I. Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit
Wenn am 23. Mai 1999 der 50. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert wird, so gilt es nicht nur dieser enorm erfolgreichen Verfassung zu gedenken, ihr vor allem dafür zu danken, daß sie die erste stabile rechtsstaatliche Demokratie in Deutschland ermöglicht hat, sondern es gilt auch, sich der vom Grundgesetz geschaffenen Verfassungsinstitutionen zu besinnen, die diesen Erfolg des Grundgesetzes vielfältig erst ermöglicht haben. Zu diesen Institutionen gehört wesentlich auch das Bundesverfassungsgericht, das vom Grundgesetz vor allem über die Bestimmungen der Art. 93, 94, 99, 100 in Verbindung mit dem BVerfGG geschaffen wurde und das inzwischen zum zentralen Hüter unserer Verfassung geworden ist. Ein Vorbild für dieses Bundesverfassungsgericht gab es in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht. Der Reichsstaatsgerichtshof der Weimarer Republik beschränkte sich auf wenig substantielle Zuständigkeiten, seine Kompetenzen lagen ausschließlich im Bereich des Staatsorganisationsrechts. Das Bundesverfassungsgericht wurde dagegen ein echtes und umfassendes Verfassungsgericht, das vor allem auch über die Kompetenz der Verfassungsbeschwerde (Art. 931 Abs. 1 Nr. 4 a, 4 b GG), also über die Zuständigkeit zur Entscheidung über Grundrechtsbeschwerden verfügt und damit zur herausragenden Institution im Bereich des bürgerlichen Rechtsschutzes und der realen Wahrung wie Durchsetzung der Grundfreiheiten des Grundgesetzes wurde.
Wenn der grundgesetzliche Rechtsstaat, namentlich die Grundrechte, heute über ein so herausragendes Maß an normativer Selbständlichkeit wie Stabilität verfügen, so ist dies maßgebend das Werk der außerordentlich stringenten Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Über Jahrzehnte hat sich das Bundesverfassungsgericht aber nicht nur im Bereich seiner Grundrechtsjudikatur einen außerordentlich hohen Ruf und ein enormes Prestige erworben; es hat sich zu einem Verfassungsorgan entwickelt, dem, ungeachtet manchen Streits um das eine oder andere Urteil, ein außerordentlich hohes Maß an Vertrauen und Akzeptanz zugewachsen ist -ein Maß, das das Bundesverfassungsgericht mit Recht zu einer der glücklichsten und erfolgreichsten Schöpfungen der grundgesetzlichen Verfassungsordnung insgesamt erhoben hat.
Das Bundesverfassungsgericht ist dennoch gerade in den letzten Jahren verstärkt in die ebenso politisch-öffentliche wie fachwissenschaftliche Kritik geraten. Vor allem seine Entscheidungen zum Kruzifix-Verbot zum Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ zur Straffreiheit von Sitzblockaden zur eingeschränkten Strafbarkeit von Haschisch-Besitz und zur Straffreiheit von ehemaligen DDR Spionen wie Markus Wolf haben zu entsprechender Erregung wie Kritik geführt. Plötzlich wird davon gesprochen, daß ein „Gericht aus dem Ruder läuft“ daß eine „Götterdämmerung“ drohe („Wer schützt die Verfassung vor ihren Wächtern?“) daß das Bundesverfassungsgericht „als Motor des Zeitgeistes ungeeignet“ sei daß ihm „Selbstherrlichkeit“ vorzuwerfen sei daß „ein Ruf verspielt wird“ daß seine „Autorität beschädigt sei daß das „Bundesverfassungsgericht als Wohlfahrtsausschuß“ fungiere daß das Bundesverfassungsgericht zunehmend mehr als „Gegengewalt“ namentlich zu Parlament und Regierung funktioniere ja daß das Bundesverfassungsgericht uns zunehmend mehr „auf den Weg in den , verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat “ führe Ebenso mahnende wie zur Besinnung aufrufende Stimmen erklingen vor allem aus dem Gericht selbst. So spricht die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts J. Limbach davon, daß das Bundesverfassungsgericht einen „politischen Machtfaktor“ darstelle, dem zufolge sich das Gericht auch der öffentlichen Kritik selbst