I. Einleitung
Vom 15. bis 16. April 1999 fand in Stuttgart die dritte Mittelmeerkonferenz im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft statt. Durch ihre Gastgeberrolle demonstrierte die deutsche Regierung Interesse an einer Region, die geopolitisch eher dem Einflußbereich Südeuropas zugeordnet wird. Damit wollte sie die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) im allgemeinen und die europäische Mittelmeerpolitik im besonderen stärken. Inwieweit ihr dies gelungen ist, wird sich erst, nach Analyse der Ergebnisse dieser Konferenz und am Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Ende Juni 1999 beurteilen lassen In diesem Aufsatz geht es vorerst um die grundlegendere Frage, welche Interessen Deutschland überhaupt im Mittelmeerraum verfolgt und wie eine davon abgeleitete nationale Interessenpolitik sich in den europäischen Rahmen einfügt.
II. Folgen des internationalen Wandels
Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus liegen die außenpolitischen Prioritäten Deutschlands eindeutig in der Stabilisierung der Mittel-und Osteuropäischen Länder (MOEL). Deren Transformationsprozesse, unabdingbare Voraussetzung für den anstehenden EU-Beitritt, werden insbesondere von Deutschland unterstützt. Aber nicht nur für Deutschland, auch für die Südeuropäer -allen voran Frankreich -brachte der Zusammenbruch des Kommunismus neue Herausforderungen. Nach dem Wegfall des bipolaren globalen Ordnungssystems kam es auch im südlichen Mittel-meerraum zu politischen Umwälzungen, deren Auswirkungen auf die nördlichen Anrainerstaaten Handlungsbedarf schafften.
Besorgniserregende Entwicklungen in den Mittelmeer-Drittländern (MDL) hatten sich allerdings schon längerfristig abgezeichnet. Mit dem etwas schillernden Begriff „Südbedrohung“ verliehen die Italiener bereits 1981 einer qualitativ neuen Art der nicht-militärischen Bedrohung Ausdruck, die so unterschiedliche Phänomene erfaßt wie die Gefährdung der Energiezufuhr, die Ausbreitung militant islamistischer Bewegungen, sich verschärfende Regionalkonflikte (Nahost, Zypern), die Zunahme von Drogenhandel, organisierter Kriminalität und internationalem Terrorismus und nicht zuletzt wachsende Migrationsströme
Als mit dem Ende des Kalten Krieges die „Ost-bedrohung“ entfiel und gleichzeitig die Destabilisierungstendenzen im Mittelmeerraum Zunahmen, wurde die „Südbedrohung“ zu einem zentralen sicherheitspolitischen Thema in ganz Europa Angesichts der neuen Herausforderungen im Osten wie im Süden zeichnete sich zunächst eine Art „Arbeitsteilung“ ab, der zufolge die MOEL der Verantwortung Deutschlands und die MDL der Verantwortung Frankreichs zugeordnet wurden. Mit der fortschreitenden Entgrenzung innerhalb Europas -Stichworte Binnenmarkt und Schengen -verlor diese geopolitisch begründete „Arbeitsteilung“ jedoch zunehmend ihren Sinn -eine Erkenntnis, auf die als erstes die Architekten der GASP reagierten.
Indem der Europäische Rat auf seinem Lissaboner Gipfeltreffen im Juni 1992 sowohl Mittel-und Osteuropa als auch den Mittelmeerraum zu geographischen Gebieten für gemeinsame Aktionen nach Art. J 3 des Unions-Vertrages erklärte, verpflichtete er alle EU-Mitgliedstaaten, sich nun auch mit den Regionen auseinanderzusetzen, denen sie aufgrund ihrer geographischen Entfernung bislang eher wenig Interesse beigemessen hatten. Wenn Deutschland und Frankreich -freilich unter Beibehaltung ihrer traditionellen Prioritäten -sich heute jeweils im Osten und im Süden politisch engagieren, dann ist dies nicht nur auf die Ausweitung ihrer nationalen Interessen im entgrenzten Europa zurückzuführen, sondern auch auf die Eigendynamik der GASP. Aufgrund des intergouvernementalen Charakters der GASP ergeben sich aus dieser Entwicklung jedoch nicht nur Chancen, sondern auch Risiken für Europas Handlungsfähigkeit in den jeweiligen Regionen, wie das Beispiel der europäischen Mittelmeerpolitik, insbesondere im Nahen Osten und in der Türkei, belegt.
