Die Zukunftsperspektiven jeder bundesstaatlichen Ordnung werden geprägt von der verfassungsrechtlichen Struktur und der Verfassungspraxis. Diese Feststellung gilt für den deutschen Bundesstaat in ganz besonderem Maße. Im Unterschied zu föderativen Systemen, in denen die Verflechtung der bundesstaatlichen Ebenen allein auf politische Entscheidungen zurückzuführen ist und damit, den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, prinzipiell auch revidiert werden kann ist die Ausgestaltung des deutschen Föderalismus als „unitarischer Bundesstaat“ durch die in der Verfassungsordnung festgeschriebenen Vetopositionen in einer Weise vorgegeben, die grundlegende Veränderungen und Neuorientierungen erschwert.
I. Historische Wurzeln des deutschen Bundesstaates
Die meisten Beobachter der Entwicklung des bundesdeutschen Föderalismus konstatieren einen Verlust an föderativer Substanz. Der Ministerpräsident von Hessen brachte diese Sichtweise an prominentem Ort zum Ausdruck, als er in seiner Antrittsrede als Präsident des Bundesrates feststellte, in den vergangenen 50 Jahren hätten sich „erhebliche Systemverschiebungen“ vollzogen, die „von dem ursprünglichen Modell des Grundgesetzes nur wenig übriggelassen“ hätten Eine solche Betrachtungsweise, die sich ausschließlich auf die Kompetenzverlagerungen konzentriert, die in der Vergangenheit unbestreitbar zu Lasten der Länder stattgefunden haben, übersieht folgende zwei Aspekte: Zum einen wies bereits dieses „ursprüngliche Modell“ von 1949 eine nicht zu übersehende Schlagseite zugunsten eines dominanten Bundes auf. Zum anderen kennzeichneten die Grundausprägungen dieser Macht-Verteilung, die in der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik eine Unitarisierung erleichterten, auch schon die föderative Ordnung unter der Reichsverfassung von 1871. Auch wenn diese historischen Ausprägungen bei der Beratung des Grundgesetzes keine Rolle spielten, wäre es demzufolge nicht zutreffend, die derzeitige Erscheinungsweise unseres föderativen Systems als „unitarischer Bundesstaat“ zum singulären Ergebnis moderner Entwicklungen zu erklären. Schon die Verfassung von 1871 konstituierte Elemente der Verflechtung zwischen der Ebene der Einzelstaaten und dem Zentralstaat. Wiewohl die Zahl der staatlichen Aufgaben zu dieser Zeit vergleichsweise klein war, listete der Katalog mit ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Reichs doch deutlich mehr Befugnisse auf, als dies in anderen zeitgenössischen Bundesstaaten der Fall war Zudem machte das Reich im Laufe der Zeit auch von seinem Recht zur konkurrierenden Gesetzgebung „fast überreichen Gebrauch“ Neben der Aufgabenverteilung war es vor allem die preußische Hegemonie im Bundesstaat, die die Tendenz zur Unitarisierung begünstigte. Und schon in dieser Epoche bundesstaatlicher Entwicklung kam der „charakteristische Grundzug des deutschen Föderalismus“ zum Vorschein daß der Vorrang des Zentralstaats (Reich bzw. Land) in der Gesetzgebung mit der Zuständigkeit der Länder für den Gesetzesvollzug korrespondierte.
Die so etablierte Form der Aufgabenwahrnehmung zwischen Reich und Einzelstaaten wäre mit einer strikten Trennung der beidpn bundesstaatlichen Ebenen nicht zu vereinbaren gewesen. Vielmehr machte sie Prozeduren und Institutionen erforderlich, durch welche sich die machtbewußten Bürokratien der Einzelstaaten mit dem Reich abstimmen konnten und die zugleich geeignet waren, die starke Heterogenität dieses bundesstaatlichen Gebildes auszugleichen. Auch die damalige Finanzwirtschaft entsprach in der politischen Praxis nicht konsequent dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Modell eines Trennsystems Sie war von einer zunehmenden wechselseitigen Ressourcenabhängigkeit und einer damit verbundenen Entscheidungsverflechtung zwischen Reich und Einzelstaaten geprägt.
