Personelle Einkommensverteilung, Arbeitsproduktivität und Beschäftigung
Lothar Funk
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Zusammenfassung
Vor allem in den angelsächsischen Volkswirtschaften hat sich bei längerfristig konstanter oder sinkender Arbeitslosigkeit (USA bzw. Großbritannien) die Ungleichheit in der Einkommens-und Lohnstruktur auffällig erhöht. In Deutschland ist hingegen bei im wesentlichen konstanter Lohnund Einkommensverteilung die Arbeitslosigkeit über einen längeren Zeitraum treppenförmig um} scheinbar irreversibel nach volkswirtschaftlichen Schocks, wie beispielsweise den Ölpreisen oder der Wiedervereinigung, angestiegen. Hieraus wird häufig geschlußfolgert, Volkswirtschaften könnten nur zwischen einer zunehmend unbefriedigenderen Verteilungssituation oder einer hohen bzw. steigenden Arbeitslosigkeit wählen. Dem widersprechen aber die Erfahrungen einiger anderer Volkswirtschaften. Die Niederlande oder Japan sind Beispiele, die bei wenig geänderter Lohn-und Einkommensverteilung durch eine seit längerem sinkende bzw. im internationalen Vergleich sehr niedrige Arbeitslosigkeit gekennzeichnet sind. Thematisiert werden auch Interpretationsprobleme der Arbeitsproduktivitätsentwicklung und der Zusammenhang zwischen Wachstum und Verteilung, bevor wirtschaftspolitische Schlüsse gezogen werden.
I. Einleitung
Immer wieder wird behauptet, eine stark steigende Einkommensungleichheit sei im Rahmen des derzeit stattfindenden Strukturwandels unvermeidlich, wenn die in Kontinentaleuropa existierende Massenarbeitslosigkeit nachhaltig bekämpft werden soll. Die Entwicklungen in den USA und Großbritannien einerseits -eine zunehmende Lohn-und Einkommensdifferenzierung bei im Ländervergleich relativ geringer oder sinkender Arbeitslosigkeit -und in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern andererseits -mittelfristig hohe und nach volkswirtschaftlichen Schocks weiter steigende Arbeitslosigkeit bei einer tendenziell starren Lohnstruktur -scheinen diese gesellschaftspolitisch brisante These zu bestätigen. Liegt dem Problem tatsächlich ein unauflösbarer Zielkonflikt zugrunde, so müßte sich die Politik auf die Wahl zwischen hoher Arbeitslosigkeit oder erheblich zunehmender Ungleichheit bzw. einer Kombination von beidem beschränken. Als Alternative wird bestenfalls noch ein eher defensiver Ausweg gesehen, der auf die Umverteilung von Arbeit setzt und durch mehr staatliche Innovationsförderung flankiert werden soll Einige Autoren, die auf „mehr Marktwirtschaft“ am Arbeitsmarkt -insbesondere kombiniert mit einer Beseitigung von Blockaden des Strukturwandels -setzen, sind jedoch optimistischer. Sie zeigen, wie wachsende Einkommensdifferenzen und andauernd hohe Arbeitslosigkeit so gut wie möglich bei allgemein steigenden Realeinkommen zu vermeiden sind
II. Begriffliches und empirischer Befund
Abbildung 7
Tabelle 1: Standardisierte Arbeitslosenquoten in Prozent der zivilen Erwerbsbevölkerung in ausgewählten Ländern Quelle: OECD (Hrsg.), Employment Outlook, Paris 1998, Table 22.
Tabelle 1: Standardisierte Arbeitslosenquoten in Prozent der zivilen Erwerbsbevölkerung in ausgewählten Ländern Quelle: OECD (Hrsg.), Employment Outlook, Paris 1998, Table 22.
Abbildung 1 und Tabelle 1 verdeutlichen für den Zeitraum seit Anfang der achtziger Jahre folgen-des: Massenarbeitslosigkeit ist kein unabänderliches Schicksal. Die Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes bei niedriger registrierter Arbeitslosigkeit oder der Abbau einer hohen Arbeitslosigkeit durch steigende Beschäftigung muß nicht notwendigerweise mit einer erheblichen Zunahme der Einkommensungleichheit einhergehen. Die USA zeigen zwar, daß ein hohes Beschäftigungswachstum bei einer mittelfristig nicht ansteigenden Arbeitslosigkeit mit einer sehr star-ken Zunahme der Einkommensungleichheit verbunden sein kann. Das niederländische „Beschäftigungswunder“ z. B. verdeutlicht aber, daß ein Erfolg auch ohne steilen Anstieg der Einkommensungleichheit erzielt werden kann. Ähnliches gilt für Japan. Trotz einer starken Zunahme der Einkommensungleichheit in Großbritannien war das Beschäftigungswachstum nicht wesentlich höher als in Westdeutschland, aber verbunden mit einer bemerkenswert hohen Differenzierung der Einkommen und einem Rückgang der Arbeitslosigkeit. Die alte Bundesrepublik mußte hingegen bei einer leichten Abnahme der Einkommensungleichheit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit fast auf das Durchschnittsniveau der Europäischen Union in Kauf nehmen (vgl. Tabelle 1).
