Bundes-und Landesebene. Im nachfolgenden werden zentrale Befunde dieser drei Forschungsprojekte in Thesenform vorgestellt und erläutert

I.

Abbildung 1: Entwicklung der Tatverdächtigenziffern der Gewaltkriminalität verschiedener Altersgruppen in den alten Bundesländern einschließlich Berlin Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Der Anstieg der Jugendgewalt fällt in Wirklichkeit aus, polizeilichen schwächer als die Daten es signalisieren.

Abbildung 10: Täter selbstberichteter Gewalt 1997 nach Tathäufigkeit und Geschlecht Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Die. Daten der polizeilichen Kriminalstatistik

Abbildung 11: Sozialisationsbedingungen und ethnische Herkunft Jugendlicher (Angaben in Prozent) Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

(PKS) zeigen bundesweit einen drastischen Anstieg der Jugendgewalt, und zwar sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern. Demgegenüber finden sich in den Altersgruppen ab 30 Jahre aufwärts derartige Entwicklungen nicht Abbildüng 1 zeigt die Entwicklung der Tatverdächtigen-Ziffern (Tatverdächtige je 100 000 der jeweiligen Altersgruppe der Bevölkerung) für verschiedene Altersgruppen seit 1984.

Abbildung 12: Prävalenz aktiver Gewalttäter 1997 nach Privilegierung (in Prozent) Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Danach hat sich die polizeilich registrierte Gewalt-kriminalität Jugendlicher zwischen 1984 und 1997 in Westdeutschland um das 3fache erhöht. Bei den Heranwachsenden ist sie um ca. vier Fünftel angestiegen.

Abbildung 13: Täter selbstberichteter Gewalt 1997 nach Tathäufigkeit und Privilegierung -Anteil Mehrfachtäter nach Sozialisationsbedinungen Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Diese polizeilichen Daten beschreiben allerdings nur das Hellfeld der Delikte -also die angezeigten Delikte. Ausgeblendet bleibt, was sich im Dunkel-feld der polizeilich nicht bekannt gewordenen Straftaten ereignet hat. Regelmäßig wiederholte, gleichartige repräsentative Opferbefragungen, die Aufschluß über mögliche Veränderungen des Anzeigeverhaltens bieten könnten, stehen in Deutschland -anders als etwa in England oder den USA -nicht zur Verfügung. Für die Bundesrepublik liegen lediglich einige regionale Untersuchungen sowie Studien, die an Schulen durchgeführt wurden, vor, die Vergleiche in längsschnittlicher Perspektive gestatten 3. Diese weisen darauf hin, daß es eine Zunahme der Jugendgewalt gegeben hat, wobei allerdings der in diesen Untersuchungen festgestellte Anstieg deutlich niedriger ist als die Zuwachsraten der PKS. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es eine Zunahme der Anzeigebereitschaft gegenüber jugendlichen Gewalttätern gegeben, sich also die Sichtbarkeit der Jugendgewalt erhöht hat. Unsere Schülerbefragung hat Hinweise für einen solchen Anstieg der Registrierungswahrscheinlichkeit von Jugendgewaltdelikten erbracht. Diese resultieren aus der Kombination eines gestiegenen Anteils jugendlicher Migranten an der Gesamtbevölkerung junger Menschen einerseits und einem ethnisch-selektiven Anzeigeverhalten andererseits.

Abbildung 14: Mittelwerte der Gewaltbefürwortung nach Cliquenzugehörigkeit Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen

So dominierten nach den Erkenntnissen aus unserer Aktenanalyse zu Beginn der neunziger Jahre bei Gewaltdelikten junger Menschen in Hannover intraethnische Konfliktkonstellationen, bei denen Täter wie Opfer derselben ethnischen Gruppe angehören (65, 1 %). Im Jahr 1996 fanden die registrierten Gewaltdelikte hingegen mehrheitlich (zu 58, 1 %) zwischen Tätern und Opfern statt, die verschiedenen Ethnien angehörten.

Abbildung 15: Verteilung der Jugendlichen nach Cliquenarten und Anteil der Cliquen an der Gesamtheit aller selbstberichteten Gewaltdelikte Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

In unserer Schülerbefragung wurden die Opfer von Gewaltdelikten auch nach der ethnischen Zugehörigkeit des Taters befragt, von dem sie beim letzten Vorfall betroffen waren. Ferner wurde erhoben, ob die Opfer den Vorfall der Polizei angezeigt haben Es zeigt sich, daß Gewaltdelikte, sofern Täter und Opfer derselben ethnischen Gruppe angehören, seltener angezeigt werden (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 16: Rate der Mitglieder in devianten Cliquen nach Gewalt in der Kindheit für männliche Jugendliche Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Bei der früher dominierenden Täter-Opfer-Konstellation „Max“ gegen „Moritz“ -also zwei jugendliche Deutsche unter sich -wurde nur etwa jede fünfte Gewalttat angezeigt (22, 0 %). Wenn aber „Ahmed“ oder „Igor“ den „Moritz“ zusammengeschlagen oder beraubt haben, dann wird fast jeder dritte Fall der Polizei gemeldet (30, 6 %). Ganz ähnlich ist die Situation auch, wenn sich eine Gewalttat unter den Mitgliedern derselben Gruppe von Migranten ereignet, der Täter also nichtdeutsch ist, aber der eigenen Ethnie angehört (z. B. „Mehmet“ gegen „Ahmed“). Hier liegt die Anzeigequote bei 13, 7 %. Wenn das Opfer ein Nichtdeutscher ist und der Täter ebenfalls, allerdings aus einer anderen ethnischen Gruppe, dann liegt die Anzeigequote mit 24, 4 % schon höher. Wenn dagegen das Opfer ein Ausländer ist und der Tater ein Deutscher, erhöht sich die Anzeigequote bei den ausländischen Opfern auf 28 %.

Abbildung 17: Art der Cliquenzugehörigkeit nach Privilegierung (nur Jungen) (in Prozent) Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Wir interpretieren diese Befunde so, daß im Falle interethnischer Vorfälle die Bereitschaft und/oder die Kompetenzen zu einer informellen Regelung reduzierter sind. Wenn jugendliche Täter und Opfer aus unterschiedlichen Ethnien stammen, so sind Kommunikationsprobleme eher wahrscheinlich. Diese können dazu beitragen, daß es nicht zu einer Beilegung des Konfliktes durch die Beteiligten selbst oder ihre Eltern kommt, sondern zur Einschaltung der Behörden.

Abbildung 18: Cliquenart nach Ort des Kennenlernens für männliche Jugendliche Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Wegen der starken Zuwanderung fremder Ethnien seit Ende der achtziger Jahre in Westdeutschland ist es bei der Jugendgewalt zu einem Anstieg solcher interethnischen Tater-Opfer-Kombinationen gekommen, bei denen eine höhere Anzeigewahrscheinlichkeit besteht. Wie unsere Aktenanalyse bestätigt, geraten zunehmend Fälle in die Strafverfolgung, die früher noch unter den Tatbeteiligten intern geregelt wurden. Weiter führt das ethnisch selektive Anzeigeverhalten zu einer Überrepräsentation von Jugendlichen aus Migrantenfamilien in der Tatverdächtigenstatistik.

Abbildung 19: Gewalt in der Familie, Eltern-normen, Cliquennormen und Gewalthandeln: Multivariates Strukturgleichungsmodell für männliche Jugendliche Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Gleichwohl ist von einem Anstieg der Jugendgewalt auszugehen. Die Zunahme der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität junger Menschen geht weit über das hinaus, was durch eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft erklärt werden könnte. Dies zeigt sich z. B. bei einer Gegenüberstellung der polizeilich registrierten weiblichen und männlichen Opfer. So hat sich bei 14-bis unter 18jährigen männlichen Jugendlichen die Rate der Opfer von Raubtaten zwischen 1985 und 1997 um das ll, 8fache erhöht, bei den weiblichen Jugendlichen dagegen nur um das 5, lfache. Eine theoretisch plausible Erklärung, warum die Anzeigebereitschaft der männlichen Opfer (und ihrer Eltern), nicht aber die der Mädchen extrem zugenommen haben sollte, können wir nicht erkennen.

