Entwicklung und Entwicklungsprobleme in Ländern des südlichen Mittelmeerraums
Volker Nienhaus
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Zusammenfassung
Die Europäische Union strebt die Schaffung einer Freihandelszone mit zwölf südlichen Mittelmeeranrainern bis zum Jahre 2010 an. Die EU erwartet davon einen Beitrag zur Beschleunigung der Entwicklung der Partnerländer, die sich u. a. in ihrer Größe, Wirtschaftskraft und Struktur stark voneinander unterscheiden. Der wirtschaftliche Fortschritt soll den Migrationsdruck in Richtung Europa und politische Instabilitäten in der Region reduzieren. In fast allen südlichen Mittelmeerländern ist in den letzten Jahren die makroökonomische Stabilisierung gelungen. Außerdem wurden Strukturanpassungsprogramme eingeleitet, die auf die Einführung bzw. Stärkung marktwirtschaftlicher Systeme abzielen. Diese Programme sind nicht überall konsequent durchgeführt worden; insbesondere bei der Liberalisierung der Finanzsysteme gibt es vielfach noch einen erheblichen Reformstau. Ohne Strukturreformen werden aber von der Freihandelspolitik kaum Entwicklungsimpulse in dem erhofften Ausmaß ausgehen. Weitere offene und nicht für alle Länder einheitlich zu beantwortende Fragen betreffen den Ausgleich der nicht unerheblichen Einnahmeausfälle nach einem Zollabbau, die Konsequenzen eines Anstiegs der Importe, die ökonomischen und sozialen Kosten eines verschärften Wettbewerbsdrucks sowie die Attraktivität der Mittelmeerländer als Standort für Direktinvestitionen aus Europa.
Der „südliche Mittelmeerraum“ wird hier nicht als geographischer, sondern als politischer Begriff verwendet, der jene zwölf Länder und Gebiete Nordafrikas und des Nahen Ostens bezeichnet, die Partner der Europäischen Union im Rahmen ihrer Mittelmeerpolitik sind: Marokko, Algerien, Tunesien (Maghreb-Länder); Ägypten, Jordanien, Palästina, Israel, Libanon, Syrien (Mashrek-Länder); Malta, Zypern, Türkei (Nördliche Mittelmeerländer) Aussagen über die wirtschaftliche Entwicklung dieser Ländergruppe insgesamt, die auch aktuelle Entwicklungen berücksichtigen und Perspektiven aufzeigen, sind nicht nur wegen der lükkenhaften und uneinheitlichen Datenlage sehr schwierig: Zum einen sind die Länder hinsichtlich ihrer strukturellen Charakteristika sehr unterschiedlich, zum anderen weisen wichtige Wirtschaftsindikatoren oft für das gleiche Land große jährliche Schwankungen auf, was kurzfristige Prognosen höchst unsicher macht Dennoch kann man einige allgemeine, auf mittelfristige Trends bezogene Aussagen machen, bevor auf Unterschiede zwischen den Ländern einzugehen ist
I. Gemeinsamkeiten in der wirtschaftlichen Entwicklung
1. Makroökonomische Stabilisierung
In fast allen Ländern der Region finden seit mehreren Jahren -mit Beratung und Unterstützung insbesondere durch den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und die EU -Stabilisierungsund Strukturanpassungspolitiken statt Den meisten Ländern ist es gelungen, eine befriedigende makroökonomische Stabilität mit relativ niedrigen Inflationsraten von zehn Prozent und weniger und geringen Wechselkursschwankungen zu erreichen. Die Budgetdefizite konnten in den meisten Staats-haushalten begrenzt und die jährliche inländische Neuverschuldung zurückgefahren werden Auch die Belastung der Volkswirtschaften durch die Bedienung von Auslandsschulden bleibt in den meisten Fällen in einem beherrschbaren Maß und ist in einigen Ländern (gemessen am Verhältnis von Auslandsschuldendienst zu Exporterlösen und/oder am Auslandsschuldenstand in Relation zum Sozialprodukt) rückläufig. Schließlich verzeichnen die meisten Länder der Region ein mittelfristig anhaltendes deutliches Wirtschaftswachstum, das auch zur Steigerung der (im Durchschnitt niedrigen) Pro-Kopf-Einkommen geführt hat allerdings haben sich die Wachstumsraten seit Mitte der neunziger Jahre abgeschwächt.
