I. Einleitung
Mit der deutsch-deutschen Grenzöffnung am 9. November 1989 und dem anschließenden Beitritt der DDR zur Bundesrepublik haben sich die Lebensbedingungen und biographischen Perspektiven der Menschen in Ostdeutschland radikal verändert. Im Rahmen des politischen Umbruchs kam es in kürzester Zeit zu einer Freisetzung der Individuen aus den DDR-spezifischen Rahmenbedingungen wie z. B.dem Recht und der Pflicht zur Arbeit, der staatlichen Zuweisung von Ressourcen (vor allem Wohnraum), sozialpolitisch forcierter ganztägiger Berufstätigkeit von Eltern und damit verbundener institutionalisierter Kinderbetreuung. Besonders die biographischen Perspektiven von Frauen haben sich seit der Grenzöffnung verändert, da die sozialpolitischen Maßnahmen, die in der DDR auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinwirken sollten, nach dem Beitritt zur Bundesrepublik nur noch eingeschränkt vorhanden waren. Die „Vereinbarkeitsmaßnahmen“ führten zu einer hohen Erwerbstätigkeit von Frauen in der DDR, jedoch gleichzeitig auch zu einer institutioneil unterstützten geschlechtsspezifischen Zuständigkeit für die Familie, da sie sich in erster Linie an Frauen richteten.
Um die mit dem politischen Umbruchprozeß einhergehenden biographischen Veränderungen im weiblichen Lebenszusammenhang empirisch zu untersuchen, wurden im Rahmen einer Diplomarbeit an der Universität Hamburg Interviews mit Frauen geführt, die um den Zeitpunkt der Grenzöffnung herum von Ost-nach Westdeutschland gezogen sind. Sie haben den Wechsel des politischen Systems gewissermaßen von heute auf morgen erlebt und waren weniger den spezifischen Transformationsproblemen in Ostdeutschland ausgesetzt, können also über die veränderten Lebenszusammenhänge in der Bundesrepublik unmittelbar Auskunft geben. Exemplarisch wurden hierzu als Untersuchungsgruppe junge Frauen im Alter von 24 bis 32 Jahren ausgewählt, da diese sich in einer zentralen Phase der Weichenstellung für ihre berufliche und private Zukunft befinden, in der wesentliche, biographisch relevante Entscheidungen im beruflichen und privaten Bereich getroffen werden.
Die Auswertung der Interviews ergab, daß die Freisetzungsprozesse aus den staatlichen Rahmenbedingungen der DDR und der Eintritt in die bundesrepublikanischen Lebensbedingungen weitgehend als Individualisierungsprozesse im Sinne der Theorie von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim beschrieben werden können Einerseits kommt es dabei zu Freisetzungen aus traditionalen Zusammenhängen, Individuen werden verstärkt auf sich selbst verwiesen und zum „Planungsbüro“ ihrer eigenen Biographie, des „eigenen Lebens“ Dies bedeutet jedoch nicht absolute Wahlfreiheit, sondern die Biographien werden gleichzeitig neu standardisiert, z. B. über den Arbeitsmarkt und Konsummuster. „Individualisierung meint zum Beispiel die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen -zum Beispiel das Brüchigwerden von lebensweltlichen Kategorien wie Klasse und Stand, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft usw.; oder auch, wie im Fall der DDR und anderer Ostblockstaaten, den Zusammenbruch staatlich verordneter Normalbiographien, Orientierungsrahmen und Leitbilder. Wo immer solche Auflösungstendenzen sich zeigen, stellt sich zugleich die Frage: Welche neuen Lebensformen entstehen dort, wo die alten, qua Religion, Tradition oder vom Staat zugewiesenen, zerbrechen?“
II. Lebensverhältnisse von Frauen in der DDR und in der Bundesrepublik