III. Die Europäisierung der Mittelmeerpolitik
Für eine Europäisierung der Mittelmeerpolitik machten sich zunächst die Südeuropäer stark Dabei wurden sie aktiv von der Europäischen Kommission unterstützt, die den Bedeutungszuwachs der Region für Europa früher antizipierte als die meisten mittel-und nordeuropäischen EU-Mitgliedstaaten Mitte der neunziger Jahre schien der Zeitpunkt für eine entsprechende Initiative reif; zum einen, weil sich durch die positiven Entwicklungen im nahöstlichen Friedensprozeß die Rahmenbedingungen für eine auch Israel integrierende Mittelmeerinitiative verbessert hatten, und zum anderen, weil das Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages nun auch zur praktischen Anwendung der neu geschaffenen GASP drängte. Zum Durchbruch kamen die Bemühungen jedoch erst, als Frankreich und Spanien ihre konkurrierenden Interessen dem gemeinsamen Interesse an einer Europäisierung der Mittelmeerpolitik unterordneten und nachdem auch Deutschland die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Mittelmeerpolitik anerkannte: „The key to overcoming northern objections expressed by Germany, the UK and Holland lay in persuading Chancellor Kohl of the necessity of the new initiative .. . Gonzalez threatened in September 1994 to block the eastern enlargement of the EU. It was only at the Essen council in December that Kohl came to accept the notion that the Southern frontier was crucial to the Union’s stability and that there was a need to rebalance the EU’s external relations. With the Germans on board, resistance from other countries declined in early 1995.“
Im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 1994 beteiligte sich Deutschland bereits an der inhaltlichen Konzeption und als Troika-Mitglied im ersten Halbjahr 1995 auch an den konkreten Vorverhandlungen einer „Euro-Mediterranen Partnerschaft“.
Voraussetzung für diese europäische Initiative war die Erkenntnis, daß Abschottung allein zur Wahrung europäischer Sicherherheitsinteressen nicht ausreicht. Ganz im Gegenteil war man zu der Überzeugung gekommen, daß es eines die MDL integrierenden Konzeptes bedarf, um die Probleme in der Region gemeinsam in Angriff nehmen zu können. In diesem Sinne wurde im November 1995 in Barcelona die Euro-Mediterrane Partnerschaft aus der Taufe gehoben, an der die EU und ihre 15 Mitgliedstaaten sowie 12 ausgewählte MDL teilnehmen Ihr Gründungsdokument ist die Deklaration von Barcelona die -in bewußter Analogie zur KSZE -aus einer Präambel und drei „Körben“ besteht: Politische und Sicherheitspartnerschaft (Korb 1), Wirtschafts-und Finanz-partnerschaft (Korb 2) sowie Partnerschaft im kulturellen, sozialen und menschlichen Bereich (Korb 3).
