Bei einer Umfrage nach Erinnerungen an die Anfänge der Bundesrepublik würden mit größter Wahrscheinlichkeit das „Wirtschaftswunder“, das Wachstum der westdeutschen Industrieproduktion und der relative Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten an erster Stelle genannt. Weniger bewußt ist die Tatsache, daß die Bundesrepublik sich seit ihrer Konstituierung durch ein „Regierungswunder“ auszeichnet, welches den wirtschaftlichen Aufstieg der fünfziger und sechziger Jahre erst ermöglichte. Ab 1949 bestanden in Deutschland erstmals Parteienregierungen, die wirtschaftliche und soziale Probleme lösen konnten und außerdem über einen längeren Zeitraum regierten als die kurzlebigen Kabinette der Weimarer Republik. Die Regierungszeit der einzelnen Kanzler und ihrer Koalitionen veranlaßte eine britische Expertenkommission im Herbst 1998 zu der Feststellung, das deutsche System habe „produced too much rather than too little stability“
Die Frage nach den Ursachen der Stabilität ist nicht so einfach zu beantworten wie man auf den ersten Blick vermutet. Das Grundgesetz mit seiner im Vergleich zur Weimarer Verfassung klareren Verteilung der Kompetenzen spielte hierbei eine wichtige Rolle. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, daß sich innerhalb und in enger Verbindung mit der Regierung neue Verfahren entwikkelt haben, die im Grundgesetz nicht vorgesehen sind. Die Bildung der Koalitionsregierungen erfolgt z. B. nach informellen Regeln, die sich aus der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundestages ergeben. Entsprechendes gilt für die Regierungsorganisation und die regierungsinternen Verfahren zur Vorbereitung von Entscheidungen. Die Koalitionsregierungen der Bundesrepublik erweisen sich als vielschichtige Gebilde, die nur einer differenzierten Analyse zugänglich sind.
Die Entwicklung des Parteiensystems hat die Regierungspraxis maßgebend beeinflußt: Der Bundestag bestand mehr als zwanzig Jahre lang aus drei Fraktionen (CDU/CSU, SPD, FDP), zu denen inzwischen zwei weitere (Bündnis 90/Die Grünen, PDS) hinzugekommen sind. Diese Konzentration war die Voraussetzung für die Bildung eines Regierungs-und eines Oppositionslagers, so daß der Wähler zwischen zwei Alternativen entscheiden kann. Die Koalitionsbildung erfolgt damit unter einem direkt-demokratischen Einfluß, welcher durch die Konkurrenz zwischen dem Kanzler und dem Kanzlerkandidaten der Opposition noch verstärkt wird.
Die Vorstellungen des Parlamentarischen Rates zur Stellung der Regierung im Verfassungssystem bilden den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen. Die Regeln des Grundgesetzes sind nicht nur verfassungsrechtlich verbindlich, sondern wurden 1948/49 mit der Absicht formuliert, die Stabilität und Arbeitsfähigkeit der Regierung zu verbessern. Das besondere Interesse dieses Beitrags gilt jedoch den informellen Regeln für die Regierungsbildung und die Regierungstätigkeit in den vergangenen 50 Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Hierbei sollen die Amtszeit Helmut Kohls sowie der jüngste Regierungswechsel zur rot-grünen Koalition Gerhard Schröders berücksichtigt werden.
I. Die stabile Regierung als Ziel der Grundgesetzautoren
Eine der wichtigsten Schlußfolgerungen des Parlamentarischen Rates aus den Erfahrungen der Weimarer Republik war die Neugestaltung des Präsidentenamts sowie die Stärkung des Kanzlers und seiner Regierung. Die Verfasser des Grundgesetzes verzichteten auf die Volkswahl des Staatsoberhauptes, weil sich die zweimalige Wahl Hindenburgs von 1925/1932 als problematisch für die Weimarer Demokratie erwiesen hatte. Außerdem begrenzten sie die Rechte des Präsidenten und die Möglichkeit seiner Wiederwahl. Der Bundespräsident hat aufgrund dieser Weichenstellung in erster Linie repräsentative Aufgaben, während die politischen Entscheidungen vom Bundeskanzler erwartet werden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Rechte des Reichspräsidenten -wie die Parlamentsauflösung, das Notverordnungsrecht oder die Einleitung eines Volksentscheides -dem Bundeskanzler übertragen wurden. Die Autoren des Grundgesetzes waren vielmehr bestrebt, neue Lösungen zur Stabilisierung der Regierung zu finden, wie z. B. für die Bildung der Bundesregierung: Während der Weimarer Reichskanzler vom Reichspräsidenten ernannt wurde und sich um eine Mehrheit im Reichstag bemühen mußte, wird der Bundeskanzler vom Parlament gewählt. Er benötigt in der Regel die Zustimmung der Mehrheit der Parlamentsmitglieder in geheimer Abstimmung. Für den ersten Wahlgang hat der Bundespräsident das Recht, einen Kandidaten für das Kanzleramt vorzuschlagen. Falls der Bundestag nach mehrfachen Versuchen nur in der Lage ist, einen Minderheitenkanzler zu wählen, kann der Präsident gegebenenfalls den Bundestag auflösen und Neuwahlen einleiten. Diese Form der Kanzlerwahl fand im Parlamentarischen Rat nach ausführlichen Diskussionen die Zustimmung der beiden großen Fraktionen CDU/CSU und SPD sowie der FDP und der Zentrumspartei.
Die Wahl des Bundeskanzlers durch das Parlament ist inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden, weil der Bundestag bisher immer in der Lage war, den Regierungschef im ersten Wahlgang mit der sogenannten „Kanzlermehrheit“ zu wählen. Der Parlamentarische Rat betrat damals mit seinen Formulierungen jedoch verfassungspolitisches Neuland, denn die älteren Demokratien Europas (Frankreich, Großbritannien, Skandinavien bis auf Schweden) verzichten in der Regel auf eine förmliche Wahl des Regierungschefs und gehen davon aus, daß dieser das Vertrauen des Parlaments besitzt, bis das Gegenteil bewiesen ist Die Voraussetzungen für die problemlose Kanzlerwahl in der Bundesrepublik sind aber in erster Linie im Parteiensystem und nicht in den Verfassungsbestimmungen zu suchen. Die Ergebnisse der Bundestagswahlen machten im Gegensatz zur Weimarer Republik deutlich, welche Partei den Bundeskanzler stellen und welche Koalition regieren würde.
Die erste Kanzlerwahl am 15. September 1949 erfolgte allerdings mit einer äußerst geringen Mehrheit, denn Konrad Adenauer erhielt im ersten Wahlgang 202 Stimmen von 402 Mitgliedern des Bundestages. Zu diesem Zeitpunkt waren elf Parteien im Parlament vertreten, so daß der erste Bundestag in seiner Zusammensetzung noch eine große Ähnlichkeit mit dem Weimarer Reichstag aufwies. In den siebziger Jahren führten die knappen Mehrheiten der sozialliberalen Koalition gegenüber der CDU/CSU ebenfalls zu knappen
Kanzlerwahlen. Helmut Schmidt wurde z. B. am 15. Dezember 1976 mit 250 Stimmen von 497 Mitgliedern des Bundestages erneut zum Bundeskanzler gewählt.
