I. Einleitung
Der Begriff der Sozialisation bezeichnet -im Unterschied zu der als intentional gedachten „Erziehung“ -die Gesamtheit der Prozesse, in denen sich die Persönlichkeit, insbesondere ihr Bewußtsein und ihre Handlungsfähigkeit, auf Grund ihrer Erfahrungen mit der jeweils historisch gegebenen materiellen, sozialen und kulturellen Umwelt bildet. Diese Umwelt ist psychologisch gesehen zwar individuell-spezifisch und führt zu einer gewissen Bandbreite individueller Ausprägungen, aber die Umwelt der in einer bestimmten Gesellschaft aufwachsenden Individuen weist auch Gemeinsamkeiten auf, die sich in entsprechenden Übereinstimmungen ihres späteren Sozialcharakters oder politischen Habitus niederschlagen. So kann gefragt werden, welches kollektive Handlungspotential in einer Gesellschaft auf Grund der dort gegebenen Bedingungen entsteht und wie sich dieses zu der Gesellschaft selbst verhält -ob es sie beispielsweise nur reproduziert oder ob sozialer Wandel, und in welcher Richtung, initiiert wird.
Diese Frage ist im Falle der DDR von besonderem Interesse, weil dort der gesamte Erziehungssektor von den Kinderkrippen bis hin zur Universität zentralistisch organisiert und einem bestimmten Erziehungsleitbild -„der sozialistischen Persönlichkeit“ -verpflichtet war, andererseits aber in den achtziger Jahren und dann bei der Wende offensichtlich wurde, daß die tatsächliche Sozialisation in der DDR keineswegs dieser Utopie entsprach. Besonders relevant dabei ist die Population der staatsnahen bzw. staatstragenden Intelligenz, da angenommen werden kann, daß gesellschaftliche Prozesse stärker vom Handeln oder auch Nicht-Handeln dieser als von dem jeder anderen Gruppe abhingen. Da außerdem anzunehmen ist, daß sich in Zeiten rapiden sozialen Wandels die Bedingungen der Sozialisation aufeinander folgender Generationen (Kohorten) unterscheiden, sollten innerhalb der genannten Population verschiedene Alterskohorten untersucht werden.
Ich berichte im folgenden über einige Ergebnisse einer entsprechenden, inzwischen abgeschlossenen empirischen Untersuchung Da zu dieser Frage praktisch keine Forschung vorlag, an die hätte angeknüpft werden können, empfahl sich ein qualitatives Vorgehen, das darauf ausgerichtet ist, zunächst eine Fülle von Material zu erheben und aus diesem begriffliche Strukturen zu extrahieren bzw. zu rekonstruieren, „wie es wirklich war“. Ein solcher Forschungsansatz liefert zwar keine im statistischen Sinne repräsentativen quantitativen Ergebnisse, aber genauere und differenzierte Beschreibungen dessen, was in der untersuchten Population überhaupt erlebt, was gedacht und wie von den Betreffenden gehandelt wurde.
Durch eine Untersuchung dieser Art ließen sich zudem jahrzehntelang gepflegte Stereotype in Frage stellen und Anstöße für die Bearbeitung der Vergangenheit finden, im Hinblick auf das politische Klima in Deutschland und den Diskurs zwischen Ost-und Westdeutschen sicher notwendige Ziele. Vorurteile über die Ostdeutschen -etwa, daß eine Bindung an ihr Land Einverständnis mit der politischen Realität impliziert oder daß äußere Konformität auf ideologischer Überzeugung beruht habe, daß alle Parteimitglieder unkritisch und Kommunisten oder daß Absolventen des Studienganges „Marxismus-Leninismus“ gute Kenner der Marxschen Theorie gewesen seien -, aber auch Mythen, denen zufolge die kritischen DDR-Bürger nichts sehnlicher gewünscht hätten als eine Integration in die Bundesrepublik, sollten nach unseren Befunden ad acta gelegt werden. Aber auch ein bei der ostdeutschen staatsnahen Intelligenz verbreitetes Bild von ihrem Staat wäre in Frage zu stellen, demgemäß sie verführte Opfer einer autoritären Herrschaft wurden, deren Füh-1 rungsspitze zu alt und inkompetent war, daß aber „der“ Sozialismus und das System „an sich“ gut seien.