Während Korb 2 als Reform der traditionellen Wirtschafts-und Handelsbeziehungen zwischen der EU und ihren südlichen Nachbarn bezeichnet werden kann, sind Korb 1 und 3 Innovationen, mit denen die euro-mediterranen Beziehungen eine politische Dimension erhalten haben. Langfristiges Ziel ist die Stabilisierung der Region durch wirtschaftliche und politische Entwicklung. Demokratisierung wird dabei nicht nur aus normativen Erwägungen heraus gefordert, sondern mehr noch aufgrund ihrer Funktion als Entwicklungsressource
Die bisherige Bilanz der auch „Barcelona-Prozeß“ genannten Euro-Mediterranen Partnerschaft ist allerdings bescheiden, und die Ursachen für ausbleibende Erfolge sind vielfältig Problematisch ist u. a. das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen der EU und den MDL, das zu einer Abkehr der MDL von dem neuen Partnerschaftskonzept füh ren könnte, wenn ihre Interessen nicht genügend Berücksichtigung finden. Akut bedroht wird die Euro-Mediterrane Partnerschaft jedoch von den ungelösten Regionalkonflikten, insbesondere von dem sich von einer Friedenslösung sukzessive entfernenden Nahostkonflikt. Lediglich die Tatsache, daß ein Scheitern der Euro-Mediterranen Partnerschaft allen Beteiligten zum Nachteil gereichen würde, garantiert zur Zeit ihr Überleben Für eine dynamische Entwicklung bedarf es also kräftiger politischer Impulse, die u. a. von Deutschland als einem der mächtigsten Staaten innerhalb der EU erwartet werden.
IV. Deutsche Interessen in der näher gerückten Region
Als die Regierung Kohl sich 1994 auf dem Essener Gipfel zur aktiven Teilnahme Deutschlands an der Euro-Mediterranen Partnerschaft entschloß, beugte sie sich nicht nur dem Druck der Spanier, sondern auch den objektiven Notwendigkeiten des politischen Wandels. Mit dem Wegfall der innereuropäischen Grenzen durch die Vollendung des Binnenmarktes und dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens verschob sich auch für Deutschland die Außengrenze bis zum Mittelmeer. Die politische und wirtschaftliche Destabilisierung der Region wirkt sich nicht mehr allein auf Südeuropa aus, sondern betrifft nunmehr die EU als Ganzes. Dies gilt insbesondere für den sicherheitspolitischen Bereich, den Drogenhandel, die organisierte Kriminalität und die Ausweitung terroristischer Netzwerke mediterranen Ursprungs Der Wegfall der innereuropäischen Grenzen hat auch Auswirkungen auf die Migrationsbewegungen innerhalb Europas, von denen Deutschland sich besonders betroffen fühlt Migration wurde von der Regierung Kohl vorwiegend als Problem der inneren Sicherheit wahrgenommen und deshalb analog zu den Themen Drogenhandel, organisierte Kriminalität und internationaler Terrorismus behandelt Die neue Regierung Schröder hat in dieser Frage zwar neue Akzente gesetzt verfolgt aber ebenfalls eine restriktive Migrationspolitik. Diese ist eingebettet in die zunehmend auf Abschottung zielenden Harmonisierungsbemühungen der EU
Abgesehen von den ethischen Problemen, die eine rigorose Abschottungspolitik gerade im Bereich der Asylpolitik mit sich bringt, ist sie erwiesenermaßen auch nicht hinreichend, um die wachsenden Migrationsströme einzudämmen. Dazu bedarf es verstärkter Anstrengungen zur Überwindung der Migrationsursflc/ie« (sogenannte push-Faktoren) in den MDL selbst In diesem Sinne ist die wirtschaftliche und politische Stabilisierung der MDL -bilateral oder im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft -auch als Migrationspolitik zu verstehen: im ureigenen Interesse Europas und damit auch Deutschlands.
Von außenpolitischer Bedeutung ist die Mittelmeerpolitik für Deutschland im Kontext deutscher Bemühen um mehr Gewicht innerhalb der GASP Auf dem Europäischen Gipfel von
Cannes wurde im Juni 1995 beschlossen, bis 1999 eine Summe von 4 685 Millionen ECU in die Mittelmeerpolitik zu investieren Ein nicht unerheblicher Teil dieses Betrages wird von Deutschland beigesteuert, das von dieser „Zahlmeisterfunktion“ zunehmend politisches Mitspracherecht ableitet. Politische Mitsprache impliziert die Übernahme politischer Verantwortung, so daß eine aktive Rolle in der Mittelmeerpolitik auch darauf hinweist, daß sich Deutschland von seiner oft kritisierten „Scheckbuch-Diplomatie“ entfernt.