Der bekannteste Beitrag des Parlamentarischen Rates zur Stabilisierung der Regierung ist das konstruktive Mißtrauensvotum. Es läßt den Sturz der Regierung durch das Parlament nur zu, wenn gleichzeitig ein neuer Regierungschef gewählt wird. Diese Überlegung findet sich bereits in den Verfassungsvorstellungen des deutschen Widerstandes und der Emigration: Ein Programmentwurf der sozialdemokratischen Politiker Stampfer, Geyer und Rinner vom November/Dezember 1933 schlägt zum Beispiel vor, die Ablösung des Regierungschefs nur noch durch die Wahl eines Nachfolgers zuzulassen. Entsprechend einer Denkschrift des Kreisauer Kreises aus dem Jahre 1942 sollte ein Sturz des vom Reichspräsidenten mit Zustimmung des Reichstags ernannten Kanzlers nur bei gleichzeitiger Wahl eines Nachfolgers möglich sein
Im Parlamentarischen Rat bestand dementsprechend eine breite Übereinstimmung zur Einführung des konstruktiven Mißtrauensvotums. Das Recht des Parlaments zur Ablösung der Regierung wird hierdurch in weit stärkerem Maße begrenzt als z. B. im „rationalisierten Parlamentarismus“ (M. Duverger) der Fünften Französischen Republik. Die Autoren des Grundgesetzes waren allerdings nicht der Ansicht, daß der spätere Artikel 67 des Grundgesetzes eine „Patentlösung“ darstelle. Dr. v. Mangoldt (CDU) befürchtete, hiermit werde die Verfassungswirklichkeit nur verschleiert. Sobald der Kanzler die Mehrheit im Parlament verliere, müsse er mit Koalitionsverhandlungen hinter seinem Rücken rechnen, und auch der Bundestag sei in dieser Situation kaum noch arbeitsfähig. Nach den Worten des Sozialdemokraten Rudolf Katz sollte man das konstruktive Mißtrauensvotum nicht als „Patentlösung für alle zukünftigen möglichen Regierungskrisen“ bewerten. Es habe jedoch den Vorteil, den Kanzler bei Verlust seiner Mehrheit nicht noch zusätzlich mit einem „offiziellen Mißtrauensvotum“ zu belasten
Die fünfzigjährige Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland scheint in der Tat anzudeuten, daß das konstruktive Mißtrauensvotum offenbar überbewertet wird. Mit Helmut Schmidt wurde bisher nur einer von sechs Kanzlern auf diesem Wege gestürzt. Die anderen Amtsinhaber traten größtenteils aufgrund veränderter parteipolitischer Machtverhältnisse zurück. Adenauer und Brandt mußten sich dem Druck der eigenen Partei beugen und den „innerparteilichen Kanzlerwechsel“ unter Fortsetzung der Regierungskoalition zulassen. Erhard verlor seinen Koalitionspartner FDP und hatte auch in der CDU/CSU zum Schluß mehr Gegner als Freunde. Kiesinger und Kohl scheiterten aufgrund eines für sie ungünstigen Wahlergebnisses: Kiesinger verfehlte 1969 die absolute Mehrheit für die CDU/CSU, und Kohl gelang es 1998 nicht, die Unterstützung der Wähler für die Fortführung seiner Koalition mit der FDP zu erreichen. Aufgrund der bisherigen Bilanz wird man dem konstruktiven Mißtrauensvotum in erster Linie eine politisch-psychologische Bedeutung zumessen: Ein Bundeskanzler, der sich nur noch im Amt halten kann, weil kein Nachfolger gewählt wird, hat seine politische Handlungsfähigkeit verloren.
Die zurückhaltende Bewertung des konstruktiven Mißtrauensvotums veranlaßte den Parlamentarischen Rat, mit der Vertrauensfrage (Art. 68 GG) ein weiteres Element zur Stärkung der Position des Regierungschefs in das Grundgesetz aufzunehmen. Sie sollte dem Bundeskanzler eine Auflösung des Parlaments ermöglichen, falls dieses der Regierung die Unterstützung verweigert und kein konstruktives Mißtrauensvotum zustande bringt. Umstritten ist, ob die Grundgesetzautoren dem Bundeskanzler hiermit auch einen breiteren Weg zu Neuwahlen eröffnen wollten, wie er 1972 und 1982 von Willy Brandt und Helmut Kohl begangen wurde. Gegen die restriktive Interpretation des Art. 68 GG sprechen immerhin die Ausführungen von Rudolf Katz, der diesen Artikel im Parlamentarischen Rat formulierte. Katz bemerkte im November 1948 vor dem Hauptausschuß, hierbei handele es sich auch um ein Auflösungsrecht „für den Fall, daß die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen“. Zwei Monate später wiederholte er diese Interpretation und erklärte: „Der Sinn des Artikels . . . ist, der Regierung die Chance einer Neuwahl zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet.“
Ein mit der britischen Verfassungspraxis vergleichbares unbegrenztes Recht zur Parlamentsauflösung steht dem deutschen Regierungschef allerdings nicht zur Verfügung. Entsprechendes gilt beim Ver gleich mit Frankreich, wo der Präsident der Republik jederzeit die Nationalversammlung auflösen kann. Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Interpretation des Art. 68 GG hat die Auflösung des Bundestages auf dem Weg über die Vertrauensfrage den politischen Nachteil, daß der amtierende Bundeskanzler und seine Koalition die eigene Abstimmungsniederlage vorbereiten müssen. Als z. B. Helmut Kohl im Dezember 1982 die Vertrauensfrage stellte, enthielten sich die Regierungsfraktionen der Stimme, so daß mit 218 zu acht Stimmen das erwünschte negative Resultat erreicht wurde.
Der Parlamentarische Rat erweiterte die Kompetenzen des Regierungschefs, indem er ihm nach dem Grundgesetz die alleinige Entscheidung über die Berufung und Entlassung seiner Minister zusprach. Nach der Weimarer Reichsverfassung konnte der Reichstag einzelnen Ressortministern das Mißtrauen aussprechen. Die Vorstellung, die parlamentarische Verantwortlichkeit allein dem Kanzler zuzuschreiben und auf eine ausdrückliche Zustimmung des Bundestags zur Ernennung der Ressortminister zu verzichten, setzte sich allerdings im Parlamentarischen Rat erst im Januar 1949 durch. Carlo Schmid, der sozialdemokratische Vorsitzende des Hauptausschusses, war sich der Tragweite dieser Regelung bewußt und erklärte: „Das stärkt die Stellung des Bundeskanzlers enorm. Das macht ihn in einem ganz anderen Umfang zum Herrn der Regierung, als er es nach unseren bisherigen Vorstellungen gewesen ist . . . Wir haben mit diesem einzelnen Satz eine wesentlich andere Art von Regierung beschlossen, als wir sie ursprünglich wollten.“
Die staatsrechtliche Interpretation des Grundgesetzes unterscheidet dementsprechend drei Organisationsprinzipien der Bundesregierung: das Kanzlerprinzip, das Ressortprinzip und das Kabinettsprinzip. Das Kanzlerprinzip kommt in der Formulierung des Art. 65 GG zum Ausdruck: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Nach dem Ressortprinzip leitet jeder Minister innerhalb dieser Richtlinien seinen Geschäftsbereich in eigener Verantwortung. Hinsichtlich des Kabinetts-prinzips schreibt das Grundgesetz bei mehreren Gelegenheiten die Entscheidung des gesamten Kabinetts vor (z. B. bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ministern sowie nach Art. 37, 84-86 und 91 GG). Die sogenannte Richtlinien-kompetenz stand allerdings schon in Art. 56 der Weimarer Reichsverfassung und nutzte den Reichskanzlern wenig. Das Kanzlerprinzip ist jedoch insofern dominierend, als der Bundeskanz-ler nach dem Text des Grundgesetzes jeden Minister zur Entlassung vorschlagen kann.