Die unterschiedlichen Staatsformen und die damit einhergehenden wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in beiden deutschen Staaten führten zu verschiedenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung für die Menschen. Orientiert sich die Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik der Bundesrepublik zentral an den Grundsätzen und Erfordernissen der sozialen Marktwirtschaft, so war die der DDR an planwirtschaftlichen Bedarfen ausgerichtet. Entsprechend steuerbar und vorhersehbar sollten auch die Lebensverläufe der Menschen sein. Dies führte zu einer starken staatlichen Lenkung der Individuen in den Bereichen Bildung, Beruf und Familie. Die SED als Staatspartei hatte „den Anspruch, das alleinige Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein“ Wenn dieser Anspruch auch nicht annähernd verwirklicht werden konnte, so war der Einfluß staatlicher Steuerung auf individuelle Lebensgestaltung doch nicht unerheblich Staatliche Bedarfe hatten dabei im Zweifelsfall Vorrang vor individueller Wahlfreiheit, dafür wurden die Individuen im Gegenzug mit einem engmaschigen „sozialen Netz“ entschädigt. Es gab also im Vergleich zur Bundesrepublik mehr Zwänge, aber auch mehr Sicherheiten, die auf staatliche Eingriffe gründeten. Den Individuen war ein Fürsorgebündnis mit dem Staat auferlegt, das sie einerseits sozial absicherte, andererseits aber auch ihre Entscheidungsspielräume bezüglich der eigenen Lebensplanung einschränkte. Die sozialpolitischen Maßnahmen führten zu einer weiblichen Normalbiographie, die sich durch frühe Familiengründung und lebenslange Vollzeit-Erwerbstätigkeit auszeichnete. Diesem staatlich erwünschten und positiv sanktionierten Lebensentwurf folgte ein Großteil der Frauen in der DDR
In der Bundesrepublik kam es dagegen seit den sechziger und siebziger Jahren mit steigendem Wohlstand und geringerer staatlicher Verregelung der Lebensläufe zu einer stärkeren Pluralisierung von Lebensformen und zur Erosion einer Normalbiographie hin zur „Bastelbiographie“ die den Individuen -herausgelöst aus traditionalen und familiären Zusammenhängen -ein hohes Maß an biographischer Selbststeuerung abverlangt und immer wieder neue Richtungsentscheidungen erfordert.
Die verschiedenen politischen Systeme beider deutscher Staaten ließen entsprechend unterschiedliche soziodemographische Strukturen entstehen; die Differenzen manifestieren sich vor allem in der Erwerbsarbeit von Frauen. Waren in der DDR 91, 2 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig oder in der Ausbildung so betrug dieser Anteil in der Bundesrepublik trotz zunehmender Berufstätigkeit nur knapp 60 Prozent Besonders groß waren die Differenzen in der Gruppe der Frauen mit minderjährigen Kindern. In der DDR waren 94 Prozent der verheirateten Frauen mit einem minderjährigen Kind berufstätig (Bundesrepublik: 47 Prozent) und immer noch 83 Prozent der verheirateten Frauen mit drei und mehr Kindern (Bundesrepublik: 35 Prozent)
Die Beschäftigungszahlen in der DDR sind vor dem Hintergrund sozialpolitischer Maßnahmen zu sehen, die auf das Recht und die Pflicht zur Arbeit abzielten und möglichst eine große Anzahl von Menschen in das Erwerbsleben einbinden sollten. Die zahlenmäßig volle Integration von Frauen ins Erwerbsleben wurde von der SED als Zeichen verwirklichter Gleichberechtigung ausgelegt, folgte aber in der Phase der Durchsetzung auch ökonomischen Gründen. Da es in der Wirtschaft an Arbeitskräften mangelte, wurde bereits seit den fünfziger Jahren eine zunehmende Eingliederung von Frauen ins Erwerbsleben angestrebt und durch eine entsprechende Gesetzgebung unterstützt Gleichzeitig sollte aber einem durch die familiäre und berufliche Doppelbelastung entstehenden Geburtenrückgang entgegengewirkt werden, so daß ab 1972 in der DDR eine Reihe sozialpolitischer Maßnahmen verabschiedet wurde, die auf die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzielten. Hierzu gehörten unter anderem der Ausbau des Kinderbetreuungssystems, Verkürzung der Arbeitszeit, zusätzliche Urlaubstage für Mütter mit mindestens zwei Kindern unter 16 Jahren, bezahlte Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder, ein voll bezahltes, sogenanntes Babyjahr bei Fortdauer der Betriebszugehörigkeit und eine Erhöhung des Kindergeldes Diese Maßnahmen waren ausschließlich im Hinblick auf berufstätige Mütter formuliert, die Inanspruchnahme durch Väter war nur in Ausnahmefällen vorgesehen.