Die Datenbasis der Untersuchung sind Gruppendiskussionen bzw.deren Transkriptionen, die 1991 mit Angehörigen der staatsnahen Intelligenz (Hochschulabschluß und Mitgliedschaft in der SED bzw. entsprechende Loyalität) in Leipzig und Berlin (Ost) durchgeführt wurden. Es wurde jeweils eine Gruppe von fünf bis sechs Teilnehmern aus der Kohorte der um 1940, 1950 und 1960 Geborenen gebildet, die nach den genannten Kriterien und dem der Vielfalt von einem ostdeutschen Kollegen bzw. einer Kollegin zusammengestellt wurde und an einem Abend in der Wohnung des Betreffenden zusammenkam Die teilnehmenden Männer und Frauen erzählten reihum ihre Lebensgeschichte, gelegentlich unterbrochen durch Nachfragen seitens der westdeutschen Interviewer oder durch Kommentare anderer Teilnehmer. Insgesamt war das Maß der Gesprächslenkung gering. Durchweg herrschte eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre, und die Interventionen der westdeutschen Interviewer wurden -wie mehrfach angemerkt wurde -als hilfreich und nicht überheblich wahrgenommen; daher darf unterstellt werden, daß Hemmungen oder die Neigung, zu beschönigen, keinen wesentlichen Einfluß hatten. Insgesamt liegen die Äußerungen von 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf rund 900 engbeschriebenen Transkriptseiten vor, die anschließend interpretativ analysiert wurden. Das methodische Vorgehen orientiert sich an der von Barney Glaser und Anselm Strauss vorgeschlagenen Konzeption einer „grounded theory“, weitere Bezugspunkte waren die Ansätze der „oral history“ und der neueren Biographieforschung. Die Details der Auswertungsarbeit sind ausführlich in der genannten Buchveröffentlichung dokumentiert.
II. Erfahrungen und Prägungen in der DDR
Ausgehend von der Annahme, daß Sozialisation nicht auf einen bestimmten Lebensabschnitt be schränkt ist, sondern einen lebenslangen Prozeß darstellt wurden sowohl die Angaben der Teilnehmer über ihre Kindheit und ihre Herkunftsfamilie wie auch über ihre Ausbildungszeit sowie über spätere Erfahrungen im Beruf und in der Partei bzw. mit der politischen Wirklichkeit der DDR insgesamt in die Analyse einbezogen.
1. Kindheit und primäres Sozialisationsmilieu
Die Schilderungen der Kindheit und des primären Sozialisationsmilieus zeigen eine ausgeprägte Kohortenspezifik, was nicht verwundert, da die verschiedenen Kohorten von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und seinen Folgen sehr unterschiedlich betroffen waren. Bei der ältesten Kohorte der um 1940 Geborenen hat die Herkunftsfamilie insgesamt eine relativ hohe Bedeutung. Nach den vorliegenden Berichten lassen sich im wesentlichen drei typische Familienmilieus unterscheiden. Vom Typ „bürgerliche Kontinuität“ sprechen wir, wenn Identität und Werthaltung der bürgerlichen Herkunftsfamilie im wesentlichen beibehalten wurden, auch wenn man sich später mit dem Sozialismus arrangierte. Beim Typ „materielle Not und Neuanfang“ steht das Problem im Vordergrund, sich nach Zerstörung und Vertreibung durchschlagen und eine neue Existenz aufbauen zu müssen. „Beschädigte Familienverhältnisse“ wird der Typ genannt, bei dem die Familie selbst -etwa durch den Verlust des Vaters -zerbrochen oder gravierend verändert wurde, was die Kinder zwang, frühzeitig nach neuen sozialen Orientierungspunkten zu suchen. Das Spezifikum dieser Kohorte insgesamt scheint darin zu liegen, daß sie auf Grund der