stellen müsse Der frühere Verfassungsrichter E. W. Böckenförde schreibt seinen Kollegen in das Stammbuch: „Dem Bundesverfassungsgericht steht weder ein Initiativrecht zu noch eine Befugnis begleitender Verfassungskontrolle gesetzgeberischen Handelns“; das Bundesverfassungsgericht dürfe sich dem Gesetzgeber gegenüber nicht als „autoritativer Praeceptor“ aufspielen, auch nicht als „fürsorglicher Praeceptor“ In der gleichen Richtung spricht der Bundesverfassungsrichter P. Kirchhof davon, daß „eine erneuernde Erst-interpretation der Verfassung dem Gesetzgeber zusteht; die Rechtsprechung ist der lediglich kontrollierende Zweitinterpret“ Der frühere Verfassungsrichter K. Hesse warnt das Gericht schließlich vor jeder Form von „Supergesetzgebung“ und „Superrevisionsinstanz“
Schon diese Zitate belegen, daß das Bundesverfassungsgericht buchstäblich ins Gerede bzw. in manches Zwielicht geraten ist, das nicht nur dem Gericht selbst schadet, sondern das der grundgesetzlichen Verfassungsordnung und ihrer normativen Stringenz insgesamt schädlich, ja gefährlich zu werden droht Und dennoch wäre es völlig falsch, über solcher Kritik und solchem Meinungsstreit über die Rolle wie Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit den besonderen Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Bewahrung wie auch justitiellen Konkretisierung und Weiterentwicklung unserer Verfassungsordnung insgesamt zu vergessen. Unsere Verfassungsordnung ist ohne das Bundesverfassungsgericht nicht mehr denkbar. Andererseits muß unverändert jede Form einer Verfassungsgerichtsbarkeit die permanente Grat-wanderung in" der Abgrenzung zum Genuin-Politischen bestehen, muß sie die Gratwanderung zwischen rechtsgebundener Judikatur bzw. verfassungsanwendender und -konkretisierender Recht sprechung einerseits und politischem Willensentscheid bzw. gesetzgeberischer Gestaltung andererseits wahren. Dies haben im übrigen schon die Väter des BVerfGG ebenso deutlich gespürt wie gewußt. Nicht zu Unrecht hat etwa A. Arndt schon 1950 ausgeführt, daß „die Richter des Bundesverfassungsgerichts keine Politik machen sollen und sie auch nicht machen dürfen; aber sie müssen sich darüber klar sein, welche politischen Erwägungen sowohl dem Grundgesetz als auch den zur Entscheidung kommenden Maßnahmen des gesetzgebenden oder verwaltenden Organs zugrunde liegen und welche politischen Auswirkungen ihre Entscheidungen haben“ G. Leibholz hat schon damals davon gesprochen, daß „der Verfassungsrichter als Hüter der Verfassung“ auch „darüber zu wachen hat, daß der Gerichtshof keinerlei politische Machtbefugnisse usurpiert“ Wenn diese Gratwanderung nicht immer wieder bewußt gehalten und in solchem Bewußtsein bestanden wird, dann gilt das Wort von K. Hesse, dem zufolge die Gefahr einer Juridifizierung der Politik und einer Politisierung der rechtsprechenden Gewalt dazu führen kann, daß „die Justiz alles zu verlieren und die Politik nichts zu gewinnen hat“
II. Bundesverfassungsgericht und Verfassungsnormativität
Es gibt kein Feld unseres staatlich-politischen wie gesellschaftlich-sozialen und bürgerlich-freiheitlichen Daseins, das vom Bundesverfassungsgericht und seiner Rechtsprechung nicht maßgebend beeinflußt und mitgestaltet worden ist. Eines der Erfolgsgeheimnisse des Grundgesetzes liegt -neben seinem stringenten Bekenntnis zur stabilen Demokratie und zum wehrhaften Rechtsstaat -namentlich darin, daß das Grundgesetz sich als gesellschaftspolitisch weitgehend offene Verfassung verstanden hat, daß es auf allzu konkrete, allzu momentane und damit auch allzu flüchtige Festlegungen in konkreten Fragen namentlich der Gesellschaftspolitik verzichtet hat, daß es damit der politisch-sozialen Entwicklung wesentlichen Raum eingeräumt hat, daß es sich mit anderen Worten auch dem realen Verfassungswandel durchaus