Die Weimarer Reichsverfassung sowie die Reichsfinanzreform Erzbergers schränkten die Kompetenzen der Länder in Gesetzgebung und Finanzpolitik gravierend ein, und der Bundesrat von 1871 wurde durch die Verfassung von 1919 zum zwar machtbeschränkten, aber keineswegs unbedeutenden Reichsrat umgewandelt. Aber dennoch: Das Grundmuster des Bundesstaates Bismarckscher Prägung blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg erhalten. Es bot den Landesregierungen die Grundlage, in der Koordination untereinander sowie mit der Reichsregierung, Einfluß auf die Politik des Reiches zu nehmen. Der wesentliche Unterschied zu Bismarcks dynastisch-bürokratischer Bundesstaats-Konstruktion bestand darin, daß schon seit der Parlamentarisierung der Regierung zu Ende des Ersten Weltkrieges die parteipolitischen Gegensätze zwischen Reichsregierung und Landesregierungen und damit insgesamt der Parteienwettbewerb im Bundesstaat an Bedeutung gewannen
II. Ausprägungen und Wirkungen des unitarischen Bundesstaates
Als Konrad Hesse den deutschen Bundesstaat in seiner Studie von 1962 mit dem Etikett „unitarisch“ versah und dabei ausführlich jene Charakteristika untersuchte, die in ihrer Gesamtheit als Ausprägungen des deutschen Verbundföderalismus gelten griff er eine Formulierung auf, mit der bereits der Staatsrechtslehrer Erich Kaufmann 1917 die Kompetenzverteilung nach der Reichsverfassung von 1871 gekennzeichnet hatte. Auch durch diesen Rückbezug wird deutlich, daß die Neigung zur Unitarisierung nicht allein eine neue Tendenz des Bundesstaates seit 1949 ist. Neu ist jedoch das Ausmaß und auch die Schnelligkeit, mit der sich dieser Prozeß der Unitarisierung in der föderativen Ordnung der Bundesrepublik fortsetzt, sowie die Tatsache, daß einige Elemente des unitarischen Bundesstaates in der Praxis zwar von Anfang an üblich, im Verfassungstext aber erst seit den sechziger Jahren festgeschrieben wurden. „Unitarisierung“ meint das Bemühen der politisch Verantwortlichen, eine möglichst gleichmäßige Problemlösung durch die Vereinheitlichung materieller Regelungen zu erreichen, und läßt sich damit von „Zentralisierung“ absetzen, deren Ergebnis in der Verfügungsmacht der übergeordneten gegenüber der nachgeordneten Ebene zum Ausdruck kommt Dabei gehört es zu den Besonderheiten des deutschen Föderalismus, daß er „eine ausgeprägte Unitarisierung als Surrogat für Zentralisierung entwickelt“ hat
1. Aufgabenverteilung
Mit seinem Hinweis auf die „zunehmende Konzentration staatlicher Aufgaben beim Bund“ thematisierte Hesse einen Grundtatbestand des Verbundföderalismus: Die Zuständigkeiten von Bund und Ländern sind nicht nach Staatsaufgaben aufgeteilt wie im US-amerikanischen Bundesstaat, sondern die Verteilung erfolgt weitgehend nach Kompetenzarten. Während die Bundesebene (also Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat) vorrangig für die Gesetzgebung verantwortlich ist, liegt der Vollzug dieser Gesetze weitgehend bei den Ländern. Die Entscheidung, diese prinzipiell bereits aus der Reichsverfassung bekannte Aufgabenverteilung zu übernehmen, wurde bei den Verfassungsberatungen 1948/49 getroffen. In deren Verlauf setzte sich die Auffassung der Mehrheit der politischen Akteure durch, daß die aktuelle soziale Not und die durch den Wiederaufbau Deutschlands gegebenen Notwendigkeiten es erforderlich machten, Kompetenzen beim künftigen Zentralstaat zu konzentrieren Vor diesem Hintergrund erschien die Forderung, dem „Bund entsprechend der Struktur des modernen Lebens in der Gesetzgebung sehr weitgehende Zuständigkeiten zu geben“ den meisten deutschen Politikern opportun So hatte bereits die vom Herrenchiemseer Verfassungskonvent (10. -23. August 1948) vorgeschlagene Regelung zur konkurrierenden Gesetzgebung nach dessen eigener Einschätzung zur Folge, daß in diesem Bereich „nicht eine substantielle Gewährleistung zu Gunsten des Landes“ bestand Gerade auch den Sozialdemokraten galt eine starke Zentralgewalt als Voraussetzung für ihr während der Verfassungsberatungen im Parlamentarischen Rat (1. September 1948 -8. Mai 1949) verfochtenes Ziel in der ganzen Bundesrepublik „vergleichbare Lebensverhältnisse“ herzustellen