Zunächst einige Begriffsklärungen: Grundsätzlich sind Armut, Lohn-und Einkommensungleichheit zu unterscheiden Der Armutsbegriff beschränkt sich nur auf die unteren Bereiche der Einkommensverteilung. Er hat sowohl eine Zeitpunkt-als auch eine Zeitraumdimension, da nicht das laufende Einkommen allein wichtig ist, sondern auch das zu erwartende Lebenseinkommen inklusive etwaiger Vermögenserträge. Lohnungleichheit fragt nach dem Ausmaß der Differenzierung der Lohnstruktur, normalerweise bezogen auf Sektoren, Betriebe, Qualifikationen oder Regionen in einem Land Die Lohnstruktur dient erstens als ein Indikator (unter anderen) für die Funktionsfähigkeit eines Arbeitsmarktes. Letztere ist dann gegeben, wenn sich die Lohnstruktur tendenziell bei Überschüssen des Arbeitsangebotes im Vergleich zur Zahl der offenen Stellen, also gesamtwirtschaftlicher Arbeitslosigkeit, weiter ausdiffe-renziert und so neue rentable Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. Ist jedoch die Lohnstruktur in einer solchen Situation hoher Arbeitslosigkeit eher unbeweglich, so wird die Lohnbildung ihrer Beschäftigungsfunktion nicht gerecht. Zweitens hat die Lohnstruktur Einfluß auf die verfügbaren Einkommen der Haushalte, ist jedoch nur eine Komponente hiervon (z. B. existieren Sozialtransfers, Mehrverdienerhaushalte etc.). Daher läßt die Entwicklung der Lohnstruktur alleine keine Aussagen über die Wohlfahrtsposition bzw. die Armutssituation von Haushalten zu. Dies gilt auch für die hier nicht näher behandelte funktionale Einkommensverteilung, die die Aufteilung des Einkommens auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital und ihre Entwicklung im Zeitablauf untersucht.
In unserem Zusammenhang interessant ist vielmehr die personelle Einkommensverteilung, deren Gegenstand die Verteilung der Einkommen auf die Personen oder Haushalte (mit eventuell mehreren Einkommensbeziehern) eines Landes ist Dabei ist die Verteilung der Markteinkommen (Primärverteilung aufgrund von Faktorbeständen und -preisen) und der (insgesamt) verfügbaren Einkommen (Sekundärverteilung aufgrund von Finanz-und Sozialpolitik) zu unterscheiden. Einkommensungleichheit bezieht sich dann auf alle Facetten der Verteilung der (verfügbaren) Einkommen auf Personen bzw, Haushalte zu einem Zeitpunkt, wobei in der Regel vor allem das obere und untere Ende Aufmerksamkeit finden. Die am häufigsten verwendeten Indikatoren bei internationalen Vergleichen sind der Gini-Koeffizient und Dezilsanteile. Der Gini-Koeffizient drückt die Ungleichheit in einer einzigen Maßzahl aus, wobei Null Gleich-und Eins die völlige Ungleichverteilung bedeuten. Dezilsanteile geben den Anteil am betrachteten Einkommen an, den jeweils ein Zehntel der Personenen oder Haushalte besitzen. Dabei werden die Mitglieder der Gesellschaft nach Maßgabe ihrer Einkommensposition auf die Gruppen verteilt.
Zurück zum Ländervergleich: Während die Struktur der Verdienste aus Arbeitseinkommen in Deutschland und in anderen kontinentaleuropäischen Ländern seit Anfang der achtziger Jahre weitgehend konstant blieb, differenzierte sie sich in den USA und in anderen angelsächsischen Ländern bei geringerem Auseinanderdriften der Familieneinkommen im unteren Segment (insbesondere durch zusätzliches Arbeitsangebot dieser Haushalte), aber hoher Differenzierung im Bereich der oberen Haushaltseinkommen (unter anderem wegen erfolgreicher Doppelverdiener) erheblich Das Thema steigender Lohnungleichheit ist also genau wie die Frage zunehmender Einkommensungleichheit im wesentlichen ein angloamerikanisches Problem Die Gini-Koeffizienten der Markteinkommen haben in den letzten vier Dekaden in den USA und Großbritannien nennenswert zugenommen, was in den meisten anderen Industriestaaten inklusive Westdeutschlands nicht schlüssig feststellbar ist, wie Tabelle 2 zeigt
Vor allem in den angelsächsischen Ländern haben die nationalen Arbeitsmärkte auf erhöhten Anpassungsdruck mit einer Ausweitung der Lohndifferentiale reagiert -eine Reaktion, die auch durch den tendenziell wesentlich geringeren Gewerkschaftseinfluß als auf dem europäischen Kontinent erklärbar ist. Dort blieb die Lohnstruktur hingegen weitgehend konstant oder differenzierte sich nur leicht, was durch die gewerkschaftliche Verbandslogik der Besitzstandswahrung bedingt ist, der spürbare Veränderungen der Lohnrelationen widersprechen. In Tabelle 2 sind zwei Beispiele hierfür enthalten: Westdeutschland und die Niederlande. Als Folge der Lohnkompression durch Lohnnivellierung bzw. einer zu geringen Lohndifferenzierung insbesondere im unteren Bereich ergab sich bei völlig unterschiedlichen Beschäftigungsentwicklungen in beiden Ländern eine ernsthafte Verringerung der Beschäftigungschancen für geringqualifizierte Arbeitnehmer, die sich unter anderem in einem hohen Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen niederschlägt. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen, die zwölf Monate und länger arbeitslos sind, ist in Deutschland und den Niederlanden zwischen vier-und fünfmal höher als in den USA mit im Schnitt unter zehn Prozent. Er ist aber auch noch in Großbritannien als einem Land mit starker Lohnstreuung sehr hoch, so daß zur Lösung dieses Problems offensichtlich arbeitsmarkt-und sozialpolitische Sonderlösungen gefunden werden müssen Japan ist hingegen bei niedriger Arbeitslosigkeit gekennzeichnet durch eine Verringerung der Lohnstreuung im unteren Bereich und einen gleichzeitig niedrigen Anstieg im oberen Bereich.