geöffnet hat. Gerade dies hat dazu geführt, daß das Grundgesetz bis auf den heutigen Tag -auch über die Stunden der Verfassungsreform nach der Wiedervereinigung hinaus -stets eine „moderne“ Verfassung geblieben ist, also mit dem Wandel der Zeitläufe und der gesellschaftlichen Verhältnisse stets Schritt gehalten hat, daß es Wandel und Fortschritt nicht einseitig abgeschnitten, sich solchem Wandel und Fortschritt vielmehr stets in Offenheit und permanent erneuerter Aktualisierungsbedürftigkeit gestellt hat. Ganz folgerichtig mußte dies bedeuten, daß der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Konkretisierung und Aktualisierung unseres Verfassungsrechts eine ganz besondere Rolle zufallen mußte. Die nahezu 100 Bände der Amtlichen Sammlung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sprechen hierzu eine beredte Sprache. Der Bogen, den die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in allen diesen Fragen gespannt hat, ist außerordentlich weit. Es gibt nahezu keine verfassungsrechtlich oder auch verfassungspolitisch wesentliche Frage, in der es nicht vor allem das Bundesverfassungsgericht gewesen ist, das die maßgebenden Konturen der Verfassung verdeutlicht und ebenso konkretisiert wie aktualisiert hat.
In den Fragen der deutschen Einheit sei nur an das Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR erinnert das die Verbindlichkeit des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsauftrages bewahrt und damit das Tor für die Rückgewinnung der deutschen Einheit im Jahre 1990 offengehalten hat. Zur Frage der europäischen Einigung, der gerade hinsichtlich der Europäischen Union offenen Verfassungsstaatlichkeit unseres Grundgesetzes, ragt das Urteil zum Vertrag von Maastricht heraus, mit dem das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Verfassungsmäßigkeit dieses Vertrages bestätigt hat, sondern zugleich das Verhältnis von supranationaler und nationaler Staatlichkeit in ebenso klarer wie überzeugender Weise voneinander abgegrenzt hat: Europäische Union ja, Europäische Union aber nicht bzw. noch nicht als Bundesstaat, sondern als „Staatenverbund“, der seine demokratiestaatliche Legitimation unverändert aus der Identität und Existenz der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bezieht und der demgemäß -etwa über das Prinzip der begrenzten und abgeleiteten Einzelermächtigung -noch über keine originäre Staatsqualität verfügt, vielmehr in seinen Grundlagen nach wie vor der verfassungsrechtlichen Rückkoppelung an die nationalen Einzel-und Verfassungsstaatlichkeiten bedarf
In den Fragen der Außenpolitik und ihrer Basis im Prinzip der offenen und bündnisorientierten Verfassungsstaatlichkeit (Art. 23, 24 GG) ragt vor allem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den „out of area“ -Einsätzen der Bundeswehr heraus So politisch unbestritten solche Bundeswehreinsätze heute in der Bundesrepublik sind, so notwendig die bündnispolitische Solidarität Deutschlands gerade in solchen Fragen internationaler Friedenssicherung ist, so überflüssig war damals jener Verfassungsstreit, den das Bundesverfassungsgericht mit seiner ebenso klugen wie abgewogenen Entscheidung beigelegt hat -eine Entscheidung, die im übrigen auch deshalb -weniger verfassungsrechtlich als verfassungspolitisch vielleicht -überzeugt hat, weil sie die für solche Bundeswehreinsätze eigentlich maßgebende Entscheidungskompetenz der Exekutive an die zusätzliche Billigung solcher Bundeswehreinsätze durch das parlamentarische Votum des Bundestages gebunden hat Das Grundgesetz selbst kennt genau-genommen eine solche Zuständigkeit des Bundestages nicht; und dennoch war es politisch klug, gerade für ein so sensibles Politikfeld auch das Votum der demokratischen Repräsentanz des Volkssouveräns, also des Bundestages, mit voraus-zusetzen.