Der Mehrzahl der Mitglieder des Parlamentarischen Rates erschien der Freiraum für eine eigengestalterische Betätigung der Länder, wie ihn der alliierte Auftrag im Frankfurter Dokument Nr. 1 vom 1. Juli 1948 forderte, durch die getroffenen Vorkehrungen gesichert. Namentlich handelte es sich dabei um die Kompetenzen der Länder im Rahmen der Vorranggesetzgebung und bei der Ausführung der Bundesge setze sowie ihre Beteiligung an der Bundes-gesetzgebung. Die Militärgouverneure teilten diese Sicht nicht. Sie ließen in zwei Memoranden anklingen, daß sie ihren Auftrag, eine „demokratische föderalistische Regierung“ zu schaffen im bisherigen Entwurf nicht ausreichend gewährleistet sahen. Erst der Widerstand einer Mehrheit des Parlamentarischen Rates veranlaßte die Alliierten schließlich doch, ihre Anforderungen hinsichtlich der Beschränkung der Befugnisse der Bundesregierung zu reduzieren. Nach der dann vereinbarten Endfassung von Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG (wie sie bis zur Verfassungsreform 1994 galt) konnte der Bund sein Gesetzgebungsrecht beanspruchen und ausüben, soweit ein Bedürfnis nach einer bundesgesetzlichen Regelung bestand, weil die „Wahrung der Rechts-oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus, sie erfordert“. Doch die positiven Auswirkungen der durch die Einmischung der Alliierten nun etwas föderalistischeren Bedürfnisklausel blieben gering. Besonders die Formel von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, die ursprünglich noch als Begrenzung gedacht war, geriet „umgekehrt zum eigentlichen Träger der Vereinheitlichung“ Da die Frage, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung vorliege, in den Folgejahren als nicht justitiable Ermessensentscheidung des Bundesgesetzgebers interpretiert wurde, erhielt diese Klausel von Art. 72 Abs. 2 GG keine rechtliche Wirkung Ein weiterer Grund für die Wirkungslosigkeit der Bedürfnisklausel ist darin zu sehen, daß sie durch eine andere Grundgesetz-bestimmung unterlaufen wurde: Art. 125 GG regelt das Fortgelten alten Rechts bei konkurrierender Gesetzgebung und ließ unter bestimmten Voraussetzungen die Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung automatisch zu Bundesrecht werden, ohne dies von der Bedürfnisprüfung des Art. 72 GG abhängig zu machen
Die darauf beruhende Dominanz des Bundes in der Gesetzgebung erfährt -und dies gilt als Kennzeichen des deutschen Verbundföderalismus -durch die Präsenz der Länder beim Vollzug der meisten Bundesgesetze ein Gegengewicht. Es kann jedoch als weiteres Indiz einer fortschreitenden Unitarisierung des deutschen Bundesstaates gewertet werden, daß die Länder sich nicht einmal ihrer Eigenständigkeit bei den Vollzugsaufgaben völlig sicher sein können. Durch den Ausbau der Bundesverwaltung und den Einfluß des Bundes auf die Landesverwaltung, der sich bei näherer Betrachtung aber wohl doch eher als „Verabredung“ mit den Landesbürokratien darstellt konstatierte Hesse 1962 ein Vordringen des Bundes im Bereich der vollziehenden Gewalt, „das die Tendenz der Unitarisierung mit besonderer Schärfe hervortreten läßt“
2. Der Bundesrat
Bei den Beratungen der Verfassunggeber über Kompetenzen und Organisation der Zweiten Kammer setzte sich nach langwierigen Auseinandersetzungen und in Konkurrenz zu einem Senats-modell eine Lösung durch, die in ihren Grundformen die Linienziehung zum historischen Bundesrat erlaubt Das reine Bundesratsmodell entsprechend der Verfassung von 1871 war zwar bei den Verfassungsberatungen 1949 nicht mehrheitsfähig. Dennoch änderte auch die als Kompromiß vereinbarte „abgeschwächte Bundesratslösung“ prinzipiell nichts daran, daß mit der Wiederbesinnung auf den Bundesrat das wohl wichtigste konstitutive Element des sogenannten Verbundföderalismus in die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes aufgenommen wurde. Im Unterschied zu anderen föderativen Systemen wurde damit auch im neuen deutschen Bundesstaat das Prinzip der Mitentscheidung der Exekutiven der Gliedstaaten bar der Gesetzgebungs-und Verordnungstätigkeit des Zentralstaates verfassungsrechtlich institutionalisiert Die Absicht des Parlamentarischen Rates, die