Zudem ist es wenig realistisch anzunehmen, daß sich die Bereitschaft Jugendlicher, z. B. ein Raub-delikt anzuzeigen, seit 1985 extrem verändert haben sollte. Nach unserer Schülerbefragung haben 1997 nur 20 bis 25 % der 14-bis 16jährigen Raubopfer eine Anzeige erstattet. Im Jahr 1985 dürfte diese Quote nur zwischen 4 und 5 % betragen haben, wenn die Zunahme der Opferziffern nur mit dem Wandel des Anzeigeverhaltens erklärt werden sollte. Wir gehen deshalb davon aus, daß die in der PKS abgebildete Zunahme derRaubdelikte Jugendlicher zum Teil auf ein verändertes Anzeigeverhalten, zu einem größeren Teil aber auf einen realen Anstieg solcher Gewalttaten zurückzuführen ist. In Ermangelung von Längsschnittdaten zum Anzeigeverhalten ist eine präzise Angabe der Höhe dieses Anstieges allerdings nicht möglich.

II.

Abbildung 2: Anzeigeverhalten nach ethnischer Zugehörigkeit von Täter und Opfer Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Die polizeilich registrierten Gewalttaten junger Menschen sind in den letzten Jahren nicht brutaler geworden. Die durchschnittliche Deliktsschwere hat vielmehr abgenommen. Die in Hannover durchgeführte Aktenanalyse aller polizeilich registrierten Jugendgewaltdelikte der Jahre 1990, 1993 und 1996 hat einerseits erbracht, daß sich in dieser Zeit die Zahl der durch Jugendliche und Heranwachsende begangenen Gewalttaten fast verdoppelt hat 5. Dabei zeigte sich aber auch, daß die durchschnittliche Tatschwere der Fälle von Jugendgewalt seit 1990 stark zurückgegangen ist.

Der zwischen 1993 und 1996 eingetretene Anstieg der unter 21jährigen, die eines Raubdeliktes beschuldigt wurden, betrifft beispielsweise zu mehr als der Hälfte (54 %) die Schadenskategorie unter 25, -DM und zu 28, 9 % die Kategorie 25, -bis unter 100, -DM. Der Anteil der Fälle mit einem Schaden von über 500, -DM ist dagegen von 29, 2 % auf 14, 8 % zurückgegangen. Ferner hat der Anteil der Raubdelikte, in denen es zu einer Verletzung des Opfers gekommen ist, deutlich abgenommen (von 41, 6 % auf 32, 0 %). Bei der gefährlichen/schweren Körperverletzung zeigt sich ein ähnliches Bild: Von 1993 auf 1996 steht einer deutlichen Zunahme der Fälle von versuchter Tatbegehung oder von Verletzungen, bei denen keine ärztliche Hilfe nötig war, (von 34, 6 % auf 43, 9 %) eine geringfügige Abnahme der Fälle mit ambulanter Behandlung sowie ein starker Rückgang von Fällen mit Verletzungen gegenüber, die eine stationäre Behandlung erforderlich machten (von 14, 6 % auf 7, 9 %). Auch der Einsatz von Waffen war bei den untersuchten Gewalttaten rückläufig (von 34, 2 % auf 17, 5 %). Zugleich hat der Anteil der angeklagten Ersttäter, die keine Belastung mit früheren Jugendstrafverfahren aufweisen, stark zugenommen. Im Jahr 1990 betrug er 40, 1 %, im Jahr 1996 dagegen 61, 9 %. Parallel dazu ging die Quote der Angeklagten mit sechs und mehr früheren Verfahren von 9, 5 % auf 4, 1 % zurück.

Eine Erklärung für diese Abnahme der Tat-schwere von Jugendgewalttaten liefert -neben den Feststellungen zum Anstieg des Anteils interethnischer Vorfälle und den damit verbundenen Kommunikationsproblemen -die Analyse der Altersstruktur von Opfern und Tätern. Hier hat der Anteil der unter 18jährigen Opfer im Verlauf der sechs Jahre von 26 % auf 51 % zugenommen. Bei den wegen Raubdelikten oder gefährlichen/schweren Körperverletzungen Angeklagten ist der Anteil der unter 18jährigen in dieser Zeit von 48 % auf 62 % angestiegen.

Eine Längsschnittanalyse staatsanwaltschaftlicher Erledigungsstatistiken und der Strafverfolgungsstatistiken liefert deutliche Anhaltspunkte dafür, daß es die in Hannover zu beobachtende Entwicklung abnehmender Deliktsschwere auch bundesweit gegeben hat. So findet sich ein starker Rückgang der Anklagequote von 14-bis unter 21jährigen Tatverdächtigen der Gewaltkriminalität. Während 1984 noch jeder zweite von ihnen vor Gericht gestellt wurde, war es 1996 nur noch knapp jeder dritte (vgl. Abbildung 3).

Ferner ist in den Daten der Strafverfolgungsstatistik im Längsschnittvergleich der Jahrgänge 1984, 1990 und 1996 eine Veränderung der Sanktionspraxis festzustellen. So hat der Gebrauch freiheitsentziehender Sanktionen gegenüber 14-bis unter 21jährigen Tätern von Raubdelikten im Verlauf dieser zwölf Jahre stark abgenommen. Am deutlichsten wird das bei den nicht zur Bewährung ausgesetzten Jugend-/Freiheitsstrafen. Deren Quote sank von 30 % im Jahr 1984 um fast die Hälfte auf 15, 7 % im Jahr 1996. Auch die zur Bewährung ausgesetzten Jugend-/Freiheitsstrafen gingen von 33 % auf 26, 5 % zurück. Die Quote des Jugendarrests blieb mit etwa 14 % fast unverändert. Für die gefährlichen/schweren Körperverletzungen ergibt sich ein ähnlicher Trend (Abnahme der Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Bewährung von 1 % auf 3, 5 %; mit Bewährung von 10, 1 % auf 8, 3 % und von Jugendarrest von 21, 8 % auf 18, 3 %). Dagegen blieb der Anteil der Jugendlichen und Heranwachsenden, die wegen Diebstahlsdelikten zu Jugend-/Freiheitsstrafen verurteilt wurden, auch in den neunziger Jahren fast unverändert auf dem Niveau, das sich Mitte der achtziger Jahre ergeben hatte. Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Sind die Jugendrichter gegenüber den jungen Gewalttätern milder geworden? Diese Interpretation der Daten erscheint angesichts der Tatsache, daß die offiziell registrierte Jugendgewalt stark zugenommen hat, wenig plausibel. Wir halten es eher für wahrscheinlich, daß die Jugendgerichte ihren Maßstab dafür, wann bei Gewalttaten eine freiheitsentziehende Sanktion erforderlich ist, bislang nicht wesentlich verändert haben. Wir erklären die oben beschriebene Entwicklung vielmehr damit, daß die Tatschwere der Raubdelikte und qualifizierten Körperverletzungen im Verlauf der zwölf Jahre abgenommen hat. Für diese These spricht auch der Rückgang des Anteils der Heranwachsenden an den 14-bis 21jährigen Angeklagten: Während er 1984 bei Raubdelikten noch 49, 8 % betrug, waren es 1996 nur noch 35, 7 %. Auch bei den qualifizierten Körperverletzungen ist er in dem hier betrachteten Untersuchungszeitraum von 56, 3 % auf 45, 6 % zurückgegangen.