II. Regierungsbildung und Regierungsorganisation
Am Beispiel der Kanzlerwahl wurde bereits deutlich, daß die Überlegungen des Parlamentarischen Rates zur Stabilisierung der Regierung nur wirksam wurden, weil sich seit 1949 eine gegenüber der Weimarer Republik grundlegend veränderte Parteienstruktur entwickelte. Bei der Bildung seiner Regierungsmannschaft ist der vom Bundestag gewählte Kanzler ebenfalls an die parteipolitischen Bedingungen gebunden. Er kann das Recht der Ministerernennung keineswegs so frei handhaben, wie es ihm das Grundgesetz einräumt, sondern er muß bei der Regierungsbildung auf die unterschiedlichen Flügel, Interessen und Landesverbände in seiner eigenen Partei Rücksicht nehmen. Falls ein Politiker der eigenen Partei mit starker Hausmacht bei der Besetzung der Ministerposten übergangen wird, können hieraus für den Kanzler Schwierigkeiten in den eigenen Reihen entstehen. Alle Bundesregierungen waren außerdem -bis auf kurze Phasen des Übergangs -Koalitionsregierungen. Selbst als Konrad Adenauer bei der Wahl von 1957 eine deutliche absolute Mehrheit für die CDU/CSU erreichte, behielt er die beiden Minister der Deutschen Partei in der Regierung. Die Kanzler der CDU müssen außerdem die bayerische „Schwesterpartei“ angemessen berücksichtigen. Unter dem Eindruck ihres Wahlerfolges bei der Bundestagswahl von 1957 mit 55 Mandaten forderte die CSU von Adenauer die Festlegung eines schriftlichen „Fraktionspakts“ und vier Minister-posten
Die weitreichenden Kompetenzen des Bundeskanzlers bei der Regierungsbildung, die ihm die Art. 64 und 65 des Grundgesetzes zuschreiben, werden demnach durch Koalitions-und Partei-rücksichten eingeschränkt. Nach der inzwischen üblichen Praxis sichern sich die Koalitionspartner bei der Regierungsbildung bestimmte Ministerien und entscheiden anschließend autonom über die Besetzung der Ministerposten. Die Nachfolge von Außenminister Genscher im Jahre 1992 war in dieser Hinsicht beispielhaft: Die FDP hatte zunächst Irmgard Adam-Schwaetzer nominiert, änderte aber unvermittelt ihre Meinung und schlug Klaus Kinkel vor, den Bundeskanzler Kohl ohne Beden-* ken akzeptierte. Als die Freien Demokraten ein Jahr später ihren Wirtschaftsminister auswechselten, erklärte der designierte Minister Rexrodt, seine Ernennung sei nur noch eine Formsache. In den vom Koalitionspartner besetzten Ministerien gewinnt dementsprechend auch das Ressortprinzip an Bedeutung. jedoch die Möglichkeit, die Kompetenzen der Minister festzulegen und neue Ministerien zu schaffen. Konrad Adenauer wollte bei seiner schwierigen Regierungsbildung von 1953 ursprünglich vier neue Ministerien einrichten.
Angesichts der Warnungen des Finanzministers Schäffer (CSU) vor einem „Monster-Kabinett“
gab er sich schließlich mit der Neueinrichtung des Familienministeriums unter Franz-Josef Wuermeling (CDU) zufrieden. Er ernannte allerdings vier Minister ohne Geschäftsbereich, die der CDU, der CSU (Franz Josef Strauß) sowie den beiden Koalitionspartnern FDP und Gesamtdeutscher Block/BHE angehörten. Helmut Kohl erweiterte sein Kabinett mit dem Tag der Wiedervereinigung (3. Oktober 1990) ebenfalls um fünf Minister ohne Portefeuille, die aus den neuen Bundesländern kamen. Bei der Neubildung der Regierung nach der Bundestagswahl von 1990 teilte Kohl das Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in drei Ressorts, um eine bessere Vertretung der CDU/CSU-Frauen im Kabinett zu erreichen:
Hannelore Rönsch übernahm das neue Ministerium für „Familie und Senioren", Angela Merkel „Frauen und Jugend“ und Gerda Hasselfeld das „Gesundheitsministerium“.
Bei der Bildung der rot-grünen Regierung änderte der neue Bundeskanzler Schröder die Zuständigkeiten der Ministerien in wichtigen Bereichen.
Der neue Finanzminister, Oskar Lafontaine, profitierte am deutlichsten von der Reorganisation.
Er erhielt u. a. die Zuständigkeit für die Europapolitik, den Jahreswirtschaftsbericht, den Konjunkturrat der öffentlichen Hand, die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, den Sachverständigenrat und die Wirtschaftsstatistik. Die offizielle Begründung für diese Kompetenz-verlagerung war die Bildung eines Schatzamts, wie es in anderen Staaten der Europäischen Union besteht. Die Kommentatoren verwiesen jedoch auf Lafontaines Position als SPD-Vorsitzender. die ihm wesentlich mehr Einfluß vermittelte als allen Ministerkollegen. Nach dem Rücktritt Lafontaines wurden diese Kompetenzverschiebungen bisher S.
nicht revidiert. Das Wirtschaftsministerium unter dem parteilosen Werner Müller hatte Zuständigkeiten an das Finanzministerium abzugeben, erhielt aber aus dem Forschungsministerium die indirekte Forschungsförderung sowie die Förde rung technologischer Unternehmen und der Energieforschung. Den Beauftragten für die neuen Bundesländer übernahm Schröder vom Wirtschaftsministerium ins Bundeskanzleramt, wo auch die kulturpolitischen Aufgaben des Bundes zusammengefaßt wurden.
Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die 1949 getroffene Regelung der Organisationsgewalt der wichtigste Schritt zur Aufwertung des Regierungschefs war. Sie stand nach der Weimarer Reichsverfassung dem Reichspräsidenten zu und wurde vom Parlamentarischen Rat der Regierung zugeordnet. Bei den Grundgesetzberatungen herrschte zunächst die Auffassung vor, der Bundesrat solle bei der Errichtung der Ministerien und Bundesbehörden ein generelles Zustimmungsrecht haben. Eine entsprechende Formulierung wurde aber aufgrund von interfraktionellen Besprechungen unmittelbar vor der Schlußabstimmung gestrichen. Mit dieser Konzession der CDU/CSU an die SPD fiel die Organisationsgewalt in die alleinige Zuständigkeit der Regierung und damit des Kanzlers
Aufgrund dieser Organisationsgewalt war Konrad Adenauer unmittelbar nach seiner Wahl zum ersten Bundeskanzler in der Lage, das im Grundgesetz nicht vorgesehene Bundeskanzleramt einzurichten. Seit 1949 koordiniert das Amt die Arbeit der Ministerien und bereitet die Richtlinien der Regierungstätigkeit vor. Es beschäftigt inzwischen etwa 500 Mitarbeiter und wird vom „Minister im Bundeskanzleramt“ geleitet. Die einzelnen Referate des Kanzleramts befassen sich als „Spiegel-referate“ mit der Politik eines bestimmten Ministeriums oder als „Querschnittsreferate“ mit Problemen, die mehrere Ministerien betreffen. Das Kanzleramt hat außerdem die Aufgabe, die Tätigkeit der drei Nachrichtendienste zu koordinieren, von denen einer dem Bundeskanzler direkt zuarbeitet, während die beiden anderen dem Innen-und dem Verteidigungsministerium zugeordnet sind.
Seit Bestehen der Bundesrepublik hat das Bundeskanzleramt auch Aufgaben übernommen, die den Ministerien aus politischen Gründen nicht übertragen werden konnten: Solange die Außenpolitik laut Besatzungsstatut Sache der Besatzungsmächte war und kein Außenministerium bestand, beauftragte Adenauer das Kanzleramt mit der Wahrnehmung der internationalen Beziehungen. Auch die Wiederbewaffnung wurde im Kanzleramt vorbereitet. Unter seiner Obhut erreichte das „Amt Blank“ die Größe eines Ministeriums, bevor es im Jahre 1955 offiziell als Verteidigungsministerium ausgegliedert wurde. Später stellte Egon Bahr als Staatssekretär im Kanzleramt die Weichen für die „neue Deutschland-und Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition.