bürokratische Prägung des alten Bundes-bzw. Reichsrates nicht wiederherzustellen, sondern durch die Vorschrift in Art. 51 Abs. 1 GG, daß sich Bundesratsmitglieder ausschließlich durch andere Mitglieder ihrer Landesregierung vertreten lassen können, zu gewährleisten, daß Landespolitiker das Gebaren des Bundesrates bestimmen, wurde in der föderativen Praxis aber kaum wirksam. Da im politisch besetzten Plenum des Bundesrates lediglich die Entscheidungen ratifiziert werden, die in seinen Ausschüssen sowie deren Um-und Vorfeld in langwierigen Prozessen zwischen den Landesministerialbürokratien ausgehandelt werden müssen, ist auch der Bundesrat des Grundgesetzes von bürokratischen und weniger von politischen Denkund Handlungsmustern geprägt. Als großen Vorzug dieser Lösung kann man werten, daß hierdurch eine wesentlich effizientere Kontrolle der Bundesregierung und damit der Bundesbürokratie gewährleistet wird, als dies durch die rein parlamentarische Kontrolle einer Regierung und ihrer Verwaltung jemals erreicht werden könnte Getrübt wird diese positive Einschätzung aber durch die Erfahrung, daß die Kooperation in Form der „vertikalen Fachbruderschaften" in der Praxis des Bundesrates größere Bedeutung hat als die gegenseitige Kontrolle der Ministerialverwaltungen
3. Kooperation
Die Grundzüge der Aufgabenverteilung sowie die Wirkmechanismen des Bundesrates waren durch die Entscheidung der Verfassunggeber im Grundgesetz von vornherein explizit angelegt. Etwas anders verhält es sich mit dem dritten Merkmal des Verbundsystems -der Koordinierung von Bund und Ländern sowie der Länder untereinander. Zum einen kann diese Zusammenarbeit als Folge der grundgesetzlichen AufgabenVerteilung interpretiert werden. Da die Länder die meisten Gesetze des Bundes vollziehen und die Landesregierungen mit der Mehrheit ihrer Stimmen über den Bundesrat inhaltlich Einfluß auf die Politik des Zentralstaats nehmen können, der bei derzeit 60 Prozent aller Gesetzesvorlagen (den zustimmungspflichtigen Gesetzen) bis zur Möglichkeit reicht, den Gesetzesbeschluß des Bundestages bereits durch die Verweigerung der Zustimmung scheitern zu lassen ist der Koordinierungsbedarf zwangsläufig groß. Diese Praxis des Zusammenwirkens hatten die Regierungs-und Verwaltungsstellen von Zentralstaat und Gliedstaaten bereits unter der Reichsverfassung von 1871, bedingt z. B. durch die Funktionsweise des Bundesrates, eingeübt. Dagegen hat sich der „kooperative Föderalismus“ im engeren Sinn, verstanden als die Kooperation von Bund und Ländern bei der Wahrnehmung ursprünglich getrennter Kompetenzen erst seit den sechziger Jahren entwickelt. Maßgeblich zum Erscheinungsbild des unitarischen Bundesstaates trägt zum anderen die Tatsache bei, daß die durch die Kompetenzverteilung zwischen den bundesstaatlichen Ebenen notwendige Form der Bund-Länder-Kooperation ergänzt wird durch eine Selbst-koordinierung der Länder. Selbst in den Aufgabengebieten, für die sie ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen besitzen, neigen die Länder dazu, den Handlungsspielraum des jeweiligen Landes durch enge Absprachen in Form von Exekutivvereinbarungen oder Mustergesetzentwürfen einzuschränken. Bei der Suche nach den Ursachen für den in diesen Absprachen zum Ausdruck kommenden politischen Willen, das Leitbild der Einheitlichkeit bzw.der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur umfassenden Handlungsmaxime zu machen genügt der Verweis auf die vermeintliche Unausweichlichkeit der unitarischen Entwicklung moderner Industrie-und Sozialstaaten ebensowenig wie der Hinweis, daß die Länder durch die willkürlichen Grenzziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Flüchtlingsbewegungen ihre Individuali tät weitgehend verloren hatten Unabhängig davon war Unitarisierung in Deutschland schon viel früher zu einer „starken kulturellen Norm“ geworden weil die der Reichsgründung von 1871 vorangegangene „Kleinstaaterei“ von maßgeblichen politischen Kräften des 19. Jahrhunderts als Ursache der verspäteten Nationalstaats-bildung identifiziert worden war und deshalb auch in der Folgezeit als Ausprägung wahrgenommen wurde, die es zu überwinden galt.