Zu dieser Interpretation veranlaßt auch die Tatsache, daß die Häufigkeit von Jugend-/Freiheitsstrafen bei Diebstahlsdelikten nur geringfügig abgenommen hat. Unterstellt man, die Jugendrichter seien zunehmend milder geworden, dann müßte diese Veränderung ihrer Sanktionsmaßstäbe nicht nur die Gewaltdelikte, sondern auch die Diebstahlsdelikte erfassen. Dies ist aber nicht der Fall. 1994 wurden bei Raubdelikten noch viermal so oft wie bei Diebstahlsdelikten Jugend-/Freiheitsstrafen ohne Bewährung angeordnet, 1996 dagegen nur noch 2, 3 mal so oft.

III.

Abbildung 3: Tatverdächtige, abgeurteilte und verurteilte 14-bis unter 21jährige bei Gewaltkriminalität pro 100 000 der Altersgruppe in den alten Bundesländern Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Die Zunahme der Jugendgewalt steht in engem Zusammenhang damit, daß unsere Gesellschaft immer mehr zu einer Winner-Loser-Kultur wird. Vor allem junge Migranten geraten dabei in einsoziales Abseits. Eine im Jahr 1997 für die Europäische Union durchgeführte Analyse zur Entwicklung der Jugendgewalt in zehn europäischen Staaten konnte zeigen, daß der in Europa fast durchweg festzustellende Anstieg der Gewalttaten junger Menschen primär Tätern mit niedriger Schulbildung zuzurechnen ist, deren gesellschaftliche Position von relativer Armut, sozialer Ausgrenzung und schlechten Integrationsperspektiven gekennzeichnet ist Dies bestätigten Erkenntnisse, die in Frankreich Dubet und Lapeyronnie, in der Schweiz Eisner oder in England Oliver James gewonnen haben

Tabelle: Täterraten selbstberichteter aktiver Gewaltdelinquenz im Jahr 1997 nach Bildungsniveau und ethnischer Herkunft (mit mittlerer Deliktshäufigkeit gewichtete Täterraten in Klammern) Quelle: Eigene Erhebungen

Entsprechende Ergebnisse hat auch unsere in Hannover durchgeführte Aktenanalyse erbracht. Danach ist die Zunahme polizeilich registrierter Jugendgewalt in den neunziger Jahren zu etwa vier Fünfteln solchen Jugendlichen und Heranwachsenden zuzurechnen, die sozialen Randgruppen angehören. Soweit sie zum Zeitpunkt der Tat noch Schüler waren, besuchten 52, 3 % die Hauptschule oder Sonderschule. Weitere 10, %, die nach dem Ende der Hauptschule keinen Ausbildungsplatz finden konnten, besuchten ein Berufsgrundschuljahr. Werden noch die Angeklagten hinzugezählt, die die Schule ohne Abschluß verlassen haben (12 %), so erhöht sich die Quote der Angeklagten mit niedrigem Bildungsniveau auf 75, 7 % 8. In Hannover haben jedoch nach unserer Repräsentativbefragung nur 27, 5 % der Jugendlichen ein solch niedriges Bildungsniveau. Von den Angeklagten, die nicht mehr die Schule besuchten, waren im Jahr 1990 zur Tatzeit 38, 2 % arbeitslos. Diese Quote erhöhte sich bis 1996 auf 60, 4 % Die Daten zum Beschäftigungsstatus der Eltern der angeklagten jungen Menschen dokumentieren ebenfalls eine Verschlechterung der Lebenssituation: 1990 stammten 16, 3 % der jungen Angeklagten aus Familien, die von der Arbeitslosigkeit des Haupternährers betroffen waren; 1996 lag diese Quote bei 27, 9 %.

Auch die Schülerbefragung hat für den Zusammenhang zwischen den Zukunftsperspektiven und der sozialen Lage Jugendlicher einerseits und ihrer Gewaltbereitschaft andererseits bestätigende Befunde erbracht. Ein Beispiel sind die Daten zur selbstberichteten Gewaltdelinquenz in Abhängigkeit vom Bildungsniveau der Befragten (vgl. Tabelle S. 8). Für Neuntkläßler, die Sonder-schulen, Hauptschulen oder das Berufsgrundschuljahr besuchen, liegt die Rate der Gewalttäter um fast das Dreifache über der Vergleichszahl für Gymnasiasten. Werden gewichtete Täterraten betrachtet, so wächst dieser Unterschied auf mehr als das Vierfache an. Zudem ist der Unterschied der Gewaltbelastung zwischen den einheimischen Deutschen und den jungen Ausländern auch dann nachweisbar, wenn das Bildungsniveau konstant gehalten wird. So liegt die Täterrate der einheimisch-deutschen Gymnasiasten mit 11, 5 % nur etwa halb so hoch wie die Rate der ausländischen Gymnasiasten.

IV.

Abbildung 4: Raten der aktiven Gewalttäter 1997 (Selbstberichte) nach ethnischer Herkunft Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Der Anstieg der Jugendgewalt ist überwiegend jenen jungen Migranten zuzurechnen, die sozial nicht integriert werden konnten. Eine besondere Problemgruppe sind solche jungen Zuwanderer, die seit längerem in Deutschland unter Bedingungen sozialer Benachteiligungen aufwachsen. Nach den Daten der PKS beruht die zwischen 1984 und 1997 in Westdeutschland eingetretene Zunahme der 14-bis unter 21jährigen Tatverdächtigen bei Gewalt-kriminalität zu zwei Drittel darauf, daß die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen dieser Altersgruppe stark angewachsen ist Ferner ist der Anstieg der deutschen Tatverdächtigen auch durch eine Zuwanderung aus Osteuropa mitbedingt; seit 1988 sind vor allem aus Rumänien, Polen und den Staaten der früheren Sowjetunion insgesamt 2, 4 Millionen Aussiedler nach Deutschland gekommen, die mit ihrer Ankunft deutsche Staatsangehörige wurden.

Infolgedessen stellen die einheimischen Deutschen unter den Angeklagten der Jugendgewalt in den Großstädten heute eine Minderheit dar. In Hannover beispielsweise ging ihr Anteil an den wegen Raubdelikten und gefährlichen/schweren Körperverletzungen angeklagten 14-bis unter 21jährigen zwischen 1990 und 1996 von 61 % auf 38 % zurück. Der zwischen 1990 und 1996 in Hannover zu beobachtende Anstieg der wegen Gewaltdelikten angeklagten Jugendlichen und Heranwachsenden ist zu 95, 1 % ausländischen Migranten sowie jungen Aussiedlern und eingebürgerten Deutschen zuzurechnen

Eine weitere Möglichkeit, die Auswirkungen der Zuwanderung von Aussiedlern und Nichtdeutschen auf die Entwicklung der registrierten Jugendkriminalität zu prüfen, bieten die Gefangenenzahlen in den deutschen Jugendstrafanstalten. Eine 1998 vom KFN durchgeführte bundesweite Umfrage ergab zum Stichtag 31. Mai 1998, daß der Anteil der Nichtdeutschen im Laufe der neunziger Jahre stark angestiegen ist und inzwischen eine Quote von 35 % erreicht hat. Der Anteil der Aussiedler liegt bei 10 %, während die Quote der einheimischen Deutschen nur noch bei 54, 9 % liegt

Am KFN sind ferner Vergleichsuntersuchungen zur Kriminalitätsentwicklung in niedersächsischen Handkreisen mit einer besonders hohen oder besonders niedrigen Zuwanderung von Aussiedlern durchgeführt worden. Dabei zeigte sich, daß die registrierte Gewalt-und Diebstahlskriminalität der jungen Deutschen seit 1990 in jenen Gebieten extrem zugenommen hat, die die stärkste Zuwanderung von Aussiedlern hatten. In den Landkreisen mit der niedrigsten Aussiedlerzuwanderung haben sich dagegen Anstiegsquoten ergeben, die deutlich unter dem Landesdurchschnitt der 14-bis unter 21jährigen liegen

Es wurde bereits aufgezeigt, daß die dominierende Rolle der Migranten beim Anstieg der registrierten Jugendgewalt teilweise auch auf einer erhöhten Anzeigebereitschaft gegenüber Tätern aus fremden Ethnien beruht. Zugleich ist aber auch die tatsächliche Gewaltbelastung der jungen Ausländer höher. So sind ausländische Jugendliche auch dann unter den Tatern der Jugendgewalt erheblich überrepräsentiert, wenn nicht die durch selektives Anzeigeverhalten beeinflußten Hellfelddaten, sondern selbstberichtete über eigenes Gewaltbandeln zugrunde gelegt werden.