In der Bundesrepublik gab es weniger sozialpolitische Maßnahmen, Frauen in das Berufsleben voll zu integrieren. Besonders in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wurde vielmehr von einigen politischen Kräften der Versuch unternommen, Frauen eher vom Erwerbsleben fernzuhalten und ihnen verstärkt die Rolle der Hausfrau und Mutter zuzuweisen
Heike Ellermann stellt in diesem Zusammenhang fest, daß für Frauen in der DDR die Orientierung auf die Verbindung von Mutterschaft und Beruf gesellschaftlich und politisch voll anerkannt war und auch von den meisten Frauen angestrebt wurde. In der Bundesrepublik gibt es dagegen eine Vielzahl möglicher Lebensformen für Frauen, von denen aber keine mehrheitlich anerkannt ist. Weder das Bild der Karrierefrau noch das der Hausfrau ist durchweg positiv besetzt. Das Leben der Frauen in der stärker individualisierten Gesellschaft der Bundesrepublik ist in diesem Sinne vorbildlos.
III. Drei Kurzprofile
Auf der Basis der Interviews wurden in einer Einzelfallbetrachtung Kurzprofile erstellt. Sie fassen die biographische Entwicklung der Befragten in bezug auf Ausbildung/Beruf und Privatleben vor und nach der Wende zusammen, so daß Individualisierungstendenzen anhand von prägnanten lebensgeschichtlichen Merkmalen bereits in den einzelnen Fallgeschichten sichtbar werden. Drei dieser Kurzprofile sollen an dieser Stelle vorgestellt werden. Dem Kurzprofil wird jeweils ein Zitat aus dem Interview vorangestellt, mit dem das persönliche Erleben der sich verändernden Lebenszusammenhänge charakterisiert werden kann
Vivien Koch, 26 Jahre, selbständige Friseurmeisterin: „Im Augenblick bin ich eben mehr so’n Einzelkämpfer, daß ich mir sage, ich mach’ halt erstmal meinen Beruf. “
Frau Koch kommt aus einem kleinen Ort in der Nähe von Cottbus, ihre Eltern haben in der DDR als Textilgestalterin und Kranschlosser gearbeitet und sind zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos.
Nach dem Schulabschluß im zehnten Schuljahr begann Frau Koch in ihrem Heimatort eine Ausbildung als Friseurin. Eineinhalb Jahre später wird die deutsch-deutsche Grenze geöffnet. Frau Koch beschließt spontan, zusammen mit ihrem damaligen Freund nach Westdeutschland zu ziehen, um dort die Ausbildung zu beenden. Im Januar 1990 heiraten die beiden, zwei Tage später ziehen sie um nach Regensburg in die Wohnung von Onkel und Tante des Ehemanns. Die Wohnmöglichkeit bei den Verwandten ist mit deren Pflege verbunden. Frau Koch beschreibt die erste Zeit in Westdeutschland aus verschiedenen Gründen als schwierig: die Pflege der Verwandten, die sie vorher kaum kannte; eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten und Eingewöhnungsschwierigkeiten auf den neuen Arbeitsstellen. Erst im dritten Anlauf findet Frau Koch eine Ausbildungsstelle, die ihr zusagt. Sie schließt die Ausbildung mit dem Gesellenbrief ab und besucht nach einiger Zeit die Meisterschule in Nürnberg. In dieser Zeit zieht ihr Mann zurück nach Ostdeutschland, um dort als selbständiger Friseur zu arbeiten. Frau Koch bewirbt sich mit dem neu erworbenen Meistertitel auf Geschäftsführerinnenstellen. Sie arbeitet in dieser Funktion vier Monate in einem Geschäft in Travemünde, danach in einem neu eröffneten Salon in Lübeck. Hier entsteht die Idee, sich selbständig zu machen. In Hamburg findet Frau Koch dafür einen geeigneten Laden.