Parallel zu dieser Entwicklung haben die Armutsprobleme sowohl in Kontinentaleuropa als auch in den angelsächsischen Ländern zugenommen -ins-besondere in letzteren Die finanzielle Unterstützung in den angelsächsischen Ländern ist heute im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Systemen in der Regel bescheiden, bedarfsgeprüft und stigmatisiert. Länger andauernde Armut bestimmter Gruppen kann die Folge sein. Allerdings schafft die Ausgrenzung der Langzeitarbeitslosen in Kontinentaleuropa ebenfalls Armutsprobleme, während die Einkommenssituation vieler Arbeitsplatzbesitzer dort sicherer ist als in angelsächsischen Ländern. Bei der Interpretation des hier gezeichneten Bildes der Einkommensverteilungsund Armutsentwicklung ist zu berücksichtigen, daß flexiblere Arbeitsmärkte tendenziell eine höhere Durchlässigkeit zwischen den Einkommensgruppen aufweisen als durch andauernd hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnete Dennoch ist zu beachten: Sollen sich Armutsprobleme durch Arbeitsmarkt-und Sozialreformen sowie andere wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht in den Ländern mit bisher hoher Arbeitslosigkeit verschärfen, so muß bei dem anzuwendenden Instrumentenbündel berücksichtigt werden, daß auch eine befriedigende gesellschaftliche Einkommens-verteilung erreicht wird.
III. Neuer Strukturwandel
Abbildung 8
Tabelle 2: Lohnstreuung im MehrländervergleichQuelle: OECD, Employment Outlook, Paris 1996, S. 61 f.; s. a. Anm. 8.
Tabelle 2: Lohnstreuung im MehrländervergleichQuelle: OECD, Employment Outlook, Paris 1996, S. 61 f.; s. a. Anm. 8.
Erklären läßt sich die dargestellte empirische Entwicklung vor allem-mit einer unterschiedlichen Fähigkeit der betrachteten Volkswirtschaften, den Anforderungen des derzeitigen Strukturwandels gerecht zu werden. Der sogenannte „neue“ Strukturwandel in hochentwickelten Industrieländern ist gekennzeichnet durch die Notwendigkeit, einen sinkenden Anteil der Industriebeschäftigung durch mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich aufzufangen, dessen Beschäftigungsmöglichkeiten erheblich heterogener sind. Dies erfordert eine größere Lohnstrukturflexibilität: niedrigere Arbeitskosten für gering oder unpassend Qualifizierte, höhere Nettolöhne zur Motivation knapper Qualifizierungen.
Die Lohnstreuung, die für einen höheren Beschäftigungsstand nötig ist, ist aber auch deshalb tendenziell größer als früher, weil in allen Industrieländern ein qualifikatorischer Strukturwandel seit längerer Zeit entscheidenden Einfluß hat. Technologie-, unternehmensorganisations-und globalisierungsbedingt findet eine Verschiebung der Struktur der Arbeitsnachfrage in Richtung besser qualifizierter Arbeitskräfte statt, die eine stärkere Arbeitskosten-bzw. Lohndifferenzierung erfordert. Die Auffächerung der Bandbreite der für das Arbeitsangebot relevanten Lohnstruktur muß für deutliche Beschäftigungserfolge aber keineswegs so weit gehen wie in den USA. Voraussetzung ist aber bei parallel laufender moderater Lohndifferenzierung, daß die Lohnzurückhaltung über alle Sektoren hinweg erfolgt, also auch in Erfolgsbranchen Verteilungs-in Beschäftigungsspielräume umgemünzt werden, und daß der Staat durch geeignete Maßnahmen für ein ausreichendes verfügbares Einkommen auch bei sinkendem Markt-einkommen sorgt.
Unterschiedliche Länder haben in der Regel eine der drei im folgenden genannten wirtschaftspolitischen Strategien zur Bewältigung des Strukturwandels verfolgt, die sich aufgrund eines fundamentalen Zielkonfliktes zwischen Haushalts-disziplin, Verringerung des Grades der Einkommensdifferenzierung und Beschäftigungswachstum ergeben haben (Trilemma) Nach dieser These ist es zwar möglich, zwei Ziele gleichzeitig zu verfolgen, es scheint aber nicht machbar zu sein, alle drei Ziele gemeinsam zu erreichen. Ein ausreichendes Wachstum rentabler Arbeitsplätze im privaten Dienstleistungsbereich erfordert, wie bereits verdeutlicht, eine erhöhte Arbeitskostendifferenzierung, wenn eine vorhandene gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit abgebaut werden soll. Diese marktwirtschaftliche Laissez-faire-Strategie ist der angelsächsische Weg. Ist hingegen eine geringe Lohndifferenzierung eine Priorität, so kann ein Abbau von Arbeitslosigkeit durch Beschäftigungswachstum nach der Trilemma-These nur durch mehr öffentlich beschäftigte bzw. finanzierte Arbeitnehmer erreicht werden. Der Preis hierfür seien entweder höhere Steuern und/oder eine Zunahme der Staatsverschuldung mit negativen Effekten auf die private Beschäftigungsnachfrage. Dieser traditionell sozialdemokratische bzw. wohlfahrtsstaatliche Ansatz, den die skandinavischen Länder verfolgt haben, ist mittelfristig bei weiterhin frei zugänglichen Märkten nicht durchhaltbar, weil das Potential für eine höhere Besteuerung mobiler Faktoren (Kapital und hochqualifizierte Arbeit) zur Umverteilung angesichts der im Zuge der Globalisierung erfolgten weiteren Öffnung der Märkte wesentlich geschrumpft ist. Eine Strategie des gebremsten Strukturwandels zur Aufrechterhaltung niedriger Einkommensungleichheit bei vergleichsweise hoher Haushaltsdisziplin, wie sie etwa in Westdeutschland seit Mitte der siebziger Jahre verfolgt worden ist, habe hingegen eine stagnierende Beschäftigung bei einer treppenförmig nach jedem Arbeitsmarktschock ansteigenden Arbeitslosigkeit zur Folge, wenn die nötige Lohnzurückhaltung nicht geübt wird. Es ist zweifelhaft, ob nur die in der Trilemma-These herausgearbeiteten gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten existieren. Eine überlegene Alternative ist denkbar. Durch soziale Ordnungspolitik könnte es möglicherweise gelingen, Haushaltsdisziplin, eine befriedigende gesellschaftliche Einkommensverteilung und einen Abbau der Arbeitslosigkeit bzw. steigende Beschäftigung auch im neuen Strukturwandel miteinander zu verknüpfen, indem produktivitäts-und wachstumsfördernde Blockaden des Strukturwandels beseitigt werden und der soziale Zusammenhalt durch mehr Chancengleichheit verbessert wird. Bevor ich aus dieser Perspektive jedoch wirtschaftspolitische Vorschläge für Deutschland unterbreiten werde, sind zunächst die grundlegenden Sachzusammenhänge zwischen Arbeitsproduktivitätsentwicklung und Beschäftigung sowie Einkommensverteilung, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung darzulegen, um keinen Fehlschlüssen zu unterliegen.