Der grundgesetzliche Bundesstaat, der aus dem Nebeneinander wie dem auch kompetentiellen Wettbewerb von Zentralstaatlichkeit (Bund) und Gliedstaaten (Bundesländern) lebt, hat durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vielfältige Klärungen und konstitutionelle Festigungen erfahren. Von der bundesstaatlichen Wahrung der Gesamtverfassung und bundeseinheitlichen Gesamtstaatlichkeit über die ebenso notwendige Bewahrung der Staatsqualität der Bundesländer von der Neugliederung der Länder bis zum Länderfinanzausgleich von der wechselseitigen Pflicht zur -verfassungsrechtlich ungeschriebenen -Bundestreue bis zur detaillierten Abgrenzung wechselseitiger Kompetenz-zuweisungen -in allen diesen Feldern ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für unseren ebenso lebendigen wie stabilen Bundesstaat richtunggebend geworden.
Die Grundsätze der parlamentarischen und parteienstaatlichen Demokratie hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vielfältiger Weise nicht nur verfassungsnormativ bekräftigt, sondern auch konkret ausgestaltet -von den Grundsätzen des Wahlrechts über die Prinzipien der parteienstaatlichen Demokratie bis zu den Verfahren der gesamtdeutschen Wahl und zur Verfassungswidrigkeit des Ausländerwahlrechts Mit besonders hoher Stringenz hat das Bundesverfassungsgericht das Prinzip der wehrhaften Demokratie und ihrer Absicherung vor allen Formen von Verfassungsfeindlichkeit und politischem Extremismus verteidigt; als herausragende Beispiele seien nur die beiden Parteienverbotsverfahren in den Fällen KPD und SRP genannt
Den auch äußerlich wohl breitesten Raum in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nimmt seine Grundrechtsjudikatur ein. Vor allem über seine Rechtsprechung zum sogenannten Hauptfreiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1, also der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“, hat das Bundesverfassungsgericht den Kanon der Freiheitsrechte buchstäblich geschlossen, indem es die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ als „allgemeine Handlungsfreiheit“ definiert und damit den Art. 2 Abs. 1 GG in buchstäblich jedem Freiheitsfeld zum zumindest subsidär maßgebenden Verfassungstatbestand erhoben hat Andere wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten liegen etwa im Feld des Art. 2 Abs. 2 GG (Schwangerschaftsabbruch) im Bereich der Berufsfreiheit des Art. 12 GG im Feld der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG sowie im Medienrecht. Gerade im letzteren Bereich hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur die für eine jede Demokratie schlechthin konstituierende Bedeutung von Meinungs-, Presse-und Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) betont sondern zugleich etwa die maßgebenden Konturen für das Verhältnis von öffentlichen Rundfunkanstalten und privaten Rundfunkveranstaltern vorgegeben Daß gerade eine Judikatur der zuletzt genannten Art nicht ohne Kritik bleiben kann, liegt dabei auf der Hand. Aber das Bundesverfassungsgericht kann jedenfalls auch in diesem Bereich für sich in Anspruch nehmen, daß es wenigstens zur Befriedung wie zu einer den veränderten technologischen Entwicklungen gemäßen Abgrenzung beigetragen hat.