Frau Koch beurteilt ihre persönliche Entwicklung seit dem Umzug zwar positiv und beschreibt ihren beruflichen Werdegang als Karriere, sie betont aber gleichzeitig ihren hohen Arbeitsaufwand und geringen Verdienst als selbständige Friseurin. Als weitere Belastung nennt sie das erhebliche finanzielle Risiko. Frau Koch bedauert, daß mit ihrem beruflichen Engagement der familiäre und partnerschaftliche Bereich zunächst in den Hintergrund getreten sind.
Sie wünscht sich für die Bundesrepublik kostenlose und umfassende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, wie sie es aus der DDR kennt, damit sie auch in Zukunft als Mutter weiter berufstätig sein könnte. Die Beziehung zu ihrem Ehemann ist zur Zeit des Interviews durch die räumliche Trennung sehr eingeschränkt. Sie sieht ihn etwa einmal im Monat.
Anke Schramm, 28 Jahre, Diplompädagogin: „Die Möglichkeit, hierher gekommen zu sein, und die Grenzöffnung waren für mich, sozusagen, nochmal ganz andere Schritte in die Welt zu tun. Also 'ne totale Horizonterweiterung. Also sozusagen mit einem Schlag eine viel, viel größere Zahl an Möglichkeiten der Lebensbewältigung zu haben. Also nicht mehr nur drei Auswahlmöglichkeiten, sondern jetzt ’ne wahnsinnige Auswahl. Und darin ist ’ne Chance, und das andere ist, daß natürlich die Auswahl auch zwingt, Entscheidungen zu treffen. Und das war nicht immer leicht, aus dieser Auswahl dann auch das Richtige zu wählen, und sich nicht zu verzetteln. “
Frau Schramm ist aufgewachsen in einer brandenburgischen Kleinstadt. Ihr Vater war in der DDR Berufsoffizier (Zivilverteidigung), ihre Mutter Krippenerzieherin.
Frau Schramm absolvierte in Brandenburg ihr Abitur und zog dann nach Dresden, um dort Geschichte für das Lehramt in Verbindung mit Freundschaftspionierleitung zu studieren. Nachdem sie einige Semester studiert hat, wird die deutsch-deutsche Grenze geöffnet. Im Rahmen des Einigungsprozesses wird schnell deutlich, daß es ihre Studienfächer in der alten Form zukünftig nicht mehr geben wird. Da der Umstrukturierungsprozeß an der Universität in Dresden sehr langsam und mit vielen Unklarheiten vonstatten geht, beschließt Frau Schramm, in Hamburg Diplompädagogik zu studieren. Im Oktober 1991 zieht sie aus diesem Grund von Dresden nach Hamburg. Hier lebt sie zunächst in einer Wohngemeinschaft, später zieht sie mit ihrem Partner zusammen. Während des Studiums verbringt sie ein halbes Jahr in Irland. Zur Zeit des Interviews hat sie ihr Studium abgeschlossen und arbeitet in Süddeutschland in einem Projekt zur Organisation innerbetrieblicher Führungsstrukturen. Ihr Partner lebt zunächst weiter in der gemeinsamen Wohnung in Hamburg, sie sehen sich an den Wochenenden.
