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Zur Entstehung und Veralltäglichung einer charismatischen Herrschaft im nachrevolutionären Iran | APuZ 19/1999 | bpb.de

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APuZ 19/1999 Islamischer Internationalismus oder realpolitischer Pragmatismus? Zwei Jahrzehnte Außenpolitik der Islamischen Republik Iran Der Islam und die Iranische Revolution von 1979 Zur Entstehung und Veralltäglichung einer charismatischen Herrschaft im nachrevolutionären Iran Die Folgen der Iranischen Revolution von 1979 für die Wirtschaft

Zur Entstehung und Veralltäglichung einer charismatischen Herrschaft im nachrevolutionären Iran

Dawud Gholamasad

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden jene Aspekte der nachrevolutionären Entwicklung der Herrschaftsverhältnisse Irans diskutiert, die sich auf die Veränderung der Legitimationsgrundlage und der Organisationsform der Herrschaft beziehen. In diesem Sinne wird diese Entwicklung als Entstehung eines charismatischen Aufstiegstyps der Herrschaft begriffen, dessen Veralltäglichungsform sich im Sinne eines Erhaltungstyps der Herrschaft aus einer permanenten Verschiebung der instabilen Balance ihrer immanenten Traditionalisierungs-und Legalisierungstendenzen ergibt. Diese Balance scheint sich seit den letzten Wahlen zugunsten der letzteren zu verschieben. Entstanden aus Umschichtungsprozessen innerhalb des weiteren Herrschaftsfeldes, ist der Aufbau und das Schicksal dieser Herrschaft weiterhin davon abhängig, wie sich das Verhältnis von „Alleinherrscher“, elitären Kerngruppen und weiterem Herrschaftsbereich verändert. Die bisherige Veränderung der Formationen dieser Kerngruppen der Herrschaft sowie die entsprechende Verschiebung der Machtbalance zwischen den Regierenden und den Regierten verweisen auf eine gerichtete, aber reversible Verschiebung der Balance zwischen der autoritär-theokratischen und der republikanischen Komponente der Verfassungsnorm und -Wirklichkeit.

In diesem Beitrag werden jene Aspekte der nachrevolutionären Entwicklung der Herrschaftsverhältnisse Irans diskutiert, die sich auf die Veränderung der Legitimationsgrundlage und der Organisationsform der Herrschaft beziehen. In diesem Sinne wird diese Entwicklung als Entstehung eines charismatischen Aufstiegstyps der Herrschaft begriffen, dessen Veralltäglichungsform sich im Sinne eines Erhaltungstyps der Herrschaft aus einer permanenten Verschiebung der instabilen Balance ihrer immanenten Traditionalisierungs-und Legalisierungstendenzen ergibt. Diese Balance scheint sich seit den letzten Wahlen zugunsten der letzteren zu verschieben. Entstanden aus Umschichtungsprozessen innerhalb des weiteren Herrschaftsfeldes, sind Aufbau und Schicksal dieser Herrschaft weiterhin davon abhängig, wie sich das Verhältnis von „Alleinherrscher“, elitären Kerngruppen und weiterem Herrschaftsbereich verändert.

Die bisherige Veränderung der Formationen dieser Kerngruppen der Herrschaft sowie die entsprechende Verschiebung der Machtbalance zwischen den Regierenden und den Regierten verweisen auf eine gerichtete, aber reversible Verschiebung der Balance zwischen der autoritär-theokratischen und der republikanischen Komponente der Verfassungsnorm und -Wirklichkeit. Die Richtung dieser Verschiebung zugunsten institutioneller Demokratisierung oder Ent-Demokratisierung des Staates wird allerdings als eine zwischen mehr oder weniger „traditionell“ oder „modern“ geprägten und dementsprechend „traditional" oder „legal“ orientierten Menschen wahrnehmbar. Diese Balance ist aber selbst Folge der Art und des Grades der Transformation der Erfahrung der betroffenen Menschen, die sie in ihren unterschiedlichen sozialen Positionen im Zusammenhang mit der Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Machtbalanace machen. Die beobachtbaren Machtkämpfe wären daher sinnvoll in diesem Sinne zu deuten.

I. Zur Entstehung der charismatischen Führerschaft Ajatollah Khomeinis

Will man die nachrevolutionäre Entwicklung begreifen, müßte man sich daher zunächst die Frage stellen, warum die revolutionär eroberte Macht durch die Regierten freiwillig an eine religiöse Elite ausgehändigt wurde, die mit Khomeini an ihrer Spitze diese Menschen explizit als unmündig erklärte und seit ihrer Dominanz jede institutioneile Demokratisierung der nachrevolutionären Herrschaft als unislamisch verteufelt. Die Etablierung der Herrschaft dieser geistlichen Aristokratie ging nicht nur mit der Eliminierung aller konkurrierenden, nicht-khomeinistisch orientierten Gruppen und der khomeinistischen Prägung der Verfassung einher, sondern auch mit einer Islamisierung des Alltagslebens unter Khomeinis Führung. Die Erklärung dieser Prozesse trägt nicht minder zum Verständnis des Entstehungszusammenhanges der charismatischen Herrschaft Khomeinis und der Islamischen Republik bei. Die nachrevolutionäre Islamisierung des Alltagslebens als eine staatlich sanktionierte öffentliche Moralkontrolle Schon bei seiner Rückkehr nach Qom kündigte Ajatollah Khomeini am 7. März 1979 in einer Rede die Bildung eines Ministeriums an, dessen Hauptaufgabe in „al-amr b’ il ma’ruf wa nahi an al-munkar“ bestehen sollte, d. h. darin, das Gute (von der Religion Gebotene) zu fördern und das Schlechte (von der Religion Verbotene) zu verbieten 1. In der Ankündigung Khomeinis kann man das Bedürfnis nach einer Wiedereinführung der institutionalisierten Fremdsteuerung des Alltags-verhaltens als einen der wesentlichen Aspekte für das Entstehen der Islamischen Revolution und der ihr folgenden Islamischen Republik identifizieren.Eine Institution mit solch einer Aufgabe wurde schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Verwaltungsreform abgeschafft, nachdem sie sich schon vor allem im 19. Jahrhundert weitgehend modifiziert hatte. Diese Aufgabe war schon vor der Islamisierung Irans mit dem Amt des Mohtaseb, eines öffentlichen Überwachers des moralischen Standards, verbunden, dessen Aufgabe sich bis zu seiner endgültigen Entfunktionalisierung im Laufe der Jahrhunderte wandelte Die Überwachung der Märkte und der Angemessenheit von Maßen und Gewichten auf dem Basar gehörten genauso zu seinen konstanten Aufgaben wie die der moralischen Angemessenheit des Alltagsverhaltens der Untertanen. Was sich an dieser Kontrollaufgabe im Laufe der Entwicklung änderte, waren die moralischen Maßstäbe. Mit der Islamisierung Irans orientierte er sich an dem dominant gewordenen arabisch-islamischen Zivilisationsmuster, ohne daß sich seit der Safaviden-Herrschaft und der Erhebung der ZwöMer-Schi’a zur iranischen Staatsreligion seit 1502 etwas daran geändert hätte.

Um die Wiedereinführung der als islamisch identifizierten Zivilisationsmuster und einer entsprechenden öffentlichen Kontrolle des Alltagsverhaltens der Menschen als (Gottes) Untertanen sicherzustellen, wurde unmittelbar nach der Machtergreifung durch die vorläufige Revolutionsregierung Bazargans das für Zensur, Propaganda und Tourismus verantwortliche vorrevolutionäre „Informationsministerium“ in ein „nationales Erschad-Ministerium“ umgewandelt. Bis zu seiner späteren Umwandlung in das Ministerium für „Erschad-e Eslamie", für die islamische Belehrung bzw. Führung, wurde ,, al-amrb’ il ma’rufwa nahi an al-munkar“ den freiwilligen Moralhütern und Sittenwächtem überlassen, welche die von ihnen als islamisch definierten Verhaltensmuster im Alltag zu erzwingen versuchten. Die „Ummat-e Hisbollah“ ist die aktualisierte Bezeichnung der nach Bedarf mobilisierbaren Mutatawwi (Glaubenskämpfer), die immer noch -neben gesetzlich geregelten Eingriffen -für die Einhaltung einer Moral sorgen, die keinen Unterschied zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre kennt.