Die beträchtlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen sind in hohem Maße auf die Differenzen der Raten von Mehrfachtätern mit fünf und mehr zurückGe»walttaten Diese Rate ist bei türkischen Jugendlichen mit 13, 9 % fast dreimal höher als die entsprechende Quote bei den einheimischen Deutschen (vgl. Abbildung 4). Nicht erhöht sind hingegen die Raten der jungen Aussiedler aus den früheren GUS-Staaten.Zusätzlich haben wir die jugendlichen Opfer von Gewalttaten nach der ethnischen Zugehörigkeit der Tater des letzten von ihnen erlebten Gewaltdelikts befragt Die Antworten bestätigen das obige Bild: Türkische Jugendliche wurden von den Opfern aller ethnischen Gruppen am häufigsten als Täter genannt (32, 2 %). Sie sind damit -gemessen an ihrem Anteil unter den Befragten -um etwa das Vierfache als Täter überrepräsentiert. Ausländische Jugendliche insgesamt wurden im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Schülerschaft doppelt so oft als Täter genannt.

Diese höhere Belastung junger Ausländer ist nach unseren Erkenntnissen in hohem Maße eine Folge dessen, daß die soziale Integration der jungen Zuwanderer Probleme bereitet. Dies zeigten bereits die Daten zur sozialen Lage der wegen Gewaltdelikten angeklagten jungen Migranten. Weitere Belege für diesen Zusammenhang hat die Schülerbefragung erbracht. Ein wichtiger Indikator für die soziale Integration ist das Bildungsniveau. Die Qualität des Schulabschlusses ist für berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und somit auch für gesellschaftliche Teilhabe entscheidend. Die verschiedenen Schulformen sind Ausdruck von Zukunftschancen. Ein Vergleich der von d verschiedenen ethnischen Gruppen besucht Schulformen macht deutlich, daß diese Chanc sehr ungleich verteilt sind (vgl. Abbildung 5).

Die Rate der Gymnasiasten liegt bei den einheir sehen Deutschen mit 44, 1 % erheblich höher bei allen jungen Migranten. An der Hauptschi finden sich 12 % der einheimischen Deutsch« Komplementäre Extremwerte finden sich bei d türkischen Jugendlichen, die nur zu 8, 5 % c Gymnasium besuchen, aber zu 39, 8 % eine Hau] schule. Junge Migranten sind ferner doppelt so (wie einheimische Deutsche davon betroffen, d ihre Eltern arbeitslos sind und/oder Sozialhil beziehen. Zudem sind junge Migranten erhebli seltener als junge Deutsche Mitglied in eine Sportverein, einem Jugendverband oder ein Jugendgruppe -alles Hinweise auf ihre geringe soziale Integration.

Die Aktenanalyse ergab weiter, daß die starl Zunahme der Migranten unter den Angeklagte zu fast 90 % auf solchen Personen beruht, die a Ausländer in Deutschland geboren wurden od vor mehr als fünf Jahren zugewandert sind. Ein« ähnlichen Befund hat die Schülerbefragung e bracht. In Abbildung 6 werden die Raten aktiv g walttätiger Jugendlicher (selbstberichtete Gewal delinquenz) für junge Migranten nach der Dauihres Aufenthaltes in Deutschland dargestellt. Zum Vergleich wird auch die Täterrate für einheimische Deutsche angegeben.

Es lassen sich bei den Migrantenjugendlichen drei Gruppen unterscheiden: Erstens junge Migranten, die erst seit weniger als zwei Jahren in Deutschland sind. Es handelt sich hier vor allem um jugendliche Aussiedler. Die Gewalttäterrate dieser Gruppe liegt mit Abstand am niedrigsten. Sie unterschreitet auch die Rate, die bei einheimischen Deutschen festzustellen ist. Zweitens junge Migranten, die sich seit drei bis acht Jahren in Deutschland aufhalten. Deren Gewalttäterrate liegt signifikant über jener der einheimischen Deutschen. Sie ist aber immer noch niedriger als -drittens -die Gewalttäterrate der Migranten, die sich seit neun Jahren oder länger in Deutschland aufhalten bzw. hier geboren sind. Die am längsten hier lebenden Migranten haben also die höchsten Täterraten

Junge Migranten sind offenbar eine Zeitlang bereit, Eingliederungsprobleme hinzunehmen. Wenn sich diese sozialen Nachteile jedoch dauerhaft verfestigen, sinkt ihre Bindung an die Normen der Aufnahmegesellschaft. Mit den Ausgrenzungserfahrungen wächst vermutlich auch ihre Tendenz, sich zu delinquenten Gruppen zusammenzuschließen. Je länger sie soziale Ungerechtigkeit erfahren, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß sie aus dieser Situation heraus auch Gewaltdelikte begehen. Sie haben gewissermaßen subjektiv berechtigte „deutsche Ansprüche“ entwickelt, denen keine „deutschen Chancen“ gegenüberstehen. Dieser Befund impliziert zugleich die Feststellung einer Aufgabe wie auch einer Gefahr: Sofern die Eingliederung neu zuwandernder Jugendlicher mißlingt, entsteht ein Gefahrenpotential.

V.

Abbildung 5: Vergleich der Bildungsniveaus der verschiedenen ethnischen Gruppen Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Jugendliche, die in ihrer Kindheit oder aber auch als Jugendliche von ihren Eltern massiv geschlagen oder mißhandelt wurden, werden erheblich häufiger selber gewalttätig als nicht geschlagene junge Menschen. Im Rahmen unserer Schülerbefragung wurden auch Daten zur Viktimisierung durch elterliche physische Gewalt erhoben und mit den Daten zu Opfererfahrungen durch Gewaltdelikte jugendlicher Täter sowie den Daten zu aktivem Gewalthandeln in Beziehung gesetzt. Nur 44, 4 % der Jugendlichen berichteten, daß sie in ihrer Kindheit bis zum 12. Lebensjahr nicht von ihren Eltern geschlagen wurden. 29, 4 % erlebten leichte körperliche Züchtigungen, 16, 5 % wurden von den Eltern schwer gezüchtigt und 9, 8 % waren Opfer elterlicher Mißhandlungen.

Ein erheblicher Teil der Befragten (42 %) wurde auch noch im letzten Jahr (1997) von den Eltern geschlagen. Fast jede(r) sechste (15, 2 %) der von uns befragten Schülerinnen und Schüler wurde in diesem letzten Jahr vor der Befragung Opfer massiver elterlicher Gewalt (Schläge mit Gegenständen, häufige Prügel oder Mißhandlungen). Außerhalb der Familie hatten in dieser Zeit „nur“ 12 % eine Körperverletzung mit oder ohne Waffen durch jugendliche Tater erlebt. Gewalt durch Eltern im familiären Bereich ist damit weiter verbreitet als die Viktimisierung Jugendlicher durch ähnliche Gewalthandlungen seitens gleichaltriger Täter. Die Dunkelfeldanteile dieser beiden Gewaltformen unterscheiden sich erheblich. Während schwere Gewalttaten gegen Jugendliche durch nicht erwachsene (zumeist etwa gleichaltrige) Tater der Polizei zu etwa einem Sechstel bekannt werden, beträgt die Anzeigequote bei Mißhandlungen durch Eltern 2, 2 %, d. h., nur etwa jeder 40. Fall wird der Polizei bekannt.

Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder und Jugendliche steht zudem in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Lage der Familien. So wurden Jugendliche aus von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe betroffenen Familien mehr als doppelt so oft mißhandelt wie Jugendliche aus Familien, die nicht mit solchen Belastungen konfrontiert waren 1997 wurden 7, 2 % der Jugendlichen von ihren Eltern mißhandelt und 8 % schwer gezüchtigt. Bei einem Vergleich der ethnischen Gruppen (vgl. Abbildung 7) bilden die türkischen Jugendlichen, von denen 1997 fast jeder fünfte Opfer einer elterlichen physischen Mißhandlung geworden ist, das eine Extrem. Besonders hohe Opferraten finden sich ferner bei Jugendlichen aus Jugoslawien und aus Südeuropa. Auf der anderen Seite stehen die einheimischen Deutschen mit einer Rate von 5, 5 % Opfern elterlicher Mißhandlung und 7, 5 % Opfern schwerer Züchtigung.

Derartige Gewalterfahrungen, die sich in der Kindheit, in der Jugendzeit oder aber über die gesamte subjektiv erinnerliche Biographie ereignet haben können, erhöhen für die betroffenen Jugendliche die Wahrscheinlichkeit beträchtlich, daß sie auch selbst Gewalt ausüben. Besonders deutlich wird das bei Mehrfachtätern. Während sich unter Jugendlichen ohne jegliche Viktimisierung durch schwere elterliche Gewalt lediglich 4, 5 % finden, die im Jahr 1997 mehrfach Gewalt-delikte begangen haben, sind dies in der Gruppe derer, die sowohl in Kindheit als auch in der Jugendzeit Opfer schwerer elterlicher Gewalt waren, mit 14, 8 % mehr als dreimal so viel (vgl. Abbildung 8).

Dieser Befund zeigt auch, daß die Beendigung innerfamiliärer Gewalt, die Verhinderung ihrerFortsetzung in die Jugendzeit, mit einer Reduzierung des Risikos aktiver Gewalttätigkeit verbunden ist. Effektive Intervention eröffnet hier Chancen der Gewaltprävention bei Jugendlichen.

VI.

Abbildung 6: Raten aktiver jugendlicher Gewalttäter 1997 bei Migranten nach Aufenthaltsdauer Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Jugendgewalt ist männlich; das Übergewicht junger männlicher Täter hat sich seit Mitte der achtziger Jahre sehr verstärkt. Inwieweit ist fest-der zustellende Anstieg der Raten junger Tat-verdächtiger der Gewaltdelikte eher dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzurechnen? Im Hellfeld ist im Verlauf der letzten Jahre die Rate der tatverdächtigen weiblichen Jugendlichen zwar etwas stärker angestiegen (um + 354, 1 %) als die der männlichen (+ 219, 5 %). Aber es hat sich gleichzeitig der Abstand der polizeilich registrierten Gewaltbelastung der Geschlechter beträchtlich erhöht. So ist von 1984 bis 1997 die Quote der männlichen Jugendlichen, die als Tatverdächtige einer Gewalttat registriert wurden, von 0, 52 % auf 1, 65 % angewachsen -also um 1, 13 Prozentpunkte. Bei den Mädchen ist diese Quote dagegen nur von 0, 06 % auf 0, 26 %, also um 0, 2 Prozentpunkte angestiegen. Der Anstieg der Jugendgewalt ist danach zu 84, 6 % den Jungen und nur zu 15, 4 % den Mädchen zuzurechnen (vgl. Abbildung 9).

Entsprechendes gilt auch für die Opfer von Gewalttaten. Abgesehen von den Sexualdelikten stehen durchweg die männlichen Jugendlichen im Vordergrund. Ihr Risiko, Opfer einer polizeilich registrierten Gewalttat zu werden, hat seit Mitte der achtziger Jahre um das 4fache zugenommen, während sich das der weiblichen Jugendlichen um das 2, 5fache erhöht hat Diese divergierende Entwicklung hat dazu geführt, daß die Opferziffer der männlichen Jugendlichen im Jahr 1997 die der weiblichen um das 3, 7fache übersteigt.

Die Dominanz männlicher Jugendlicher, wie sie sich im Hellfeld zeigt, wird auch durch unsere Dunkelfeldbefragung bestätigt. Die Jungen dominieren danach vor allem bei den Mehrfachtätern, die 1997 mehr als fünf Gewaltdelikte begangen haben (vgl. Abbildung 10). Die Schülerbefragung hat ferner Belege dafür erbracht, daß für diese Geschlechtsunterschiede auch die Erziehung durch die Eltern maßgeblich ist. Gewalthandlungen von Mädchen werden von den Eltern erheblich stärker abgelehnt als solche von Jungen Weiter ergab sich hierzu, daß die Unterschiede der Gewaltbelastung der verschiedenen ethnischen Gruppen bei den weiblichen Jugendlichen nach statistischer Kontrolle der Gewaltbelastung der Familiensituation, des Bildungsniveaus der Jugendlichen und der sozialen Lage ihrer Familien nicht mehr signifikant waren. Bei den männlichen Jugendlichen waren hingegen nach wie vor signifikante Höherbelastungen bei den jungen Ausländern festzustellen. Dieses Ergebnis weist darauf hin, daß mit der ethnischen Zugehörigkeit gewaltbefürwortende Männlichkeitsvorstellungen verbunden sind, die für die Erklärung von Gewalthandeln bedeutsam sind

VII.

Abbildung 7: Opfer schwerer elterlicher Gewalt im Jahr 1997 nach ethnischer Herkunft (Angaben in Prozent) Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Das Risiko der Entstehung von Jugendgewalt erhöht sich drastisch, wenn mindestens zwei derfolgenden drei Faktoren Zusammentreffen: die Erfahrung innerfamiliärer Gewalt, gravierende soziale Benachteiligung der Familie, schlechte Zukunftschancen des Jugendlichen selbst aufgrund eines niedrigen Bildungsniveaus. Neben dem elterlichen Erziehungsverhalten sind für die Entwicklung der Jugendlichen, speziell ihre Gewalteinstellungen und ihr tatsächliches Gewalthandeln, offenkundig auch materielle Ressourcen der Familien und positive Zukunftsperspektiven von großer Bedeutung. Zur Analyse wurden die Jugendlichen in Abhängigkeit von der Qualität der Sozialisationsbedingungen, unter denen sie aufwachsen, drei Gruppen zugeteilt: Der ersten gehören jene an, die sich eher auf der „Verliererseite“ (Unterprivilegierte), der dritten jene, die sich auf der „Gewinnerseite“ befinden (Privilegierte); dazwischen liegt eine weitere Gruppe.

Als privilegiert bezeichnen wir jene, die eine gehobene Schulausbildung bekommen (Realschule oder Gymnasium), die gleichzeitig in Familien leben, die nicht von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfe betroffen sind und die weder in ihrer Kindheit noch im Jugendalter Opfer schwerer elterlicher Gewalt (schwere Züchtigung oder Mißhandlung) waren. Unterprivilegiert sind jene Jugendlichen, für die mindestens zwei der drei folgenden Bedingungen zutreffen: Sie besuchen eine Schulform mit ungünstigen Zukunftsoptionen (hier Hauptschule oder Berufsvorbereitungsjahr (BVJ)); die Familie ist von Arbeitslosigkeit und/oder Sozialhilfe betroffen: sie waren in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schwerer elterlicher Gewalt. Die Mittelkategorie bilden jene, die weder als privilegiert noch als unterprivilegiert im hier definierten Sinne zu bezeichnen sind.Zunächst sind mögliche Unterschiede der Verteilung von Privilegierung und Unterprivilegierung zwischen den ethnischen Gruppen von Interesse. Hier zeigt sich eine mit der ethnischen Zugehörigkeit verknüpfte eklatante soziale Ungleichheit (vgl. Abbildung 11). Türkische Jugendliche sind am stärksten benachteiligt. Von ihnen gehören 36, 8 % zu den Unterprivilegierten und nur 14, 4 % zur Gruppe der Privilegierten. Insgesamt sind Jugendliche aus Migrantenfamilien in hohem Maße benachteiligt, wenn man sie mit den einheimischen deutschen Jugendlichen vergleicht. Dort liegt die Privilegiertenquote bei 48, 3 %.