Bundeskanzler Schröder folgte diesem Muster, indem er einen Staatsminister im Kanzleramt mit dem Aufbau in den neuen Bundesländern beauftragte. Eine weitere Reorganisation betraf die Kulturpolitik. Da die Kultur nach dem Grundgesetz bis auf wenige Ausnahmen in die Zuständigkeit der Länder fällt, schied die Einrichtung eines Bundeskultusministeriums aus. Schröders Kandidat für diesen Aufgabenbereich, der Verleger Michael Naumann, wurde dementsprechend ebenfalls zum Staatsminister im Kanzleramt ernannt. Er ist für die Kulturaufgaben des Bundes zuständig, insbesondere für die sogenannte Abteilung K., welche zur Zeit Helmut Kohls dem Innenministerium zugeordnet war. Außerdem hat die Beauftragte des Bundeskanzlers für die Beziehungen zu Frankreich, Brigitte Sauzay, ihren Sitz im Bundeskanzleramt.
Neben dem Bundeskanzleramt untersteht dem Kanzler das Presse-und Informationsamt der Bundesregierung. Seine Aufgabe besteht einerseits in der Unterrichtung der Bundesregierung über die Nachrichtenlage und die öffentliche Meinung im ln-und Ausland. Andererseits informiert das Amt Bürger und Medien über die Politik der Bundesregierung. Es soll die Öffentlichkeitsarbeit der einzelnen Medien koordinieren und vertritt die Bundesregierung auf der Bundespressekonferenz. Das Presseamt wird deshalb gerne als Sprach-und Hörrohr der Bundesregierung bezeichnet. Es steht gegenwärtig unter der Leitung eines Staatssekretärs (Uwe-Karsten Heye), der an den Kabinettssitzungen teilnimmt.
Innerhalb der Bundesregierung wurden Kabinettsausschüsse gebildet, in denen nur bestimmte Ressortminister vertreten sind. Zur Regierungszeit Helmut Kohls zählte man sieben Ausschüsse, von denen der wichtigste der Bundessicherheitsrat ist. Die rot-grüne Bundesregierung reduzierte zunächst die Zahl der Kabinettsausschüsse auf fünf und entschied, daß auch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Sicherheitsrat vertreten ist, da Sicherheitsrisiken häufig auf soziale und politische Unterentwicklung zurückzuführen sind. Im Februar 1999 beschlossen die Fraktionen der Regierungskoalition die Einsetzung weiterer Kabinettsausschüsse für Energie-politik, Gesundheitspolitik, die Rentenproblematik und das „Bündnis für Arbeit“. Auf diese Weise soll die Koordination zwischen den Ministerien und den Koalitionspartnern verbessert werden. Kabinettsausschüsse stärken die Position des Regierungschefs, da ihre Arbeit vom Bundeskanzleramt koordiniert wird und der Kanzler selbst in allen Ausschüssen vertreten ist. Die Kabinettsausschüsse haben allerdings in der deutschen Regierung bei weitem nicht die Bedeutung wie im britischen System, wo sie seit Winston Churchill teilweise die Funktionen des Gesamtkabinetts übernahmen und verbindliche Entscheidungen treffen. In Großbritannien wird die Rolle der Kabinettsausschüsse und Kabinettszirkel durch die Geheimhaltung der inneren Organisation der Regierung verstärkt Obwohl das Ernennungsrecht und die Organisationsgewalt des Kanzlers durch Partei-und Koalitionsrücksichten begrenzt werden, bleibt diesem ausreichend Spielraum, um sich durch geschickte Personalpolitik die Unterstützung der Fraktionen und Parteien zu sichern. Das Recht der Ämterbesetzung ist für den Bundeskanzler auf die jetzt 15 Minister und 24 Parlamentarischen Staatssekretäre begrenzt. Letztere werden allerdings in Übereinstimmung mit dem betreffenden Minister benannt. Personalveränderungen im Bereich der „politischen Beamten“ kann der Kanzler im Bundeskanzleramt und den weiteren, ihm zugeordneten Behörden durchsetzen. In den Ministerien ist hierfür der Minister zuständig. Die „power of appointment“ des Bundeskanzlers ist damit geringer als diejenige des britischen Premiers. Dieser kann nicht nur die etwa 20 Kabinettsminister, sondern mehr als die doppelte Zahl von Ministern außerhalb des Kabinetts und zahlreiche Ämter außerhalb der Regierung besetzen. In der Regel ist etwa ein Drittel der Regierungsfraktion des Unterhauses durch einen Posten an den Premier und seinen Erfolg gebunden.
III. Informelle Verfahren
Der Bundeskanzler kann sich nicht damit begnügen, seine politischen Zielvorstellungen im Kabinett durchzusetzen. Er muß Parteien, Fraktionen, Interessengruppen und in vielen Fällen auch Landesregierungen in den Entscheidungsprozeß einbe ziehen. Ein Beispiel hierfür aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik ist Adenauers Vermittlungsrolle bei der Vorbereitung der Montan-Mitbestimmung von 1951 und des Investitionshilfegesetzes von 1952. In beiden Fällen agierte Adenauer unabhängig und teilweise im Gegensatz zu den Absichten seines Wirtschaftsministers Ludwig Erhard Seit den fünfziger Jahren haben sich deshalb verschiedene Formen der Beratung entwickelt, die weder im Grundgesetz noch in den Geschäftsordnungen enthalten sind. So gab es bereits in der ersten Legislaturperiode des Bundestages regelmäßige Treffen von Vertretern der Regierungsfraktionen von CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei, bei denen allerdings die Regierungsmitglieder fehlten. Adenauer selbst verließ sich auf sein „Küchenkabinett“, in dem Krone, Hallstein, Globke, Blankenborn und v. Eckardt vertreten waren. Als die FDP 1961 in Adenauers Regierung zurückkehrte, kam es zu Koalitionsvereinbarungen und zur Bildung eines Koalitionsausschusses, dem aber die Regierungsmitglieder nach wie vor nicht angehörten. Erst 1962 begannen regelmäßige Koalitionsgespräche von Regierungs-und Fraktionsmitgliedern der CDU/CSU und der FDP.
Zur Zeit der Großen Koalition richteten die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD den „Kreßbronner Kreis“ als inoffiziellen Koalitionsausschuß ein. Er bestand aus Regierungsmitgliedern und führenden Mitgliedern der Regierungsfraktionen des Bundestages. Helmut Schmidt bildete als Bundeskanzler mit drei Ratgebern sein vierblättriges „Kleeblatt“: Er konferierte wöchentlich mit Bölling, Schüler und Wischnewski im Kanzleramt. Um den Entführungsaktionen des Linksterrorismus entgegentreten zu können, richtete Schmidt 1977 den „Großen Krisenstab“ ein, in dem Ministerpräsidenten der Länder und Oppositionspolitiker vertreten waren. Außerdem tagte bei Bedarf eine Koalitionsrunde mit dem Kanzler, Außenminister Genscher, weiteren Ministern, dem Parteivorsitzenden Brandt, den Fraktionsvorsitzenden sowie den Geschäftsführern der beiden Regierungsparteien SPD und FDP
Helmut Kohl führte die Koalitionsrunde mit den Liberalen nach dem gleichen Muster wie unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts fort. Sie tagte ab 1983 in Abständen von 10 bis 14 Tagen. An diesen Gesprächen war in erster Linie die FDP interessiert, weil sie hierdurch größeren Einfluß auf die Initiativen der Regierung nehmen konnte. Ein weiteres Beratungsgremium von CDU/CSU und FDP unter der Kanzlerschaft Kohls war die soge-nannte „Elefantenrunde“ der Parteivorsitzenden. Diese Treffen nahmen in der Berichterstattung der Medien breiten Raum ein, solange der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß teilnahm. Nach dem Tod von Strauß im Jahre 1988 verloren sie an Bedeutung. Typisch für den Regierungsstil Kohls waren weitere informelle Beratungsrunden (Morgenlage, Abendrunden im Kanzlerbungalow) sowie die Kontakte mit externen Beratern
Die im Oktober 1998 gebildete rot-grüne Regierungskoalition sieht in ihren Koalitionsvereinbarungen ebenfalls einen Koalitionsausschuß vor. Er sollte aus je acht Vertretern beider Parteien bestehen und im Konfliktfall einen Kompromiß zwischen den Koalitionspartnern herbeiführen. Wenige Wochen nach der Regierungsbildung führte die Vorbereitung der Steuerreform auf Initiative der kleineren Regierungspartei zum ersten Koalitionsgespräch: Am 3. Dezember 1998 trafen sich sieben Vertreter der Grünen und sechs Sozialdemokraten. Auf beiden Seiten nahmen je drei Kabinettsmitglieder, zwei bzw. drei Mitglieder der Fraktion und je ein Mitglied der Parteiführung teil. Man kam überein, in Zukunft wöchentlich Konsultationsgespräche zu führen, damit der Informationsaustausch zwischen den Regierungsfraktionen und den Parteien verbessert werde. Beide Seiten waren bemüht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermeiden, daß der Zusammentritt des Koalitionsausschusses eine Krise im Regierungsbündnis anzeige.