Im Verhältnis gerade zu modernen technologischen Entwicklungen ragt das -wiederum auch vielfältig diskussionsbedürftige -Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung und zum -im Zusammenhang hiermit -aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelten „Recht auf informationeile Selbstbestimmung“ heraus Moderne Medienfreiheiten können vielfältig mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kollidieren; das Bundesverfassungsgericht hat es buchstäblich zu spüren bekommen und immer wieder die Aufgabe erhalten, hier die wechselseitig nötigen Grenzen zu ziehen, wobei das Bundesverfassungsgericht vielleicht zu einseitig einen gewissen Primat der Medienfreiheiten wie der öffentlichen Meinungsfreiheit anerkannt hat das nach hiesiger Auffassung mit Recht kritisierte Urteil zum Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ ist beredtes Beispiel hierfür
Das Bundesverfassungsgericht hat sich indessen bei alledem nicht etwa nur darauf beschränkt, die einzelnen Grundrechtstatbestände und ihre subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen zu verdeutlichen, sondern es hat darüber hinaus die Grundrechte auch in ihrer ganz prinzipiellen Qualität als objektive Wertordnung für das Gemeinwesen insgesamt herausgestellt und verfassungsrechtlich aktiviert Damit sind die Grundrechte zur insgesamt fundamentalen Grundlage unserer gesamten Staats-, Gesellschafts-und Rechtsordnung geworden, was maßgebend zur Identität wie Stabilität unserer gegebenen rechtsstaatlichen Ordnung beigetragen hat. Von besonderer Dynamik im modernen Gemeinwesen sind bekanntlich die Wirtschafts-und Sozialpolitik. Es gehört vermutlich zu den klügsten Entscheidungen des Grundgesetzes, den modernen Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1/28 Abs. 1 GG) nicht im einzelnen definiert zu haben. Denn nichts unterliegt mehr dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse als Sozialität, soziale Sicherheit und wirtschaftlich-soziale Gestaltung. Ganz folgerichtig fiel wiederum dem Bundesverfassungsgericht die ebenso authentische wie maßgebende Konkretisierungskompetenz in zahlreichen Fällen zu. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei stets festgehalten, daß sich das Grundgesetz nicht auf eine bestimmte Wirtschaftsverfassung festlegen läßt Selbst wenn die „Soziale Marktwirtschaft“ zum herausragenden Gestaltungssystem wie zur zentralen Erfolgsgrundlage der wirtschaftlich-sozialen Nachkriegsentwicklung geworden ist, verweigerte das Bundesverfassungsgericht -mit Recht -auch dem ordnungspolitischen Grundkonzept einer „Sozialen Marktwirtschaft“ das verfassungsrechtliche Placet im Sinne einer verfassungsrechtlich unabänderlichen Ordnungsprogrammatik. Wirtschafts-und Sozialpolitik stehen im grundsätzlichen Gestaltungsermessen des Gesetzgebers; die „Wirtschaftsverfassung“ des Grundgesetzes ist offen bzw. „neutral“; wirtschaftspolitische Gestaltungen des Gesetzgebers finden ihre Grenzen erst an konkret-wirtschaftsordnenden Verfassungsentscheidungen wie namentlich denen der Grundrechte So war es dem Bundesverfassungsgericht beispielsweise möglich, das Konzept der arbeitnehmerischen Unternehmensmitbestimmung verfassungsrechtlich abzusegnen -bis zur Grenze einer mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG unvereinbaren Funktionsunfähigkeit von Unternehmen bzw. kapitaleignerischer Leitung und Gestaltung
Alles in allem: eine ebenso überzeugende wie stolze Bilanz der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn unser Grundgesetz nicht nur über ein außerordentlich hohes Maß an normativer Stringenz verfügt, sondern zugleich auch über das ebenso notwendige Maß an gestaltungspolitischer Offenheit verfügen darf, so ist dies maßgebend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihren zumeist ebenso behutsam lenkenden wie auch strikt begrenzenden Impulsen zu verdanken.