4. Wirkungsweise des unitarischen Bundesstaates
Alle drei genannten Elemente des deutschen Verbundföderalismus tragen dazu bei, daß sich der deutsche Bundesstaat nicht als „Gestaltungsföderalismus“, sondern als „Beteiligungsföderalismus“ darstellt. Während den Landesparlamenten relativ wenig eigene Gestaltungsmöglichkeiten zukommen sind die Mitgestaltungs-, aber auch die Verhinderungsmöglichkeiten der Landesregierungen auf der Bundes-und Europaebene umfassend. Die Wirkungsweise dieses unitarischen Bundesstaates unterscheidet sich damit nicht nur von der eines dezentralisierten Einheitsstaates, sondern kontrastiert auch auffallend zu dem zum „idealen Bundesstaat“ stilisierten US-amerikanischen Föderalismus. Im unitarischen Bundesstaat sind die Wirkungen der vertikalen Gewaltenteilung, die sich in einem Trennsystem aus der Aufgabenverteilung zwischen zentralstaatlicher Ebene einerseits und gliedstaatlicher Ebene andererseits ergeben sollten, weitgehend aufgehoben, da kein Gleichgewicht von Bund und Ländern besteht. Weitet man aber die Betrachtungsweise aus und bezieht die Koordinierungsinstanzen der Länder vor dem Hintergrund der Tatsache ein, daß ein gemeinsames Vorgehen der Mehrheit der Länder Bundesregierung und Bundestagsmehrheit unter Umständen erheblich in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränkt, stellt sich die Situation anders dar. Dann wird offensichtlich, daß die Länder über den Bundesrat, als einer Teilgröße der den „Bundesgesetzgeber“ manifestierenden Verfassungsorgane, ein relevantes Element horizontaler Gewaltenhemmung darstellen. In diesem Zusammenhang wirkt sich der zu den Begleiterscheinungen der Unitarisierung gehörende Bedeutungszu-wachs für den Bundesrat aus, der im Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze zum Ausdruck kommt, bei denen der Bundesrat die Funktion einer Zweiten Kammer besitzt. In der ersten Legislaturperiode war für ca. 40 Prozent aller Bundesgesetze die Zustimmung des Bundesrates zwingend erforderlich. Ausgehend von diesem ohnehin sehr hohen Niveau in den Anfangsjahren der Bundesrepublik stieg dieser Anteil mittlerweile auf mehr als 60 Prozent Bei Rechtsverordnungen, an deren Zustandekommen der Bundestag überhaupt keinen Anteil hat, reichen die Kompetenzen des föderativen Organs sogar noch weiter. Diese Besonderheit kann ebenfalls als Indiz dafür gewertet werden, daß der „reale Faktor, der sich im Bundesrat zur Geltung bringt, weniger das spezifisch föderalistische Element der Länder als Individualitäten als das Element der Landesministerialbürokratien ist“
III. Die Entwicklung des deutschen Bundesstaates seit 1949
Ausgehend von einem verfassungsrechtlichen Grundstock, der schon in den Anfangsjahren stärker das Zusammenwirken als die Trennung der Ebenen begünstigte, verschoben sich die Gewichte in der föderativen Ordnung bereits zwischen 1949 und der zweiten Hälfte der sechziger Jahre immer weiter zum Zentralstaat hin. Mittels seiner Finanzwirtschaft und des sogenannten Dotationssystems mischte sich der Bund zunehmend in Landeskompetenzen ein, z. B. indem er Vorhaben finanzierte, die außerhalb seiner Zuständigkeit lagen Möglich war dies dem Bund aber nur deshalb, weil einige Länder auf diese Beihilfen und Zuschüsse zu Landesinvestitionen angewiesen waren und sich die Landespolitiker politisch wenig sensibel hinsichtlich der damit verbundenen Gefährdung der föderativen Balance zeigten. Dieses haushaltspolitische Fehlverhalten des Bundes wie der Länder legte die Grundlage für die Probleme, die schließlich nur noch durch die Finanzreform der Großen Koalition (1966-1969) lösbar erschienen. Nun geriet die bundesstaatliche Ordnung unter den Druck von seiten derer, die das Ende der Adenauer-Ära mit weitreichenden Umgestaltungen der inneren Strukturen der Bundesrepublik besiegeln wollten Besonders nachhaltig wirkte sich die Entscheidung aus, im Zuge der Großen Finanzreform von 1969 finanzpolitische Zuständigkeiten zu klären und das undurchschaubar gewordene System an Mischfinanzierungen ohne verfassungsmäßige Legitimierung zu bereinigen Während der Bund die Finanzreform als Chance pries, die begrenzten öffentlichen Mittel effektiver und sinnvoller einzusetzen, standen die