Frau Schramm beschreibt den politischen Umbruch für sich als „Lernfeld“. Sie hatte sich in der DDR weitgehend mit dem politischen System identifiziert und erlebte den Fall der Mauer und die unmittelbaren Folgen zunächst als „totalen Schock“. Inzwischen ist sie jedoch der Meinung, daß beide politischen Systeme Vor-und Nachteile mit sich bringen. Durch den politischen Umbruch haben sich für sie mehr Möglichkeiten eröffnet, es gibt aber auch mehr Unsicherheiten in ihrem Leben. Ihre persönliche Entwicklung beurteilt Frau Schramm letztlich doch positiv. Sie hat einen zufriedenstellenden Berufseinstieg gefunden und plant für das nächste Jahr ihre Hochzeit. Frau Schramm wünscht sich, eines Tages nach Ostdeutschland zurückzukehren, um ihre beruflichen Kenntnisse dort einzubringen.
Ines Flusser, 32 Jahre, Krankenschwester: „Also drüben war es so, daß du mit zwanzig Kinder haben mußtest und Familie, und das war’s dann. “
Frau Flusser ist geboren und aufgewachsen in Dresden. Ihre Mutter arbeitet als Verkäuferin, ihr Vater ist Büroangestellter.
Frau Flusser erlernte nach dem Verlassen der Polytechnischen Oberschule in Dresden den Beruf der Krankenschwester. Während der Ausbildung heiratete sie und zog danach mit ihrem Mann nach Ostberlin. Die Ehe wurde nach kurzer Zeit geschieden und Frau Flusser beschloß, nach Westdeutschland zu ziehen, wo bereits ihre Schwester wohnte. Sie wünschte sich Reisefreiheit und einen höheren Lebensstandard. Bei Auslandsaufenthalten fühlte sie sich als DDR-Bürgerin als „Mensch zweiter Klasse“ behandelt.
Für Frau Flusser ergibt sich Anfang 1989 die Möglichkeit, über einen Besuchsantrag aus der DDR auszureisen. Sie lebt in Westdeutschland zunächst in einem kleinen Ort bei Köln in der Nähe ihrer Schwester und zieht nach einigen Jahren nach Hamburg, da sie das Leben in der Großstadt bevorzugt. Sie arbeitet hier als Anästhesieschwester auf der Intensivstation, eine Position, auf die sie sich durch betriebliche Fortbildungsangebote spezialisiert hat. Frau Flusser lebt in Hamburg zunächst allein, lernt aber bald ihren späteren Mann kennen. Zur Zeit des Interviews lebt sie mit ihrem Ehemann in einer Wohnung, für die Zukunft wünscht sie sich Kinder. Frau Flusser ist, wie sie es nennt, nicht „karrieresüchtig“, möchte aber nach einer eventuellen Unterbrechung der Berufstätigkeit für die Kinderbetreuung wieder erwerbstätig sein. Sie beurteilt ihre persönliche Entwicklung nach dem Fortgang aus der DDR als positiv, glaubt aber, daß sich die Situation für Frauen seit der Grenzöffnung insgesamt verschlechtert habe. Besonders alleinerziehende Frauen mit Kindern leben ihrer Meinung nach gegenwärtig am Existenzminimum.