Seit der Verabschiedung der 175 Grundsätze (asl/Usui) umfassenden Verfassung der Islamischen Republik, die wesentlich vom Verfassungsentwurf des Revolutionsrates abweicht, ist diese Normüberwachung durch Grundsatz 8 verfassungsmäßig verankert. Im Verfassungsentwurf fehlte sogar ein dem Grundsatz 8 analoges Prinzip, das die Verpflichtung der Bürger und des Staates zum „Gebieten des Guten und Verbieten des Verwerflichen“ thematisiert; dieser Grundsatz wird ausdrücklich zurückgeführt auf Vers 9/71 des Koran:

„Und die gläubigen Männer und Frauen sind untereinander Freunde. Sie gebieten, was recht ist und verbieten, was verwerflich ist.“ Was an dieser Wiedereinführung der seit über einem Jahrhundert verschwundenen Institution einer öffentlichen Verhaltenssteuerung so bemerkenswert ist, ist die postrevolutionäre Einführung einer institutionalisierten Form der Fremdsteuerung, die in diesem Ausmaß eine der zentralen Eigentümlichkeiten einer archaischen Form der Herrschaft ist. Dieser charakteristischen Eigentümlichkeit einer vormodernen Herrschaft ist es zu verdanken, daß eine direkte Verbindung zwischen dem byzantinischen Agronomos und dem islamischen Mohtaseb festgestellt werden kann. Ein scheinbarer Bruch des nachrevolutionären Iran mit der islamischen Vergangenheit ist die in diesem Ausmaß gestiegene Chance der Geistlichkeit, dieses Amt zu monopolisieren, nicht aber die mit dieser Position verbundene moralische Kontrollfunktion, wenn sie auch nicht immer als die Hauptaufgabe des Mohtaseb betrachtet wurde.

Als institutionalisierte Form der Fremdsteuerung individuellen Verhaltens ist daher das Amt des Mohtaseb symptomatisch für eine Gesellschaft von Menschen, deren Persönlichkeit durch ein Übermaß von Fremdzwängen geprägt ist; neigt doch die Balance zwischen externalisierten und internalisierten verhaltenssteuernden Instanzen in jeder archaischen Gesellschaft mehr oder weniger zugunsten der ersteren. Der Mohtaseb als personifizierte, externalisierte Kontrollinstanz und als solche eine Art Teilersatz des Gewissens ist also konstitutiv für eine Gesellschaft, in der die Balance zwischen Selbst-und Fremdbestimmung der einzelnen zugunsten der Fremdbestimmung funktioniert -in Gestalt einer personifizierten, religiös begründeten Obligation der Moral. 2. Der Khomeinismus als eine Durchsetzungsform moralischer Normen Der Khomeinismus begreift die Shari'a als göttliche und als solche ewig gültige Verhaltensnormen: „Nach dem Koran sind die Gesetze des Islam nicht an Zeit und Ort gebunden. Sie sind ewig gültig, und ihre Anwendung ist immer Pflicht.“ Sie istallumfassend und regelt das Leben der Menschen von der Geburt bis zum Tod: „Für alle Angelegenheiten hat der Islam Gesetze und Vorschriften. Er hat für den Menschen Gesetze verkündet, die sein ganzes Leben, vom Embryonalstadium bis zum Begräbnis, umfassen.“

Für die Khomeinisten selbst liegt die Geltung der islamischen Moral in ihrem Inhalt als göttliche Offenbarung, wie sie im Koran und im Hadis (Überlieferungen) festgehalten worden ist: „Der Koran und der Hadis, die als Quelle der Grundsätze und Vorschriften des Islam gelten, unterscheiden sich auf Grund ihres umfassenden Charakters und ihrer Wirkung auf das gesellschaftliche Leben prinzipiell von den Traktaten zu praktischen Handlungen, die von Modgtahedin-e Asr und Maradge (Rechtsgelehrten und Vorbildern, D. G.) verfaßt werden. . . . Von allen Büchern des Hadis, der alle islamischen Gesetze umfaßt, haben nur drei oder vier gottesdienstliche Handlungen und die Pflichten des Menschen gegenüber Gott -wovon ein Teil mit Fragen der Ethik Zusammenhängen -zum Inhalt, die anderen beschäftigen sich mit sozialen, ökonomischen, juristischen, politischen und staatlichen Angelegenheiten.“

Da sich jedoch nicht alle Menschen an diesen ewig gültigen Grundsätzen orientieren, sehen die Khomeinisten die verbindende Kraft der Shari’a, ihre Kraft, mit der sie sich in der Gesellschaft durchsetzt bzw. behauptet, sich Geltung verschafft, also obligatorisch wird, in der Gründung eines Islamischen Staates: „Um Anarchie und (moralische) Verkommenheit in der Gesellschaft zu verhindern, gibt es nur ein Mittel: die Gründung eines Staates und die Regelung aller Angelegenheiten des Landes.“ Nicht jeder sich selbst als islamisch begreifende Staat wird hier als islamisch verstanden, sondern derjenige, an dessen Spitze „der gerechte Rechtsgelehrte“ als einziger legitimer Nachfolger des Propheten und der reinen Imame und damit als Garant der Geltung dieser göttlichen Offenbarung regiert. Gemeint ist die Schriftgelehrtenherrschaft als die einzige Form der Wiederherstellung der „Einheit von Religion und Politik“: „In dem Vers , O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben 4 wird Gehorsam gegenüber .denen, die Befehl unter euch haben'als Pflicht dargestellt. Nach dem hochedlen Propheten sind diejenigen, die Befehl unter uns haben, die reinen Imame, denen gleichzeitig mehrere Aufgaben und Ämter obliegen. Erstens geht es darum, dem Volk die islamischen Ideen, Gesetze und Vorschriften zu erläutern und darzulegen. Das ist nichts anderes als die Erläuterung und Auslegung des Koran und der Sunna. Die zweite Aufgabe ist die Durchführung der Gesetze und die Schaffung islamischer Institutionen in der Gesellschaft der Muslime sowie die Verbreitung der islamischen Ideen und Vorschriften unter anderen Völkern der Welt. Nach den Imamen übernehmen die Gerechten Foghaha (Rechtsgelehrten, D. G.) diese Aufgabe.“ Vertröstete die etablierte Geistlichkeit, entsprechend dem quietistischen schiitischen Chiliasmus, die Menschen auf die Wiederkehr des 12. entrückten Imam der Schiiten, der am Ende der Zeit als Imam Mahdi, als Welterlöser erscheinen wird, um die Welt von allem Unrecht zu befreien und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufzurichten, lehnte Khomeini ein weiteres Warten als unislamisch ab und propagierte einen aktivistischen schiitischen Chiliasmus: „Seit Beginn der kleinen Verborgenheit sind tausend und einige hundert Jahre vergangen. Es besteht die Möglichkeit, daß hunderttausend Jahre vergehen und seine Heiligkeit noch nicht zurückkehrt. Sollen die Gesetze des Islam für lange Zeit nicht angewandt werden? Darf jeder tun, was er will? Darf ein Chaos entstehen? Waren die Gesetze, deren Darlegung, Propagierung, Verbreitung und Durchsetzung den Propheten dreiundzwanzig Jahre harte Arbeit kosteten, nur für eine begrenzte Zeit gedacht? Hatte Gott die Zeit der Anwendung seiner Gesetze auf zweihundert Jahre beschränkt? Und hat der Islam nach dem Beginn der kleinen Verborgenheit auf alle seine Prinzipien verzichtet?“

Das Ziel einer solchen Herrschaft der Schriftgelehrten -als Durchsetzungsform moralischer Normen -ist, „den Menschen zu erziehen, einen vollkommenen und gebildeten Menschen, der die lebendige Verkörperung des Gesetzes ist und die Gesetze freiwillig und selbsttätig verwirklicht“. Dieser Uniformierungswunsch sozialen Verhaltens, der den Menschen über das „Böse“ hinweg zum „Guten“ verhelfen soll, muß aber durch Mechanismen verwirklicht werden, die alle als islamisch definierten Normen um jeden Preis durchsetzen und der entsprechenden Moral absolute Geltung verschaffen. Diesem Wunsch liegt ein Menschenbild zugrunde, das als Bild der ewig unmündigen Menschen als Individuen und als Gesellschaft diese Form der Durchsetzung der Moral zu einer unabdingbaren Notwendigkeit macht: „Die Statthalterschaft des Faghih (Rechtsgelehrten) ist eine relative Angelegenheit, sie wird durch Ernennung übertragen, ein Akt, der vergleichbar ist mit der Ernennung eines Vormundes für Minderjährige. Vom Standpunkt der Aufgabe und der Stellung besteht kein Unterschied zwi sehen dem Vormund der Nation und einem Vormund für Minderjährige.“