Diese ungleichen Ausgangsvoraussetzungen sind auch für Kriminalität und Gewalt relevant. Wie stark die Kumulation von Risiken in diesem Sinne wirkt, wird nachfolgend in Abbildung 12 dokumentiert.

Unterprivilegierte Jugendliche weisen erheblich höhere Raten selbstberichteter Gewaltdelinquenz auf. Sie waren nach eigenen Angaben im Vergleich zu privilegierten Jugendlichen drei-bis viermal so oft als Täter eines Raubes, einer Erpressung oder der Bedrohung mit einer Waffe. Außerdem waren sie auch erheblich häufiger Mehrfachtäter (vgl. Abbildung 13).

Die Rate der Täter mit zehn und mehr Delikten ist bei den nicht Privilegierten mit 5, 9 % mehr als viermal so hoch wie bei den Privilegierten mit 1, 3 %. Diese Befunde sind ein weiterer Beleg für die These, daß Jugendgewalt auch als Ausdruck einer Winner-Loser-Kultur zu interpretieren ist.

VIII.

Abbildung 8: Rate der Mehrfachgewalttäter (1997) bei selbstberichteter Delinquenz in Abhängigkeit von elterlicher Gewalterfahrung in Kindheit und/oder Jugendalter (in Prozent) Quelle: Zeitpunkt der Viktimisierung durch schwere elterliche Gewalt Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Junge Menschen, die Opfer innerfamiliärer Gewalt waren, schließen sich signifikant häufiger in gewalt-befürwortenden Gleichaltrigengruppen zusammen. Auf Jugendliche aus solchen devianten Gruppen entfällt der überwiegende Anteil der Jugendgewalt. Die Mitgliedschaft in devianzgeneigten Cliquen hat zusätzlich zu den innerfamiliären Gewalterfahrungen einen das Risiko aktiver Gewalttätigkeit steigernden Effekt. Mit zunehmendem Alter erlangt die Gruppe der Gleichaltrigen eine wachsende Bedeutung für die Herausbildung und Festigung von Einstellungen und Normen. Dies gilt sowohl positiv im Sinne eines unterstützenden Netzwerkes von Beziehungen als auch negativ im Sinne eines delinquenzbegünstigenden Umfeldes In unserer Repräsentativerhebung wurden die Jugendlichenauch dazu befragt, ob sie in einer festen Freundes-gruppe (Clique) sind. 50, 9 % aller Jugendlichen gaben an, einer festen Clique anzugehören. Sie machten folgende weitere Angaben zu diesen Gleichaltrigengruppen: In 15, 1 % der Fälle handelt es sich um eine reine Jungengruppe, bei 12, 1 % ist es eine reine Mädchen-gruppe, und 72, 8 % halten sich in gemischtgeschlechtlichen Cliquen auf. Jeder zweite (51 %), der einer Clique angehört, hat sich einer ethnisch homogenen Gruppe angeschlossen Die meisten Cliquen kennen sich aus der Schule (70, 2 %). Die übrigen Nennungen verteilen sich auf Nachbarschaftskontakte (21, 4 %), den Sportverein (21, 4 %), das Jugendzentrum bzw.den Jugendtreff (16, 2 %), auf den Treffpunkt draußen (Stadion, Park, Bahnhof) (16, 9 %) und andere Orte (18, 1 %) 24. 78, 7 % gaben an, sich mehrmals wöchentlich oder täglich zu treffen, 16, 5 % treffen sich wöchentlich einmal, und nur 4, 8 % treffen sich lediglich monatlich mit ihrer Clique.

Um die Art der Gruppen zu klassifizieren, waren den Befragten neun Fragen zu Cliquenaktivitäten gestellt worden. Auf Basis einer Clusteranalyse ließen sich drei deutlich voneinander unterscheidbare Gruppen identifizieren: Erstens die „nicht Devianten“ machen 16, 3 % aller Jugendlichen aus. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie kaum Kneipen besuchen, kaum Normen oder Gesetze übertreten, viel für die Schule lernen, sich nicht mit anderen prügeln, bei anderen keine Angst auslösen und auch nicht mit anderen Cliquen verfeindet sind. In der Mitte liegen zweitens die „Normalen“ % aller Jugendlichen). Sie übertreten gelegentlich Normen, besuchen öfters Kneipen und Diskotheken und entfalten häufiger auch gestaltende Aktivitäten (wozu z. B. aktiv „Musik machen“ gehört). Aber sie prügeln sich kaum mit anderen Gruppen. Sie sind weder mit anderen richtig verfeindet, noch wirkt ihr Gruppenauftreten bei anderen angstauslösend. Diese letzten beiden Punkte kennzeichnen drittens die Gruppen der „Devianten“ (10, 6 % aller Jugendlichen). Diese prügeln sich besonders oft mit anderen, sind mit anderen Gruppen verfeindet und wirken auf andere beängstigend. Gleichzeitig übertreten sie besonders oft Normen und Gesetze, sowohl um Spaß zu haben als auch um die Interessen ihrer Clique gegen andere durchzusetzen. 49, 1 % der Jugendlichen gehören keiner Clique an.

Die Mitglieder dieser Gruppen unterscheiden sich deutlich in ihren Einstellungen zu Gewalt, was die Validität der Unterteilung unterstreicht: Die Jugendlichen aus devianten Cliquen zeigen die mit Abstand höchsten Ausprägungen gewaltbefürwor-tender Einstellungen. Im Mittelbereich liegen die „Normalen“ sowie die Jugendlichen ohne feste Clique. Die geringste Gewaltbefürwortung zeigt sich bei den „nicht Devianten“ (vgl. Abbildung 14).

Kontrastiert man nun die Verteilung der Cliquenzugehörigkeit einerseits mit den prozentualen Anteilen.den diese vier Gruppen an der Gesamtzahl aller selbstberichteten Gewaltdelikte haben, so wird offensichtlich, daß die weit überwiegende Anzahl der Gewaltdelikte von jenen Jugendlichen begangen wird, die sich in den als deviant identifizierten Gleichaltrigengruppen aufhalten. Während die Jugendlichen in devianten Cliquen lediglich 10, 6 % der gesamten Stichprobe ausmachen, entfallen auf sie 57, 3 % aller von den befragten Schülerinnen und Schülern für 1997 berichteten Gewalthandlungen. Jugendliche ohne Clique machen 49, 1 % der Stichprobe aus, auf sie entfallen aber nur 24, 4 % aller Gewalthandlungen. Auch die „Normalen“ begehen mit 16, 5 % aller berichteten Gewalthandlungen weniger aktive Gewalt, als ihrem Anteil von 24, 0 % an der Population entsprechen würde. Schon dies legt nahe, ein starkes Augenmerk auf Jugendliche in devianzgeneigten Gleichaltrigengruppen zu richten (vgl. Abbildung 15).Die Mitgliedschaft in gewaltgeneigten, devianten Cliquen ist vor allem ein Jungenphänomen. Während sich von den Jungen 14, 5 % in devianten Cliquen befinden, sind es bei den Mädchen mit 6, 6 % nur etwa halb soviel. Zudem wirken diese Mädchen zumeist in geschlechtlich gemischten Cliquen mit, die sie vermutlich oft nicht dominieren. Auch die verschiedenen ethnischen Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich der Art ihrer Cliquenzugehörigkeit. Zum einen gehören Migranten generell etwas häufiger gar keiner Clique an. Die Mitgliedschaft in devianten Cliquen ist bei den eingebürgerten Jugendlichen, welche sich im Durchschnitt bereits am längsten in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, mit 23, 6 % am höchsten. An zweiter Stelle liegen die jungen Ausländer (20, 3 %), während die Raten bei den Aussiedlern (15, 1 %) und den einheimischen Deutschen (12, 9 %) sich kaum unterscheiden. Der Anteil derer, die sich in devianten Cliquen aufhalten, ist um so höher, je häufiger und intensiver die Jugendlichen innerfamiliärer Gewalt ausgesetzt waren (vgl. Abbildung 16).