Die informellen Koordinationsgremien treffen wichtige Vorentscheidungen zu allen Bereichen der Regierungspolitik. Obwohl unverbindlich im rechtlichen Sinne, werden die dort ausgehandelten Vereinbarungen in der Regel vom Kabinett und von den Regierungsfraktionen bestätigt. Daß die informellen Vorentscheidungen die politische Bedeutung des Kabinetts als Kollegium vermindern, steht außer Zweifel. Minister, die ein Ministerium von geringerer Bedeutung leiten und keine Führungsposition in ihrer Partei innehaben, geraten leicht in die Rolle des „Hinterbänklers“ der Regierungsmannschaft. Im politischen System der Bundesrepublik kann man jedoch auf die informellen Entscheidungsgremien kaum verzichten, weil einflußreiche Politiker, wie z. B. die Mini-sterpräsidenten und Minister der Länder, aber auch die Fraktions-und Parteivorsitzenden, nicht Mitglieder der Bundesregierung sind. Koalitionsvereinbarungen zwischen den Regierungsparteien begrenzen die Richtlinienkompetenz des Kanzlers, wenn diese nicht im juristischen, sondern im politischen Sinne verstanden wird. Ob die informellen Koordinationsgremien die Position des Regierungschefs schwächen, ist allerdings umstritten In der Regel bestimmt das Bundeskanzleramt die Tagesordnung und den Zeitpunkt der Gespräche. In vielen Fällen kann der Bundeskanzler auch entscheiden, wer eingeladen wird. Die informellen Entscheidungsgremien sind deshalb mit den britischen Kabinettsausschüssen zu vergleichen. Zur Regierungszeit Margaret Thatchers waren dort die Grenzen zwischen formellen und informellen Verfahren fließend, weil die Premierministerin sich häufig mit wenigen ausgewählten Ministern beriet. Premierminister und Kanzler sind früher und umfassender über die Tagesordnungspunkte informiert als ihre Kollegen. Sie können deshalb den Entscheidungsprozeß in ihrem Sinne beeinflussen
IV. Konventionen, Regierungsstil und Parteipolitik
Wenn eine neue Regierungskoalition gebildet wird und sich die politische Zusammensetzung der Bundesregierung ändert, bleiben die informellen Verfahren zur Entscheidungsvorbereitung bestehen. Darüber hinaus haben sich regelrechte Konventionen gebildet, die zwar nicht rechtsverbindlich sind, aber die geschriebene Verfassung ergänzen. Ein Beispiel hierfür ist der im Grundgesetz vorgesehene Stellvertreter des Kanzlers. Seine Position hat sich inzwischen zum Vizekanzleramt entwikkelt und wird nach bestimmten informellen Regeln besetzt. Seit der Großen Koalition nimmt der führende Politiker des kleineren Koalitionspartners, damals Willy Brandt, diese Position ein und leitet gleichzeitig das Außenministerium. Bei der Kandidatur des liberalen Außenministers Walter Scheel zum Bundespräsidenten im Mai 1974 war diese Rollenstruktur bereits fest verankert. Der zukünftige FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher mußte vom Innenministerium in das Auswärtige Amt wechseln, obwohl er sich bis dahin ausschließlich als Innenpolitiker profiliert hatte. Mit der Bildung der rot-grünen Regierung im Herbst 1998 wurde diese Tradition fortgesetzt: Josef Fischer übernahm als führender Politiker der Grünen die Ämter des Außenministers und des Vizekanzlers.
Die Besetzung des Vizekanzleramts kann mit einer anderen Konvention in Konflikt geraten, nämlich mit dem von Konrad Adenauer begründeten Engagement des Bundeskanzlers in der Außenpolitik. Die Zeit der Großen Koalition (1966-1969) wurde von wachsenden Differenzen zwischen Bundeskanzler Kiesinger und dem Außenminister Brandt über die Ostpolitik und das Verhältnis zur DDR bestimmt. Unter der Kanzlerschaft Brandts bestand zeitweise die Gefahr, daß Walter Scheel als Außenminister der Wind aus den Segeln genommen wurde. Dies wirkte sich zu Lasten der FDP aus, deren Vorsitzender Scheel war, und drohte das sozialliberale Regierungsbündnis in Frage zu stellen Während des Wiedervereinigungsprozesses bestand eine deutliche Konkurrenz zwischen dem vom FDP-Vorsitzenden geleiteten Auswärtigen Amt und dem Kanzler-amt Kohls sowie dessen Abteilungsleiter Horst Teltschik.
Die bei der Regierungsbildung zu beachtenden Konventionen beziehen sich aber nicht allein auf das Auswärtige Amt. Zu den ungeschriebenen Gesetzen gehört z. B., daß der Landwirtschaftsminister aus dem Bereich der Landwirtschaft kommen und der Arbeits-und Sozialminister ein Vertreter der Gewerkschaften sein sollte. Der Justizminister sollte ausgebildeter Jurist sein und der Verteidigungsminister sollte gedient haben. Gerhard Schröder trug bei seiner Regierungsbildung im Oktober 1998 diesen Ansprüchen Rechnung und nominierte mit Werner Müller außerdem einen parteilosen ehemaligen Industriemanager für das Wirtschaftsministerium.
Weitaus wichtiger für das Funktionieren des politischen Systems der Bundesrepublik ist der seit 1949 bestehende Dualismus von Regierung und Opposition. Er versetzt den Wähler in die Lage, bei der Stimmabgabe zwischen zwei „Regierungsangeboten“ zu entscheiden. Die kleineren Parteien geben vor der Wahl ihre Koalitionsabsichten bekannt und halten sich an diese Absichtserklärungen, falls das Wahlresultat eine entsprechende Regierungsbildung erlaubt, Die Koalitionsentscheidung wird damit vorgezogen und nicht nach der Wahl sehen den Fraktionen des Parlaments ausgehandelt, wie dies in der Weimarer Republik üblich war. Die klaren Fronten zwischen Regierungs-und Oppositionslager haben einen größeren Beitrag zur Regierungsstabilität geleistet als die Verfassungsbestimmungen des Grundgesetzes. Wenn man die Zahl der Regierungschefs seit 1945 zum Maßstab nimmt, liegt die Bundesrepublik mit ihren bisher sieben Kanzlern vor Großbritannien mit zwölf Premierministern. Frankreich hatte allein in der Fünften Republik seit 1959 fünfzehn Regierungschefs; ein Hinweis auf Italien macht schließlich den Unterschied besonders deutlich.