Bei diesem Mangel eines individuellen Rechts-und Moralsubjektes wäre in einer Gesellschaft, in welcher der Imam als gesellschaftliche Zentralinstanz gilt, die Herrschaft der Schriftgelehrten die Herrschaft eines göttlich bestimmten Vormundes, der Hüter von Ordnung und Gesetzen des Islam ist, und als solche ewig, weil die Menschen unvollkommen sind und der Vollkommenheit bedürfen. Sie ist eine ewig äußerlich notwendige Form der Durchsetzung des Normbewußtseins, weil sich diese Moral mehr als Moral des Wissens der Rechtsgelehrten als „Quellen der Nachahmung“ bzw. „Vorbilder“ etabliert denn als Gewissensmoral der Gläubigen: „Da die islamische Regierung die Regierung des Gesetzes ist, müssen Kenner der Gesetze und vor allem die Theologen die Führung des Staates übernehmen.“ In diesem Sinne „verkörpern die Schriftgelehrten das Gesetz“ und „das Volk und die Muslime sind im Rahmen der religiösen Vorschriften frei. d. h., wenn sie sich an die Vorschriften des Islam halten, darf sie niemand belästigen“, so Ajatollah Khomeini. 3. Zur Entstehung der sozialen Basis des Khomeinismus als Folge der Integrationsspannungen der von der Modernisierung erfaßten Menschen Angesichts der Erfahrung solcher externen Regulationen des Verhaltens als „Islam“ und in einer Zeit, in der -nach dem Zerfall des Kommunismus -ein Bedürfnis nach neuen Feindbildern in den entwickelteren Gesellschaften aufkam, wurde undifferenziert eine Entwicklungsform des normativen Bildes, das eine bestimmte Gruppe von Menschen von der sozialen Welt hat, mit „dem“ Islam identifiziert. Ohne den Islam als ein erinnertes Wandlungskontinuum zu begreifen, entstanden folglich je nach den eigenen Präferenzen gegenüber dem Islam extreme islamfreundliche und islamfeindliche Positionen, die entweder mit Tibi dem , Islam als einer Offenbarungsreligion und ihrer großartigen Zivilisation gegenüber dem totalitären Fundamentalismus als Feind von Demokratie und Menschenrechte das Wort reden oder überhaupt diese Unterscheidung ablehnen und mit Barreau den Islam als , eine menschenverachtende Religion verdammen. Letztere machen sich unbeabsichtigt die fundamentalistischen Positionen der islamischen Geistlichkeit zu eigen und erklären: „Der Islam ist mit den gewachsenen Werten und Tugenden der westlichen Demokratien unvereinbar.“

Diese extremen Positionen gegenüber dem zivilisatorischen und demokratischen Charakter des Islam berücksichtigen nicht, daß eigentlich nicht nur der Inhalt der moralischen Normen allein, sondern auch ihre Durchsetzungsformen als wesentliches Unterscheidungskriterum der verschiedenen Gesellschaften sowie ihrer zivilisatorischen Entwicklungsstufen herangezogen werden muß. Ungeachtet dieser dualistischen Positionen wird in der Realität der islamisch geprägten Gesellschaften wie im Iran auf die Frage, wie sich Normbewußtsein individuell verankert, unterschiedlich geantwortet; die unterschiedlichen Antworten auf die Frage, auf welche Weise die „islamischen“ Gesellschaften in ihren Mitgliedern „islamische“ Normen als Richtschnur des Handelns der Einzelnen verankern, konstituieren die unterschiedlichsten Strömungen der islamisch orientierten sozialen Bewegungen, die als Träger der „Re-Islamisierung“ bekannt sind. Die Khomeinisten, die jedes abweichende Verhalten als Anarchie und Verkommenheit fürchten, betrachten den Fremdzwang als das geeignetste Regulationsmittel des sozialen Verhaltens: „Dabei ist das islamische Strafrecht geschaffen worden, um zu verhindern, daß in einer großen Nation verderbte Sitten um sich greifen.“

Als im Iran der zürn Referendum stehende Name der neuen Republik zur Diskussion stand, sprach sich Khomeini eindeutig für „Islamische Republik“ aus. Er erklärte: „Ich stimme für . Islamische Republik* nicht ein Wort mehr, nicht ein Wort weniger.“ Und: „Jeder, der sich für . Republik* (ohne den Zusatz . islamisch*) entscheidet, ist ein Feind des Islam. Jeder, der (dem Begriff ) , Islamische Republik* den Begriff demokratisch’ hinzufügt, ist ein Feind des Islam ... Er will nicht den Islam. Wir aber wollen den Islam.“ Die überwältigende Mehrheit des iranischen Volkes (98, 2 Prozent) folgte Khomeini in diesem Sinne und nicht wegen einer „Desinformation vor dem ersten Volksentscheid“ Eine solche Interpretation der Ereignisse entspricht zwar der nachträglichen Entschuldigung vieler enttäuschter Menschen; sie erklärt aber keineswegs die Entstehung der Islamischen Republik als eines charismatischen Typs der Herrschaft. Sie vernachlässigt die unterschiedliche normative Bewußtseinsverfassung und das damit verbundene Verfassungsbewußtsein der Anhänger von Ajatollah Khomeini und ist daher nur möglich. wenn man das eigene Bewußtsein und die eigenen Denkformen allzu selbstverständlich auf die sozialen Träger des Khomeinismus überträgt und folglich das einem selbst vertraute Verfassungsbewußsein und die entsprechende normative Bewußtseinsverfassung als universell unterstellt.

In der Tat waren, abgesehen von einer kleinen Anzahl von Iranern, die meisten Unterstützer der Staatskonzeption Khomeinis nicht informiert über die Struktur solch einer Herrschaftsform -eine Feststellung, die selbst erklärungsbedürftig ist. Zu erklären wäre also, warum die Menschen trotz mangelnder Information über die Gestalt der Islamischen Republik Khomeini folgten. Verständlich wäre dieses Wahlverhalten, wenn man zumindest die narzißtischen Verschmelzungsphantasien der auf einen charismatischen Führer orientierten Massenindividuen nicht übersieht. Diese Individuen ersetzten ihr eigenes Ich-Ideal durch den charismatischen Führer und schufen die Islamische Republik, indem sie sich über ihn miteinander identifizierten und ihre Massenbasis bildeten.

In der Tat entstand die Massenbasis des Khomeinismus infolge einer mit der Modernisierung einhergehenden funktionalen Demokratisierung der Gesellschaft und der Erfahrung der eigenen neuen Macht seitens der in „Bürger“ transformierten vormodernen Untertanen, die aus ihrer fortdauernden „symbiotischen Identität“ heraus sich für die „Islamische Republik“ entschieden, deren Verfassung erheblich von dem ebenfalls islamisch geprägten demokratischeren Verfassungsentwurf des Revolutionsrates abwich. Mit ihrer Moralbestimmung, die keine Unterscheidung zwischen Moral, Recht und Religion kennt, attackierte ihre Bewegung als ein zivilisatorischer Gegenschub in Gestalt der Ritualisierung der Politik die moralische Entwicklung der Gesellschaft in Richtung auf eine „gewissensethische Moralbestimmung“ letztere war mit der Modernisierung der Gesellschaft im Entstehen begriffen, und zwar als Folge der allmählichen Differenzierung der Moral von Recht und von der Religion; eine Entwicklung, die mit der Reduktion der Rolle der Geistlichkeit als sozialer Personalunion dieser Funktionen einher-ging. Diese Entwicklung entfesselte eine chiliastisch geprägte Bewegung von Menschen die sich aus den Spannungen zwischen archaisch-islamischen und modernen Elementen und Formen der Moral speiste, welche aus den durch die „Modernisierung“ der Gesellschaft sich verstärkenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung zunehmend entstanden. Die unterschiedliche Geschwindigkeit und Intensität ihrer individuellen Modernisierung im Sinne der Transformation ihrer sozialen Persönlichkeitsstruktur führte zu sozialen Konflikten zwischen den Menschen, die nicht nur über jeweils unterschiedliche Machtpositionen verfügten, sondern auch mehr oder weniger diese historisch verschiedenen Typen bzw. Realisierunsmöglichkeiten normativer Verbindlichkeiten repräsentierten. In ihren Selbstwertbeziehungen verstrickt, bezeichneten sich diese vorrevolutionären machtstärkeren und machtschwächeren sozialen Gruppen gegenseitig als „Reaktionäre“ und „Verwestlichte“. Aus diesem Abwehrkampf heraus und getragen von der Angst, endgültig unterzugehen, entstand eine Bewegung der machtschwächeren Menschen, die den Islam -wie sie ihn jeweils verstanden -als symbolischen Repräsentanten ihrer als eigen definierten Werte demonstrativ hervorhoben. Verstärkt wurde der Impetus solch einer Bewegung durch eine mit der Landreform einhergehende, massive soziale Differenzierung der Gesellschaft. Sie war begleitet von der Desintegration vormoderner Integrationseinheiten, d. h.der über fünfzigtausend weit verstreuten Dörfer und damit zunächst mit einer Entwicklung der Gesellschaft von einer enger integrierten Gruppe zu einer lokkerer integrierten.

