Bürgerengagement und Aktivierender Staat. Ergebnisse einer Bürgerbefragung zur Staatsmodernisierung in Niedersachsen
Bernhard Blanke/Henning Schridde
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Zusammenfassung
In der Bundesrepublik verlaufen Debatten über ein stärkeres Bürgerengagement sowie über die Verwaltungs-und Staatsmodernisierung weitgehend beziehungslos parallel. Bei der Frage, welche Aufgaben und in welcher Form der Staat sie noch wahrnehmen soll und kann, ist die Rolle der Bürger umstritten. Wird Bürgerbeteiligung auf die politischen Entscheidungsprozesse und deren Öffnung für dialogische Verfahren beschränkt, reibt sich die Idee einer „Bürgerschaftlichen Aufgaben-kritik“ an der Dominanz von Expertentum und politischer Führung. Bezieht man jedoch die Beteiligung der Bürger auf den vielfältig gegliederten Erstellungsprozeß öffentlicher Leistungen, eröffnen sich vielversprechende Perspektiven einer Weiterführung der Staatsreform. Das Konzept des „Aktivierenden Staates“ kann hier als Leitbild für eine neue Reformstrategie innovative Potentiale wecken. Ergebnisse sollen kooperativ und in Koproduktion zwischen Bürgern und Staat -verstanden als organisiertes System öffentlicher Leistungen -erbracht, bewertet und verbessert werden. Der „Aktivierende Staat“ geht den mittleren Weg zwischen primär fiskalisch motivierter „Verschlankungspolitik“ einerseits und der Überbewertung einer Staatsentlastung durch bürgerschaftliche Eigenverantwortung andererseits. Das Konzept zielt auf eine neue Verantwortungsteilung im System der öffentlichen Leistungserbringung. In Niedersachsen wurde erstmals 1997 in einer Bürgerbefragung getestet, inwieweit die Bürger eine Strategie der Verantwortungsteilung und Aktivierung mittragen würden. Einige Ergebnisse werden in dem Beitrag referiert. Sie bestärken den Optimismus, daß die in Deutschland durchaus konstätierbare Bereitschaft zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung an der Schnittstelle von „öffentlichen“ und „privaten“ Aufgaben auch für die Staatsmodernisierung aktiviert werden kann.
In der aktuellen Verwaltungsreform in der Bundesrepublik ist die Rolle des Bürgers unklar und umstritten. Bei der zentralen Frage, welche Aufgaben der Staat und in welcher Form er sie künftig (noch) wahrnehmen kann und soll, wird zwar generell konstatiert, daß Staatsaufgaben „legitim nur über einen demokratischen Prozeß gesucht und vereinbart“ werden können. Die wesentlichen Strömungen der Verwaltungsreformpraxis haben diesen Hinweis jedoch kaum aufgenommen. Parallel verläuft eine breite Diskussion zum Thema Bürgerengagement. Eine Verbindung beider Stränge scheint notwendig und vielversprechend. Soweit dies bereits erfolgt ist, werden die Potentiale der Bürgerinnen und Bürger, sich an der „Modernisierung des Staates“ aktiv zu beteiligen, widersprüchlich beurteilt.
Skeptiker betonen vor allem die Gefahr der Steigerung von (Verteilungs-) Konflikten und den erheblich zunehmenden Konsensbedarf, eine Beschleunigung der „Anspruchsspirale“ sowie einen Widerspruch zu den Standards der repräsentativen Demokratie, wenn die Bürger in Fragen beteiligt werden, die an sich Sache der gewählten Vertreter oder der politischen Führung sind. Viele dieser Argumente liegen allerdings eher auf der Ebene theoretischer Annahmen. Empirische Hinweise auf das Verhältnis von Erwartungen der Bürger an den Staat zum tatsächlichen Umfang und dem (fiskalischen) Niveau der Staatstätigkeit (scope of government) im internationalen Vergleich lassen die Vermutung zu, daß es Wege geben könnte, eine befürchtete Blockierung weiterer Modernisierungsbestrebungen, die vor allem mit den Problemen der öffentlichen Haushalte verbunden sind, aufzubrechen. Es ist durchaus denkbar, die Differenzierung von mengenmäßigem Umfang von „Staatsaufgaben“ einerseits und dem Umfang der dafür verwendeten öffentlichen Mittel sowie der Art und Weise der Aufgaben-wahrnehmung für eine neue Reformstrategie zu nutzen. Dies bedeutet jedoch, die bislang dominierende Perspektive der Binnenmodernisierung der öffentlichen Verwaltung zu verlassen.