2. Strukturanpassungen
Bei der Liberalisierung der Märkte, der Privatisierung von Staatsbetrieben und der Anpassung der sektoralen Wirtschaftsstrukturen an die Erfordernisse einer voranschreitenden Integration in den Weltmarkt sind Fortschritte erzielt worden, wenngleich diese im allgemeinen weniger eindrucksvoll sind als die makroökonomischen Erfolge und teilweise erheblich hinter den Erwartungen insbesondere westlicher Finanzinstitutionen und Investoren Zurückbleiben. Dies gilt vor allem für die sehr beschränkten Zugangsmöglichkeiten ausländischer Anleger zu den sich entwickelnden Kapitalmärkten der Region (s. u.) und für die Privatisierungsbemühungen im Zentrum vieler Privatisierungspläne stehen Telekommunikationsunternehmen und Finanzinstitute. Solche Privatisierungen -evtl, unter ausländischer Beteiligung -mögen zu einer Effizienzsteigerung der Unternehmen führen. Wenn aber der Wettbewerb im Telekommunikations-und Finanzsektor weiterhin stark beschränkt bleibt, ist es sehr fraglich, ob die erzielten Produktivitätsvorteile auch an die Nachfrager weitergegeben werden. Damit ist vor allem dort kaum zu rechnen, wo die Privatisierung weniger als Mittel der Modernisierung und Strukturanpassung gesehen wird, sondern vor allem der Erzielung von Einnahmen für den Staatshaushalt dient.
3. Druck auf Arbeitsmärkte
Trotz der wirtschaftlichen Erholung und Stabilisierung in den neunziger Jahren sind zahlreiche ökonomische Probleme ungelöst. Eines der gravierendsten Probleme ist die starke Inanspruchnahme des Arbeitsmarktes durch Jugendliche'. Dieses Problem stellt sich auch in jenen Ländern, die bei der Begrenzung des Bevölkerungswachstums in den neunziger Jahren Erfolge erzielt haben, denn es sind heute die geburtenstarken Jahrgänge der achtziger Jahre, die in den Arbeitsmarkt drängen. Je nach Elastizität des Beschäftigungssystems kommt es zu offener Arbeitslosigkeit, zum Anwachsen der Beschäftigung im informellen Sektor oder zu einem Druck auf die Löhne. In jedem Fall liegt hier ein soziales Unruhepotential, das sich um so eher politisch radikalisieren läßt, je perspektivloser die Wirtschaftlage erscheint und je repressiver das herrschende Regime ist.
4. Ungleichverteilungen
Die Wachstumserfolge der Volkswirtschaften des südlichen Mittelmeerraums sind in der Regel nicht gleichmäßig verteilt: Zum einen gibt es in den größeren Ländern oft ausgeprägte regionale Unterschiede zwischen der Entwicklung in den Ballungsgebieten, auf die sich die Dynamik des Landes konzentriert, und dem ländlichen Raum, dessen relative Position sich verschlechtert. Zum anderen bestand in Nordafrika und im Nahen Osten schon immer eine sehr starke personelle Einkommens-und Vermögenskonzentration. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich durch das Wachstum und den Strukturwandel der neunziger Jahre an diesen Verteilungsrelationen Wesentliches geändert hätte.