Länder dem Projekt zwiespältig gegenüber. Einerseits versprachen auch sie sich von der Großen Finanzreform eine Möglichkeit, auf die unterschiedliche finanzielle Entwicklung der Länder zu reagieren und die schon längst praktizierten Kooperationsformen zwischen Bund und Ländern verfassungsrechtlich zu verankern. Andererseits war die Skepsis gegenüber dem Kernstück der Finanz-reform, den sogenannten Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a, b GG), sehr groß. Nach Art. 91 a Abs. 1 GG wirkt der Bund unter bestimmten Voraussetzungen bei der Erfüllung von solchen Aufgaben mit, die grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Länder fallen. Seither können Landesaufgaben wie der Hochschulbau, die Förderung der regionalen Wirtschafts-und Agrarstruktur (Art. 91 a GG) sowie die Bildungsplanung und Forschungsförderung (Art. 91 b GG) wegen ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung und finanziellen Größenordnung nur noch gemeinsam mit dem Bund angegangen werden. Vor allem die leistungsstärkeren Länder kritisieren daß die Landesparlamente als Folge dieser Verfassungsänderung Gestaltungsmöglichkeiten in Bereichen verloren haben, für welche die Länder bis dahin zumindest in verfassungsrechtlicher Hinsicht allein zuständig gewesen waren In den siebziger Jahren wurde der bereits während der Großen Koalition verfassungsrechtlich verfe-stigte kooperative Föderalismus noch weiter intensiviert. Die damalige sozialliberale Regierungsmehrheit war der Überzeugung, den wachsenden wirtschafts-, Konjunktur-und strukturpolitischen Problemen nur dann begegnen zu können, wenn Bund und Länder ihr Handeln stärker als bis dahin üblich aufeinander abstimmten. Diese Zielsetzung verband sie mit Ankündigungen, die ihr in Anbetracht des ihnen zugrundeliegenden Föderalismuskonzepts viel Kritik einbrachten. In der politischen Praxis zeigte sich jedoch schon bald, daß diese Reform-und Modellprogramme des Bundes an der Realität sowohl der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat als auch an der prekären Lage der öffentlichen Haushalte seit 1973 scheiterten.
Seit Mitte der siebziger Jahre waren für die Zeit der sozialliberalen Koalition keine relevanten Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern mehr zu verzeichnen. Andererseits verliefen aber auch die beiden herausragenden Initiativen der siebziger Jahre, mit denen die Bundesstaatsreform der Großen Koalition fortgeführt werden sollte -die Vorschläge der Ernst-Kommission zur Neugliederung des Bundesgebietes und die Enquete-Kommission Verfassungsreform -, im Sande. Schließlich veranlaßte die Lage der öffentlichen Haushalte den Bund zu einem Rückzug aus der Finanzierung z. B. von Gemeinschaftsaufgaben und Förderprogrammen. Für die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder hatte dies aber keine positiven Wirkungen: Da der Bund nur auf die Mitfinanzierung, nicht aber auf die politische Einflußnahme verzichtete und im übrigen die Landeshaushalte von der Finanzkrise nicht weniger betroffen waren, konnten die Länder kein Terrain gewinnen Der bereits 1981 unternommene Versuch der Regierungschefs von Bund und Ländern, die Möglichkeiten zu prüfen, wie die Mischfinanzierungen nach Art. 104 a Abs. 4 GG im gegenseitigen Einvernehmen abgebaut werden könnten, führte erst nach dem Regierungswechsel von 1982 zu konkreten Ergebnissen, als die Mitfinanzierung des Studentenwohnraumbaus, des Städtebaus und des Krankenhausbaus eingestellt wurde
IV. Reformperspektiven
Die Kritik am kooperativen Föderalismus entzündet sich daran, daß häufig die Verantwortlichkeit der Ebenen im Bundesstaat nicht nachvollziehbar ist und die Selbständigkeit der Länder ebenso eingeschränkt wird wie die Handlungsfähigkeit des Bundes. Im übrigen verhindert das im Rahmen dieser Kooperation der staatlichen Ebenen entstandene System der Politikverflechtung, also das Geflecht von formellen und informellen Mitsprachebefugnissen, nicht, daß Kompromisse häufig zu Lasten derer gehen, die vom föderativen Macht-kartell ausgeschlossen bleiben, wie etwa die Kommunen oder andere Selbstverwaltungskörperschaften Das heißt, der Nutzen von Kooperation und Verflechtung scheint deren Kosten nicht zu übersteigen.