Optimisten, die sich durch eine breite öffentliche Diskussion und mehr Bürgerbeteiligung sowohl eine größere Motivation für die Reformvorhaben als auch deren qualitative Verbesserung und stärkere Legitimierung erhoffen, betonen, daß „in der Bevölkerung . .. eine tendenziell anwachsende Bereitschaft zur Akzeptanz von Grenzen der Problemlösungsfähigkeit der Politik und zur verstärkten Übernahme von Eigenverantwortung vorhanden“ ist; ferner daß die Öffnung der Routinen der repräsentativen Demokratie für vielfältige Formen von Bürgerbeteiligung zu mehr Orientierung an für alle gewinnbringende Optionen und Problemlösungen führe. Schließlich steigere eine Nutzung des Wissens der Bürger für die Verwaltungsmodernisierung auch deren Effizienz und Effektivität; die Partizipation biete gerade den Bürgern eine größere Chance, die sonst eher an den „Rand gedrängt werden“ Die offene Frage ist, wie diese aus einer weitgehend auf die Selbsttätigkeit der Bürger (für sich und andere) bezogene Verantwortungsbereitschaft produktiv mit der Staatsmodernisierung vernetzt werden kann. Bislang scheint jedenfalls nahezu ausschließlich eine Strategie der „Staatsentlastung“ vorzuherrschen. Prägnant hat dies der Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ in seinem Abschlußbericht formuliert. Orientiert am Begriff der staatlichen Kernaufgaben, fordert er eine drastische Reduzierung der Staatstätigkeit -vornehmlich über „Privatisierung“ -und weist alle Aufgaben, die der Staat nicht mehr wahrnehmen soll, „der Gesellschaft“ zu. Dabei wird stillschweigend die voraussetzungsvolle Annahme getroffen, bei einem Rückzug des Staates auf seine „originären“ Aufgaben müsse „das dadurch entstehende Vakuum ausgefüllt werden durch Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Solidarität“. Obwohl einige optimistische Vermutungen über die Bereitschaft der Gesellschaft, „den dadurch entstehenden Freiraum den Bürgern zur eigenen verantwortlichen Gestaltung zu überlassen“ angestellt werden können, stehen der Sachverständigenrat und andere Verfechter einer eher autoritativen Durchforstung, Neudefinition und Verschlankung staatlicher Aufgaben (Aufgabenkritik) vor dem Problem der offenen Staatsaufgaben. In modernen Demokratien lassen sich Staatsaufgaben nicht auf einen Grundkanon konzentrieren (selbst wenn eher betriebswirtschaftlich denkende Verwaltungsreformer davon immer ausgehen), sondern „der Gesetzgeber entscheidet prinzipiell selbst nach eigenem Ermessen darüber, welche Aufgaben und ggf. in welcher Form er diese wahrnehmen will“
Verantwortungsteilung statt Staatsentlastung
Nach allgemeiner Einschätzung in der wissenschaftlichen Literatur zur Staatsmodernisierung wurde bislang das strategische Ziel, die Aufgaben des Staates zum Ende des 20. Jahrhunderts neu zu bestimmen, in Deutschland nirgends erfolgreich verfolgt. Die mit unterschiedlichen Ansätzen unternommenen Reformen der Bundesländer haben letztlich zwar wichtige, aber nicht über die Binnenmodernisierung hinausreichende Kosten-(Personal) Reduzierungen erreicht, allerdings noch ohne nachhaltige Erfolge zur Sanierung der Staats-finanzen. Die Metapher der „Verschlankung“ verdeckt das eigentliche Problem: Das Wachstum „des Staates“ (growth of government) ist weitgehend aus dem demokratischen Prozeß zu erklären (die Unterschiedlichkeit zwischen verschiedenen Ländern weist darauf hin) Eine einseitige Entlastung „von oben“ muß deshalb eher das Mißtrauen der Bürger und die „Anspruchsspirale“ in Form einer „Protestspirale“ verstärken -zumal in einer politischen Kultur, die im internationalen Vergleich durch eine hohe Zuweisung von Problemlösungen an „den Staat“ geprägt ist. Der kommunitäre Ruf nach gemeinschaftsgebundener Eigenverantwortung wird allerdings ebenfalls an Grenzen geraten. Zwischen beiden Polen bleibt die Staatsmodernisierung im „magischen Dreieck“ von Haushaltskonsolidierung, Binnenmodernisierung und Aufgabenkritik blockiert.