II. Zur verfassungsmäßigen Verankerung der charismatischen Führerschaft Khomeinis

Mit der verfassungsmäßigen Verankerung der Führerposition wurde zunächst einmal die persönliche charismatische Führerschaft Khomeinis als seine charismatische Herrschaft institutionalisiert, während seine im Grundsatz 109 aufgezählten charismatischen Eigenschaften als übertragbar auf andere Großajatollahs als seine Nachfolger festgeschrieben wurden. Bereits mit der Transformation der revolutionären persönlichen Führerschaft

Khomeinis in seine charismatische Herrschaft über die Islamische Republik vollzog sich eine Transformation der charismatischen Autorität. Nun brauchte Khomeini als Führer nicht mehr seine Anhänger zur Gefolgschaft zu bitten. Mit seiner institutionalisierten Befehlsgewalt als Führer der Islamischen Republik konnte er Gehorsam fordern. Seine Gefolgsleute verwandelten sich in diesem Prozeß zu seinen Untertanen, die ihm zwar möglicherweise deswegen immer noch folgen mochten, weil sie in ihm bestimmte charismatische Eigenschaften sahen; ihre Bereitschaft, seinem Befehl zu folgen, verwandelte sich jedoch in eine Gehorsamspflicht, der sie sich nicht mehr entziehen konnten, ohne sich rechtswidrig zu verhalten. Ihre Gehorsamsverweigerung konnte nunmehr als „Rebellion gegen Gott“ verfolgt und bestraft werden. Damit verwandelte sich der charismatische Aufstiegstyp der Herrschaft zugleich in einen Erhaltungstyp. 1. Zur Institutionalisierung der charismatischen Herrschaft als ihre Veralltäglichung im Sinne eines Amtscharisma der Geistlichkeit Die Nachfolgeregelung im Auge, erhoben die Verfassungsväter im Grundsatz 107 die erlebten charismatischen Eigenschaften Khomeinis zu Voraussetzungen und Eigenschaften des islamischen Führers bzw.der Mitglieder des Führungsrates der Islamischen Republik: „ 1. Wissenschaftliche und den islamischen Tugenden entsprechende Fähigkeit zur Erteilung von Rechtsgutachten und die Kompetenz als islamische Autorität; 2. zur Führung ausreichende politische und gesellschaftliche Weitsicht, Tapferkeit, starke Persönlichkeit und Weisungsfähigkeit.“ Damit wurde die charismatische Herrschaft entpersonalisiert und als charismatische Herrschaft der Geistlichkeit in die Zukunft verlängert. Mit dieser verfassungsmäßigen Übertragung der persönlichen charismatischen Eigenschaften Ajatollah Khomeinis auf seine Nachfolger transformierte sich seine persönliche charismatische Herrschaft zugleich in ein traditionell begründetes Amtscharisma der Geistlichkeit. Als Bedingung der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft wurde so die charismatische Autorität der Geistlichkeit unantastbar, wie unvollkommen auch einzelne Geistliche sein mögen: „Erfüllt einer der Rechtsgelehrten die in Grundsatz 5 des Gesetzes erwähnten Voraussetzungen und wird er von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als islamische Autorität und Führer anerkannt und bestätigt, wie es bei dem geistlichen Oberhaupt und Führer der Revolution, dem Großajatollah Khomeini, der Fall ist, so über-nimmt dieser Führer die Führungsbefugnis und alle damit verbundenen Verantwortungen. Andernfalls beraten sich die vom Volk gewählten Experten und prüfen die islamische Autorität und die Führungseigenschaft der in Frage kommenden Person. Sollten sie eine islamische Autorität zur Führung als besonders geeignet erachten, so empfehlen sie diese Person dem Volk als islamischen Führer; andernfalls bestimmen sie drei oder fünf islamische Autoritäten mit den erforderlichen Führereigenschaften als Mitglieder des Führungsrates und empfehlen sie dem Volk“ (Grundsatz 107). Entscheidend ist aber, daß der Nachfolgeanwärter nicht nur praktische „Führungseigenschaften“ besitzen muß; er muß vor allem „wissenschaftliche und den islamischen Tugenden entsprechende Fähigkeiten zur Erteilung von Rechtsgutachten (fetwa) und die Kompetenz als islamische Autorität (marja-e taqlid)“ besitzen. Diese Hervorhebung der Marjaiyat (Autorität) als entscheidendes Kriterium der Nachfolgerschaft entsprach der khomeinistischen Legitimationslogik der Herrschaft der Rechtsgelehrten und damit des Amtscharismas. Wenn demnach das islamische Recht und dessen immanentes Lösungspotential für alle menschlichen Probleme die Grundlage der Legitimation der „Islamischen Republik“ bildet, muß demjenigen die Führung des Staates zukommen, der am kompetentesten in der Rechtsfindung im Rahmen der Shari’a ist. So kann niemand außer einem Großajatollah oder einem Rat, bestehend aus drei bis fünf gleichrangigen Großajatollahs, für dieses Amt in Frage kommen. Nur diese wären der Nachfolgeschaft des Propheten und der zwölf unfehlbaren Imame würdig. Selbst sie wären nur dann geeignete Nachfolgekandidaten, wenn sie auch die ursprünglich als sekundär hervorgehobene zweite Voraussetzung, die „erforderlichen Führungseigenschaften“, erfüllten. Wer also diese Voraussetzungen erfüllt, kann Befehlsgewalt erlangen und damit Rechtsanspruch auf die Gehorsamspflicht der gläubigen Staatsbürger erheben. Selbst dies aber nur dann, wenn sie von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung als islamische Autorität und Führer anerkannt und bestätigt werden. 2. Zur Rolle von Montazeri als Nachfolger und der Notwendigkeit einer Verfassungsreform Mit der Bestimmung Ajatollah Montazeris zu seinem Nachfolger kurz nach der Konstituierung der Islamischen Republik übertrug Khomeini die im Grundsatz 109 festgeschriebenen religiösen und politischen Eigenschaften des Führers auf ihn. Am 29. März 1989 führte jedoch seine zunehmend kritische Distanz zum Establishment der Islamischen Republik, vor allem aber seine öffentliche Kritik seit dem Ende des Krieges schließlich zum unfreiwilligen Rücktritt Montazeris von seiner Position als designierter Nachfolger Khomeinis. Der Rücktritt wurde damit begründet, daß er durch seine praktische Haltung bewiesen habe, daß er nicht über jene Eigenschaften verfüge, die zur Führung des höchsten Amtes in der Islamischen Republik benötigt werden. Er wäre zu gutmütig, naiv und äußerst leicht beeinflußbar. Mit dem Entzug der charismatischen Eigenschaften ermahnte ihn gleichzeitig Khomeini, der seinen Rücktritt an-nahm, sich von „unlauteren“ Elementen zu distanzieren und diese aus seinem Umfeld zu entfernen Montazeris kritische Stellungnahmen gegenüber der bisherigen Herrschaftspraxis der Rechtsgelehrten und die Verbindungen, die er mit als „Konterrevolutionäre“, „Liberale“, „Heuchler“ und „Verräter“ stigmatisierten Gruppen und Personen eingegangen war, oder ihre Duldung um seine Person herum hatten die Furcht des Establishment genährt, daß zumindest die Alleinherrschaft der islamischen Rechtsgelehrten nicht mehr garantiert wäre, sollte er jemals die Führung übernehmen.