Neben den genannten politischen verfolgt Deutschland auch ökonomische Interessen in der Region. Eines der wichtigsten Ziele der Euro-Mediterranen Partnerschaft ist die Schaffung einer euro-mediterranen Freihandelszone bis zum Jahr 2010 Davon erhofft sich die EU zum einen den zur Stabilisierung als notwendig erachteten wirtschaftlichen Aufschwung der MDL und zum anderen einen vergrößerten Markt für europäische Exporte, der wiederum Europas Chancen im sich globalisierenden Wettbewerb verbessern soll. Für Deutschlands exportorientierte Wirtschaft ist dieser Aspekt nicht unerheblich, er sollte jedoch auch nicht überbewertet werden, da andere Wachstumsregionen bislang attraktiver erscheinen.
Dem interregionalen Kulturaustausch brachte Deutschland bislang am wenigsten Interesse entgegen. Zumindest die Regierung Kohl stemmte sich bei der Konzeption der Euro-Mediterranen Partnerschaft gegen Korb 3: die Partnerschaft im kulturellen, sozialen und menschlichen Bereich. Die Notwendigkeit, die euro-mediterranen Beziehungen auch auf kultureller Ebene zu verstärken wurde zwar anerkannt, jedoch die bilaterale Ebene hier bevorzugt Abzuwarten bleibt, ob Korb 3 unter der neuen Koalitionsregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen größere Aufmerksamkeit erfahren wird. Ein stärkeres Profil in diesem Politikbereich ist aus zwei Gründen dringlich: Erstens enthält die sogenannte „kulturelle Zusammenarbeit“ auch eine wichtige politische Dimension, da sie auf die Stärkung der Zivilgesellschaft in den MDL und damit auf eine Demokratisierung „von unten“ zielt Zweitens beinhaltet die kulturelle Zusammenarbeit einen umfassenden „Dialog der Kulturen und Religionen“, der einer besseren Verständigung mit den ca. drei Millionen in Deutschland lebenden Muslimen zuträglich sein könnte
Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Deutschlands Engagement im Mittelmeerraum sich auf eine Vielzahl von Interessen zurückführen läßt, von denen die sicherheitspolitischen eindeutig dominieren. Trotz der Definition nationaler Interessen im Mittelmeerraum hat Deutschland allerdings keine nationale Mittelmeerpolitik entwickelt, u. a. mit Rücksicht auf seine europäischen Nachbarn. Deutschland ist seit der Wiedervereinigung einem verstärkten Mißtrauen selbst innerhalb der EU ausgesetzt, daß es in eine nationalistisch-hegemoniale Außenpolitik zurückfallen könnte. Um solchen Empfindlichkeiten Rechnung zu tragen, ist die deutsche Außenpolitik darum bemüht, sich stets in einem multilateralen Rahmen -vorwiegend innerhalb der GASP -zu bewegen. Daß die neue Regierung in diesem Punkt Konti nuität bewahrt, brachte Außenminister Joschka Fischer klar zum Ausdruck: „Die These von der selbstbewußten Nation -das ist das Gegenteil dessen, was im Interesse unseres Landes liegt. Der stärkere Bezug auf das eigene Ego, auf das eigene Prestige, würde unsere Interessen nur schädigen und Mißtrauen produzieren. Das hängt nun mal mit unserer Geschichte zusammen, mit unserer geographischen Lage und unserem wirtschaftlichen Potential. Gerade die Einbindung unserer Interessen in das europäische Interessengeflecht hat Deutschland viel genutzt. Daran wollen wir festhalten.“
Es ist zwar begrüßenswert, daß Deutschland gegen nationalen Größenwahn nunmehr gefeit scheint, es drängt sich aber auch die Frage auf, wie sich Deutschland unter dieser Prämisse als internationaler Akteur profilieren möchte. Wie ernst meint es die neue Regierung mit der Übernahme politischer Verantwortung, wenn es um die historisch überschattete Nahostpolitik oder die konfliktgeladenen Beziehungen zur Türkei geht?