IV. Arbeitsproduktivität und Beschäftigung
Die aggregierte Arbeitsproduktivität gibt das Verhältnis von volkswirtschaftlichem Produktionsergebnis und gesamtwirtschaftlichem Arbeitseinsatz an. In diese Durchschnittsproduktivität gehen verschiedene unterschiedliche Implikationen ein. Einerseits gilt: Je höher die Wachstumsrate der sogenannten beschäftigungsneutralen oder originären Arbeitsproduktivität (bei einer gegebenen Beschäftigung) ist, um so stärker nimmt der materielle Wohlstand einer Gesellschaft zu. Zu unterscheiden ist zwischen verschiedenen Quellen originärer Produktivitätssteigerungen der Arbeit. Dies sind Verbesserungen der Leistungsfähigkeit der Arbeitnehmer durch höhere und leistungsfähigere Kapitalausstattung, verbessertes Humankapital sowie durch technischen und organisatorischen Fortschritt. Zugleich sind dies die wichtigsten Faktoren, die eine Erhöhung der Arbeitsnachfrage bewirken. Andererseits hängt die Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität auch mit der Beschäftigungsentwicklung zusammen.
Ich werde zunächst versuchen, die hinter den unterschiedlichen Entwicklungsmustern liegenden Faktoren im einzelnen zu entschlüsseln.
Verkleinert sich etwa der Arbeitseinsatz durch Entlassung zuvor beschäftigter Arbeitnehmer, so sind dies regelmäßig diejenigen mit unterdurchschnittlicher Produktivität auf unrentablen Arbeitsplätzen. Folglich steigt die Durchschnittsproduktivität der verbleibenden Belegschaft. Wenn diese Erhöhung aber als Spielraum für Lohnerhöhungen betrachtet wird, verfestigt sich die einmal entstandene Arbeitslosigkeit, die Beschäftigung stagniert. Daher kann als Richtschnur für Lohnsteigerungen in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit nur der unter dem empirisch gemessenen liegende originäre Produktivitätsanstieg gelten, der mit Vollbeschäftigung vereinbar ist.
Umgekehrt führt eine starke Ausweitung der Arbeitsplätze und Belegschaften bei gesamtwirtschaftlich annähernd konstanten realen Arbeitskosten tendenziell zu einem geringeren Wachstum der statistisch gemessenen Arbeitsproduktivität, so daß trotz ähnlicher Rate des technischen Fortschritts und vergleichbarer Kapitalbildung der Meßwert des Produktivitätsanstiegs kleiner als bei völliger Ausschöpfung der Lohnspielräume durch die Arbeitsplatzbesitzer beim gegebenen Beschäftigungsstand ausfällt Das Zusammenwirken unterschiedlicher Einflußfaktoren auf den empirisch gemessenen Produktivitätsanstieg ist häufig Anlaß für Mißverständnisse und Fehlinterpretationen . wird etwa in den USA nicht selten ein deutsches Produktivitätswunder ausgemacht, während in Deutschland vom amerikanischen Job-Wunder gesprochen wird, obwohl Produktivitäts-und Beschäftigungsentwicklung in einem inneren Zusammenhang stehen, der eine isolierte Betrachtung dieser Größen irreführend erscheinen läßt.
Unterstellt man als empirisch begründet, daß in den USA und Westdeutschland bzw. Westeuropa die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Arbeit aufgrund der originären Quellen des Produktivitätswachstums mit vergleichbaren Raten pro Periode gestiegen ist, daß sich in den USA aber gleichzeitig das Arbeitsangebot stark ausgeweitet und sich die Löhne und Preise mehr nach Angebot und Nachfrage als in Deutschland und in den anderen Ländern Westeuropas gerichtet haben, dann ergibt sich in den betrachteten Ländern jeweils eine völlig unterschiedliche langfristige Arbeitsmarktentwicklung
Die Lohnanpassungsstrategie der Vereinigten Staaten ist verbunden mit niedrigen Steigerungen der durchschnittlichen realen Arbeitskosten und der diskutierten ungleicheren Einkommensverteilung, da eine Anpassung der Reallohnstruktur an die vorhandene breitgefächterte Arbeitsproduktivität angestrebt und erreicht wird. Das empirisch gemessene Wachstum der Arbeitsproduktivität fällt vergleichsweise niedrig aus, weil durch die Ausweitung der Beschäftigung in den Dienstleistungen auch Bereiche mit einer Produktivität hinzukommen, die kleiner als der bisherige Durchschnitt ist. Selbst eine enorme Produktivitätsstei-gerung auf der Ebene vieler. Unternehmen, z. B. durch , Downsizing\ muß nicht zwangsläufig mit einem Anstieg des Wachstums der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität verbunden sein. Denn unternehmerische Produktivitätssteigerungen machen sich in der nationalen Statistik nur dann entsprechend bemerkbar, wenn die hierdurch entstandenen Arbeitslosen unter sonst gleichen Umständen entweder einen genauso produktiven Arbeitsplatz gefunden haben, wie sie ihn vorher innehatten, oder wenn ihr Arbeitseinsatz nicht länger im Nenner der Arbeitsproduktivitätsentwicklung enthalten ist, weil sie überhaupt keinen neuen Arbeitsplatz gefunden haben und nicht mehr erfaßt werden. Keine der beiden Bedingungen war in den USA erfüllt während die positive Entwicklung der gemessenen Arbeitsproduktivität in Großbritannien nach den Reformen der Regierung Thatcher sicherlich teilweise auch auf der damit verbundenen Verringerung des volkswirtschaftlichen Arbeitseinsatzes beruhten.