Neben den Erfahrungen mit innerfamiliärer Gewalt steht auch die aktuelle soziale Lage der Jugendlichen in einem Zusammenhang mit ihrer Cliqenzugehörigkeit. So sind Jugendliche mit schlechten Bildungsschancen häufiger in devianten Cliquen. Eine Betrachtung der Jugendlichen nach dem Kriterium ihrer Privilegierung oder Unterprivilegierung zeigt, daß unterprivilegierte Jugendliche besonders oft Mitglieder in devianten Cliquen sind (vgl. Abbildung 17).

Wichtig für eine präventive Arbeit, welche die Gleichaltrigengruppen angesichts ihres Stellenwertes systematisch einbeziehen sollte, ist unter anderem die Kenntnis darüber, an welchen Orten sich diese Cliquen bilden. In Abbildung 18 ist für die jeweiligen Orte des Kennenlernens die Verteilung nach Cliquenarten wiedergegeben.

Von den männlichen Jugendlichen, die angeben, daß ihre Clique sich in der Schule zusammengefunden hat, sind 26, 5 % in einer devianten Gleichaltrigengruppe. Im Kontrast dazu sind von denen, die sich in Jugendzentren kennengelernt haben, 44, 5 % in devianten Cliquen. Offenkundig ist neben den Treffpunkten draußen (hier Bahnhof, Stadion, Park) das Jugendzentrum ein wesentlicher Ort, an dem sich deviante Gruppen konzentrieren. Im Gegensatz dazu ist diese Rate im Sportverein mit 26, 9 % niedriger. Dort finden sich vermehrt „nicht deviante“ sowie „normale“.

In einem weiteren Analyseschritt wurden die Gewalterfahrungen in der Familie, die elterlichen Normen bezüglich Jugendgewalt und die Normen der Gleichaltrigengruppe zur Jugendgewalt simultan analysiert, um die relative Bedeutung der familiären Situation einerseits und der Gleichaltrigen-gruppe andererseits für die Erklärung von Gewalthandeln zu prüfen. Dabei zeigte sich, daß sowohl die familiäre Gewaltbelastung als auch die Normen der Gleichaltrigengruppe nebeneinander einen hochsignifikanten Effekt auf das aktive Gewalthandeln junger Menschen haben (vgl. Abbildung 19, S. 22) Jugendliche aus gewaltbelasteten Familien haben eine erhöhte Tendenz, ihre Familiensituation zu verlassen und sich in Cliquen aufzuhalten, und zwar gehäuft in gewaltbefürwortenden Cliquen. Dabei sind sowohl die Cliquennormen als auch die familiären Gewalterfahrungen für die Erklärung jugendlichen Gewalthandelns bedeutsam. Ferner findet sich ein hoher Zusammenhang zwischen den Elternnormen einerseits und den Normen der Gleichaltrigengruppe andererseits. Die Jugendlichen zeigen also in ihren Gleichaltrigengruppen Normen und Verhaltensweisen, die ihren biographischen Erfahrungen mit ihren Eltern entspre-chen. Die Gleichaltrigengruppen sind insoweit ein wichtiges Element in einem Kreislauf der Gewalt über die Generationengrenzen. Sie sollten beachtet werden, wenn es darum geht, solche Kreisläufe zu durchbrechen.

Eine Implikation dieser Befunde für Intervention und Prävention besteht darin, daß Maßnahmen nicht alleine darauf verwiesen sind, die familiäre Situation -sprich die Eltern -zu erreichen und dort Veränderungen zu bewirken. Es käme darauf an, auch Einfluß auf die Gleichaltrigengruppe zu nehmen. Präventive Arbeit an den Cliquen der Jugendlichen vorbei wird nach diesen Befunden jedenfalls schwierig sein, da die Cliquen für etwa die Hälfte der Jugendlichen einen zentralen Stel21 lenwert haben. Da sich gerade die massiv delinquenten jungen Menschen in solchen Cliquen zum größten Teil wiederfinden, ist gezielte Arbeit mit diesen Gruppen sicherlich nötig.

IX.

Abbildung 9: Tatverdächtigenziffern der Gewaltkriminalität nach Alter und Geschlecht (alte Bundesländer, Jahrgänge 1984 und 1997) Quelle: Darstellung auf Basis eigener Erhebungen.

Ein erstes Fazit: Angesichts der Forschungsbefunde liegt es auf der Hand, daß kriminalpolitische Strategien, die einzig auf vermehrte Repression setzen, nicht vorwärtsweisend und erfolgversprechend sein können. Repression bedeutet für gewaltgefährdete junge Menschen in der Mehrzahl der Fälle nur mehr von demselben, was sie in ihrer Biographie bislang ohnehin schon erdulden mußten. Anstelle von Zuwendung, Anerkennung und Förderung haben sie schon in ihren Familien nicht selten Ausgrenzung, Ablehnung und auch Gewalt erfahren.

Unsere Gesellschaft ist insoweit aufgefordert, das Aufwachsen von jungen Menschen so zu gestalten, daß sie Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz entwickeln, sich in unsere Gesellschaft eingebunden fühlen und Verantwortung und Gemeinschaftssinn entfalten können. Bei vielen Kindern und Jugendlichen sind derzeit dafür die Rahmenbedingungen zumindest als ungünstig zu bezeichnen. Hinsichtlich der familiären Situation ist die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts überfällig. Ein Staat, der seinen Bürgern signalisiert, daß das Schlagen von Kindern rechtmäßig sein könnte, produziert damit das Mißverständnis, das rechtlich Erlaubte sei auch richtig. Auf diese Weise wird er mitschuldig an dem hohen Niveau innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Hier sind ferner alle Professionen aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten, um die Angebote in Kindertagesheimen, Schulen, Beratungsstellen und Jugendhilfeeinrichtungen so miteinander zu verzahnen und nötigenfalls zu ergänzen, daß eine wirksame Früherkennung gesichert und effektive Hilfe möglich wird.

Angesichts der Lage der jungen Migranten sind in den Bereichen Schule, Berufsausbildung, Familienberatung, Sport und Freizeitgestaltung verstärkte Bemühungen der sozialen Integration erforderlich. Anderfalls drängen wir die Gruppe der in den letzten Jahren vermehrt zu uns kommenden jungen Zuwanderer mit zunehmender Aufenthaltsdauer in eine problematische Randgruppenexistenz mit entsprechenden Risiken, was Gewalt anbelangt.