Nimmt man jedoch eine andere Perspektive -nämlich die These, bei genauerer Betrachtung handele es sich prinzipiell um „gewandelte Modalitäten der Aufgabenerledigung und . . . gewandelte Steuerungsinstrumente“ -kann sich die weitere Strategie statt auf den Abbau, auf den Wandel der öffentlichen Aufgabenerledigung konzentrieren. Möglicherweise wird hier ein Pfad beschritten, der sowohl eine simultane Verfolgung der Ziele des „magischen Dreiecks“ ermöglicht, als auch den Weg zu einer effektiven Beteiligung der Bürger frei macht. Das hierzu aufgreifbare Konzept der Verantwortungsteilung geht grundsätzlich davon aus, daß durch eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat, Wirtschaft, Drittem Sektor und Bürger die vielfach postulierte Rückgabe von Verantwortung an die Gesellschaft kein rein fiskalisch motivierter Schachzug bleibt, sondern zu einer Neuverteilung unterschiedlicher Verantwortlichkeiten führt. In diesem Kontext ist die Aktivierung der Bürger angesiedelt
Beteiligung der Bürger am „Produktionsprozeß“ öffentlicher Leistungen
Abbildung 2
Tabelle 2: Öffentliche Leistungen, die ebensogut in der Verantwortung von ... stehen könnten Offene Nennungen
Tabelle 2: Öffentliche Leistungen, die ebensogut in der Verantwortung von ... stehen könnten Offene Nennungen
Bürgeraktivierung kann -schematisch -in den beiden Dimensionen der Beteiligungen am politischen Entscheidungsprozeß („input“) und Beteiligung am „Leistungsprozeß“ („output“) unterschieden werden. Die zweite Dimension ist u. E. für die Staatsmodernisierung die interessantere. Denn in der Tat scheint aus demokratietheoretischen Gründen die Responsivität der repräsentativen Demokratie im vor allem durch die Parteienkonkurrenz und den Wahlzyklus beherrschten Entscheidungsprozeß für eine zureichende Erörterung der komplexen Fragen des Wandels der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung nicht entscheidend gesteigert werden zu können. Hier dominiert das Expertentum. Auch muß die Entscheidungsverantwortung verfahrensmäßig bei der repräsentativen Demokratie verbleiben, weil Verantwortungsteilung allgemein verbindlicher Entscheidung (z. B. bei notwendigen Reformen der Rechtsordnung) bedarf. Das bedeutet nicht, daß eine dialogische Öffnung der politischen Meinungsbildung nicht erforderlich und möglich wäre.
Ziel der Verantwortungsteilung ist eine stärkere kooperative Aufgabenwahrnehmung, welche die Bürger mit eigenverantwortlichen Leistungen in den Produktionsprozeß öffentlicher Leistungen einbindet. Die Potentiale für Bürgerengagement sollen Synergieeffekte für die Staatsmodernisierung erzeugen Der im Konzept des New Public Management favorisierte Status des Bürgers als Kunde wird dadurch relativiert. Käufer-Verkäufer-Beziehungen sind sicher ein wichtiges Element der Effizienz-und auch der Qualitätssteigerung, sie führen aber eher zu Trennungen und zur Distanz. Viele öffentliche Leistungen erfordern dagegen die Koproduktion einer gemeinsam als „öffentlich“ verstandenen Leistung
Unter der politischen Entscheidungsverantwortung der gewählten Repräsentanten kann öffentliche Unterstützung für eigenverantwortliches Engagement im Leistungsprozeß sowie kooperative Aufgabenwahrnehmung organisiert werden. Die derzeit schon äußerst vielfältigen Organisationsformen (welfare mix) bieten ausreichend Ansatzpunkte für neue Konzepte der Verantwortungsstufung und Verantwortungsteilung, wie sie in der wissenschaftlichen Literatur, aus staatsrechtlicher Sicht und im Kontext des New Public Management besonders bezüglich der „Institutionenwahl“ beim Organisationswandel erarbeitet wurden.
Drei Kategorien von Verantwortung im System öffentlicher Leistungen sollen optimal lokalisiert werden: Gewährleistungsverantwortung, Vollzugs-und Finanzierungsverantwortung Pragmatisch umschrieben geht es also darum, öffentliche Leistungen darauf hin zu überprüfen, ob der Staat weiterhin die Gewährleistungsverantwortung aufgrund demokratischer Entscheidungsprozesse übernimmt. Ist ein gewichtiges öffentliches Interesse festgestellt, bedeutet dies noch nicht zwingend, daß beim Staat auch die Vollzugs-und Finanzverantwortung liegen muß. Diese können -unter Einbeziehung der Bürger -nach Gesichtspunkten der Effizienz, Effektivität und Gerechtigkeit auf andere, kooperativ auch auf mehrere Träger verteilt werden. Aus Bürgersicht sind „Staatsaufgaben“ primär Verwaltungsleistungen An dieser Schnittstelle zwischen „öffentlich“ und „privat“ ergeben sich die eigentlichen Aufgaben der Staatsmodernisierung unter dem Leitbild der Aktivierung.