V. Wachsende Herausforderungen: Israel und der Nahostkonflikt
Die Judenvernichtung im Dritten Reich determiniert bis heute die staatlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Folgerichtig ist es eine Konstante der deutschen Außenpolitik, der Sicherheit Israels Priorität einzuräumen. Erst die Anfänge des nahöstlichen Friedensprozesses eröffneten Deutschland Anfang der neunziger Jahre die Möglichkeit, sich auch der palästinensischen Seite zuzuwenden. Seitdem fließt eine beachtliche Summe deutscher Entwicklungsgelder in die besetzten bzw. in die Autonomiegebiete, um dort die wachsenden sozioökonomischen Probleme abzufedern, die den Friedensprozeß gefährden Angesichts der beidseitigen Bemühungen um eine Friedenslösung entwickelte Deutschland Anfang der neunziger Jahre auch zunehmend politische Aquidistanz zu beiden Konfliktparteien.
Seit der Machtübernahme des Likud-Blocks im Jahre 1996 hat sich die deutsche Nahostpolitik jedoch verkompliziert, wurden „alte Blockaden reaktiviert“ Obwohl Premierminister Benjamin Netanjahu den Friedensprozeß mehrfach an den Rand des Scheiterns brachte, vermied die Regierung Kohl jegliche Kritik an Israel mit dem traditionellen Verweis auf die Sensibilität der bilateralen Beziehungen Daß die neue Regierung gleichermaßen politische Abstinenz im Nahen Osten walten lassen würde, machte Bundeskanzler Schröder bereits in seiner Regierungserklärung im November 1998 deutlich, bemerkenswerterweise nicht nur für Deutschland, sondern für die EU als Ganzes: „Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen. Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Amerika und den internationalen Organisationen zu. Aber wir Europäer können durch gezielte Wirtschaftshilfe, durch Öffnung der Märkte und Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden -für Israel und den Frieden.“
Den Vorgaben des Kanzlers folgte Außenminister Fischer bei seiner ersten Nahostreise im Februar 1999, auf der er sich betont zurückhaltend gab und geradezu „Schwäche und Bescheidenheit“ demonstrierte Damit enttäuschte er die Erwartungen an eine entschiedenere Haltung der EU im Nahost-Friedensprozeß, nicht nur bei den arabischen, sondern auch bei den europäischen Nachbarn Solange Deutschland seine Sonderbeziehungen zu Israel so interpretiert, daß jegliche Kritik und politische Einflußnahme prinzipiell ausgeschlossen wird, sind deutsche Bestrebungen nach einem stärkeren Gewicht innerhalb der GASP kontraproduktiv. Zumindest im Bereich der Nahostpolitik sollte unter diesen Bedingungen besser die traditionelle „Arbeitsteilung“ mit Frankreich aufrechterhalten werden; dies um so mehr, als der stagnierende Friedensprozeß auch den Fortbestand der Euro-Mediterranen Partnerschaft akut gefährdet: „If the European Union wants the Barcelona Process to proceed, it will have to become more active in the peace process and seriously find its , complementary role to the United States. Declarations and financial Support alone are no longer sufficient.“
VI. Sonderbeziehungen zur Türkei
Deutschland unterhält besondere Beziehungen zur Türkei aufgrund der über drei Millionen Türken, davon ca. 500 000 Kurden, die in Deutschland leben. Mehrere, zum Teil interdependente Themen bestimmen das bilaterale Beziehungsgeflecht: der türkisch-kurdische Konflikt mit seiner innenpolitischen Dimension, der potentielle EU-Beitritt der Türkei, die strategische Rolle der Türkei als NATO-Partner und der Zypernkonflikt. Die dramatischen Ereignisse um die Festnahme von PKK-Chef Öcalan verdeutlichten auf drastische Weise die innenpolitische Dimension des türkisch-kurdischen Konflikts für Deutschland. Die Bundesregierung begründete ihre zweifelhafte Weigerung, trotz eines vorliegenden Haftbefehls die Auslieferung des in Italien festgenommenen Terroristenchefs zu beantragen, mit der Angst vor gewaltsamen Ausschreitungen in Deutschland lebender PKK-Anhänger In der Tat ist die PKK in Deutschland schlagkräftig, wie sie es bereits 1993 mit einer Serie von Anschlägen auf türkische Geschäfte, Reisebüros und Moscheen unter Beweis stellte 1993 wurde sie deshalb, aber auch auf Drängen der Türkei, in Deutschland verboten.