Am Beispiel der Migranten zeigt sich im übrigen besonders akzentuiert, was für Jugendgewalt generell gilt: Sie ist primär männlich: Bei präventiven wie interventiven Maßnahmen sollte der konstruktiven Auseinandersetzung mit problematischen Männlichkeitsvorstellungen ein hoher Stellenwert eingeräumt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete und auf einer breiteren Datenbasis stehende Fassung eines früheren Aufsatzes der Autoren dar. Vgl. C. Pfeiffer/P. Wetzels, Migration, soziale Lage und die Entwicklung der Jugendgewalt: Eine Zwischenbilanz aktueller empirischer Forschungsarbeiten in sieben Thesen, in: Neues Archiv für Niedersachsen, 5 (1998) 2, S. 1-21. Ergebnisse dieser drei Untersuchungen, die allerdings bezüglich der Schülerbefragung noch auf die Städte Hamburg, Hannover, Leipzig und Stuttgart beschränkt waren (9 700 Befragte), liegen in Form eines Forschungsberichtes vor, der für den 24. Deutschen Jugendgerichtstag erstellt wurde (Anm. 5). Mittlerweile liegen aus der Repräsentativbefragung Daten von 12 882 Befragten aus den Städten Kiel, Hamburg, Hannover, Stuttgart, Schwäbisch Gmünd, Leipzig, Wunstorf und Lilienthal dazu vor.

  2. Vgl. C. Pfeiffer, Juvenile Crime and Violence in Europe, in: M. Tonry (Hrsg.), Crime and Justice. A Review of Research, 23 (1998), S. 255-328.

  3. Vgl. K. -J. Tillmann, Gewalt an Schulen: Öffentliche Diskussion und erziehungswissenschaftliche Forschung, in: H. G. Holtappels/W. Heitmeyer/W. Melzer/K. -J. Tillmann (Hrsg.), Forschung über Gewalt an Schulen, München 1997; W. Funk, Nürnberger Schulen-Studie, Regensburg 1995; F. Lösel/T. Bliesener/M. Averbeck, Hat die Delinquenz von Schülern zugenommen? Ein Vergleich im Dunkelfeld nach 22 Jahren, in: M. Schäfer/D. Frey (Hrsg.), Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, Göttingen 1999; J. Mansel/K. Hurrelmann, Aggressives und delinquentes Verhalten Jugendlicher im Zeitvergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50 (1998); W. Langner/D. Sturz-becher, „Aufklatschen,'plattmachen, Zecken jagen!“ -Jugendgewalt in Brandenburg, in: D. Sturzbecher (Hrsg.), Jugend und Gewalt in Ostdeutschland, Göttingen 1997.

  4. Als Nichtdeutsche wurden in der folgenden Abbildung alle Jugendliche bezeichnet, die zugewandert sind, also nicht einheimische Deutsche sind.

  5. Vgl C. Pfeiffer/I. Delzer/D. Enzmann/P. Wetzels, Ausgrenzung, Gewalt und Kriminalität im Leben junger Menschen. Kinder und Jugendliche als Opfer und Täter, Sonderdruck des DVJJ-Journals zum 24. Deutschen Jugendgerichtstag in Hamburg im September 1998, Hannover 1998, S. 33 ff.

  6. Vgl. C. Pfeiffer/P. Wetzels, Migration, soziale Lage und die Entwicklung der Jugendgewalt: Eine Zwischenbilanz aktueller empirischer Forschungsarbeiten in sieben Thesen, in: Neues Archiv für Niedersachsen, 5 (1998) 2.

  7. Vgl. E Dubet/D. Lapeyronnie, Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft, Stuttgart 1994; M. Eisner, Das Ende der zivilisierten Stadt? Die Auswirkungen der Modernisierung und urbaner Krise auf Gewaltdelinquenz, Frankfurt am Main 1997; O. James, Juvenile Violence in a Winner-Loser-Culture: Socio-Economic and Familial Origins in the Rise of Violence Against the Person, London 1995.

  8. Eine Differenzierung der Angeklagten nach deutschen und anderen Ethnien zeigt im übrigen, daß erstere zu 68, 3 % ein solches niedriges Bildungsniveau aufweisen, die Angeklagten aus Migrantenfamilien hingegen zu 84, 9 %.

  9. Die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage ist für einheimische Deutsche weniger ausgeprägt (Anstieg der Arbeitslosigkeit von 42, 9 % auf 53, 8 %), während bei den Angeklagten aus Migrantenfamilien die Arbeitslosenquote von 31 % auf 67, 3 % stieg.

  10. Von 27 605 auf 46 580 Personen.

  11. Von 4 762 auf 17 444 Personen.

  12. Vgl. C. Pfeiffer u. a. (Anm. 5), S. 41.

  13. Vgl. ebd., S. 24.

  14. Vgl. C. Pfeiffer/K. Brettfeld/I. Delzer, Kriminalität in Niedersachsen -1985 bis 1996. Eine Analyse auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik (KFN-Forschungsberichte, Nr. 60), Hannover 1997, S. 33 ff.

  15. Bei diesen Vergleichen wurde die Leipziger Stichprobe nicht berücksichtigt, weil dort 99 % der Jugendlichen einheimische Deutsche sind, weshalb eine Täter-Opfer-Beziehung unter Beteiligung verschiedener Ethnien schon a priori kaum möglich ist.

  16. Vgl. C. Pfeiffer u. a. (Anm. 5), S. 56 ff.

  17. Die jungen Aussiedler weisen also demnach im Vergleich zu den einheimischen Deutschen deshalb keine höheren Raten selbstberichteter Gewaltdelinquenz auf. weil sie zu einem erheblichen Anteil erst vor kurzem in die BRD zugewandert sind.

  18. Vgl. C. Pfeiffer u. a. (Anm. 5), S. 87 ff.

  19. Vgl. ebd„ S. 6.

  20. Vgl. ebd., S. 78.

  21. Vgl. P. Wetzels/D. Enzmann/C. Pfeiffer, Gewalterfahrungen und Kriminalitätsfurcht von Jugendlichen in Hamburg. Dritter und abschließender Bericht über Ergebnisse der weiteren Analysen von Daten einer repräsentativen Befragung von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe, unveröff. Forschungsbericht für die Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung (BSJB) der Freien und Hansestadt Hamburg, KFN, Hannover 1999.

  22. Vgl. M. Fuchs/S. Lamnek/J. Luedtke, Schule und Gewalt. Realität und Wahrnehmung eines sozialen Problems, Opladen 1996; K. -J. Tillmann/B. Holler-Nowitzki/G. Holtappels/U. Meier/U. Popp, Schülergewalt als Schulproblem, München 1999.

  23. Eine Mischung von jungen Migranten und Deutschen findet sich in 45, 7 % der Nennungen, und 3, 3 % der Jugendlichen gaben an, daß ihre Clique nur aus Migranten besteht, die jedoch aus verschiedenen Ländern stammen.

  24. Die Prozente addieren sich wegen der Möglichkeit von Mehrfachnennungen nicht auf 100.

  25. Die Zusammenhänge zeigen sich sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Jugendlichen. Es finden sich hier lediglich Niveauunterschiede in der Ausprägung der Gewaltbereitschaft. Ebenso zeigen sich die strukturellen Zusammenhänge bei allen ethnischen Gruppen.

Weitere Inhalte

Christian Pfeiffer, Dr. jur., geb. 1944; Studium der Rechtswissenschaften und Sozialpsychologie in München und London; Professor für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Hannover und Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e. V. (KFN). Veröffentlichungen u. a.: Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, 2. Aufl., Köln 1990; (zus. mit Werner Greve) Forschungsthema Kriminalität, Baden-Baden 1996. Peter Wetzels, Dr. phil., geb. 1959; Studium der Psychologie und Rechtswissenschaft in Bremen; stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen e. V. (KFN). Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Werner Greve, Wolfgang Bilsky, Eberhard Mecklenburg und Christian Pfeiffer) Kriminalität im Leben alter Menschen, Stuttgart 1995; Gewalterfahrungen in der Kindheit, Baden-Baden 1997; (zus. mit Luise Greuel u. a.) Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung, München 1998.