III. Bundesverfassungsgericht und Verfassungspolitik
Dennoch hatte und hat das Bundesverfassungsgericht stets die Grenzen gegenüber eigenständiger Verfassungs-und Gesetzgebungspolitik einzuhalten. Die vorgenannte Gratwanderung gilt es immer wieder aufs neue zu bewahren. Dies ist dem Bundesverfassungsgericht sicherlich in der Mehrzahl seiner Entscheidungen auch stets bewußt gewesen; und dennoch sind viele der eingangs zitierten Kritiken durchaus berechtigt, hat das Bundesverfassungsgericht die Grenze zur (eigenständigen) Verfassungspolitik bzw. gar zur Ersatzgesetzgeberschaft mitunter überschritten. Das Bundesverfassungsgericht ist tatsächlich zum vielfältigen Ersatz-gesetzgeber geworden, und es hat auch in vielen Entscheidungen seine Zuständigkeiten im Verhältnis zu den Fachgerichtsbarkeiten übermäßig strapaziert; das Bundesverfassungsgericht ist mit anderen Worten gerade im Verhältnis zu den Fachgerichtsbarkeiten vielfältig zur „Superrevisionsinstanz“ geworden, wie dies keineswegs Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit ist und wie dies in aller Regel nur zu einer ebenso miteinander korrespondierenden wie konfligierenden Überlastung des Bundesverfassungsgerichts einerseits und Entmündigung der Fachgerichtsbarkeiten andererseits führen kann. Nur allzu oft ist man -beispielsweise bei der Kontrolle des Verfassungsgrundsatzes des rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) oder auch bei der Entscheidung über einzelne Grundrechtsfragen, namentlich im Bereich des Asylrechts gemäß Art. 16 a. F. bzw. Art. 16 a GG -auch in Tatsachen-prüfungen eingetreten, die alles andere als Aufgabe eines Verfassungsgerichts sind.
Von wohl eindeutig ersatzgesetzgeberischer Qualität sind beispielsweise die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Sitzblockade und vor allem zur Vermögenssteuer sowie kürzlich zur Familienbesteuerung Hier hat das Gericht auf der durchaus berechtigten Grundlage etwa des besonderen Schutzversprechens des Grundgesetzes für Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) Entscheidungen für das Steuerrecht getroffen, die bereits das gesetzgeberische Detail voll in die eigene Regelungshoheit einbezogen haben, die mit anderen Worten den politisch-demokratischen Regelungsprimat des Gesetzgebers in einer Weise dominiert haben, wie dies mit dem auch für das Bundesverfassungsgericht und seine Rolle innerhalb der Judika-tive maßgebenden Grundsatz der Gewaltenteilung nur schwerlich zu vereinbaren ist. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar mit seiner Rechtsprechung zur verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen diesen Regelungsprimat des Gesetzgebers grundsätzlich zu wahren gesucht, indem man verfassungsrechtlich problematische Gesetze jedenfalls solange und soweit aufrechtzuerhalten versucht hat, wie der betreffenden Gesetzesregelung wenigstens eine Auslegung imputiert werden kann, die bei entsprechender Maßgeblicherklärung dem Gesetz insgesamt einen (noch) verfassungskonformen Regelungsinhalt beizulegen oder zu erhalten vermag. Das Bundesverfassungsgericht hat diese auch sich selbst auferlegte Entscheidungsdisziplin aber leider in vielen Fällen vernachlässigt oder mißachtet und dem Gesetzgeber allzu detaillierte, also „ersatzgesetzgeberische“ Vorgaben auferlegt. Die Konsequenz dessen ist zwangsläufig einerseits eine gewisse „Entpolitisierung“ der Gesetzgebung kraft justitieller Bevormundung und auf der anderen Seite -damit korrespondierend -eine zunehmende Politisierung der eigenen Verfassungsrechtsprechung. Beides ist mit den Grundsätzen von demokratischer Politikverantwortung, ihrer rechtsstaatlichen Kontrolle und der auch für das Verhältnis von Legislative und Judikative maßgebenden Gewaltenteilung kaum zu vereinbaren