Der Dualismus im Parteiensystem der Bundesrepublik war zunächst höchst einseitig, weil die FDP und die übrigen kleineren Parteien bis in die sechziger Jahre hinein auf Bundesebene nur zur Koalition mit der CDU/CSU bereit waren. Die Große Koalition (1966-1969) setzte den Dualismus zwar vorübergehend außer Kraft, lockerte aber gleichzeitig die Fronten, so daß 1969 eine sozialliberale Koalition unter Ausschluß der seit zwanzig Jahren regierenden Unionsparteien gebildet werden konnte. Wie weit der Dualismus und die Koalitionsaussagen die Regierungsbildung bestimmen, zeigte sich 1982: Der Koalitionswechsel der FDP an die Seite der Unionsparteien war verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, widersprach aber den Absichtserklärungen im Wahlkampf von 1980. Die vorzeitige Auflösung des Bundestages und die Wahl vom 6. März 1983 hatte dementsprechend den verfassungspolitischen Sinn, das neue Regierungsbündnis zu legitimieren. Erst der Dualismus im Parteiensystem ermöglicht auch das taktische Wahlverhalten: Die Unterstützung der FDP z. B. durch Wähler mit einer Präferenz für die Unionsparteien setzt eine eindeutige Koalitionsabsicht beider Parteien voraus.
Der Wahlkampf 1998 wurde zwischen den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP einerseits sowie den Sozialdemokraten und Grünen auf der anderen Seite geführt. Falls die PDS eine Bundestagsmehrheit beider Lager verhindert hätte, wäre eine Große Koalition oder eine andere „unerwünschte“ Regierungsbildung nicht auszuschließen gewesen. Der deutsche Parteiendualismus bleibt damit hinter der Konsequenz des britischen zurück, wo in Friedenszeiten keine Koalitionsregierungen gebildet werden. Die stärkste Partei des Unterhauses regiert hier gegebenenfalls mit Unterstützung der kleineren Parteien, ohne daß diese an der Regierung personell beteiligt sind. *Der Dualismus ist außerdem die Voraussetzung für die Aufstellung von Kanzlerkandidaten, die verfassungsrechtlich nicht vorgesehen sind. Die beiden großen Parteien SPD und CDU/CSU nominieren vor der Wahl ihre Spitzenkandidaten. Für die regierende Partei tritt in der Regel der amtierende Bundeskanzler an, während die größte Oppositionspartei einen Herausforderer präsentiert. Als Kanzlerkandidaten der Opposition werden häufig Ministerpräsidenten der Länder aufgestellt (Brandt, Rau, Lafontaine, Schröder) oder Bundespolitiker, die bereits ein Ministerpräsidentenamt innehatten (Kohl, Vogel, Scharping). Kiesinger war bis zu seiner Wahl zum Kanzler der Großen Koalition Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und Schmidt sammelte in Hamburg als Innensenator politische Erfahrungen. Reine Bundespolitiker hatten in der Regel bei der Bewerbung oder im Amt selbst wenig Glück (Ollenhauer, Erhard, Barzel).
Das dualistische Muster der politischen Auseinandersetzung fördert die ohnehin in modernen Demokratien vorhandenen Personalisierungstendenzen. Während leadership im US-amerikanischen und britischen Demokratieverständnis als unproblematisches Phänomen betrachtet wird, gehört „Führertum“ (denn das wäre die Übersetzung von leadership) in Deutschland aufgrund der historischen Erfahrungen zum Tabubereich. Auf dem europäischen Festland befaßten sich vor allem französische Wissenschaftler unter dem Eindruck de Gaulles kritisch mit der „personnalisation du pouvoir“. Die politische Meinungsbeeinflussung gruppiert sich nach ihrer Interpretation in zunehmendem Maße um den „chef-pereheros“. Die Ursache hierfür liege aber weniger im Machtstreben der Politiker als vielmehr in den Erwartungen der Bürger, die angesichts der unüberschaubaren Sachprobleme nach der „konkreten Simplifikation“ verlangten. Der „homme propagande“ benötige einen politischen Souffleur, der ihm Parolen vermittele und ihm bestätige, daß er sich auf dem richtigen Weg befinde. Die Personalisierung der Politik wurde ursprünglich von der auflagenstarken BoulevardPresse vorangetrieben. Das Fernsehen verstärkte diese Tendenz erheblich, weil es den Politikern den Weg in die Wohnzimmer der Wähler ebnete und diesen eine neue Intimität mit ihren höchsten Repräsentanten vermittelte
Das personelle Element spielte bisher bei allen Bundestagswahlen eine wichtige Rolle. Die Wahl-erfolge Adenauers, Erhards und Brandts sind zu einem Teil dem persönlichen Prestige des amtie-renden Kanzlers zu verdanken. Helmut Schmidt gewann die Bundestagswahl von 1980 nicht zuletzt aufgrund der Vorbehalte gegenüber dem Herausforderer Strauß in breiten Kreisen der Wählerschaft. Helmut Kohl konnte bei den Wahlen von 1990 und 1994 sein Prestige als „Kanzler der deutschen Einheit“ in die Waagschale werfen. Nach der Analyse der Forschungsgruppe Wahlen hatten die „Personenalternativen“ für das Resultat der Bundestagswahl vom 27. September 1998 eine besonders große Bedeutung. Die sozialdemokratische Opposition habe diesen Aspekt in den Mittelpunkt gerückt, indem sie die Entscheidung über den eigenen Spitzenkandidaten hinauszögerte. Der Abstand zwischen Schröder und Kohl bei Antworten auf die Frage nach dem bevorzugten Kanzler habe im Frühjahr 1998 40 Prozentpunkte betragen und damit vorher nie gemessene Dimensionen angenommen. Obwohl sich die Differenz zwischen den beiden Kanzlerkandidaten bis zum Wahltag auf 13 Prozentpunkte reduzierte, konnte der amtierende Kanzler die für ihn negative „Grundstimmung“ nicht mehr ändern. Die Autoren der Forschungsgruppe verweisen mit den Argumenten Jacques Elluls auf das Interesse der Medien an personalisierten Wahlkämpfen: „Insbesondere die elektronischen brauchen Bilder, . . . weil Politik mit und an Personen leichter darzustellen ist als ohne sie.“
In der Frage der Beziehung zwischen dem Kanzler bzw.dem Kanzlerkandidaten und seiner Partei besteht eine noch unvollständige Konvention. Das britische Beispiel der Labour Party und der Konservativen bietet eine eindeutige Lösung: Der Premierminister ist in Personalunion leader seiner Parteiorganisation, und entsprechendes gilt für den Fraktionsvorsitzenden der größten Oppositionspartei im Unterhaus. In Deutschland ist es durchaus üblich, daß der Bundeskanzler Vorsitzender seiner Partei ist, aber es ist nicht zwingend vorgeschrieben. Ludwig Erhard wurde erst spät zum CDU-Vorsitzenden gewählt und nutzte dieses Amt nicht mehr zur Stützung seiner Kanzlerschaft. Helmut Schmidt überließ Willy Brandt die Parteiführung und mußte hierfür in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft Nachteile in Kauf nehmen. Adenauer, Kohl und in einer kürzeren Phase auch Brandt sind Beispiele für eine erfolgreiche Verbindung beider Ämter. Das Ausscheiden des SPD-Vorsitzenden Lafontaine aus der Regierung und sein Rücktritt als Parteivorsitzender ermöglichten dem neuen Bundeskanzler Schröder die Wiederherstellung der Personalunion: Er wurde am 12. April 1999 vom außerordentlichen SPD-Partei-tag in Bonn zum Parteivorsitzenden gewählt. Ob die SPD als Kanzlerpartei in der gleichen Weise auf den Regierungskurs verpflichtet werden kann wie die CDU unter Adenauer und Kohl, werden die kommenden Monate zeigen.