Mit seinem Abgang entstand aber zugleich für den Bestand der „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“ eine nicht minder problematische Lage, wollte man der geltenden Verfassung folgen. Laut Verfassung durfte das Amt des Führers nur von einem Großayatollah, d. h. von einem als Instanz der Nachahmung (marja-e taqlid) anerkannten Ajatollah, bekleidet werden. Montazeri war aber der einzige Großayatollah unter einem halben Dutzend existierenden, der sich auf der Linie des schiitisch-chiliastischen Aktivismus Khomeinis, auf der „Linie des Imam Khomeini“ befand. Damit wurde eine Neuordnung der Nachfolge-frage eine unabdingbare Notwendigkeit der Veralltäglichung der Herrschaft. Der einzig gangbare Weg für die Erhaltung des bestehenden Machtgefüges bestand angesichts des Fehlens eines geeigneten qualifizierten Nachfolgers als islamische Autorität und Führer demnach in der Anpassung der Verfassung an die Realität Die Entscheidung zu einer Revision der Verfassung traf Khomeini schließlich am 24. April 1989 mit der Ernennung eines 20köpfigen Komitees zur Ausarbeitung einer Vorlage, zumal die Verfassung keine diesbezüglichen Verfahrensregeln vorsah. 3. Zur Veränderung des Verständnisses des Amtscharismas durch die Verfassungsrevision Bei der Revision der Verfassung sind vor allem jene Änderungen für die Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft entscheidend, die mit der Eliminierung der „Marjaiyat“, d. h.der „Fähigkeit zur Erteilung von Rechtsgutachten“ als wesentlicher charismatischer Eigenschaft des Führers, zu einem Veralltäglichungsschub des Amtscharismas der Geistlichkeit im Sinne eines Erhaltungstyps der Herrschaft beitragen. Denn die Wahl eines einfachen Geistlichen als Nachfolger Khomeinis bedeutet eine deutliche Verschiebung in der Legitimationslogik der Herrschaft der Rechtsgelehrten. Damit wurde praktisch eine Trennung zwischen dem Amt des Führers und der Instanz der Nachahmung vollzogen, die ideologisch begründet werden mußte. Das dann gelieferte Legitimationsmuster transformierte jedoch den chiliastischen Aktivismus.den Khomeini als Legitimationsgrundlage der Einführung der Schriftgelehrtenherrschaft geliefert hatte, in einen chiliastischen Quietismus, wie er bereits seit Jahrhunderten als Legitimationsgrundläge der Akzeptanz der als unislamisch angeprangerten Despotien existiert. Demnach wäre die Herrschaft (welayat) das wichtigste Prinzip der Führung einer islamischen Gesellschaft, hob u. a.

Ayatollah Azari Qomi in einer Artikelreihe hervor Die Existenz der Herrschaft sei so eminent, daß selbst, wenn notgedrungen ein lasterhafter Ungläubiger sie ausüben würde, die Gläubigen die Pflicht hätten, ihm zu gehorchen. Entscheidend sei „das Wohl der Gesellschaft“, selbst wenn dieses vorzugsweise durch einen „aufrichtigen und vertrauenswürdigen Ungläubigen“, ja sogar durch einen „lasterhaften und despotischen Ungläubigen“ gewährt wird. Unter den gläubigen Herrschaftskandidaten stünde den Muslimen ein Spektrum von Wahlmöglichkeiten zur Verfügung. An einem extremen Pol solch eines Spektrums stünde der Prophet, in der Mitte ein Großayatollah und am anderen Pol ein einfacher „Nachahmer“

(moqalled), „der sich viele Kapitel der Rechtswissenschaft angeeignet hat und im Notfall die Möglichkeit des Lernens und Nachschlagens besitzt“

Von diesen Laien habe jeder das Recht, über die Muslime absolute Macht auszuüben, wenn eine geeignete Person zur Ausübung der Herrschaft fehlte. Selbst vor die Wahl gestellt, einem Rechtsgelehrten ohne Führungsqualitäten die Staatsführung anzuvertrauen oder einem Laien mit Führungsqualitäten, müßte man sich für den letzteren entscheiden Diese Legitimation der Möglichkeit eines Verzichtes auf Großayatollahs als Nachfolger bestätigte Khomeini in einem Brief von 29. April 1989 an den Vorsitzenden des „Expertenrates“, Ajatollah Meschgini. Darin behauptet er, er hätte schon immer darauf insistiert, daß Ayatollah zu sein keine Bedingung für das Amt der Führung sei. Entscheidend sei, daß wir für „unsere islamische Ordnung einen Sachwalter brauchen“. „Dazu müssen wir jemanden aussuchen, der in der Lage ist, unsere islamische Würde in der Welt der Politik und der List zu verteidigen.“ Ein gerechter Mojtahed würde hierzu schon ausreichen Mit dem Verzicht auf den Vorbildcharakter des Führers und der Eröffnung der Möglichkeit, einen Mojtahed, d. h. einen Rechtsgelehrten, der die Eignung erworben hat, auf den Grundlagen der Shari'a Rechtsgutachten zu erstellen, als Führernachfolger zu bestimmen, wird ein weiterer pragmatischer Schub der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft im Sinne einer praktischen Trennung von Marjaiyat und Herrschaft eingeleitet.Diese Loslösung des Staates von seiner ursprünglichen chiliastisch-aktivistischen Legitimation der Notwendigkeit seiner Existenz hatte jedoch weitgehende Konsequenzen für das Verhältnis der religiösen Autoritäten zum Staat, an dessen Spitze ein rangniedrigerer Geistlicher stehen kann, zumal die revidierte Verfassung keine Regelung für die Beziehung zwischen diesen beiden Instanzen vorsah. Es wurde als selbstverständlich beansprucht, daß die religiösen Autoritäten sich der Führung zu unterwerfen haben. So hob Rafsanjani, dem sich andere khomeinistische Geistliche anschlossen, hervor, daß Gehorsam gegenüber dem von Experten gewählten Führer für jeden ein Gebot sei Den religiösen Autoritäten wurde nur in gottes-dienstlichen und privatrechtlichen Angelegenheiten eine Eigenständigkeit eingeräumt. Sogar die im vorrevolutionären Staat übliche Praxis, religiös-rechtliche Abgaben wie das Fünftel des Einkommens der Gläubigen (Khoms) einzutreiben, wurde ihnen streitig gemacht Legitimiert wurden diese Schritte mit der Notwendigkeit der Erhaltung des islamischen Staates. Mit der faktischen Erhebung der Staatserhaltung zum höchsten Prinzip des Islam reduzierte sich zunehmend das Islamische an diesem Staat auf die Besetzung der Führungspositionen des Staates mit machtstärkeren Geistlichen. Der islamische Staat verwandelt sich so in einen Interessenverband, der in mehrere Macht-blöcke zersplitterten, etablierten Geistlichkeit als einer charismatischen Aristokratie. Die Verfassung ist für diese habituell sich unterscheidenden Kerngruppen der Macht daher insofern relevant, als sie die Machtverteilung unter ihnen mehr oder weniger regelt und dabei jener Dynamik pragmatisch Rechnung trägt, die sich aus den Struktur-eigentümlichkeiten der bisherigen Machtverteilung ergibt.

Entscheidend für die Richtung der Veralltäglichung im Sinne einer weiteren institutionellen Ent-Demokratisierung der Herrschaft ist jedoch die Abschaffung des im Grundsatz 5 der Verfassung vorgesehenen demokratischen Prinzips der Anerkennung und Bestätigung des Rechtsgelehrten durch das Volk als entscheidende Legitimationsgrundlage seines Herrschaftsanspruches. Der Führer leitet seinen Anspruch auf Gehorsams-pflicht allein aus der Bestätigung seiner Autorität durch die geistliche Aristokratie ab. Es sind nunmehr allein die vom Volk gewählten Rechtsgelehrten, die im „Expertenrat“ die islamische Autorität und die Führungseigenschaften der in Frage kommenden Personen gemäß Grundsatz 107 überprüfen und dem Volk als Führer „empfehlen“. Diese „Experten“ sind es auch, die gemäß Grundsatz 111 den Führer seines Amtes entheben dürfen, wenn er „nicht mehr imstande ist, seine gesetzlichen Pflichten zu erfüllen, oder wenn er eine der im Grundsatz 109 erwähnten Voraussetzungen nicht mehr erfüllt“. Damit verschiebt sich institutionell die Machtbalance zwischen dem Führer, der geistlichen Aristokratie und dem Volk zugunsten einer nunmehr nur traditionell legitimierten Autorität der Geistlichkeit, mit dem Führer an deren Spitze.