II. Politische Konflikte bei Stabilisierung und Strukturanpassung
1. Asymmetrie von Nutzen und Kosten
Wenn Stabilisierungs-und Strukturanpassungsprogramme vielfach nicht mit der von westlichen Institutionen gewünschten Konsequenz durchgeführt werden, kann dies an einer asymmetrischen Verteilung von Nutzen und Kosten der Politik liegen. Von einer Liberalisierung profitieren im allgemeinen die großen Privatunternehmen eines Landes, die hinreichend diversifiziert sind und über ihre Geschäftsbeziehungen zu ausländischen Partnern Zugang zu moderner Technologie und internationalen Absatzwegen besitzen. Hinter diesen Unternehmen steht die etablierte Wirtschaftselite des Landes bzw.der wohlhabende Teil der Bevölkerung. Die Anpassungslasten müssen dagegen oft von den mittleren und ärmeren Bevölkerungsschichten getragen werden, wenn z. B. bisherige Arbeitsplätze durch Entlassungen nach Privatisierungen oder Konkurse von kleineren Unternehmen infolge eines durch die Liberalisierung verschärften Wettbewerbs mit ausländischen Anbietern wegfallen. Selbst wenn im Zuge des Wachstums der Wirtschaft eine mindestens gleich große Zahl neuer Unternehmen und Arbeitsplätze geschaffen werden, ist nicht sichergestellt, daß die freigesetzten Arbeitskräfte dort eine neue Beschäftigung finden werden, denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß die neuen Arbeitsplätze an anderen Orten entstehen und andere Qualifikationen erfordern. Auch die Konsolidierung der Staatshaushalte ist oft mit Härten für die unteren Bevölkerungsgruppen verbunden, wenn Sozialleistungen gekürzt, Subventionen für Güter des Grundbedarfs gestrichen und Preise für bisher subventionierte öffentliche Leistungen den tatsächlichen Kosten angepaßt, d. h. erhöht werden.
Man kann davon ausgehen, daß sich die Opposition der von Stabilisierung und Strukturwandel negativ betroffenen Bevölkerungsgruppen stärker öffentlich artikulieren wird, als dies die Gruppe der potentiellen Gewinner des Wandels tun kann, deren konkrete Zusammensetzung ex ante praktisch unbekannt und die deswegen faktisch nicht organisierbar ist. Je nach der politischen Machtbalance kann eine Regierung angesichts einer solchen Opposition die Verlangsamung von Strukturanpassungsmaßnahmen im Interesse des eigenen Überlebens für notwendig halten. Dies gilt nicht nur für Systeme, in denen eine Regierung durch die Bevölkerung abgewählt werden kann, sondern auch in autoritäreren Regimen, in denen die Regierung ihr Amt durch Coups, Putsch oder Austausch durch den Monarchen oder Präsidenten verlieren kann.
Bei einer Beurteilung von Reformtiefe und Reformtempo muß man also stets das politische Problem berücksichtigen, daß die Belastungen kurzfristig und bei organisations-und konfliktfähigen Gruppen anfallen, während die Früchte der Reformbemühungen erst später und vielfach von nicht genau definierbaren Gruppen geerntet werden. Es ist oft weniger eine Frage der Einsicht der Regierung in Sachzusammenhänge als vielmehr eine Frage der politischen Durchsetzbarkeit und des Überlebens der Regierung, wenn der Staat trotz anderslautender Erklärungen nach wie vor nicht nur den Rechtsrahmen für eine funktionsfähige Marktwirtschaft schafft, sondern weiterhin selbst im Markt tätig ist, um z. B. in ineffizienten Unternehmen die Beschäftigung zu sichern; dies gilt auch für die Fälle, wo der Staat allokationsverzerrend interveniert, um für private Unternehmen Einkommen zu erhalten, die nicht durch Markt-leistung unter Wettbewerbsbedingungen erzielt wurden, sondern auf der Abschöpfung von Monopolgewinnen und staatlichen Privilegien der verschiedensten Art beruhen.