IV. Positive und negative Erlebnisbereiche in beiden politischen Systemen
Durch die Grenzöffnung und den Umzug ergaben sich für die Frauen neue Chancen der Lebensgestaltung, aber auch neue Risiken und Unsicherheiten. Die Frauen beurteilen die politische Wende und die damit für sie verbundenen Veränderungen der Lebensverhältnisse in der Summe weitgehend positiv. Dennoch hatte das Leben in der DDR wie auch in der Bundesrepublik für alle Frauen positive und negative Aspekte, die im folgenden fallübergreifend zusammengefaßt werden. Das Leben in der DDR zeichnete sich einerseits durch eine Stabilität der Lebensperspektiven aus, wurde andererseits aber auch durch Zwänge, bedingt durch das Herrschaftssystem, reglementiert. Als positive Erlebnisbereiche wurden vor allem Aspekte der sozialen Sicherheit genannt, wie z. B. eine lebenslange Arbeitsplatzgarantie und die Vollversorgung mit staatlich finanzierten Kinderkrippen-, Kindergarten-und Hortplätzen. Dadurch ergab sich eine gute Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie -ein Tatbestand, der von den Frauen positiv hervorgehoben wird. Berufstätig zu sein ist auch für das gegenwärtige Selbstbild der Interviewpartnerinnen wichtig. Als negativ wurden vor allem die staatlichen Repressionen und politisch motivierte staatliche Reglementierungen z. B. im Bildungs-und Berufssystem der DDR empfunden. Der Zugang zu Ausbildungsplätzen und vor allem zu Abitur und Studium war abhängig von informellen Beziehungen und politischer Loyalität. So war mehreren Interviewpartnerinnen der Weg zum Abitur von vornherein versperrt -z. B. aufgrund einer Kirchenmitgliedschaft -, ein Umstand, der als Ungerechtigkeit und als Willkür empfunden wurde. Je höher der angestrebte berufliche Status, desto wichtiger und unentbehrlicher wurde die Parteimitgliedschaft in der SED oder zumindest in einer der Blockparteien.
Darüber hinaus kritisieren die Befragten auch die fehlende Medienvielfalt und unzureichende Reisefreiheit. Im Vergleich zum Leben in der Bundesrepublik gab es nach Ansicht der interviewten Frauen in der DDR weniger Wahlfreiheiten in bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebensweges. Die Vereinbarung von (früher) Mutterschaft und Erwerbstätigkeit wurde sozialpolitisch forciert und war zusätzlich als gesellschaftliche Norm verankert „Gut, man mußte wieder arbeiten, . . . also die Möglichkeit, daß man sagen konnte, ich bleibe jetzt aber Zuhause und ziehe meine Kinder groß, das war 'ne Sache, die haben sich ganz wenige nur geleistet, weil man wußte, man wurde auch ein bißchen scheel angeschaut“ (Bibliothekarin, 32 J ). Die Familie hatte auch unabhängig von politischen Leitbildern in der DDR einen hohen Stellenwert, da in diesem Rahmen private Netzwerke geschaffen wurden, auf die der Staat keinen Zugriff hatte.
Das Leben in der Bundesrepublik wird zunächst durch einen Zuwachs von Entscheidungsspielräumen charakterisiert: „Vorher war der Lebensweg so geplant, und dann konnte man auf einmal frei entscheiden, was man machen wollte, das war für mich nur positiv“ (Friseurmeisterin, 26 J.). Die Frauen begrüßen die inhaltliche Vielfalt beruflicher Möglichkeiten -der berufliche Status der Mehrzahl der Frauen hat sich seit dem Umzug verbessert -, gleichzeitig wird jedoch festgestellt, daß es in Westdeutschland schwieriger ist, in Führungspositionen zu gelangen.
Die neuen Freiheiten bringen jedoch auch neue Risiken mit sich: Angst vor Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen sozialen Abstieg werden von der Mehrzahl der Frauen in den Interviews thematisiert.
Auffällig ist eine nach wie vor starke Familienorientierung der Frauen. Alle befragten Frauen wünschen sich für die Zukunft Kinder jedoch erst, wenn sich ihre berufliche Lage stabilisiert habe und ausschließlich im Rahmen einer festen Partnerschaft oder Ehe. Sie wären dann bereit, ihr berufliches Engagement vorübergehend zurückzustellen und vermehrt für Kinder und Familie zu sorgen. Alle möchten jedoch nach einer gewissen Zeit auch wieder berufstätig sein. Die Vorstellung, alleinerziehende Mutter zu sein, ist für keine der Frauen erstrebenswert und löst existentielle Ängste aus: „Ich möchte auch mal ein Kind, aber es ist wirklich also die Existenzangst da. Den Job zu verlieren. Oder Geld. . . Tagesmutter, das ist alles teuer, ne. Aber ich denk’ mal, mit 32 kann man da noch hoffen“ (kaufmännische Angestellte, 32 J.). Unter den Rahmenbedingungen in Westdeutschland ist der Kinderwunsch nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen an eine stabile Partnerschaft gebunden.