1. Die Diskussion um eine „Reföderalisierung“
Die Kritik an dieser Entwicklung mündete bereits in den achtziger Jahren in erste Bemühungen um eine „Reföderalisierung“, also eine Entflechtung der Ebenen. Vollends zum Problem wurde die im Verbundföderalismus angelegte Tendenz zur Konfliktvermeidung und politischen Immobilität" nachdem mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder die Leistungsklüfte zwischen den einzelnen Ländern immer tiefer wurden. Da sich im Verbundföderalismus der Gestaltungsspielraum der Gesamtheit der Länder nach der Leistungsfähigkeit ihrer schwächsten Glieder bemißt, beeinträchtigt die finanzielle Abhängigkeit oder Handlungsschwäche des einzelnen Landes immer auch das Gesamtsystem. Dieser Zusammenhang erklärt die Notwendigkeit, zwischen den Ländern eine weitgehend gleiche Mittelausstattung herzustellen. Erreicht werden soll dies durch den Länderfinanzausgleich, der unter der Leitlinie der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ zu einer weitgehenden Angleichung der Pro-Kopf-Finanzkraft von Geber-und Nehmerländern führt Doch trotz der aus der Sicht der Geberländer als leistungshemmend empfundenen Wirkung des Finanzausgleichs und der Bundesergänzungszuweisungen sind die Disparitäten zwischen den Ländern immer noch zu groß, um mit den Wirkungsmechanismen des Verbundmodells problemlos vereinbar zu sein.
Die hier anknüpfende Diskussion um Notwendigkeit und Chance einer Reform des deutschen Bundesstaates intensivierte sich unter den Bedingungen abweichender Mehrheitsverhältnisse zwischen Bundestag und Bundesrat in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Das Scheitern der Steuerreform 1997/98 war zwar nicht allein auf die abweichenden Mehrheitsverhältnisse zurückzuführen, sondern vor allem auch darauf, daß im Unterschied zu den siebziger Jahren die Kompromißfähigkeit der Bonner Regierungskoalition durch die Rücksichtnahme auf Klientelinteressen sehr eingeschränkt war, dennoch wurde sie zum Drehund Angelpunkt für den Vorwurf an den Verbund-föderalismus, „Reformblockaden“ zu produzieren. Dagegen konnten unter denselben Handlungsbedingungen andere, nicht weniger wichtige Projekte (bei aller inhaltlichen Kritik an ihrer Ausgestaltung im einzelnen) trotz divergierender Mehrheiten zum legislativen Erfolg geführt werden, wie etwa die Bahn-und Postreform, die Jahressteuer-gesetze 1996 und 1997 oder die Reform des Sozialhilferechts. Dies zeigt, daß die Verdrängung des generell vorhandenen beiderseitigen Interesses an einer Konfliktlösung zwischen Bundestag und Bundesrat durch Blockaden und Immobilismus meist mit Motiven zu tun hat, die außerhalb der föderalen Machtlogik liegen. Falluntersuchungen lassen den Schluß zu, daß solche Steuerungsmängel insbesondere dann auftreten, wenn die Umstände es den politischen Parteien nicht erlauben, ihre prinzipiell mögliche Funktion als Scharniere zwischen Bund und Ländern einzusetzen und zur Überwindung föderativ bedingter Interessenunterschiede beizutragen. Das ist z. B. dann der Fall, wenn ein Vorhaben sich inhaltlich und durch die zeitliche Nähe zu Wahlen zur parteipolitischen Profilierung eignet und die jeweilige Bundesregierung versucht ist, koalitionsinterne Konflikte zu Lasten der Länder zu lösen Eine solche Strategie birgt zwar das Risiko des Scheiterns von vornherein in sich, dennoch verbindet sich mit ihr der Vorteil, die Ursachen für inhaltliche Abstriche oder das Nichtzustandekommen eines Gesetzes nicht den eigenen parteipolitischen Reihen, sondern derjeweiligen Opposition anlasten zu können.