Das Verbot der PKK und das verweigerte Auslieferungsbegehren waren jedoch Maßnahmen auf der Ebene einer reinen Symptombehandlung, da sie die Ursache des Problems -die Unterdrückung der kurdischen Minderheit in der Türkei -ausklammerten. Spätestens nachdem der Türkei die Festnahme Öcalans gelungen war, offenbarten die nun doch stattfindenden Krawalle in Deutschland lebender PKK-Anhänger das Versäumnis einer kohärenten deutschen Politik gegenüber dem kurdisch-türkischen Konflikt. Prioritäre Interessen standen dem bislang im Wege.
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat die Türkei als westlicher Brückenkopf in einer destabilisierten Region erheblich an strategischer Bedeutung hinzugewonnen. Vor allem die USA drängen darauf, daß die EU die Türkei als NATO-Partner und Verbündeten des Golfkrieges endlich in ihre Reihen aufnehmen solle, um deren Einbindung ins westliche Bündnissystem zu festigen. Dagegen sperrt sich die EU jedoch seit nunmehr über dreißig Jahren. Ihre Argumente können auf die knappe Formel gebracht werden: Die Türkei ist zu arm, zu undemokratisch und im bilateralen Streit mit dem EU-Mitgliedstaat Griechenland und dem EU-Beitrittskandidaten Zypern. Frustrierend ist für die Türkei, daß die EU durch eine wenig kohärente Hinhaltetaktik den Eindruck vermittelt, daß kein wirkliches Interesse an einer türkischen EU-Mitgliedschaft mehr besteht Auf türkischer Seite wird vermutet, daß die Gründe für den verweigerten EU-Beitritt nur vorgeschoben sind, und dafür wird in erster Linie Deutschland verantwortlich gemacht.
In der Tat werden in Deutschland Befürchtungen gehegt, daß die zumindest langfristig zu gewährende Personenfreizügigkeit zu einem Ansturm türkischer Arbeitsuchender auf Deutschland füh-ren könnte. Deshalb und weil die Strukturhilfen für das wirtschaftlich rückständige Land vor allem zu Lasten Deutschlands gehen würden, befürwortet Deutschland eine Annäherung der Türkei an die EU unterhalb des Beitritts Die nachhaltige Verweigerung einer reellen Beitrittsperspektive hat jedoch nicht nur der Glaubwürdigkeit Deutschlands und der EU geschadet, sie hat auch die Kräfte innerhalb der Türkei beschädigt, die für den Anschluß der Türkei an Europa eintreten. Eine Abkehr des strategisch wichtigen Bündnis-partners von Europa und dem Westen ist damit zumindest in den Bereich des Möglichen gerückt.