Neues Rollenverständnis der Akteure und die Bürgerbefragung
Abbildung 3
Tabelle 2: Öffentliche Leistungen, die ebensogut in der Verantwortung von ... stehen könnten
Tabelle 2: Öffentliche Leistungen, die ebensogut in der Verantwortung von ... stehen könnten
Neue Verantwortungsteilung bedeutet ein geändertes Rollenverständnis der an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben beteiligten Akteure Das gilt nicht nur für die Bürger, sondern auch und vor allem für „den Staat“ und seine ausdifferenzierte Verwaltung selbst. Viele sehen deshalb in einer veränderten Verwaltungskultur den Schlüssel für den Erfolg der Staatsmodernisierung. Man mag anzweifeln, ob es durch absichtsvolles Handeln überhaupt möglich ist, solche Veränderungen zu initiieren. Was allerdings möglich erscheint, sind die systematische Erhebung von Informationen und der (öffentliche) Dialog über die wechselseitigen Erwartungen und Forderungen der Akteure sowie konkrete Projekte, bei denen Bürger und Verwaltung aktiviert werden, neue Formen der Verantwortungsteilung zu entwickeln und zu erproben, wobei an eine Vielzahl bestehender Formen von Selbsthilfe, Ehrenamt und freiwilliger Tätigkeit angeknüpft werden kann
Die niedersächsische Regierung hat 1997 mit dem Konzept des „aktivierenden Staates“ den Weg eines gesellschaftspolitischen Dialoges beschritten und den Ansatz einer „bürgerschaftlichen Aufgabenkritik“ in die Reformbewegung eingebracht. Eine repräsentative Bürgerbefragung sollte dem Leitbildprozeß als Entscheidungshilfe dienen, aber keine unmittelbaren Handlungsanleitungen geben.
Die Befragung sollte grundsätzliche Einstellungen der Bürger dazu erheben, welche Aufgaben der Staat (differenziert nach den drei Verantwortungstypen) künftig erfüllen soll, welche Aufgaben privat oder gesellschaftlich ganz oder teilweise übernommen werden können, ferner wie demgemäß die Verwaltung sich ändern muß.
Ein erstes wichtiges Ergebnis ist, daß eine Verantwortungsteilung derzeit aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger aufgrund der von ihnen gemachten Erfahrungen eher blockiert zu werden scheint. So stimmten 82 Prozent der niedersächsischen Bürger der Auffassung ganz oder teilweise zu, daß manche Aufgaben durch die Eigeninitiative der Bürger besser und günstiger erbracht werden könnten. Gar 85 Prozent sind zumindest weitgehend der Meinung, daß es der Staat durch die Vielzahl seiner Regularien dem Bürger schwer machen würde, eigene Initiativen zu entwickeln bzw. durchzusetzen. Mehr als drei Viertel waren der Meinung, daß der Staat durch die Abgabe von Aufgaben an die Bürger die Bürokratie erheblich abbauen könnte. Ebenso viele waren zugleich der Meinung, daß der Staat die Bereitschaft der Bürger unterschätze, öffentliche Aufgaben auch selbstverantwortlich zu übernehmen. Interessanterweise zeigte sich in allen sozialen Gruppen nahezu das gleiche Antwortmuster.
Verantwortungsteilung
Abbildung 4
Abbildung 1: Aufgabenabgabe an ehrenamtliche private Initiativen
Abbildung 1: Aufgabenabgabe an ehrenamtliche private Initiativen
Zentrale Fragestellung ist nun, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger in den verschiedenen Aufgabenfeldern eine Verantwortungsdifferenzierung vornehmen. Dabei dürfte zu erwarten sein, daß in den „Kernbereichen“ staatlicher Aufgabenwahrnehmung Gewährleistungs-und Vollzugsverantwortung beim Staat zusammenfallen. Davon sind Aufgabenbereiche zu unterscheiden, in denen die Gewährleistungs-und Vollzugsverantwortung des Staates auseinandertreten. Schließlich sind solche Aufgabenbereiche denkbar, in denen der Staat in hohem Maße zwar als Leistungsträger auftritt, in denen die Bürger aber andererseits keine Gewährleistungsverantwortung des Staates sehen.