2. Mögliche Implikationen für ausländisches Engagement
Wo Staatsbetriebe oder hoch subventionierte Privatunternehmen Elemente der Beschäftigungspolitik und Träger von Sozialleistungen sind, ist eine Marktöffnung für überlegene Konkurrenten aus dem Ausland kaum zu erwarten. Damit besteht aber die Gefahr, daß Länder auf Dauer ihre wirtschaftlichen Potentiale und komparativen Vorteile nicht zur Entfaltung bringen können, weil die eigenen Mittel zur Finanzierung notwendiger Investitionen fehlen. Wenn die nationalen Ersparnisse zur Investitionsfinanzierung nicht ausreichen, können Lücken kaum noch durch öffentliche Kapitaltransfers im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit geschlossen werden. Der Anteil der öffentlichen Transfers nimmt weltweit ab, während private Kapitalströme in die Entwicklungsländer stark angewachsen sind: von einem Drittel der gesamten Kapitalflüsse 1990 auf über drei Viertel heute, wobei Direktinvestitionen rund die Hälfte der privaten Kapitalströme ausmachen. Sowohl kreditgebende Banken als auch anlagesuchende Investoren und investitionswillige Unternehmen achten verstärkt auf die rechtlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung des Landes, dem Mittel bereitgestellt werden sollen. Die Konservierung ineffizienter Lenkungssysteme und staatlicher Marktabschottungen wird im allgemeinen nicht geschätzt.
Der Privatisierungspolitik kommt eine besondere Bedeutung zu: Ohne eine konsequentere Privatisierung bieten sich wenig Möglichkeiten, um privates Investitionskapital aus dem Ausland anzuziehen, denn Direktinvestitionen vollziehen sich -besonders in politisch instabilen Regionen -immer weniger in der Weise, daß ausländische Unternehmen völlig neue Betriebe errichten, sondern vor allem dadurch, daß sie Anteile an bereits bestehenden Unternehmen erwerben, die dann modernisiert, erweitert und in globale Netzwerke integriert werden. Besonders in Ländern, in denen die organisierten Kapitalmärkte noch unterentwikkelt und die meisten Unternehmen in geschlossenem Familienbesitz sind, ist es relativ aufwendig, geeignete Investitionsobjekte und Kandidaten für Gemeinschaftsunternehmen zu finden. Die Privatisierung von ehemaligen Staatsunternehmen wird vielfach über Börsen abgewickelt, was ausländischen Investoren den Einstieg erheblich erleichtert. Börsennotierte Wertpapiere erleichtern im Vergleich zu individuell ausgehandelten und abgeschlossenen Partnerschaftsverträgen aber auch einen möglichen Ausstieg. Beides zusammen erhöht die Bereitschaft von Investoren zu einem Auslandsengagement.
III. Entwicklungspolitik der EU im südlichen Mittelmeerraum
1. Die Freihandelszone Europa -Mittelmeer 2010
Für die Entwicklungsperspektiven der Länder des südlichen Mittelmeerraumes sind die Beziehungen zur Europäischen Union von besonderer faktischer und politischer Bedeutung. Diese Beziehungen wurden 1995 mit den Konferenz von Barcelona der Außenminister der 15 EU-Mitgliedstaaten und der 12 Partnerländer des südlichen Mittelmeerraums auf eine neue Grundlage gestellt Das System der Kooperationsabkommen der späten siebziger und der achtziger Jahre soll ersetzt werden durch Assoziationsabkommen, die im wirtschaftlichen Bereich auf die Errichtung einer großen Freihandelszone EU-Mittelmeer für Industriegüter bis zum Jahre 2010 auf der Basis eines Netzes bilateraler Abkommen hinauslaufen sollen. Diese Abkommen mit der EU könnten zur Förderung des regionalen Handels im südlichen Mittelmeerraum durch Freihandelsabkommen der Mittelmeerländer untereinander ergänzt werden (was aber derzeit kein besonderer Verhandlungsgegenstand in der Region ist). Von der Freihandelszone verspricht man sich eine Effizienzsteigerung der Volkswirtschaften des Mittelmeerraumes, die so zu attraktiveren Standorten für Investitionen insbesondere aus der EU werden sollen. Diese europäischen Investitionen sollen den Entwicklungsprozeß des Mittelmeerraums nachhaltig beschleunigen. Die notwendigen Liberalisierungsund Anpassungsprozesse sollen durch finanzielle Hilfen der EU in Höhe von 4, 685 Mrd. ECU für den Zeitraum 1995 bis 1999 aus dem Gemeinschaftshaushalt und zusätzliche Kredite der Europäischen Investitionsbank in einer Größenordnung von 3, 4 Mrd. ECU unterstützt und erleichtert werden.