Um dem entgegenzuwirken, bemüht sich Deutschland um Kompensation und Entspannung in anderen Bereichen der bilateralen Beziehungen. So hält sich die deutsche Regierung ausgerechnet mit ihrer Kritik an den demokratischen Defiziten und den Menschenrechtsverletzungen gegenüber der verfolgten kurdischen Minderheit zurück Auch halten sich hartnäckig Vorwürfe, daß die Türkei ihren Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes mit Panzern aus deutschen Waffenlieferungen führt. Die Möglichkeit, das Kurdenproblem auf internationaler Ebene zu thematisieren, wurde in Deutschland erst in Erwägung gezogen, als man sich der Herausforderung entziehen wollte, PKK-Chef Öcalan den Prozeß machen zu müssen
Um eine Abkehr der Türkei von Europa zu verhindern und gleichzeitig Einfluß auf die innere Entwicklung nehmen zu können, reicht weder reaktives Krisenmanagement aus noch das Schweigen zu den Mißständen der türkischen Innenpolitik. Notwendig ist vielmehr eine umfassende Strategie, die sicherheitspolitischen und außenpolitischen wie innenpolitischen Aspekten Rechnung trägt. In diesem Sinne sollte die Türkei in den engeren Kreis der EU-Beitrittskandidaten aufgenommen wer den Damit würde zum einen das Interesse der Türkei an Europa wieder gestärkt, zum anderen wäre die Türkei aber auch gezwungen, die „Kopenhagener Kriterien“ als verbindlich anzuerkennen. Kritik an demokratischen Defiziten und Menschenrechtsverletzungen könnte sie dann nicht mehr als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurückweisen. Innenpolitische Reformen wären, genau wie bei allen anderen Beitritts-kandidaten auch, ein hartes Kriterium für den gewünschten EU-Beitritt
Notwendig wäre darüber hinaus die Entwicklung einer internationalen Kurdenpolitik, die den Analogien des Kurdenproblems mit dem Bosnien-und dem Kosovokonflikt Rechnung trägt. Da der türkisch-griechische Konflikt einem gemeinsamen Vorgehen der EU im Wege steht, müßte sich eine kohärente deutsche Türkei-und Kurdenpolitik um die Bildung einer multilateralen „Koalition der Willigen“ unter Einbeziehung der USA bemühen -ein Umstand, der einmal mehr auf die Defizite der intergouvernementalen GASP verweist.
Zum nächsten Prüfstein der euro-türkischen Beziehungen dürfte die komplizierte Frage des EU-Beitritts von Zypern werden. In einer gemeinsamen Erklärung mit Frankreich, den Niederlanden und Italien hat Deutschland kürzlich auf die Probleme verwiesen, die ein Beitritt der geteilten Insel im Bereich der GASP verursachen würde. Nicht zum ersten Mal wird empfohlen, den Beitritt Zyperns erst nach einer politischen Lösung der Teilung zu vollziehen Diese Erklärung kann als Signal interpretiert werden, daß die vier EU-Mitgliedstaaten mit Rücksicht auf die Türkei den Beitritt Zyperns verzögern wollen.
Obwohl Zypern und die Türkei Mitglieder der Euro-Mediterranen Partnerschaft sind, steht nicht zu erwarten, daß der Zypernkonflikt in diesem Rahmen gelöst wird. Dies wäre eine unrealistische Überschätzung der Euro-Mediterranen Partnerschaft, die nicht als Instrument zur Lösung konkreter Konflikte entwickelt wurde, sondern lediglich einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, innerhalb dessen zerstrittene Parteien durch pragmatische Zusammenarbeit Vertrauen aufbauen und ihre Beziehungen verbessern können. In bezug auf den Zypernkonflikt kommt erschwerend hinzu, daß die Türkei vorzugsweise auf bilateralem Wege mit der EU verhandelt, da sie sich im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft zu sehr in die Nähe der MDL ohne Beitrittsperspektive gedrängt fühlt Der ungelöste Zypernkonflikt birgt allerdings genügend Konflikpotential. um die Euro-Mediterrane Partnerschaft zu gefährden.