In der Konsequenz hat dies vielfältig dazu geführt, daß man auf seiten des Gesetzgebers dem Druck politisch schwieriger oder unbequemer Entscheidungen ausgewichen ist und stattdessen auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vertraut hat. Ein Beispiel hierfür ist der Streit um die „out of area“ -Einsätze der Bundeswehr -ein Streit, an dem als Kläger auch die FDP beteiligt war, obwohl sie im Bundeskabinett solchen Bundeswehreinsätzen zugestimmt hatte; da man parteipolitisch in dieser Frage aber keine Einigung erreichen konnte, schloß man sich kurzerhand den entsprechenden Klagen von SPD und Grünen/Bündnis 90 an -ein Verhalten, das eigentlich auf seiten des Bundesverfassungsgerichts die Feststellung mangelnden Rechtsschutzbedürfnisses hätte herausfordem müssen. Ein anderes Beispiel für entsprechendes Übergreifen der Verfassungsgerichtsbarkeit in die Gesetzgebung, ja in die Exekutive liegt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch auch hier war es der Legislative nicht gelungen, zu einem einigermaßen überzeugenden und verfassungskonformen Regelungskonzept zu gelangen. „Folgerichtig“ landete diese Streitfrage nicht nur einmal beim Bundesverfassungsgericht; das Bundesverfassungsgericht selbst mußte entscheiden und tat dies im Ergebnis mit außerordentlich detaillierten Vorgaben für Legislative wie Exekutive, wie dies dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit eigentlich nicht eigentümlich bzw. gestattet sein kann. Daß die entsprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gleichwohl von außerordentlich befriedender Bedeutung gewesen ist, darf freilich nicht bestritten werden. Im Ergebnis war es das Bundesverfassungsgericht, das die nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch politisch maßgebende und damit auch abschließend-befriedende Entscheidung getroffen hat. Von der Sache bzw. vom konkreten Einzelfall her mag und darf man dies nicht kritisieren; in der allgemeineren Perspektive des Verhältnisses von Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung können jedoch mit außerordentlich guten Gründen kritische Einwände formuliert werden. Ob für die jüngsten steuerrechtlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, namentlich die zur Familienbesteuerung, gleiches zumindest in befriedender Hinsicht gelten kann, wird die nähere Zukunft zu erweisen haben.
IV. Fazit und Ausblick
Die vorstehende Tour d'horizon belegt einerseits, welche große und verfassungsrechtlich unverzichtbare Rolle das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Jahrzehnten gespielt hat, wie sehr es zum wahrhaftigen Hüter der Verfassung geworden ist. Sie belegt auf der anderen Seite aber auch, daß das Bundesverfassungsgericht mitunter die Grenzen genuiner Verfassungsjudikatur überschritten und zum politischen Gestalter unserer Rechtsordnung, also namentlich zum faktischen Ersatzgesetzgeber geworden ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist -und dies ist wesentlich dem jetzt 50 Jahre alt werdenden Grundgesetz zu verdanken -nicht nur eine stabile Demokratie, sondern auch ein stabiler, wehrhafter Rechtsstaat geworden. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu seinen besonderen Beitrag geleistet und wird dies mit Sicherheit auch in Zukunft tun. Das Bundesverfassungsgericht muß auch in Zukunft die Normativität unserer Verfassung so bewahren, wie es dies in der Vergangenheit getan hat. Es muß aber auch stets darauf bedacht sein, Tendenzen und vor allem Versuchungen zu widerstehen, Politik im Übermaß zu jmodifizieren bzw.selbst in den Gestaltungsprimat des demokratischen Gesetzgebers eigenständig bzw. unverhältnismäßig einzugreifen.