Für die Länder des nördlichen Mittelmeerraumes gibt es eine noch weiter reichende Zielperspektive, nämlich die Vollmitgliedschaft in der EU, sofern sie die Beitrittskriterien erfüllen. Auf dem Weg dorthin haben alle drei Länder (Malta, Türkei, Zypern) eine Zollunion mit der EU vereinbart, die u. a. auch die Übernahme wesentlicher Wettbewerbs-und beihilferechtlicher Regelungen der EU beinhaltet. Die Zollunion mit der Türkei trat fristgerecht zum 31. 12. 1995 in Kraft, die mit Zypern nach mehrmaligen Fristverlängerungen zum 1. 1. 1998; trotz ständiger Fristverlängerungen hat Malta noch keine Schritte unternommen, um die Zollunion mit der EU zu realisieren.
2. Die ökonomische Heterogenität des südlichen Mittelmeerraums
Die angestrebte Freihandelszone wird -wenn sie, wie geplant, zustande kommt -extrem heterogen sein, weil sie Länder mit sehr unterschiedlichen Charakteristika umfassen wird. Große wirtschaftliche Unterschiede bestehen nicht nur zwischen der EU und den Mittelmeerländern, sondern auch innerhalb der Gruppe der Länder des südlichen Mittelmeerraums (vgl. dazu auch die tabellarische Übersicht): -Die Fläche der Mittelmeerländer beträgt zwischen 300 qkm und 2, 3 Mio. qkm (Malta/Algerien), die Bevölkerungszahlen reichen von 400 000 bis 64 Millionen (Malta/Türkei), das Bruttoinlandsprodukt liegt zwischen 3 und 191 Mrd. US-Dollar (Malta/Türkei), und das jährliche Pro-Kopf-Einkommen variiert zwischen 1 200 und 15 870 US-Dollar (Ägypten/Israel). -Die Daten zur Wirtschaftsstruktur (Anteile der Sektoren am Bruttoinlandsprodukt) sind aufgrund statistischer Abgrenzungsprobleme mit einiger Vorsicht zu interpretieren, machen aber doch deutlich, daß die Gewichte der einzelnen Sektoren sehr unterschiedlich sind, z. B. geringe Bedeutung der Landwirtschaft in Jordanien und hohe Bedeutung in Ägypten; relativ geringer Umfang des Dienstleistungssektors in Algerien und ein sehr großer Umfang in Jordanien, Malta und Zypern; eine relativ ausgebaute Verarbeitende Industrie in Ägypten und der Türkei, aber nur ein geringer Anteil in Algerien, wo statt dessen -wie in Libyen -die Erdöl-und Erdgäsindustrie die größte Bedeutung besitzt. -Auch im Hinblick auf die Finanzierung der wirtschaftlichen Entwicklung im allgemeinen und produktiven Investitionen im besonderen sind markante Unterschiede zu beobachten: Während in Jordanien die Entwicklungshilfe mit 7, 2 Prozent einen erheblichen Anteil am Bruttosozialprodukt (BSP) ausmacht, ist sie z. B. in der Türkei und in Israel mit 0, 1 bzw. 0, 4 Prozent des BSP zu vernachlässigen Bei den privaten Nettokapitalzuflüssen führt mit weitem Abstand die Türkei (5, 6 Mrd. US-Dollar) vor Ägypten (1, 4 Mrd. US-Dollar) Kapitalabflüsse verzeichneten Algerien und Jordanien. Der Zufluß ausländischer Direktinvestitionen erreichte in Israel eine Größenordnung von 2 Mrd. US-Dollar, in der Türkei und in Ägypten von jeweils über 700 Mio. US-Dollar
3. Stand der Kapitalverkehrsliberalisierung
Das Ausmaß der privaten Kapitalzuflüsse ist nicht unabhängig von dem bereits erreichten Ausmaß der Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Auch in dieser Hinsicht ist die Gruppe der südlichen Mittelmeerländer sehr heterogen Der Kapitalverkehr, der im Zusammenhang mit dem Güter-und Dienstleistungshandel steht, ist in allen Ländern mit Ausnahme Ägyptens, Libyens und Syriens vollständig liberalisiert worden. Hinsichtlich des Kapitalverkehrs, dem eine Kreditaufnahme oder der Erwerb von Wertpapieren oder Unternehmensanteilen von Inländern im Ausland oder von Ausländern im Inland zugrunde liegt, ist