Für Westdeutschland und die Gruppe der kontinentaleuropäischen Länder ist dagegen tendenziell eine gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsstagnation mit Arbeitsabbau in der Industrie bei relativ hohem Wachstum der gemessenen Arbeitsproduktivität kennzeichnend. Durch vergleichsweise stark steigende Reallöhne bzw. reale Arbeitskosten wurde eine Produktivitätsanpassungsstrategie betrieben, bei der die Produktivität bzw. die Produktivitätsstruktur an die durch Verbandsmacht bestimmten Arbeitskostenverhältnisse angepaßt werden sollte. Dies mißlang jedoch insofern, als der eingeschlagene Weg das Beschäftigungsziel massiv und im Zeitablauf zunehmend verfehlte Aufgrund der institutioneilen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems können in Deutschland nur neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit einer Arbeitsproduktivität geschaffen werden, die gleich groß oder höher als der vorherige Durchschnitt war.
Die bisherige Analyse verdeutlicht, daß ein Anstieg der originären gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritte entweder für Arbeitskostensteigerungen der Arbeitsplatzbesitzer bei Beschäftigungsstagnation oder aber für Beschäftigungsausweitungen zur Integration Arbeitssuchender bei konstanten realen Arbeitskosten pro Arbeitsstunde genutzt werden kann Natürlich ist auch eine Kombination von einer nicht völligen Ausschöpfung der beschäftigungsneutralen Steige rung der Arbeitsproduktivität bei einer gleichzeitig moderateren Beschäftigungsausweitung möglich Diese Strategie wird tendenziell in den Niederlanden verfolgt. Hier konnten marktwirtschaftsstärkende Reformen unter Wahrung korporatistischer Strukturen durchgesetzt werden, die die volkswirtschaftliche Anpassungskapazität wesentlich erhöht haben. Es gelang den Niederländern, durch dosierte Arbeitsmarkt-und Gütermarktderegulierungen die offizielle nationale Arbeitslosenquote innerhalb etwa eines Jahrzehntes auf unter sechs Prozent zu halbieren. Holland baute außerdem den Sozialstaat ohne einschneidende Leistungskürzungen für die wirklich Bedürftigen anreizfördernd um. Der Staat konnte seine Haushaltsdefizite verringern -vor allem durch den Erfolg der anderen Reformen, der staatliche Ausgabenkürzungen erlaubte. Dies geschah alles bei einer im Vergleich zu Deutschland praktisch identischen Geldpolitik, so daß auch der mangelnde Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland im wesentlichen nicht auf eine verfehlte Geldpolitik zurückzuführen ist. Maßvolle Arbeitskosten im Tausch gegen die Umverteilung von Arbeit und die Ausweitung der Arbeitsnachfrage, da sich die Rentabilität von Investitionen erheblich verbessert und dies ein arbeitsintensiveres Wirtschaftswachstum ermöglicht hat, sind der Schlüssel zum Erfolg gewesen Die niederländische Strategie zeigt, daß durch eine umfassende und durchdachte Reformpolitik bzw. institutioneile Umgestaltung die Trilemma-These widerlegt werden kann, da die politische Durchsetzung einer längerandauernden allgemeinen Lohnzurückhaltung mit weiteren flankierenden Maßnahmen zu Beschäftigungswachstum im privaten Sektor bei befriedigender Einkommensverteilung trotz Haushaltsdisziplin führen kann.
Nicht zuletzt ist auch eine Strategie desforcierten originären Produktivitätswachstums denkbar, wie sie Japan gekennzeichnet hat. Sie führte zu einer Beschäftigungssteigerung bei hohem Produktivitätswachstum und ließ sowohl die Lohndifferenzen als auch die Beschäftigungssituation für gering qualifizierte Arbeitskräfte nahezu unverändert. Es ergab sich ein relativ hohes Wachstum der Arbeitsproduk-tivität, weil insbesondere Arbeitsplätze in Bereichen mit einem Produktivitätswachstum hinzukamen, das gleich hoch oder höher als der bisherige Durchschnitt war. Allerdings ist Japan möglicherweise lange Zeit durch steigende Reallöhne und zunehmende Beschäftigung gekennzeichnet gewesen, weil die japanischen Strukturen noch stark von dem später einsetzenden Aufholprozeß geprägt waren und daher z. B. mit der aktuellen deutschen Entwicklung nicht vergleichbar sind. Trotz der seit einigen Jahren andauernden Krise in Japan ermöglicht dieses Land aber Lehren, wie man erfolgreich die Struktur der Beschäftigung auf relativ humankapitalintensive Bereiche mit hohem Beschäftigungsund Einkommenspotential ausrichtet sowie die Exporte auf die gewinnträchtigsten Bereiche spezialisiert. Dies scheint ein Ausweg aus dem Dilemma zu sein, zwischen hoher Beschäftigung unter den geringqualifizierten Arbeitnehmern und einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung wählen zu müssen. Erforderlich für diese Strategie ist insbesondere der Abbau von Blockaden des Strukturwandels bei einer hohen Flexibilität der Entlohnung und hoher regionaler Mobilität, auch wenn dies mit Anpassungskosten verbunden ist. Ebenfalls notwendig zur Absicherung von Einkommens-und Beschäftigungschancen ist ein Konsumverzicht, um gesteigerte Investitionen in den Bereichen Sachkapital, schulische Bildung und Forschung und Entwicklung zu ermöglichen
V. Einkommensverteilung, Wachstum und Beschäftigung
Von grundsätzlicher Bedeutung sind auch die Zusammenhänge zwischen personeller Einkommensverteilung und Wachstum einerseits sowie personeller Einkommensverteilung und Beschäftigung andererseits, um konstruktive wirtschaftspolitische Vorschläge unterbreiten zu können Die Beziehung zwischen Einkommensungleichheit und Wachstum wurde in zwei Richtungen untersucht, die Ursache und Wirkung jeweils austauschen: Ausgangspunkt der Debatte ist die Kuznets-Hypothese nach der die Ungleichheit in frühen Stadien der Entwicklung zunächst zunimmt, bevor sie für höhere Einkommen wieder sinkt. Dieser Zusammenhang läßt sich graphisch annähernd durch ein umgekehrtes „U“ darstellen, wobei die Ungleichheit in Abhängigkeit von Entwicklungsstufe bzw. Einkommenshöhe als Wachstumsindikator gesehen wird. Erklärt wird der Kurvenverlauf damit, daß in frühen Stadien der Entwicklung die Einkommenszuwächse nur geringen Bevölkerungsanteilen zufallen, weil sie zumeist in einem kleinen, modernen Industriesektor entstehen. Erst mit zunehmender Entwicklung findet nach dieser These eine Ausbreitung auch auf breite Bevölkerungsteile statt. Die empirische Entwicklung der letzten Jahre widerspricht jedoch der These, daß eine Volkswirtschaft beim Übergang zu einer modernen Industriestruktur eine zeitweise ansteigende Ungleichheit in Kauf nehmen muß. In Japan oder den asiatischen Schwellenländern ist die personelle Einkommensverteilung weitgehend konstant geblieben.