VII. Anforderungen an eine deutsche Mittelmeerpolitik
Die Euro-Mediterrane Partnerschaft bietet ein einzigartiges Forum, das Israel, die PLO, den Libanon und Syrien bzw. Griechenland, die Türkei und Zypern an einem Tisch vereint. Von der pragmatischen Kooperation in diesem Forum geht eine stabilisierende Wirkung aus, die auch im sicherheitspolitischen Interesse Europas bzw. Deutschlands hegt. Die Euro-Mediterrane Partnerschaft ist allerdings sehr fragil. Sie wird nicht nur durch ungelöste Regionalkonflikte bedroht, sondern auch durch strukturelle Widersprüche in ihrer Konzeption und durch Mängel bei ihrer praktischen Umsetzung. Damit sie nicht an ihren inneren Widersprüchen zerreißt, bedarf es verstärkter europäischer Anstrengungen. Ausgesprochen negativ ist die Tendenz in einigen EU-Mitgliedstaaten, die langfristigen politischen Ziele der Euro-Mediterranen Partnerschaft kurzfristigen Handelsinteressen unterzuordnen. Nicht nur Italien und Spanien, auch Deutschland ist nur bedingt bereit, den europäischen Markt für Importe aus dem Mittelmeerraum zu öffnen Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, fehlende Exportmöglichkeiten durch direkte Finanzhilfen zu kompensieren. Ohne einen fairen Interessenausgleich wird die Euro-Mediterrane Partnerschaft für die MDL jedoch uninteressant.
Wenn sie scheitert, verliert die EU wichtige Einflußmöglichkeiten auf eine Region, deren Destabilisierung sie als Bedrohung ihrer eigenen Sicherheitsinteressen wahrnimmt. Folglich sollte sie größere Rücksicht auf die ökonomischen Interessen der MDL nehmen, gleichzeitig aber konsequenter auf politische Reformen drängen. In der Demokratisierung der MDL liegt ein maßgebliches Interesse der EU, da ohne Demokratisierung keine wirtschaftliche und soziale Entwicklung und damit langfristig auch keine Stabilisierung der Region zu erwarten ist. Aufgabe der deutschen Präsidentschaft -und darüber hinaus -muß es deshalb sein, nationale Partikularinteressen der EU-Mitgliedstaaten zu zügeln und gleichzeitig stärker auf eine Demokratisierung der MDL zu drängen. Damit ist nicht nur politischer Druck auf die mehr oder minder autoritären Regime in den MDL gemeint, sondern vor allem eine stärkere Einbeziehung der demokratischen Zivilgesellschaften in die interregionalen Beziehungen.
Akuter Handlungsbedarf besteht in der Nahostpolitik sowie in der Türkei-und Kurdenpolitik. Während die deutsche Regierung in der Nahostpolitik notwendige Impulse bislang vermissen ließ, könnte die Eskalation des Kurdenkonflikts die Entwicklung einer kohärenten Türkei-und Kurdenpolitik beschleunigen. Von der Stuttgarter Mittelmeerkonferenz diesbezügliche Fortschritte zu erwarten wäre jedoch unrealistisch gewesen, da ihre äußeren Rahmenbedingungen denkbar ungünstig waren. Die bevorstehenden Wahlen in Israel und in der Türkei haben den Handlungsspielraum der EU extrem eingeengt, und auch nach den jeweiligen Wahlen wird er durch den intergouvernementalen Charakter der GASP begrenzt bleiben. Vor diesem Hintergrund dürfen die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nicht zu hoch geschraubt werden, ist die Aufrechterhaltung des Barcelona-Prozesses bereits als Erfolg zu werten. Lösungsansätze für die virulenten Regionalkonflikte sollten deshalb auch nicht allein im derzeit fragilen Barcelona-Prozeß gesucht werden, vielmehr sind zusätzliche Initiativen anzuraten, gegebenenfalls multilateral und unter angemessener Einbeziehung der USA.