das Bild differenzierter -Jordanien und Libanon verzichten vollständig und Israel weitestgehend auf Kapitalverkehrs-kontrollen bei jeder Art des Kapitalverkehrs. -Direktinvestitionen des Auslands sind in Ägypten, Jordanien und Libanon, Direktinvestitionen von Inländern im Ausland in allen Ländern mit Ausnahme von Algerien, Syrien und der Türkei ohne Kapitalverkehrskontrollen zulässig Bei Kreditaufnahmen und Wertpapiergeschäften des Auslands im Inland und von Inländern im Ausland verzichten nur Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon und die Türkei weitgehend auf Restriktionen Insgesamt ist die Kapitalmarktliberalisierung am weitesten in Israel, Jordanien und Libanon fortgeschritten; außerdem unterliegt der Kapitalverkehr in Ägypten und der Türkei relativ geringen Beschränkungen. Demgegenüber findet man das restriktivste System in Syrien; aber auch in Algerien, Marokko, Tunesien, Malta und Zypern ist die Konvertibilität bei Kapitalbilanztransaktionen in erheblichem Maße eingeschränkt. Eine restriktive Kapitalverkehrspolitik ist mit der Erwartung ansteigender Zuflüsse privaten Kapitals aus der EU nach der Errichtung einer Freihandelszone nicht kompatibel. Gerade im Maghreb sind Liberalisierungen der Kapitalmärkte und Reformen der Finanzsysteme notwendige und noch nicht erfüllte Voraussetzungen für einen entwicklungspolitischen Erfolg der Mittelmeerpolitik der EU
4. Handelsbeziehungen, Perspektiven und Probleme in einer Freihandelszone
Handelsverflechtung EU-Mittelmeerraum Zwischen der EU und den meisten der südlichen Mittelmeerländer bestehen bereits heute intensive Handelsbeziehungen; -Die Bedeutung der EU als Lieferland ist durchweg hoch: Der Anteil der EU an den Gesamteinfuhren betrug 1997 knapp 50 Prozent und mehr in den meisten Mittelmeerländern mit Ausnahme von Ägypten, Jordanien und Syrien. Im Zeitablauf (1997 gegenüber 1990) hat das Gewicht der EU in drei Ländern (Marokko, Türkei und Tunesien) stark zu-und in einem Land (Syrien) sehr stark abgenommen. -Für die meisten Länder ist die EU auch der wichtigste Absatzmarkt, in den 40 bis 78 Prozent der Exporte geliefert werden. Ausnahmen sind Jordanien (12 Prozent) und Libanon (23 Prozent), was auf einen großen Transithandel mit Nachbarländern der Region zurückzuführen ist, sowie Zypern (27 Prozent). Einen starken prozentualen Zuwachs der Exporte in die EU hat es seit 1990 in Jordanien und Syrien gegeben, einen deutlichen Rückgang in Malta und Zypern.
Handelsumlenkung Die Bildung einer Freihandelszone, d. h. eine nicht allgemeine, sondern diskriminierende Zollsenkung, hat i. d. R. eine Handelsumlenkung zur Folge. Besonders bei einem hohen Zollniveau verbilligt das Freihandelsarrangement die Waren aus dem Partnerland für die Nachfrager, die daraufhin zu den billigeren Lieferanten wechseln. Dieser einzelwirtschaftliche Vorteil ist mit einem gesamtwirtschaftlichen Nachteil verbunden: Wenn bei einheitlichen Zöllen ursprünglich Waren aus dem Land mit den niedrigsten Preisen bezogen wurden, impliziert Handelsumlenkung, daß nun die Waren aus einem Land bezogen werden, dem die importierende Volkswirtschaft mehr Ressourcen für das gleiche Importvolumen überlassen muß als dem ursprünglichen Lieferland Allerdings ist der Anteil der Einfuhren aus den EU in vielen Mittelmeerländern bereits heute so hoch, daß nach einem Wegfall der Zölle für EU-Importe eine wesentliche Anteilssteigerung gar nicht mehr möglich ist, so daß auch das Ausmaß der Handelsumlenkung z. B. von den USA oder Japan zur EU in den meisten Fällen gering bleiben dürfte.