In Tabelle 1 wurden die Ergebnisse zweier Fragen zusammengeführt. Zum einen fragten wir danach, durch wen derzeit bestimmte Aufgaben erbracht werden und zum zweiten, ob bestimmte öffentlich erbrachte Leistungen auch durch Private oder Bürgerinitiativen übernommen werden könnten. Zu welchen Reformschritten die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, dürfte von der Möglichkeit und Bereitschaft zu einer neuen Verantwortungsteilung in den einzelnen Aufgabenbereichen abhängig sein. Um nun die Handlungsfelder zu identifizieren, auf denen eine neue Verantwortungsteilung zwischen staatlicher und gesellschaft licher Leistungserbringung aus Sicht der Bürger angestrebt werden sollte, wurden die Aufgabenbereiche, die unbedingt vom Staat erbracht werden sollten („Vollzugsverantwortung“ des Staates) solchen Bereichen gegenübergestellt, die potentiell auch durch private Initiative übernommen werden könnten (vgl. Tabelle 2).Aufgaben der inneren Sicherheit, der schulischen und universitären Ausbildung sowie der Naturschutz sollten keinesfalls anders als durch den Staat erbracht werden. Jedoch zeigt sich in sozialen bzw. soziokulturellen Aufgabenfeldern wie der Versorgung und Pflege alter Menschen oder der Unterhalt von Kindergärten, daß weniger als ein Fünftel der Befragten diese öffentlichen Leistungen in der Obhut des Staates sehen wollen. Dabei lassen sich unterschiedlichste Modelle einer Verantwortungsdifferenzierung denken, wie Tabelle 2 zeigt. So gaben nur 18 Prozent der Befragten an, daß die Kinderbetreuung ausschließlich staatlich organisiert sein sollte. Insgesamt 79 Prozent der Befragten meinten, daß die Kinderbetreuung durch private oder ehrenamtliche Initiative sowie private Unternehmen erbracht werden sollte. Auch andere soziale Aufgabenbereiche wie die Versorgung und Pflege alter Menschen oder die Betreuung Behinderter sollte ähnlich wie soziokulturelle Aufgabenfelder (z. B. Unterhalt von Theatern, die Erwachsenenbildung) überwiegend in privater Initiative, durch Ehrenamtliche oder durch private Unternehmen erfolgen. Erstaunlich ist bei diesen Aufgabenfeldern, in welch hohem Maß die Bürgerinnen und Bürger sich vorstellen können, daß diese auch durch private Unternehmen erbracht werden könnten.
Die Übernahme von bestimmten Aufgaben aus staatlicher Hand hängt immer auch von den jeweils gegebenen Möglichkeiten und Einstellungen ab. Über drei Viertel der Befragten gaben an, daß der Staat viel Geld sparen könnte, würde er private Initiativen der Bürger aktiv unterstützen. Ebenso viele Bürgerinnen und Bürger sind der Meinung, daß das Niveau staatlicher Leistungen durch ein besseres Management der öffentlichen Hände gehalten werden könnte.
Zugleich zeigt sich auch eine breite Ablehnungsfront gegenüber Steuererhöhungen. Vor die Wahl gestellt, ob die Bürger sich eher für zusätzliche Belastungen oder für eine Übernahme von Aufgaben durch ehrenamtliche Tätigkeit aussprechen, gaben 81 Prozent an, den Staat eher durch ehrenamtliche Arbeit entlasten zu wollen. Dieses Ergebnis korrespondiert mit der Einstellung der Bürger zu den Wegen aus der öffentlichen Finanzkrise. So sprachen sich 43 Prozent für private Initiative aus, 40 Prozent für Leistungskürzungen und lediglich drei Prozent für Steuererhöhungen. Für Leistungskürzungen sprechen sich dabei eher die älteren Bürger aus, während die jüngere Bevölkerung zu Gebührenerhebungen oder privater Initiative neigt.
Bürgerengagement in Niedersachsen: Tätigkeitsfelder
Abbildung 5
Abbildung 2: Bürgerschaftliches Engagement nach Bereichen
Abbildung 2: Bürgerschaftliches Engagement nach Bereichen
Von besonderem Interesse ist die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu persönlichem Engagement. In der Abbildung 1 wurde diese Bereitschaft zum persönlichen Engagement für verschiedene Aufgabenfelder und die Zustimmung zur Aufgabenabgabe an private und/oder ehrenamtliche Initiativen in einem Diagramm zusammengefaßt.
Auf der x-Achse wurde der Anteil der Befragten, die eine Abgabe öffentlicher Leistungen an private oder ehrenamtliche Initiativen befürworten, aufgetragen, und auf der y-Achse der Anteil derjenigen, die bereit sind, sich persönlich in den verschiedenen Aufgabenfeldern zu engagieren.