Die interessanteren Theorien untersuchen, welchen Einfluß die Einkommensverteilung auf das Wirtschaftswachstum hat. Es wird analysiert, inwiefern ein gewisses Ausmaß an Gleichheit eine notwendige Vorbedingung für Wachstum ist. Die Literatur stellt drei Mechanismen heraus, durch die Ungleichheit einen negativen Einfluß auf das Wirtschaftswachstum haben könne, und zwei Ansätze, die die positiven Wachstumseffekte von mehr Ungleichheit heraussteilen: a) Die Rolle staatlicher Politiken: Die Anreize, Sach-und Humankapital zu bilden, hängen entscheidend davon ab, in welchem Ausmaß sich die Investoren die hieraus fließenden Erträge aneignen können. Bei ausgeprägten Verteilungskonflikten ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß der Staat Umverteilungsmaßnahmen ergreift, die die Netto-Ertragsraten der Investitionen vermindern. Über Art und Ausmaß der staatlichen Redistribution entscheidet bei diesem theoretischen Erklärungsversuch die Mehrheitswahl, wobei der für eine (Wieder-) Wahl entscheidende Wähler ein höheres Ausmaß an Staatsausgaben und Besteuerung, also Umverteilung, um so eher präferiert, je mehr das Medianeinkommen unterhalb des Durchschnittseinkommens vor Steuern und Abgaben liegt (Medianwähleransatz). Ein höheres Steuerniveau verringert jedoch Investitionen und Arbeits-bzw. Sparanreize mit negativen Wachstumseffekten, was allerdings durch produktive staatliche Leistungen zumindest teilweise kompensiert werden kann. Tendenziell gilt hiernach aber: Je ungleicher die Einkommensverteilung ist, desto niedriger sind die Wachstumsraten. b) Der Einfluß der politischen Stabilität: Nach dieser Hypothese ist eine ungleichmäßige Einkommensverteilung für das Wachstum einer Gesellschaft dann als problematisch anzusehen, wenn durch eine als ungerecht empfundene Verteilung die politische Stabilität eines Landes gefährdet ist. Letztere ist also hier eine intervenierende Variable zwischen personeller Einkommensverteilung und Wachstum. Es wird argumentiert, daß vor allem in stark heterogenen und polarisierten Gesellschaften Interessengruppen sich tendenziell in gruppenbegünstigenden Lobby-Aktivitäten betätigen, da dies -obwohl es die allgemeine gesellschaftliche Wohlfahrt nicht mehrt -für die Akteure häufig lohnender erscheint als eine produktive Betätigung am Markt. Nach diesem Ansatz liegen die Folgen regelmäßig in einer Ausweitung von sozialproduktminderndem Protektionismus und Kartellbildungen. Politische Instabilität durch häufig wechselnde Regierungen, soziale Unruhen oder politische Gewalt schaffen zudem politische und ökonomische Unsicherheit, die das Vertrauen in bestehende Eigentumsrechte und die Marktaktivitäten durch Risiken plötzlicher Steueränderungen, Regulierungsänderungen oder im Extremfall von Enteignungen einschränken -mit investitions-und damit wachstumsschädlichen Folgen. c) Die Rolle des Humankapitals: Aus einem graduellen Anstieg des gesellschaftlichen Humankapitalbestandes kann wirtschaftliches Wachstum resultieren, da mit mehr Humankapital die Produktivität des Arbeitseinsatzes steigt. Eine ungleichere Einkommensverteilung erschwere es aber den ärmeren Teilen der Bevölkerung, in ihr Humankapital zu investieren, was zu einem suboptimalen Wachstum beitragen könne. Teile der Bevölkerung können sich längere Zeit in der „bad job“ -bzw. Niedriglohn-Arbeitsplatz-Falle befinden, obwohl eine Humankapitalbildung gesellschaftlich lohnenswert wäre, aber aufgrund niedriger Sparfähigkeit der Betroffenen nicht privat finanziert werden kann. d) Wachstumschancen durch dynamische Unternehmer: Nach der Schumpeter-Hypothese ist eine ungleichere Verteilung sinnvoll, um ein höheres Niveau unternehmerischer Anstrengung zu erzeugen, da dann größere Arbeitsanreize und mehr Anreize zur Kapitalbildung existieren. Letztere wird vor allem durch eine unter sonst gleichen Bedingungen höhere private Ersparnis finanziert. Der Kaldor-Hypothese zufolge soll die Sparneigung der Reichen wesentlich höher als die der ärmeren Bevölkerungsschichten sein. Dies impliziert einen positiven Effekt der Einkommensungleichheit auf die volkswirtschaftliche Ersparnis. Die Folge ist bei funktionierenden Kapitalmärkten eine steigende volkswirtschaftliche Kapitalbildung mit entsprechend positiven Wachstumswirkungen. e) Das Problem von Neidfallen bei egalitärer Einkommensverteilung: Nach dieser These verringert eine zu gleichmäßige Einkommensverteilung wahrscheinlich die Anreize zur Leistungssteigerung und behindert wachstumsfördernde Nachahmungseffekte im Konsumverhalten der unteren gegenüber den höheren Einkommensschichten. Bei Gesellschaften mit einer eher egalitären Einkommensverteilung könne es zu Wachstumseinbußen auch deswegen kommen, weil die Herrschaft des Neides auszubrechen drohe, die Anreize zu besonderen Leistungen im Wettbewerb durch eine Furcht vor Erfolg und damit verbundenem Neid lähmen könne. Wenn aber das Wirtschaftswachstum hierdurch gemindert werde, dann würden die Verteilungskämpfe wesentlich heftiger ausgetragen werden, da sie zu Nullsummenspielen würden: was der eine gewinnt, verliert ein anderer Aus diesem Blickwinkel gilt: Nur falls eine zunehmende Differenzierung der Einkommen im Wachstumsprozeß lange Zeit anhält, kann sich eine sozial instabile Entwicklung ergeben.