Einnahmeausfälle Die Kehrseite dieser Medaille ist aber, daß es zu einem besonders hohen unmittelbaren Ausfall von Staatseinnahmen kommen wird, sobald auf die Zollerhebung beim größten Teil der Importe verzichtet wird. Unter Berücksichtigung der Steuer-struktur und Handelsverflechtungen wurden für neun Mittelmeerländer die unmittelbaren Einnahmeausfälle geschätzt. Sie sind am höchsten im Libanon (29 Prozent der gesamten Steuereinnahmen bzw. 3, 3 Prozent des BIP), in Algerien (19/2, 2) und Tunesien (16/3, 2), von mittlerer Dimension in Ägypten (8/1, 3), Jordanien (12/2, 0), Marokko (10/2, 5) und Syrien (7/0, 8) und vernachlässigbar in Israel und Palästina. Es ist eine offene Frage, wie Einnahmeverluste von ca. einem bis drei Prozent des BIP bei Staatseinnahmen in einer Größenordnung zwischen 16 und 31 Prozent des BIP durch Reformen von Steuersystemen, die Erhöhung anderer Einnahmearten oder die Kürzung von Ausgaben aufgefangen werden können Es ist auch offen, ob und in welchem Umfang Finanzhilfen der EU zur Verfügung stehen werden.
Wettbewerbsverschärfung Ein weiterer Effekt des Zollabbaus ist eine Verschärfung des Wettbewerbs im Industriesektor der Mittelmeerländer, die um so ausgeprägter sein wird, je höher der Zollschutz vor der Marktöffnung ist. Nach einer Senkung des Protektionsniveaus von Mitte der siebziger Jahre bis 1990 (von einem ungewichteten durchschnittlichen effektiven Zollsatz für sieben Mittelmeerländer von 21 auf 13 Prozent) ist wieder ein Anstieg der Protektion (1995 auf 15 Prozent) zu beobachten Diese effektive Protektion der südlichen Mittelmeerländer ist nicht nur im Vergleich zu Industrieländern (zwei Prozent) hoch, sondern ist auch höher als in den meisten anderen Entwicklungsländern (mit Ausnahme Afrikas).
Daraus folgt, daß der Wettbewerbsdruck erheblich sein wird. Es ist kaum zu erwarten, daß gerade die kleinen und mittleren Industriebetriebe der Mittelmeerländer -die selten über moderne Techno logie und besonders qualifizierte Arbeitskräfte verfügen, nicht in internationale Firmennetzwerke eingebunden sind und kaum Chancen haben, die zur Modernisierung notwendigen Finanzmittel von wenig effizienten nationalen Bankensystemen zu erhalten -diesem Druck standhalten können Die Erfahrung der Türkei spricht jedenfalls nicht unbedingt dafür: Dort mußten im Vorfeld der Zollunion 1995 fast 20 000 kleine und mittlere Unternehmen (ohne Handelsunternehmen) aufgeben; dank einer insgesamt dynamischen Entwicklung des Landes mit einem großen Binnenmarkt konnten andererseits fast 23 000 neue Klein-und Mittelbetriebe entstehen Auch in den Stellungnahmen zu den Beitrittskandidaten Malta und Zypern äußert die Europäische Kommission Bedenken, ob die (für die Beschäftigung bedeutsamen) kleinen und mittleren Betriebe dem Wettbewerb mit Konkurrenten aus der EU standhalten können.