Doch die von Khomeini praktisch ausgeübte absolute Macht und seine Suprematie über die Verfassung wurden nicht in die revidierte Verfassung aufgenommen. Zudem wurden die Befugnisse des Führers präziser formuliert. Im Unterschied zur ursprünglichen Verfassung wurde aber in Grundsatz 107 der revidierten Fassung ausdrücklich erwähnt, daß der Führer im Besitz der Befehlsgewalt (welayat-e amr) ist. Er bestimmt -gemäß Grundsatz 110 -nach Beratung mit dem „Feststellungsrat“ die allgemeine Ausrichtung der Politik im Lande und beaufsichtigt zudem deren Ausführung. Das ihm ursprünglich zugestandene Recht, das Parlament aufzulösen, mußte gestrichen werden, nachdem 108 Abgeordnete in massiver Form dagegen protestierten Dem „Geist der Verfassung“ gemäß hätte er, entsprechend der „konservativen“ Lesart, weiterhin die Möglichkeit, als höchste gesetzgeberische Instanz zu wirken. In der Praxis hängt aber die Realisierung dieser Möglichkeit vor allem von den realen Machtchancen des Führers ab, die sich mit der Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Figuration der Menschen wandeln. Doch dieser autoritär-theoretische „Geist der Verfassung“, der selbst aus einer nach-revolutionären Machtbalance entstanden war, hatte sich bereits als Folge der Konkurrenzkämpfe der Kerngruppen der Herrschaft verstärkt. Aus einer sich quasi absolut zugunsten Khomeinis verschiebenden revolutionären Machtbalance hatte dieser ursprünglich kraft seiner schier uneingeschränkten Autorität als Revolutionsführer die Chance, in umstrittene gesetzgeberische Angelegenheiten wie Gesetzgebung zur Landreform und zum Arbeitsrecht u. a. einzugreifen. Als Führer der Revolution hatte er zwar keine verfassungsmäßigen gesetzgeberischen Kompetenzen, er galt jedoch in der Praxis als die höchste Instanz auch in der Legislative. Diesem „Geist der Verfassung“ entsprechend, war daher seine Autorität als Führer und als religiöse Autorität uneingeschränkt. Jedringlicher und häufiger die zunehmend sich differenzierenden Kerngruppen der Herrschaft in ihren Konkurrenz-und Ausscheidungskämpfen ihn um ein Machtwort im Zusammenhang mit den umstrittenen Gesetzentwürfen zur Lösung der anstehenden Probleme baten, desto mehr entfesselten sie jenen autoritär-hierokratischen „Geist der Verfassung“, als dominante Schicht des sozialen Habitus der Etablierten. Diesem „Geist“ entsprechend, symbolisierte der Wortlaut der Verfassung bloß die absolute Herrschaft Gottes in der Person Khomeinis. 4. Die Einführung eines Vermittlungsausschusses als ein weiterer Schub der Erhaltung der Herrschaft der Geistlichkeit

Bei den sozialen Trägern dieses Erfahrungsbildes, das sich mit dem Begriff der Verfassung der Islamischen Republik verbindet, ist nach wie vor keine Bereitschaft zu erkennen, Entscheidungen grundsätzlich und durchgehend auf demokratischem Wege erfolgen zu lassen. Eine solche Regelung widerspräche dem Konzept des islamischen Staates, der sich als eine Herrschaft der Schriftgelehrten nicht durch Mehrheitsprinzipien, sondern nur durch die Shari'a legitimiere. Demnach muß jede Entscheidung -unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen -der Shari'a entsprechen, wie sie letztlich von den machtstärksten Geistlichen im „Wächterrat“ definiert wird. Diese Vorstellung führte zu einem „System der aufgestockten Gesetzgebungsorgane“, die mit dem Parlament die Volkssouveränität und mit dem „Wächterrat“ Gottes Souveränität repräsentieren sollten. Zudem entschieden letztlich die realen Machtchancen und die Autorität der Inhaber der jeweiligen Staatsgewalten, welche Meinungen mit der Shari’a übereinstimmten, ob sie in Gesetzesform zu bringen waren und ob sie überhaupt als Gesetz dann auch tatsächlich ausgeführt wurden. Verzögerungen, Verwässerungen und Blockierungen der Gesetzgebung im Namen Gottes waren die Resultate dieser Organisationsform der Herrschaft. Aus pragmatischen Gründen und gestützt auf das im islamischen Recht anerkannte „Prinzip der Notwendigkeit“ {asl-e zarurat) erteilte Khomeini am 11. Oktober 1981 dem Parlament das Recht, in Notfällen Gesetzentwürfe zu verabschieden, die die Bestimmungen der Shari’a vorübergehend außer Kraft setzen würden. Damit sollten die Einwände des Wächterrates gegen Gesetzentwürfe, die als wesentlich eingestuft wurden und in der Tat die Sozial-und Wirtschaftsordnung der Islamischen Republik bestimmen sollten, überwunden werden. Als diese Lösung auf den Einwand der Geistlichkeit stieß, daß man einer Anzahl von Laien im Parlament nicht zubilligen könne, Bestimmungen der Shari’a außer Kraft zu setzen ordnete Khomeini im August 1984 an, daß das Parlament nur mit Zweidrittelmehrheit derartige Entscheidungen treffen dürfe. Aber auch diese Anordnung brachte nicht den erwünschten Erfolg. Der Wächterrat fand Mittel und Wege, auch jene Parlamentsbeschlüsse zu Fall zu bringen, die auf dieser Basis gefaßt wurden. Im Interesse der Verhinderung des Autoritätsverfalls Khomeinis und der institutioneilen Überwindung der paralysierenden Wirkung solch einer Organisationsform der Herrschaft kam es im Februar 1988 zur Proklamierung eines „Gremiums für die Feststellung der Interessen der Staatsordnung“ (marja-e tashkhis-e nezam), kurz: „Feststellungsrat“. Er sollte schlichtend eingreifen und pragmatische Entscheidungen im Sinne der Erhaltung der bestehenden Ordnung treffen. Dadurch sollte der Blockierung der zu diesem Zeitpunkt von der „progressiven“ Fraktion dominierten Legislative und Exekutive durch den Wächterrat entgegengewirkt werden, der durch die „konservativen“ Geistlichen kontrolliert wurde.

Der Einführung dieses zunächst als Vermittlungsausschuß gedachten Gremiums ging aber eine Direktive Khomeinis voraus, die im Interesse der Erweiterung des Entscheidungs-und Handlungsspielraumes der Regierung, vor allem im Hinblick auf die Erfordernisse des Krieges, der Wirtschaftsentwicklung und nicht zuletzt des Wiederaufbaus, gleichsam die Shari’a zumindest zeitweilig suspendierte: „Die Regierung, die ein Zweig der absoluten Statthalterschaft des Propheten Gottes ist, gehört zu den primären Bestimmungen des Islam und ist all den Bestimmungen, die den sekundären Zweigen zugerechnet werden (ahkam-e far’iye), selbst dem Gebet, dem Fasten und der Pilgerfahrt vorangestellt.“ Mit dieser pragmatischen Lösung des entstandenen verfassungs-und staatsrechtlichen Streites um die grundlegende Frage nach der Rechtsfindung in einem von der Shari’a geprägten System wurde ein weiterer Schub der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft eingeleitet. Die Verkündigung dieser Direktive fand keineswegs ungeteilte Zustimmung. Vor allem große Teile der Geistlichkeit äußerten Vorbehalte zum einen aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen: So seien weder die Fälle spezifiziert, in denen Anordnungen der Regierung aus Gründen des öffentlichen Interesses über das islamische Gesetz gestellt werden könnten, noch seien sie zeitlich begrenzt. Zum anderen werde der Regierung damit die Rechtsgrundlage für totalitäre Machtausübung an die Hand gegeben. Um diesen Einwänden entgegenzuwirken, ordnete Khomeini am 6. Februar 1988 die Einsetzung des genannten Schlichtungsorgans zwischen Wächterrat und Parlament an. Mit der Verfassungsrevision wurde dieses, die Spitze des politischen Establishments umfassende, Schlichtungsorgan gemäß Grundsatz 112 verfassungsmäßig verankert und zugleich als Beratungsorgan des Führers institutionalisiert. Damit wird nicht nur der Entscheidungsspielraum des Wächterrates pragmatisch eingeschränkt, sondern auch der des Führers, der gemäß Grundsatz 110 nunmehr nach Beratung mit diesem Gremium die allgemeine Ausrichtung der Politik bestimmen darf. Dies war in Zusammenhang mit der bevorstehenden pragmatischen Nachfolgeregelung unabdingbar geworden. 5. Zur Wahl Khameneis als Nachfolger durch den „Expertenrat“