Berücksichtigt man alle diese Argumente, so ist theoretisch unklar, ob zwischen Lohn-bzw. Einkommensungleichheit und Wachstum ein positiver oder negativer Zusammenhang besteht. Empirische Untersuchungen sind bisher zu widersprüchlichen Ergebnissen bezüglich des hier betrachteten Zusammenhanges gelangt. Die politökonomische Hypothese des Medianwählereinflusses bestätigt sich empirisch bislang nicht. Die Ablehnung dieser Hypothese mag jedoch dadurch bedingt sein, daß das Verhalten der Vorteilssuche durch lobbyistische Beeinflussung des politischen Prozesses bei gleichzeitigen Anreizen für die Politik, Gruppenbegünstigungspolitik zu betreiben, das Medianwählerverhalten bei der Bestimmung des Niveaus der Umverteilung dominiert. Im Gegensatz hierzu erfahren die Humankapital-und die politische Instabilitäts-Hypothese empirische Unterstützung. Eine negative Beziehung von Einkommensungleichheit und Wachstum kann bis-her empirisch nicht verworfen werden. Insbeson dere Länderfallstudien (z. B. Schweden sprechen jedoch auch dafür, daß die Problematik von Neidfallen und von Fehlanreizen für unternehmerische Dynamik nicht zu unterschätzen ist.
Es lassen sich aber Grenzen bestimmen, ab denen ein Anstieg der Ungleichheit das Wachstum negativ beeinflussen wird. Sobald Einkommensungleichheit zu politischen Verhältnissen und Politiken führt, die das Klima für Investitionen längere Zeit verschlechtern, so ist ein positiver Wachstumseffekt nicht mehr zu erwarten. Auch ist ein Mindestmaß an -politisch sicherzustellender -Einkommensgleichheit wachstumsfördernd: Denn die Gewißheit der Individuen, bei einem wirtschaftlichen Scheitern nicht ins Bodenlose zu fallen, macht eine Gesellschaft produktiver und schafft ein wachstumsfreundlicheres Klima
Eindeutigere Zusammenhänge lassen sich zwischen personeller Einkommensverteilung und Beschäftigung feststellen. So kann ein höheres Wirtschaftswachstum bei sich wenig ändernder Einkommensverteilung zu einer höheren Beschäftigung führen, wenn die Arbeitsplatzbesitzer die hierdurch geschaffenen Spielräume nicht alleine für höhere Steigerungen ihrer Arbeitskosten ausschöpfen. Auch wird eine marktadäquatere Ausgestaltung der Arbeitsmarktinstitutionen und Sozialsysteme die Beschäftigungsintensität einer gegebenen Wachstumsrate erhöhen. Die Beschäftigungskonsequenzen einer allzusehr an mehr Lohngleichheit und tendenziell auch mehr Einkommensgleichheit orientierten Politik liegen allerdings auf der Hand. Im Grunde besteht ein doppelter Fehlanreiz einer zu stark nivellierenden Lohnpolitik. Denn sowohl diejenigen Arbeitnehmer, die weniger erhalten, als dies bei einer reinen Marktentlohnung der Fall wäre, als auch die, die mehr erhalten, als ihnen bei einer Marktlösung zustehen würde, haben einen geringen Anreiz, sich durch Weiterbildung höher zu qualifizieren, wenn sie ihren Arbeitsplatz für sicher halten. Die einen werden dies als unnötig empfinden, da sie ja bereits von einem höheren Lohn als bei der reinen Marktlösung profitieren. Die anderen werden in ihrem Kalkül berücksichtigen, daß ihnen nur ein Bruchteil der in Zukunft gestiegenen Leistungsfähigkeit entgolten werden wird, wenn überhaupt die geplante Verbesserung der Leistung durch die Weiterbildung realisiert wird. Stagnierendes Wachstum bei niedrigem Beschäftigungsstand (jedoch florierender Schatten-wirtschaft) wegen geringer Arbeitsanreize dürfte die Folge sein, insbesondere wenn eine falsche Lohnpolitik durch das Sozialsystem weitgehend aufgefangen wird. Es existieren folglich Opportunitätskosten einer übertrieben gleichheitsorientierten Politik, die in einer niedrigeren Beschäftigung und einer höheren Arbeitslosigkeit liegen
VI. Schlußfolgerungen
Hier muß ich mich bei den eher untauglichen Instrumenten zum zügigen Abbau der Arbeitslosigkeit auf zwei zu Beginn des Beitrages von mir genannte beschränken Arbeitszeitverkürzung und Innovationsstrategie. Zentral verordnete, einheitlich kürzere Arbeitszeiten dürften in der jetzigen Lage beschäftigungspolitisch mehr schaden als nützen. Empirische Untersuchungen zeigen überwiegend nur geringe Beschäftigungseffekte kollektiver Arbeitszeitverkürzungen, da sie in der Regel zusätzliche Kosten verursachen, die die unternehmerische Nachfrage nach Arbeitsstunden senken. Flexiblere Arbeitszeiten, die sowohl den Präferenzen der Arbeitnehmer als auch den Bedürfnissen der Unternehmen entsprechen, leisten hingegen einen wichtigen Beitrag, den allgemeinen Wohlstand zu steigern. Sie können beschäftigungspolitische Erfolge zwar unterstützen, diese aber regelmäßig nicht isoliert erreichen, wie auch das Beispiel Niederlande zeigt.