Leistungsbilanzdefizit Bei einer Verbilligung von Importgütern um 15 Prozent und mehr ist damit zu rechnen, daß das Importvolumen steigen und ein Leistungsbilanzdefizit entstehen wird Empirisch ist dieser Effekt des Zollabbaus vielfach bestätigt worden, so auch im Falle der Türkei. Es hängt sehr von der Situation des einzelnen Landes ab, ob ein solches Defizit z. B. durch Kapitalimporte finanziert werden kann oder zu einer Abwertung der Währung führt. Letzteres verbessert zwar tendenziell die Exportfähigkeit des abwertenden Landes, aber es verteuert andererseits Importe; dies kann vor allem dann zu sozialen Spannungen führen, wenn in erheblichem Umfang Güter des Grundbedarfs (z. B. Nahrungsmittel) eingeführt werden müssen, die im Preis steigen.
Standortattraktivität Mit der Marktöffnung können sich zwar einerseits Importe, die in den Mittelmeerländern bei der Produktion von Exportgütern eingesetzt werden, verbilligen, was tendenziell (unabhängig von einer Abwertung) die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder und ihre Attraktivität als Standort für Exportindustrien verbessert. Andererseits können Produkte für den Binnenmarkt dieser Länder nun auch in Europa hergestellt und zollfrei von dort geliefert werden. Welcher der beiden Effekte überwiegt, ist nicht generell zu sagen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß die Zollfreiheit für importierte Waren europäische Unternehmen zu einem großen Investitionsboom im Mittelmeerraum veranlassen wird, denn in den meisten Ländern konnten sie auch bisher schon für die Exportproduktion in Freizonen und Sonderwirtschaftszonen zollfrei eingeführt und mit lokalen Produktionsfaktoren (insbesondere günstiger Arbeitskraft) kombiniert werden. Die Standort-attraktivität nimmt daher für exportorientierte Unternehmen durch die Freihandelsabkommen mit der EU nicht automatisch zu. Man kann allenfalls argumentieren, daß eine Regierung durch den Abschluß eines Freihandelsabkommens einer marktwirtschaftlichen Reformpolitik eine gewisse Irreversibilität und Glaubwürdigkeit bei Unternehmern und Anlegern verleiht und damit allgemein das Investitionsklima in einer instabilen Weltregionen verbessert.
IV. Fazit
Die Entwicklung der Länder des südlichen Mittelmeers ist in der Vergangenheit sehr unterschiedlich verlaufen, und daran wird auch eine vereinheitlichte Mittelmeerpolitik der EU nichts ändern. Eine Liberalisierung und Strukturanpassung ist unverzichtbar, wenn die Potentiale der Mittelmeerländer zur Entfaltung kommen sollen. Die Freihandelszone ist dazu aber kein Allheilmittel -im Gegenteil, isoliert angewandt kann sie durchaus zu einer gefährlichen Medizin werden. Die EU sollte keine unrealistisch hohen Erwartungen wecken, die dann mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Faktisch ist die Mittelmeerpolitik der EU bereits wesentlich differenzierter, als es in allgemeinen Deklarationen und Programmen erscheint. Die finanzielle Flankierung der Freihandelspolitik sollte so ausgestaltet werden, daß die Mittel vor allem dort wirksam werden, wo die Anpassungslasten am größten sind. Dies ist nicht leicht zu erreichen. Es bedarf angepaßter Länderstrategien, die neben den Spezifika der jeweiligen Partnerländer (Größe, Einkommensniveau, Wirtschaftsstruktur, bisherige Außenorientierung usw.) u. a. auch die fiskalischen und sozialen Konsequenzen einer Marktöffnungspolitik berücksichtigen. Um in der Öffentlichkeit zu einer realistischen Einschätzung von Chancen und Risiken der Mittelmeerpolitik zu gelangen, wäre die Publikation von Berichten ähnlicher Art, wie sie die Europäische Kommission für Malta, die Türkei und Zypern erstellt hat, auch für die übrigen Mittelmeerländer sehr hilfreich.
Volker Nienhaus, Dr. rer. oec., geb. 1951; Professor für Wirtschaftspolitik an der Ruhr-Universität Bochum, dort u. a. Direktor des Instituts für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik; derzeit Mitglied im Kuratorium der Deutschen Orient-Stiftung und des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Veröffentlichungen zu Themen der europäischen Wirtschaftspolitik, der Außenwirtschafts-und Entwicklungspolitik sowie der Neuen Politischen Ökonomie.
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