Am 3. Juni 1989 starb Ajatollah Khomeini, bevor die von ihm eingesetzte Verfassungsreformkommission ihre Arbeit abgeschlossen hatte und die veränderte Verfassung durch ein Referendum am 28. Juli 1989 bestätigt wurde. Trotzdem vollzog Juli 1989 bestätigt wurde. Trotzdem vollzog sich der Übergang von der khomeinistischen in die nach-khomeinistische Ära reibungsloser, als dies von vielen Beobachtern erwartet worden war. Aber damit vollzog sich auch eine weitgehende Veralltäglichung der Herrschaftsautorität des Führers und eine entsprechende Umgestaltung des Herrschaftssystems.

Nach der gültigen Verfassung hätte ein Großajatollah oder ein Rat von Großajatollahs zum Nachfolger gewählt werden müssen. Aus pragmatischen Gründen und sich über diese Verfassungshürde hinwegsetzend, wählte der nach der revidierten Verfassung für die Wahl des Nachfolgers zuständige Expertenrat am selben Tag den amtierenden Staatspräsidenten Hojjat ol-Eslam Ali Khamenei zum Nachfolger. Der neue Führer avancierte von diesem Augenblick an zum Ajatollah. Dieser verfassungswidrige Akt, der zugleich als eine Transformation des persönlichen in ein Amtscharisma begriffen werden kann, wurde anschließend entsprechend dem Konzept der absoluten Befehlsgewalt der Rechtsgelehrten wie folgt legitimiert: Diese Entscheidung entspricht, so Ajatollah Azari Qomi, wenn auch nicht dem Wortlaut, so doch dem Geist der Verfassung 27. Der Expertenrat habe das Recht, Khamenei die Würde eines Großajatollahs zu verleihen, so wie er das Recht habe, ihm das Amt des Führers zu übertragen 28. Um jedes formale Legitimationsproblem auszuräumen, wählte der Expertenrat Khamenei nach Billigung der revidierten Verfassung, welche die Marjaiyat nicht mehr als Bedingung für die Übernahme des Amtes des Führers enthält, erneut zum Führer.

Mit der Wahl Khameneis zum Führer erhob sich für die Kerngruppen der Herrschaft die Frage nach den Kompetenzen des Führers. Weil die aus der Krise entstandenen Machtchancen eines charismatischen Führers mit der Institutionalisierung der Herrschaft entsprechend längst verteilt waren, stellte sich doch ein für die weitere Entwicklung der Islamischen Republik wesentliches Problem: Wie kann einem Statthalter Gottes die absolute Macht vorenthalten werden, selbst wenn der Amtsinhaber über kein persönliches Charisma verfügt und angesichts der verschobenen Machtbalance innerhalb der elitären Kerngruppen und im Verhältnis zum weiteren sozialen Feld real nicht über solch eine Machtchance verfügen kann? Aus diesem Dilemma heraus ergab sich zunächst eine Kompromißlösung, die sich pragmatisch aus zwei entgegengesetzten Positionen innerhalb der Kerngruppen der Herrschaft ergab: Auf der einen Seite standen die Befürworter einer Veränderung der Verfassung im Sinne einer absoluten Machtposition des Führers. In diesem Sinne repräsentierte Ayatollah Azari Qomi die Meinung derjenigen, die das Amtscharisma des Führers betonten; danach besitze jeder die absolute Herrschaftsgewalt, der vom Expertenrat zum Führer gewählt werde Auf der anderen Seite schlug man mit Ayatollah Jennati die Streichung des Führeramtes aus der Verfassung vor und hob das Amtscharisma der Geistlichkeit hervor, weil man das Prinzip der Führung, so wie es in der Verfassung stehe, langfristig nicht würde halten können Demnach würde der Wächterrat ausreichen, um die Herrschaft der Shari’a über die Gesetzgebung zu garantieren 6. Zur Verschiebung der Balance zwischen Traditionalisierung und Legalisierung der Herrschaft seit den letzten Präsidentschaftswahlen Gegenüber diesen aristokratischen Positionen der Geistlichkeit entwickelte sich seit den letzten Präsidentschaftswahlen eine spontane Bürgerbewe-gung, welche die republikanischen Komponenten der Verfassung hervorhob. Diese Bewegung, die aus der Selbsterfahrung der Menschen als Bürger entstand, entfaltete sich innerhalb des Handlungspielraumes, wie er sich aus den Spannungen und Konflikten der Kerngruppen der Herrschaft ergab. Sie gewinnt ihre zunehmende Machtchance dadurch, daß diese Kerngruppen in ihren sich immer mehr verschärfenden Konkurrenz-und Ausscheidungskämpfen um die staatlichen Machtmonopole zunehmend auf die Unterstützung der Bürger angewiesen sind. Zudem verschafft ihnen die Widersprüchlichkeit der Verfassungsnorm den entsprechenden Legitimationsspielraum. Als eine bestimmte Balance zwischen Kooperation und Konflikt der nachrevolutionären sozialen Gruppen verkörpert die Verfassung der Islamischen Republik in der Tat ihre sozio-und psychogenetischen Spannungen und Konflikte. Entstanden durch eine islamisch geprägte revolutionäre Massenerhebung gegen eine -wenn auch seit langem bereits suspendierte -konstitutionelle Monarchie eines aufgeklärten Despoten, institutionalisierte sie als Manifestation der Volksmacht das republikanische Prinzip und die verschiedenen Instanzen der Volksvertretung neben der Souveränität Gottes, vertreten durch die islamischen Rechtsgelehrten, welche die Führung der revolutionären Erhebung monopolisierten. In ihrer Gestalt manifestiert sich eine bestimmte Machtbalance, die aus einer funktionalen Demokratisierung und durch die krisenhafte Erfahrung der Menschen entstanden ist. Die angestrebte institutionelle Demokratisierung, die sich vor allem in den letzten Präsidentschafts-und Kommunalwahlen massenhaft manifestiert, zeugt von einem neuen Schub der Selbsterfahrung der sich zu mündigen Bürgern entwickelnden Bevölkerung des Iran. Dieser Schub setzte ein mit dem Übergang von der khomeinistischen in die nachkhomeinistische Ära. Damit vollzog sich eine weitgehende Veralltäglichung der Befehlsgewalt der Regierenden und eine Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse. Diese zunehmende Erosion der Legitimität der absoluten Rechtsgelehrten-herrschaft -vor allem bei Jugendlichen, Frauen und Intellektuellen -und die zunehmenden Unterschiede im Autoritätsverhältnis von Regierenden und Regierten zeigten sich in den letzten Wahlen. Der wachsende zivile Ungehorsam, wie er sich selbst im sehr engen Rahmen der bestehenden Möglichkeiten vor allem im Wahlverhalten der Mehrheit der Bevölkerung wahrnehmen läßt, ist Ausdruck einer neuen Entwicklungsstufe des Lernprozesses der Menschen. Dies manifestiert sich in der Verschiebung der Balance zwischen der autoritär-theokratischen und der republikanischen Komponente der Verfassung zugunsten der letzteren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Kayhan Havai vom 7. 3. 1979.