Die persönliche Bereitschaft zum Engagement ist also ausgeprägter als die Vorstellung darüber, welche Aufgaben in ehrenamtliche oder private Hände delegiert werden könnten. Es sind vor allem soziale Felder (Kinder, Alte, Behinderte) sowie der Umweltschutz und die Erwachsenenbildung. Bei den klassischen öffentlichen Aufgaben (wie z. B. polizeiliche Aufgaben) dagegen sehen die Bürger geringere Möglichkeiten, sich zu engagieren. Straßenreinigung oder die Abfallbeseitigung sollen dagegen über Gebühren finanziert werden.
Die Bereitschaft der Bürger zur Übernahme von öffentlichen Aufgaben in privater oder gemeinschaftlicher Verantwortung weist in einigen Aufgabenbereichen sozialstrukturelle Schwerpunkte auf: Im Bereich der Kinderbetreuung können sich beispielsweise nahezu zwei Drittel der Personen mit Hochschulabschluß, aber „nur“ jeder zweite Hauptschulabsolvent eine Entlastung des Staates durch private Initiative oder ehrenamtliches Engagement vorstellen. Eine Entlastung des Staates im Kindertagesstättenbereich durch Abgabe an private Unternehmen können sich dagegen überproportional viele Personen mit Hauptschulabschluß und Arbeiter vorstellen, während Beamte und Selbständige eher zur privaten Initiative oder aber zur staatlichen Verantwortung neigen. Auch im schulischen Bereich läßt sich ein vergleichbares, sozialstrukturell beeinflußtes Antwortverhalten beobachten. Die Übernahme öffentlicher Aufgaben wie die Betreuung von Behinderten sowie die Versorgung und Pflege alter Menschen in privater Initiative oder durch ehrenamtliches Engagement können sich bei den Hochschulabsolventen 42 Prozent bzw. 51 Prozent, bei den Hauptschulabsolventen dagegen 33 Prozent bzw. 38 Prozent vorstellen.
Sieht man sich nun genauer an, in welchen Aufgabenfeldern die Bürgerinnen und Bürger derzeit engagiert sind, so schälen sich zwei Aufgabenkomplexe heraus:
Zum einen konzentriert sich das Engagement auf Sportvereine und das sonstige Vereinswesen sowie auf die Kommunalpolitik und Gemeindearbeit. Der andere Schwerpunkt ist der sozial-karitative Bereich sowie die Versorgung alter Menschen und die Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Abseits der im politischen Diskurs und in der Literatur überwiegenden globalen Zahlen muß an dieser Stelle festgehalten werden, daß sich nicht nur das ehrenamtliche Engagement schwerpunktmäßig konzentriert, sondern daß es in den einzelnen Aufgabenfeldern weitaus niedriger liegt, als es durch die Globalzahlen häufig implizit unterstellt wird. In der Gemeindearbeit und dem Vereinswesen liegt die Zahl engagierter Bürger bei lediglich 3-4, 5 Prozent und in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und alten Menschen um die drei Prozent. Der karitative Bereich zählt acht Prozent.
Allerdings muß auch hier berücksichtigt werden, daß sich dieser Bereich in eine Vielzahl von Maßnahmen aufsplittet und sich einige Schwerpunkte identifizieren ließen.
Abbildung 3: Engagement im sozialen Bereich nach Altersgruppen
Abbildung 3: Engagement im sozialen Bereich nach Altersgruppen
Bürgerschaftliches Engagement konzentriert sich nicht nur auf einige inhaltliche Schwerpunkte, sondern zugleich bilden sich je nach sozialstrukturellen Gruppen Schwerpunkte in den einzelnen Aufgabenfeldern. So sind die über 60jährigen überproportional im karitativen Bereich und in der Versorgung alter Menschen vertreten, während die Gruppe der 30-50jährigen neben dem karitativen Bereich in Sportvereinen, der Gemeindearbeit sowie im Kinder-und Jugendbereich überdurchschnittlich engagiert sind.
In der folgenden Abbildung wurde das Engagement im sozialen Bereich nach Altersgruppen dargestellt. Der karitative Bereich weist eine deutliche Altersabhängigkeit auf. Man könnte dieses darauf zurückführen, daß Personen -hier überwiegend Frauen -in diesen Bereichen nach und nach in ein ehrenamtliches Engagement hineinwachsen. Engagement im Bereich der Versorgung alter Menschen hingegen wird überwiegend von den älteren Bürgerinnen geleistet; im Kinder-und Jugendhilfebereich wird es vor allem von den 40-50jährigen erbracht. Die Verteilungsmuster bürgerschaftlichen Engagements im sozialen Bereich erweisen sich als abhängig von jeweils unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen im Lebenslauf.