Das Ausmaß an Unzufriedenheit mit den komplexen institutioneilen Verflechtungen, die politische Akteure unter bestimmten Umständen in eine „Rationalitätsfalle“ locken 54läßt sich daran ermessen, daß die Forderungen nach einer Reform des deutschen Bundesstaates auch nach der Bundestagswahl 1998 nicht verstummten. Obwohl als deren Ergebnis die parteipolitischen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zunächst wieder übereinstimmen, scheint sich die Auffassung durchzusetzen, daß die Folgenlosigkeit der vorangegangenen öffentlichen Kritik in einer Weise die behauptete strukturelle Reformunfähigkeit des Föderalismus belegen könnte, an der gerade Befürwortern dieses gewaltenteilenden Ordnungsprinzips keinesfalls gelegen sein kann. Vor diesem Hintergrund ist auch die neuerliche Initiative der Länder zu sehen, eine gemeinsame Kommission des Bundesrates und des Bundestages einzurichten, die einen Vorschlag zur Änderung der bundesstaatlichen Ordnung ausarbeiten soll, „der die Eigenstaatlichkeit der Länder stärkt, Aufgaben-und Ausgabenverantwortung zusammenführt und die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern in einer die verschiedenen Interessen soweit wie möglich berücksichtigenden . . . und gleichermaßen vertretbaren Weise neu ordnet“ Diese neuerliche Bekräftigung des Ziels, die überkommenen Strukturen deutscher Bundesstaatlichkeit zu überwinden, ändert aber nichts an dem Grundproblem jeder Diskussion um eine Reform des deutschen Bundesstaates. Analysiert man nämlich die für eine wirksame Reform des deutschen Bundesstaates tatsächlich erforderlichen Schritte und macht man sich bewußt, daß die verschiedenen großen Einzelschritte innerhalb des bestehenden Verbundmodells mit all seinen Veto-möglichkeiten stattfinden müßten, wird Pessimismus über ihre Realisierbarkeit zur Verpflichtung redlicher Analyse und Argumentation. Erstens schränkt die Tendenz zum „Verflechtungszirkel“ die Reichweite von Reformvorhaben von vornherein stark ein. Zweitens ist in Anbetracht der historischen Entwicklung nicht zu übersehen, daß Kooperation und Verflechtung nicht ungewolltes politisches Schicksal sind, sondern es sich dabei um einen von der Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Akteure gewünschten Politikstil handelt. Ziel kann daher realistischerweise nicht eine Totalreform in Anlehnung an idealisierte Bundesstaatsmodelle sein, sondern man muß sich mit einer gewissen Entflechtung der staatlichen Ebenen zufriedengeben
2. Europäische Föderalismus-Perspektiven
Selbst graduelle institutionelle Reformen könnten die dem unitarischen Bundesstaat immanenten Verflechtungstrends abschwächen und auf diese Weise die Handlungsfähigkeit des deutschen Bundesstaates auch im Hinblick auf seine Europäisierung sichern. Die Herausforderung durch die Europäische Integration besteht in der Notwendigkeit, durch Verfahren und Institutionen den Verlust der deutschen Länder an eigenen Gestaltungsmöglichkeiten in einer Weise zu kompensieren, wie man dies bereits in der Vergangenheit in bezug auf den deutschen Zentralstaat einüben konnte ohne durch diese zusätzliche Verflechtung das grundlegende Prinzip der Interessenvermittlung zwischen Regierten und Regierenden sowie die Prinzipien der politischen Gleichheit, der Öffentlichkeit, der Verantwortlichkeit sowie der Effektivität -insgesamt also die demokratische Legitimation staatlichen Handelns -zu gefährden Möglich erscheint dies durch eine „komplexe Kombination von Konsens-und Mehrheitsdemokratie, von parlamentarischen und kooperativen Entscheidungsstrukturen, von Verhandlungen und Parteienwettbewerb und von indirekten und direkten Formen der Demokratie, die lose gekoppelt sind“ Einer solchen Entwicklungsperspektive für den parlamentarischen Bundesstaat Deutschland als Teil der Europäischen Union kommt die Tatsache entgegen, daß auf supranationaler Ebene konkurrenzdemokratische Entscheidungsprozesse wohl noch stärker als bisher durch Verhandlungsstrategien verdrängt werden Diese Entwicklung auf europäischer Ebene könnte durch unterschiedliche Prozesse in den einzelnen Mitgliedstaaten begünstigt werden: In einem Teil der Mitgliedstaaten, wie z. B. Großbritannien, Italien, Spanien oder Frankreich, wurden Regionalisierungsprozesse eingeleitet, die mittel-bis langfristig nicht nur die nationale Form von Gewaltenhemmung grundlegend modifizieren sondern auch die Bereitschaft dieser Staaten erhöhen werden, föderalstaatliche Denk-und Handlungsmuster wie auch Aufgabenteilungsmuster gemäß dem Subsidiaritätsprinzip im europäischen Kontext zu akzeptieren. Gingen diese Regionalisierungsbzw. sogar Föderalisierungstendenzen mit einer gelingenden Entflechtung und damit Vereinfachung gerade im föderal organisierten Mitglied-staat Bundesrepublik Deutschland einher, diente ein solcher Konvergenzprozeß gerade auch den Interessen der deutschen Länder im Hinblick auf Europa.