Nur wenn sich die Arbeitsproduktivität durch die Förderung von Innovationen schnell beeinflussen ließe und hierdurch entsprechende Beschäftigungssteigerungen insbesondere bei Problemgruppen am Arbeitsmarkt möglich wären, ließe es sich vermeiden, an den Arbeitskosten anzusetzen. Beides ist jedoch gerade kurzfristig nicht der Fall, so daß vor allem die Arbeitskosten zunächst zum entscheidenden Parameter werden müssen und beschäftigungsgerechter auszugestalten sind.
Die aus ökonomischer Sicht einzuleitenden Schritte haben aufgrund der durchgeführten Analyse insbesondere abzuzielen auf erstens ein mehrjähriges Zurückbleiben der Arbeitskostenentwicklung hinter dem vollbeschäftigungsneutralen Produktivitätswachstum der Volkswirtschaft, zweitens eine stärkere Spreizung der Marktlohnstruktur bzw. zumindest ein Einfrieren des jetzigen Niveaus im Einfacharbeitsbereich, drittens eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten und eine Verlängerung der Maschinenzeiten, die die Zusatzkosten vermehrter Beschäftigung möglichst gering halten, viertens einen dosierten Um-und Rückbau der sozialen Zwangssicherung zur Erhöhung der Arbeitsnachfrage und der Arbeitsanreize mit mehr privaten Versicherungslösungen bei Mindestversicherungspflicht und weniger, aber effizienterer Umverteilung zugunsten Bedürftiger und fünftens eine wachstumsfördernde und beschäftigungssteigernde Umstellung des Steuersystems sowie des Finanz-ausgleichs und eine forcierte Deregulierung von Güter-und Kapitalmärkten.
Würde dieses Reformbündel flankiert durch sechstens effektive Maßnahmen, die Blockaden des Strukturwandels beseitigen (z. B. Subventionsabbau in Krisenbranchen), um ein optimales volkswirtschaftliches Spezialisierungsprofil bei einer hohen Rate der Human-und Realkapitalbildung zu erhalten, und siebtens den Einsatz von Instrumenten, die die Chancengleichheit verbessern (z. B. Kombi-Lohn für bedürftige Arbeitnehmer, spezifische Lohnkostenzuschüsse zur Qualifizierung am Arbeitsplatz), so könnte sich auch Deutschland aus dem Dilemma befreien, entweder den Weg einer auf hohem Niveau stagnierenden bzw. weiter wachsenden Arbeitslosigkeit zu verfolgen oder die Richtung einer deutlich mehr steigenden Einkommensungleichheit einzuschlagen, wenn die bisherige Politik nicht mehr finanzierbar sein wird. Mittelfristig verringerte Raten des statistischen Wachstums der Arbeitsproduktivität sind dabei um so wahrscheinlicher, je besser bestehende Effizienzblockaden beseitigt werden.
Nicht nur, aber auch wegen der Frage der Entwicklung der Lohn-und Einkommensungleichheit ist Vorsicht bei der Änderung des Lohnfindungssystems geboten, da es keine klare empirische Bestätigung gibt, ob betriebsnahe Lohnfindungssysteme den sektororientierten Lohnfindungssystemen immer überlegen sind. Selbst bei den häufig geforderten Änderungen im System (Tariföffnungsklauseln für Unternehmen in Not bzw. für Problemgruppen etc.) werden die Anpassungslasten der Beschäftigungspolitik weitgehend einseitig den Schwächsten des Arbeitsmarktes -den Arbeitslosen und den von Entlassung Gefährdeten -angelastet, so daß keineswegs nur auf solche Instrumente gesetzt werden sollte, da dann die Absenkung des Lebensstandards bei vielen Betroffenen drastisch ausfallen müßte. Die Niederlande und Japan demonstrieren, daß auch gleichgewichtigere Verteilungen der volkswirtschaftlichen Anpassungslasten auf Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitssuchende bei uns möglich wären
Lothar Funk, Dr. rer. pol., geb. 1965; Studium der Volkswirtschaftslehre in Trier und Loughborough, Großbritannien; 1991 bis 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1996 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Trier, FB Volkswirtschaftslehre IV (zur Zeit dort beurlaubt); seit 1998 DAAD-Senior Fellow und Director of Economic Research am Institute for German Studies, University of Birmingham, Großbritannien. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Sonja Optendrenk) Zur Frage der Integration einer Familienkomponente in die Rentenversicherung, in: Eckhard Knappe/Norbert Berthold (Hrsg.), Ökonomische Theorie der Sozialpolitik. Festschrift für Bernhard Külp, Heidelberg 1998; Institutionell verhärtete und politisch rationale Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1999; Labour Market Dynamics in Western Europe and the United States, in: Wolfgang Filc/Claus Köhler (Hrsg.), Macroeconomic Causes of Unemployment: Diagnoses and Policy Recommendations, Berlin 1999.
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