Der Vergleich mit dem britischen System deckt eine weitere Lücke in den deutschen Verfahrens-regeln auf: Die großen deutschen Parteien SPD und CDU/CSU besitzen keine verbindlichen Regeln für die innerparteiliche Wahl des Kanzler-kandidaten und für dessen Ablösung. Während die Labour Party zu diesem Zweck ein electoral College eingerichtet hat, entscheidet bei den Konservativen die Unterhausfraktion über die Wahl und Abwahl des leaders. Diese Abwahl kann sich, wie das Beispiel Margaret Thatcher 1990 zeigte, auch gegen den amtierenden Premierminister richten, der daraufhin von seinem Regierungsamt zurücktritt Die deutschen Parteien haben aus der zunehmenden Personalisierungstendenz und der wachsenden Bedeutung des Spitzenkandidaten noch nicht die notwendigen Schlußfolgerungen gezogen. Bei den Unionsparteien beschlossen die beiden Vorstände 1975 die Kandidatur von Helmut Kohl, während Franz Josef Strauß für die Wahl von 1980 von der Bundestagsfraktion nominiert wurde. Beim konstruktiven Mißtrauensvotum vom Oktober 1982 war Kohl als Fraktionsvorsitzender sozusagen automatisch Kanzlerkandidat. Bei den Sozialdemokraten wird der Kanzlerkandidat in der Regel von einem Parteitag oder Sonder-parteitag auf Vorschlag des Vorstandes nominiert. Eine Direktwahl des Kanzlerkandidaten durch die SPD-Mitglieder ist zwar seit 1993 in den Partei-statuten vorgesehen, wurde jedoch bisher nicht praktiziert
Die Personalisierungstendenzen und der Dualismus im Parteiensystem hatten zur Folge, daß das repräsentative Verfassungssystem der Bundesrepublik durch plebiszitäre Elemente ergänzt wurde. Der Wähler wählt bei der Bundestagswahl nicht nur Repräsentanten, die seine Interessen im Parlament stellvertretend wahrnehmen. Er votiert gleichzeitig für eine bestimmte Koalition sowie für einen bestimmten Kanzlerkandidaten und begrenzt hiermit den politischen Spielraum der Bundestagsfraktionen. Der französische Wissenschaftler Jean Amphoux gewann schon 1962 bei der Beobachtung der Adenauer-Wahlen den Eindruck, die Ernennung des Kanzlers sei das Ergebnis eines Ple-biszits, welches unter dem Deckmantel allgemeiner Wahlen stattfinde. Drei Jahre zuvor hatte bereits der Journalist Alfred Rapp die Bundestagswahlen von 1953 und 1957 als „eine Art Volkswahl des Bundeskanzlers“ bezeichnet. Auf diese Weise sei das vom Parlamentarischen Rat bei der Formulierung des Grundgesetzes „verfemte plebiszitäre Element“ sozusagen durch die Hintertür wieder in die deutsche Demokratie eingetreten
V. Bestätigung der Kanzler-demokratie?
Die Bezeichnung „Kanzlerdemokratie“ diente bereits zu Beginn der fünfziger Jahre zur Charakterisierung der Bonner Regierungstätigkeit unter Konrad Adenauer. Wir finden sie in einem Aufsatz von Dolf Sternberger aus dem Jahre 1953 und in dem Buch des schweizerischen Journalisten Fritz Rene Allemann „Bonn ist nicht Weimar“ aus dem Jahre 1956 Umstritten bleibt in der wissenschaftlichen Diskussion, auf welchen Zeitraum der bundesrepublikanischen Entwicklung diese Bezeichnung zutrifft. Die Adenauer-Forschung ist bestrebt, sie für ihren „Helden“ zu reservieren, und spricht den Nachfolgern Adenauers kurzerhand das Format zur Kanzlerdemokratie ab Unter dem Eindruck des Stimmungstiefs der Regierung Kohl wurde im Jahre 1988 auch die These vertreten, die Kanzlerdemokratie gelte zwar für Adenauers Nachfolger, habe sich aber unter dem gegenwärtigen Kanzler in eine Koordinationsdemokratie verwandelt. Die Darstellung der informellen Verfahrensweisen macht aber deutlich, daß jeder Kanzler seit Adenauer ein hohes Maß von Koordination herbeiführen mußte. Die Gegenüberstellung von Kanzler-und Koordinationsdemokratie hat deshalb wenig Erkenntniswert. Der frühere Verteidigungsminister Rupert Scholz übernahm 1989 unvorsichtigerweise die These von der Koordinationsdemokratie. In einem Beitrag für „Die Welt“ berichtete er, der Richtlinienkanzler habe sich in einen „Koordinationskanzler“ verwandelt. Einige Tage später befand sich der Kritiker außerhalb des Kabinetts. Die Kanzlerde mokratie war offenbar in personalpolitischer Hinsicht noch in Kraft
Vor dem Versuch, die Amtsführung Helmut Kohls und den Start seines Nachfolgers zu kommentieren, ist eine Begriffsklärung notwendig: Die Bezeichnung „Kanzlerdemokratie“ wird allzu-schnell begrenzt auf den effektiven Entscheidungsprozeß sowie das Durchsetzungsvermögen des Bundeskanzlers in seinem Kabinett und seiner Koalition. Falls diese Bedingungen nach Auffassung der Beobachter nicht mehr erfüllt werden, nimmt die Kanzlerdemokratie den Charakter einer Koalitionsdemokratie, einer Koordinationsdemokratie oder eine andere, degenerierte Form der Regierung an. Die Gleichsetzung der Kanzler-demokratie mit effektiver Regierung ist aber ein allzu simples Muster und von der Wertschätzung des Kommentators abhängig. Aus politikwissenschaftlicher Sicht geht es vielmehr um die Beschreibung eines Regierungstyps mit bestimmten Merkmalen. Diese Merkmale sind nicht nur für den „starken“ Kanzler von Bedeutung, sondern auch für den „schwachen“, der sich in Schwierigkeiten befindet und möglicherweise einem Nachfolger Platz machen muß. Nur auf diese Weise ist es möglich, sowohl Gründe für den Machterhalt als auch für den Machtverlust des Regierungschefs aufzuzeigen. Schließlich muß auch die Rolle der Opposition berücksichtigt werden, die gegebenenfalls die Regierungsrolle nach den Regeln der Kanzlerdemokratie übernimmt.
Die Regierungszeit Konrad Adenauers spielt für die Entstehung der „Kanzlerdemokratie“ eine entscheidende Rolle. Begünstigt durch die Anfangssituation, konnte der erste Bundeskanzler die Merkmale dieses Regierungstyps formen, soweit diese nicht durch das Grundgesetz oder die Strukturen des Parteiensystems bestimmt waren. Wenn man die Frage nach Gemeinsamkeiten und grundsätzlichen Unterschieden in der Regierungspraxis Adenauers und seiner Nachfolger stellt, lassen sich fünf Merkmale der Kanzlerdemokratie erkennen:
Der Bundeskanzler muß demnach, , das erstens Kanzlerprinzip im politischen Sinne durchsetzen. Hierbei geht es nicht um die Verwirklichung einer abstrakten Richtlinienkompetenz, sondern zunächst um die zentrale Rolle des Kanzlers bei der Vorbereitung der politischen Entscheidungen im Kabinett. Eine weitere wichtige Aufgabe des Kanzlers besteht darin, die Zustimmung zur Regierungspolitik in den Regierungsfraktionen, den Regierungsparteien und gegebenenfalls auch bei den Interessengruppen herbeizuführen. Schließlich muß der Bundeskanzler seine Politik in der Öffentlichkeit glaubhaft vertreten.
Das zweite Merkmal der Kanzlerdemokratie ist das persönliche Prestige des Bundeskanzlers, zumindest im Regierungslager und bei der Mehrheit der Wähler. Der Kanzler verkörpert die Regierungspolitik im Sinne der oben beschriebenen Personalisierung und steht im Mittelpunkt der Medienberichterstattung. Falls er diese Position preisgibt, ist seine Kanzlerschaft in Gefahr. Persönliches Prestige und Medienpräsenz sind in gleichem Maße Voraussetzung für den Erfolg des Kanzlerkandidaten der Opposition.