Die Übernahme vormals öffentlicher sozialpolitischer Aufgaben in private Initiative oder durch ehrenamtliches Engagement wird in den verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich eingeschätzt. Erklärungsbedürftig erscheint zunächst, daß die älteren Bürgerinnen und Bürger sich lediglich zu16 Prozent, aber 31 Prozent der 18-29jährigen für eine Übernahme der Altenversorgung durch private Initiative bzw. ehrenamtliches Engagement aussprechen. Dieses ließe sich dadurch erklären, daß die älteren Bürgerinnen sich in diesem Bereich schon überproportional engagieren und damit das „Engagementpotential“ in diesen Altersgruppen schon weitgehend ausgeschöpft ist. Über alle Aufgabenbereiche hinweg zeigt sich insbesondere bei den jüngeren Altersgruppen die Bereitschaft, soziale Aufgaben in privater Initiative zu übernehmen. Gerade in diesen Altersgruppen stellt sich die Frage nach „neuen Formen der Ehrenamtlichkeit“ und der Einbindung in die soziale Dienstleistungsproduktion.
Bürgerengagement in Niedersachsen: geschlechtsspezifische Aspekte
Abbildung 7
Abbildung 4: Ehrenamtliches Engagement nach Bereichen und Geschlecht
Abbildung 4: Ehrenamtliches Engagement nach Bereichen und Geschlecht
Ein großer Teil des ehrenamtlichen Engagements in sozialpolitisch relevanten Aufgabenfeldern wird von Frauen verrichtet. Damit verlängert sich die geschlechtsspezifische gesellschaftliche Arbeitsteilung bis in den Bereich bürgerschaftlichen Engagements. Was zunächst utopisch klingen mag, gewinnt unter dem Leitbild des Aktivierenden Staates an erheblicher Praxisrelevanz. Dann stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit es gelingt, Männer in diese soziale Reproduktionsarbeit einzubeziehen. Freiwilliges Engagement entlang den Bedürfnissen im Lebenslauf und entlang den lebenslaufrelevanten Institutionen könnte dann diesen Weg ebnen und zugleich auf eine aktivierende Sozialpolitik hinwirken. Um diese Perspektive hinreichend gesichert diskutieren zu können, ist es erforderlich, zunächst empirisch die geschlechtsspezifischen Segmentierungen bürgerschaftlichen Engagements zu analysieren (s. Abb. 4). Wenn Engagement geschlechtsspezifisch segmentiert ist, dann ist es unter dem Aspekt der Staats-modernisierung ferner wichtig zu erfahren, in welchen Bereichen sich die Bürgerinnen und Bürger eine Übernahme öffentlicher Aufgaben vorstellen können. Entsprechend der geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung wäre zu erwarten, daß Frauen sich für eine Übernahme öffentlicher Aufgaben in sozialen Aufgabenfeldern aussprechen, während sich Männer in Bereichen wie Infrastruktur oder Umweltschutz einzusetzen gedenken. Diese These konnte weitgehend bestätigt werden. Die Bereitschaft zur Übernahme öffentlicher Aufgaben konzentriert sich bei den Frauen auf die Bereiche Altenversorgung, Kinder-belange und Behindertenbetreuung. Nennenswert, d. h. bei über fünf Prozent der Befragten, sind ferner noch Schulsystem und Krankenversorgung. Bei den Männern dagegen liegt sie bis auf den Bereich Jugendbelange -hier dürften insbesondere sportliche Aktivitäten in Betracht gezogen worden sein -die Bereitschaft zur Übernahme öffentlicher Aufgaben durchgängig -teilweise eklatant, insbesondere im Bereich Altenversorgung und Kinderbelange -unter den Werten der Frauen. Neue Formen der gesellschaftlichen Verantwortungsteilung öffentlicher Aufgaben unter dem Leitbild des Aktivierenden Staates werden daher unbedingt die geschlechtsspezifische Segmentierung ehrenamtlichen Engagements zu berücksichtigen haben. Insbesondere die Sozialpolitik der Länder und Kommunen wird diese Aspekte berücksichtigen müssen, denn ein Großteil des Engagements in den sozialpolitischen Aufgabenbereichen wird von Frauen erbracht. Einseitige Strategien der Aufgabenverlagerung auf private Initiativen und freiwillige soziale Engagements dürften erheblichen Widerstand insbesondere auf seiten der Frauen hervorrufen.