  2. Vgl. A. K. S. Lambton, Islamic Society in Persia, London 1985, S. 146 ff.

  3. Vgl. A. Khomeini, Der islamische Staat, Berlin 1983, S. 33. Die folgenden Khomeini-Zitate sind diesem Werk entnommen.

  4. Erinnertes Wandlungskontinuum ist ein von Norbert Elias eingeführter Begriff für die Erklärung der Identitätserfahrung der Menschen (N. Elias, Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a. M. 1988, S. 249 ff.). Die religiöse Identität der Menschen konstituiert einen mehr oder weniger zentralen Aspekt ihrer Identität. Die Identität des Islam als Glaubensvorstellung der sich entwickelnden Menschen beruht demnach auf der Kontinuität des Entwicklungsprozesses dieser Menschen als Einzelne und als Gruppen. Jede spätere Phase dieses Entwicklungsprozesses, den diese Menschen durchmachen, hat den kontinuierlichen Ablauf der vorangehenden individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungsphasen zur Voraussetzung. Zudem sind dieser Entwicklungsvorgang und seine symbolische Darstellung durch kommunizierbare Begriffe, d. h.der Vorgang als solcher und als egenstand der individuellen Erfahrung, ineinander verschlungen und ganz untrennbar. Damit ist die Kontinuität eines Gedächtnisses, das erlerntes Wissen und so auch persönliche Erfahrungen früherer Phasen als Kräfte der aktiven Empfindungs-und Verhaltenssteuerung, späterer Phasen verarbeitet, die unabdingbare Voraussetzung der Identitätserfahrung der Menschen. Das Vermögen der selektiven Aufbewahrung von Erfahrungen aller individuellen und gesellschaftlichen Lebensalter der Menschen im Gedächtnis ist daher einer der zentralen Faktoren der Individualisierung der Menschen und damit ihrer Glaubens-vorstellungen. Je größer im Zuge der Gesellschaftsentwicklung der Spielraum für Verschiedenheiten der im Gedächtnis der Einzelnen eingravierten Lebenserfahrung wird, um so größer wird die Chance der Individualisierung des Glaubens.

  5. Vgl. B. Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung, München 1992.

  6. L. C. Barreau, Die unerbittlichen Erlöser, Reinbek 1992.

  7. Zivilisation im soziologischen Sinne teilt nicht die übliche Funktion des Begriffes als Ausdruck des Selbstbewußtseins der okzidentalen Gesellschaften. Um Zivilisation im soziologischen Sinne zu verstehen, muß man sich von den alltäglichen Wertungen des Begriffes distanzieren. Als ein mehrere Generationen umfassender Prozeß weist der Begriff auf eine strukturierte Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz spezifische Richtung hin. Dieser Prozeß ist immer begleitet von Gegenschüben. Er vollzieht sich als Ganzes ungeplant; aber er vollzieht sich nicht ohne eine eigentümliche Ordnung. Als eine gerichtete Veränderung des sozialen Habitus der Menschen zeigt Norbert Elias in seiner Untersuchung, „wie etwa von verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelungen des gesamten Trieb-und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird“ (N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 313).

  8. A. Khomeini (Anm. 3), S. 23.

  9. Zitiert nach dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von A. Khomeini, ebd., S. 10 f.

  10. A. Schirazi, Die Widersprüche in der Verfassung der Islamischen Republik vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung im nachrevolutionären Iran, Berlin 1992, S. 24 ff.

  11. Vgl. S. Freud, Massenpsychologie und Ichanalyse, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a. M. 1974.

  12. Damit ist die Verringerung der Machtdifferentiale zwischen Menschen in unterschiedlichen sozialen Positionen gemeint. Mit dieser spezifischen Verlagerung der Macht-gewichte veränderten sich daher nicht nur die Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, verschiedenen ethnischen und konfessionellen Gruppen sowie sonstigen sozialen Formationen. Auch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Regierten und Regierenden veränderten sich: Die Regierenden, jene Gruppe, die den Zugang zu den in der Gesellschaft vorhandenen Machtressourcen und die Verfügung über diese besaß, wurden immer abhängiger von den Außenseitergruppen, die vom Zugang zu diesen Machtchancen ausgeschlossen waren. (Vgl. N. Elias [Anm. 4], S. 70/72).

  13. Th. Böhm, Verinnerlichung des Anderen, Frankfurt a. M. -New York 1983, S. 170.

  14. Nativistische Bewegungen von Menschen charakterisiert sich durch demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte, während der Chiliasmus ihre aktivierbare kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückszustände bezeichnet. Vgl. D. Gholamasad, Die Entstehung der „Islamischen Revolution“, Hamburg 1985, S. 583 ff.

  15. Vgl. Nahost Jahrbuch von 1987 bis 1997, hrsg. vom Deutschen Orient-Institut, Hamburg 1988, S. 77.

  16. In der Hierarchie der schiitischen Geistlichkeit steht in seltener Ausnahme ein von allen Gläubigen einmütig anerkannter Großayatollah an der Spitze. Er würde in diesem Fall die einzige „Instanz der Nachahmung“ sein. Die Gläubigen würden bei der Lösung ihrer Alltagsprobleme ihm als Vorbild folgen und sich in ihrer sozialen Praxis nach ihm orientieren. Fehlt eine solche alle anderen überragende Autorität, folgt man einem der Großajatollahs als einer selbstgewählten „Instanz der Nachahmung“. Seit dem Ableben des Groß-ajatollahs Brourujerdi (1961) befinden sich die Gläubigen in einer solchen Lage. Den Großajatollahs folgen in der Rangordnung die in ihrer Anzahl ständig wachsenden Ajatollahs. Nach ihnen kommt die noch größere Zahl der Hojjat ol-Eslam, gefolgt von der Masse der einfachen „Turbanträger".

  17. Dabei konnten gleichzeitig einige Kompetenzunklarheiten und -Überschneidungen in der bestehenden Organisation der Herrschaft beseitigt und das politische System gestrafft werden. Diese Verfassungsänderungen umfaßten zudem die Zentralisierung der Befugnisse der Exekutive und Judikative sowie die verfassungsmäßige Verankerung des, aus vorausgehenden internen Machtkämpfen der Kerngruppen der Herrschaft geborenen, „Schlichtungsrates“ (shora-je maslehat-e nezam) als Beratungsorgan des Führers, die Abschaffung des Shora-Systems (Rätesystem) als revolutionäres Relikt, eine Regelung für Verfassungsänderungen, die Änderung des Parlaments als „Nationale Ratsversammlung“ in „Islamische Ratsversammlung“, die Anpassung der Zahl der Parlamentsmitglieder an die demographische Entwicklung und die geographische Mobilität sowie die Neuregelung der Kontrolle der elektronischen Massenmedien. A. Schirazi hat seit Jahren die Entwicklung der nachrevolutionären Verfassung und die damit einhergehenden theologischen Diskurse verfolgt und in drei Beiträgen veröffentlicht. Seine Forschungsergebnisse, die die verfügbaren Quellen wie Parlamentsprotokolle und die wichtigsten Tageszeitungen berücksichtigen, sind eine Fundgrube für eine herrschaftssoziologische Untersuchung. Die folgenden Informationen über die Revision der Verfassung und vor allem über die damit einhergehenden Diskurse stammen vor allem aus seinem 1991 veröffentlichten Beitrag.

  18. Vgl. Resalat vom 30. 4. bis 8. 5. 1989.

  19. Ebd. vom 11. 5. 1989.

  20. Vgl. ebd. vom 3. 4. 1989.

  21. Vgl. Ettela’at vom 10. 6. 1989.

  22. Vgl. Keyhan Havai vom 12. 6. 1989.

  23. So Ajatollah Azari Qomi'u. a. in: Resalat vom 10. und 21. 6. 1989.

  24. Vgl. Keyhan Havai 20. 6. 1989.

  25. So Ayatollah Jennati in: Ettela’at vom 2. 6. 1983.

  26. Nahost Jahrbuch (Anm. 15), S. 75.

  27. Vgl. ebd., vom 29. 4. 1989.

  28. Vgl. ebd., vom 7. 4. 1989.

  29. Vgl. Keyhan Havai vom 13. 5. 1989.

  30. Vgl. Resalat vom 6. und 10. 5. 1989.

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Dawud Gholamasad, Dr. rer. pol., geb. 1943 in Teheran; Studium der Soziologie, Geschichte und Pädagogik in Frankfurt sowie der Staatswissenschaften an der Universität Graz; seit 1987 Professor für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Sozio-ökonomische Aspekte der Landreform in Iran, Graz 1970; Iran -Die Entstehung der „Islamischen Revolution“ Hamburg 1985; Iran -von der Kriegsbegeisterung zur Kriegsmüdigkeit, Hannover 1988; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.