Die Interviewpartnerinnen schreiben sich qua Geschlecht in erster Linie selbst die zukünftige Aufgabe oder zumindest die Organisation der Kinderbetreuung zu, nur eine von zehn Frauen sieht den Partner in diesem Bereich als in gleichem Maße zuständig. Die Entwicklung zur „Karrierefrau“ oder „Hausfrau“ kann unter diesen Umständen in der Bundesrepublik leicht zur Grundsatzentscheidung werden, da aufgrund der unzureichenden bzw. privat zu finanzierenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Berufstätigkeit von Frauen mit kleinen Kindern erschwert wird. Berufliche und familiäre Pläne werden in der Bundesrepublik daher eher nacheinander verwirklicht, während junge Frauen in der DDR vielfach bereits in der Ausbildungsphase ihr erstes Kind bekamen Alle befragten Frauen sind entsprechend der weiblichen Normalbiographie in der DDR gleichzeitig familien-und berufsorientiert, die Durchsetzung dieser Doppelorientierung gestaltet sich aber in der Bundesrepublik schwierig.
V. Individualisierungsprozesse im Zuge der deutschen Einigung
Die Ergebnisse der Untersuchung sind in weiten Teilen mit der Individualisierungsthese von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim zu vereinbaren. Die Einschätzung, daß die Grenzöffnung eine Freisetzung aus traditionalen Vorgaben bewirkt hat und sich neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung eröffneten, zieht sich fallübergreifend durch die Interviews: „Man kann sein Leben anders in die Hand nehmen“, „ein bunteres Leben führen“, „man hat mehr Möglichkeiten, die Freiheiten sind anders. “
Es gibt jedoch auch neue Risiken, die das Handeln der Frauen mitbestimmen: das Problem der drohenden Arbeitslosigkeit und existentielle Ängste aufgrund der im Vergleich zur DDR weniger umfassenden sozialen Absicherung durch den Staat.
Durch die Grenzöffnung und den Umzug vollzieht sich für die Frauen tendenziell ein Wandel von der Normal-zur Bastelbiographie. Der in der DDR verbreitete Lebensentwurf von früher Familiengründung und paralleler lebenslanger Erwerbstätigkeit ist in Westdeutschland schwieriger zu verwirklichen; außerdem gewinnen auch andere Lebensformen im jungen Erwachsenenalter an Attraktivität, wie zum Beispiel allein oder in einer Wohngemeinschaft zu leben. Diese Lebensformen waren in der DDR weniger verbreitet, da Wohnungen bevorzugt an Familien oder Paare vergeben wurden. Es kommt in der Bundesrepublik im Vergleich zur DDR also zu einer stärkeren Pluralisierung von Lebensformen in dieser Altersgruppe.
In den Interviews zeigt sich, daß der Arbeitsmarkt als Motor von Individualisierungsprozessen wirkt und die Biographien gleichzeitig auf eine neue Weise standardisiert. Beruf und Ausbildung haben im Leben der jungen Frauen zunächst Priorität, um die Gefahr der Arbeitslosigkeit möglichst gering zu halten. Die gegenwärtige Situation auf dem Arbeitsmarkt erfordert nicht selten Wohnortswechsel für eine Stelle oder einen Ausbildungsplatz. Die geographische Mobilität trennt die Frauen wiederum von ihren Partnern und erschwert bzw. verzögert die angestrebte Familiengründung. Die Mehrzahl der Frauen vermutet, daß sie bereits ein Kind hätten, wenn die DDR weiter fortbestanden hätte.