Als drittes Merkmal gehört zur Kanzlerdemokratie die enge Verbindung des Kanzleramts mit dem Vorsitz der größten Regierungspartei. Die Personalunion zwischen beiden Ämtern würde den britischen Konventionen entsprechen. Konrad Adenauer und Helmut Kohl sind die herausragenden Beispiele für eine langfristige Vereinigung von Partei-und Regierungsführung. Herausragend waren aber in beiden Fällen auch die Nachfolge-probleme, weil die beiden Parteiführer es verstanden, potentielle Konkurrenten auszubooten oder gegeneinander auszuspielen. Daß Ludwig Erhard aus seinem Parteivorsitz in den letzten Monaten seiner Kanzlerschaft keine Unterstützung mobilisieren konnte, ist ebenso unbestritten wie der Stimmenerfolg des CDU-Vorsitzenden und Kanzlers der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, im Jahre 1969. Umstritten ist dagegen das Beispiel Helmut Schmidts, der später selbst bedauerte, während seiner Kanzlerschaft nicht den Parteivorsitz der SPD angestrebt zu haben. Peter Haungs und Wolfgang Jäger vertraten 1988/89 die gut begründete Ansicht, ohne die integrierende Rolle des Parteivorsitzenden Brandt wäre Schmidt als Kanzler bereits früher gescheitert Nach dem Rücktritt Lafontaines als Parteivorsitzender und Finanzminister wird sich zeigen, ob die SPD unter dem Vorsitz Schröders die Rolle der „Kanzler-partei“ annimmt, die sie zur Zeit der Kanzlerschaft Willy Brandts für kurze Zeit spielte.
Das vierte Merkmal der Kanzlerdemokratie ist der oben beschriebene Dualismus zwischen Regierungs-und Oppositionslager. Bereits Adenauer nutzte die Polarisierung zwischen den beiden Lagern als Instrument des Machterhalts. Zur Zeit der Großen Koalition trat der Dualismus allerdings vorübergehend zugunsten einvernehmlicher Entscheidungen in den Hintergrund. Aus diesem Grunde waren die Regeln der Kanzlerdemokratie von 1966 bis 1969 größtenteils außer Kraft gesetzt, obwohl der Gegensatz zwischen den beiden großen Parteien in der Deutschland-und Währungspolitik im Wahlkampf von 1969 eine Rolle spielte.
Ein fünftes typisches Merkmal ist das persönliche Engagement des Kanzlers in der Außenpolitik. Hierbei spielte das Vorbild Adenauers eine Rolle, der die Außenpolitik als sein Vorrecht betrachtete und zunächst selbst das Auswärtige Amt übernahm. Wichtiger sind aber inzwischen die internationalen Gipfeltreffen. Hier verkünden die Premierminister und Staatschefs die vorbereiteten Entschließungen oder Entscheidungen und nehmen die Gelegenheit wahr, sich vor den Medien wirkungsvoll in Szene zu setzen. Die Konferenzen der Außenminister haben demgegenüber eine weitaus geringere Öffentlichkeitswirkung
Wenn man unter Berücksichtigung dieser Kriterien auf die Regierungszeit Kohls zurückblickt, so wurde die 1988 formulierte These, der Begriff der Kanzlerdemokratie sei „historisch überholt“ (W. Jäger), offenbar sehr stark vom „Zwischentief“ des Kanzlers nach der Bundestagswahl vom Januar 1987 beeinflußt.
Die lange Regierungszeit Kohls demonstrierte sozusagen mit Verspätung, daß die Kriterien der Kanzlerdemokratie nach wie vor gelten. Der entscheidende Schub zur Verlängerung seiner Amtszeit über das Jahr 1990 hinaus kam aus der Außenpolitik. Sein persönliches Prestige war in dieser Phase nach Umfragen mit dem Ansehen Adenauers, Brandts und Helmut Schmidts vergleichbar. Wenn wir uns an den Merkmalen der Kanzler-demokratie orientieren, wird deutlich, daß Kohl nicht mehr nur die Bedingungen drei und vier (Parteivorsitz und Abgrenzung zur Opposition) erfüllte, sondern außerdem bei den Bedingungen zwei und fünf (Außenpolitik und persönliches Prestige) überzeugte. Sein Prestigeverlust vor der Bundestagswahl 1998 weist Parallelen zum Rücktritt Brandts auf: Die außenpolitischen Aufgaben der Wiedervereinigung (und der Europäischen Währungsunion) waren gelöst, die Lasten der innenpolitisch-sozialen Vereinigung zwischen Ost und West sowie die Wirtschaftsprobleme traten in den Vordergrund. Die SPD konnte allerdings 1974 einen innerparteilichen Kanzlerwechsel von Brandt zu Schmidt durchsetzen, während die CDU aufgrund ihrer monistischen Führungsspitze zu diesem Schritt nicht mehr in der Lage war.
Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 1998 zeichnete sich durch eine deutliche Polarisierung aus, die aber in erster Linie durch die Konkurrenz der Spitzenkandidaten bestimmt war. Der Weg zur Nominierung Gerhard Schröders war nicht ohne Risiko, nahm aber für die Sozialdemokraten einen günstigen Verlauf. Dies bezieht sich nicht nur auf die medienwirksame Rivalität zwischen Schröder und Lafontaine, sondern vor allem auf die niedersächsische Landtagswahl vom 1. März 1998, die Schröder als Ministerpräsident bestreiten mußte. Mit der Erklärung Schröders, bei einem SPD-Verlust von mehr als zwei Prozent auf die Kanzlerkandidatur zu verzichten, nahm diese Landtagswahl den Charakter einer „Vorwahl“ an. Die absolute Mehrheit der Sozialdemokraten unter Zugewinn von zwei Mandaten entschied gleichzeitig auch die Kandidaturfrage zugunsten Schröders. Das Verfahren machte aber deutlich, daß den beiden großen deutschen Parteien eine verbindliche Prozedur zur Wahl und Abwahl des Spitzenkandidaten fehlt.
Der Koalitions-und Kanzlerwechsel von 1998 entsprach den Regeln der Kanzlerdemokratie: Polarisierung und Personalisierung bestimmten die politische Auseinandersetzung im Wahlkampf. Die Besetzung der Regierungsämter erfolgte nach den überlieferten Regeln, und der neue Kanzler machte von seiner Organisationsgewalt Gebrauch.
Die informelle Konfliktregelung zwischen den Koalitionspartnern orientiert sich ebenfalls an den bewährten Mustern. Der Dualismus zwischen dem Regierungs-und Oppositionslager wurde im Wahlkampf 1998 allerdings nicht ohne Vorbehalte vertreten. Während Helmut Kohl sich eindeutig auf eine Koalition mit der FDP festlegte und eine Große Koalition ausschloß, taktierte sein Herausforderer vorsichtiger. Dies war in erster Linie auf die Rolle der PDS im Parteiensystem zurückzuführen. Sie wurde von beiden Kandidaten nicht als koalitionsfähig betrachtet und hätte sowohl eine rot-grüne als auch eine CDU/CSU-FDP-Mehrheit verhindern können. In diesem Fall wäre eine Große Koalition ohne Kohl eine denkbare Lösung gewesen. Das Wahlresultat bewahrte die Bundesrepublik davor, sich auf diese Weise vom Regierungstyp der Kanzlerdemokratie zu entfernen. Statt dessen führte es den ersten vollständigen Regierungswechsel im Sinne des „alternative government“ herbei: Bis zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich die sogenannten Machtwechsel in Bonn durch eine teilweise Kontinuität aus, weil jeweils einer der Koalitionspartner auch in der neugebildeten Regierung vertreten war. Im Oktober 1998 übernahm erstmals die Opposition die Regierungsgeschäfte, und alle Regierungsparteien gingen in die Opposition.