Bürgerengagement und Reorganisation öffentlicher Leistungsstrukturen
In den letzten zehn Jahren hat das ehrenamtliche Engagement von 25 auf 35 Prozent zugenommen. Dabei zeigt sich ein Strukturwandel des Ehrenamts in der Weise, daß das verpflichtende, kontinuierlich angelegte Bürgerengagement zugunsten kurzfristiger, projektorientierter Formen abnimmt Allerdings sind es vor allem die „mitten im Leben stehenden“, sozial und beruflich integrierten Bevölkerungsgruppen, die das höchste Engagement-niveau aufweisen. Wie die Umfrage auch gezeigt hat, muß bürgerschaftliches Engagement vor Ort ansetzen. Überall dort, wo der Bürger auf den Staat oder einen verfestigten, quasi-staatlich organisierten Dritten Sektor trifft -und hier speziell im Bereich sozialer Dienste -gibt es ein weites Feld der Aktivierung. Zielführend sollte die Öffnung bzw. die Reorganisation der öffentlichen Institutionen und damit eine enge Verknüpfung formeller und informeller Hilfen in unterschiedlichen sozialen Handlungsfeldern sein. Formen bürgerschaftlichen Engagements wären in diesem Sinn integrierter Bestandteil formeller Hilfe-und Dienstleistungssysteme. Dabei wäre es ratsam, solche Einrichtungen wie z. B. Kontakt-und Informationsstellen für ehrenamtliche Arbeit oder Selbsthilfegruppen, Seniorenbüros, Bürgerbüros und Nachbarschaftszentren systematisch fortzuentwickeln und in ein aufgabenbezogenes Konzept zur Aktivierung freiwilligen sozialen Engagements miteinzubinden. „Engagement“ sollte zukünftig mehr von den jeweiligen Produktionsprozessen öffentlicher Leistungen aus gedacht werden, weil es sich an den lebenslaufrelevanten Institutionen anlagert. Wie sich am Beispiel von Selbsthilfegruppen ersehen läßt, arbeiten eine Vielzahl von ihnen schon mit den professionellen Einrichtungen des Sozial-und Gesundheitswesens zusammen, wenn sie nicht sogar auf Betreiben des Personals von sozialen Dienstleistungseinrichtungen hin gegründet und begleitet werden. Die eigentliche Schnittstelle für die Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements liegt somit an der Grenze zwischen professionellen Infrastruktureinrichtungen und freiwilligem sozialen Engagement.
Die Aktivierung kooperativer Leistungserbringung beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Notwendig ist die Selbstaktivierung des Staates wie die Aktivierung der Gesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement löst sich dann von der gängigen Argumentation, daß die Modernisierung des Staates und die Übernahme von öffentlichen Aufgaben durch die Bürgerinnen und Bürger lediglich ein Nullsummen-oder gar Negativsummenspiel darstellt: die Bürger übernehmen das (oder noch darüber hinaus), was der Staat abgibt. Fördernde Infrastrukturen und bürgerschaftliches Engagement werden im Konzept des Aktivierenden Staates selbst zum Bestandteil einer „gemischten Wohlfahrtsproduktion“. Allerdings müssen geschlechtsspezifische und sozialstrukturelle Brüche sowie aufgabenspezifische Schwerpunkte berücksichtigt werden.
Bernhard Blanke, Dr. rer. pol., geh. 1941; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover; Leiter der Abteilung Sozialpolitik und Public Policy; Visiting Professor an der School for Policy Studies, University of Bristol; Mitherausgeber der Zeitschrift „Leviathan“. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Krankheit und Gemeinwohl. Gesundheitspolitik zwischen Staat, Sozialversicherung und Medizin, Opladen 1994; (Hrsg. zus. mit Stephan von Bandemer, Frank Nullmeier und Göttrik Wewer) Handbuch zur Verwaltungsreform, Opladen 1998; (Hrsg. zus. mit Randall Smith) Cities in Transition: New Challenges, New Responsibilities, Basingstoke 1999. Henning Schridde, Dipl. -Sozialwiss., geb. 1966; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Sozialpolitik und Public Policy, Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Verfahrensinnovationen kommunaler Demokratie. Bausteine für eine Modernisierung der Kommunalpolitik, in: Hubert Heinelt (Hrsg.), Modernisierung der Kommunalpolitik. Neue Wege zur Ressourcenmobilisierung, Opladen 1997; Von der Arbeitsmarkt-zur Armutspolitik. Wandel lokaler Arbeitsmarktpolitik in den 90er Jahren, in: Bernhard Schäfers/Göttrik Wewer (Hrsg.), Die Stadt in Deutschland, Opladen 1998.
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