In bezug auf Geschlechterverhältnisse und Familienstrukturen sind die Individualisierungsprozesse jedoch widersprüchlich. Hier kommt es in der Bundesrepublik nicht nur zu Freisetzungen, sondern teilweise auch zu Rückbindungen an traditionelle Familienformen. Einerseits wird das junge Erwachsenenalter in der Bundesrepublik zu einer eigenen Lebensphase mit vielfältigen Optionen jenseits von Familienplanung. Insofern sind die Frauen aus den früheren Geschlechtszuweisungen in der DDR freigesetzt, die mehr oder weniger normative Wirkung hatten. Andererseits wünschen sich längerfristig alle befragten Frauen eine Familie mit Kindern oder schließen dies für sich zumindest nicht aus. Unter den Rahmenbedingungen der Bundesrepublik soll der Kinderwunsch aber nur innerhalb einer festen Partnerschaft verwirklicht werden, außerdem sollte die finanzielle Absicherung der Familie gegeben sein. Diese Aussagen weisen auf eine eingeschränkte Wahlfreiheit bezüglich der Realisation des Kinderwunsches in der Bundesrepublik hin. Außerdem zeichnet sich über die Realisation des Kinderwunsches eine Rückbindung an die traditionale Form der Familie als Wirtschaftsgemeinschaft ab, da die Frauen in erster Linie sich selbst die Aufgabe der Kinderbetreuung zuschreiben und in dieser Zeit bereit wären, ihre Berufstätigkeit vorübergehend auszusetzen oder zeitlich zu reduzieren. Die daraus resultierenden schlechteren beruflichen Chancen und die ökonomische Abhängigkeit vom Partner werden dabei wenig reflektiert. Einige der Frauen wünschen sich zwar mehr staatlich finanzierte Kinderbetreuungsmaßnahmen, letzlich wird jedoch die Organisation der Kinderbetreuung als individuelles und nicht als institutionelles Problem gesehen.
VI. Fazit
Die Grenzöffnung wurde von den befragten Frauen vor allem als Zugewinn an Freiheit in vie-len Bereichen erfahren. Dennoch gibt es auch Momente der positiven Rückbesinnung auf Lebensbereiche in der DDR. Auffällig ist vor allem die Doppelorientierung der Frauen auf Beruf und Familie -zwei Lebensbereiche, die in der DDR durch eine Vollversorgung mit staatlich finanzierten Kinderbetreuungsmöglichkeiten relativ gut zu vereinbaren waren. Die in der DDR sozialisierten Frauen möchten auch in Zukunft auf keinen dieser Lebensbereiche verzichten; es zeigt sich aber, daß berufliches Engagement und die Phase der Familiengründung unter den Systembedingungen in der Bundesrepublik nur schwer zu koordinieren sind.
Es sind also politische und betriebliche Maßnahmen angezeigt, die es Frauen und Männern erlauben, berufliches und familiäres Engagement in Zukunft besser miteinander zu vereinbaren. Anzustreben sind zum Beispiel flexiblere Arbeitszeitmodelle, so daß Erwerbs-und Hausarbeit besser aufgeteilt werden können und die Eltern dennoch mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, als dies in der DDR möglich war. Außerdem sind umfassendere und auch mit geringen Einkommen finanzierbare Kinderbetreuungsmöglichkeiten erforderlich, so daß gegebenenfalls ein Kinderwunsch auch jenseits der finanziellen Absicherung im Rahmen einer Ehe verwirklicht werden kann.
Die von Elisabeth Beck-Gernsheim 1984 gestellte Forderung nach einer „Politik der neuen Väterlichkeit“ ist nach wie vor aktuell. Noch immer wird Frauen wie selbstverständlich der Bereich der Familie und das damit verbundene Vereinbarkeitsproblem zwischen beruflichem und familiärem Bereich zugeordnet. Haben sich Frauen mit der Beteiligung am Erwerbsleben Elemente vormals männlicher Biographiemuster angeeignet, so gibt es nach wie vor nur wenige Männer, die im Gegenzug ein Stück vom „Dasein für andere“ übernehmen.