festgehaltenen Bindungen an ihre Herkunftsfamilie zum neuen DDR-Staat -auch bei pragmatischem Sich-Anpassen -eine gewisse Distanz behielt. Bei der Kohorte der um 1950 Geborenen findet sich ebenfalls noch eine größere Bandbreite verschiedener Familienmilieus, doch ist als gemeinsame Kohortenspezifik eine größere Differenz bzw. ein deutlicher Konflikt im Generationenverhältnis zu erkennen: Diese Kohorte wurde in der Aufbauphase des DDR-Sozialismus und bereits innerhalb der neuen Institutionen sozialisiert, stellte ihre Zukunft darauf ein und wandte sich daher von ihrem Herkunftsmilieu eher ab. Die Struktur liegt in zwei Varianten vor. Beim Typ „Flucht aus dem provinziellen Milieu“ wurde das Milieu als beengend, langweilig und perspektiven-los wahrgenommen, und man verließ es, indem man auf die staatlichen Angebote einer Ausbildung und späteren Karriere z. B. über die Partei einging. Vom Typ „obsolete Familienwelt“ kann gesprochen werden, wenn das weltanschauliche, insbesondere religiöse Meinungsklima in der Familie unter dem Einfluß der neuen staatlichen Erziehung und Ideologie als veraltet und nicht mehr authentisch lebbar wahrgenommen wurde und man sich entsprechend umorientierte. Dane-ben fanden sich auch Fälle, in denen die Eltern entweder auf Grund einer länger zurückreichenden Familientradition eine linke bzw. sozialistische Position teilten oder eine solche pragmatisch nach Gründung der DDR bezogen hatten.
In den Berichten der um 1960 geborenen Teilnehmer nimmt die Familie einen weit geringeren Raum ein, was erstens damit zusammenhängt, daß Probleme der oben genannten Art zurückgetreten waren, und zweitens damit, daß die staatlichen Instanzen schon in der Kindheit dieser Kohorte einen relativ großen Raum einnahmen und das Familienleben auf Grund der Berufstätigkeit beider Eltern erheblich reduziert war. Das sozialisatorische Milieu ist daher relativ homogen.
Zwischen dem primären Sozialisationsmilieu und dem späteren politischen Verhalten gibt es durchaus Zusammenhänge, wie schon daran zu sehen ist, daß wir bei den älteren Kohorten eine größere Vielfalt einerseits von Typen des familialen Milieus, andererseits von Typen des späteren politischen Habitus vorfinden als bei der jüngeren Kohorte. Auch bei der Betrachtung der einzelnen Biographien zeigen sich offensichtliche und verstehbare Bezüge zum späteren Verhaltensstil. Doch sind diese Zusammenhänge nicht eindeutig, auf keinen Fall determinierend und kaum zu generalisieren. So konnte beispielsweise aus einem betont christlichen Elternhaus durchaus ein Kind mit einem konformen und mit der DDR völlig identifizierten Habitus hervorgehen, umgekehrt konnte das Kind von Eltern, die beide in der SED waren und entsprechende Funktionen ausübten, einen kritisch-distanzierten Habitus entwickeln. Typischerweise ging ein solcher Habitus allerdings eher aus einem Milieu hervor, in dem noch an bürgerlichen Wertvorstellungen festgehalten worden war. Auch die Konsequenzen eines beschädigten bzw. instabilen Familienmilieus sind nicht eindeutig; es konnte sowohl zu einer engeren Bindung an Partei und Staat als auch zu größerer geistiger Selbständigkeit und Kritik führen.
Eine gewisse Affinität zur Ausbildung eines konform-identifizierten Habitus ist zu erkennen, wenn schon eine linke Familientradition bestand und/oder wenn das Herkunftsmilieu dem jungen Menschen als provinziell, beengend und perspektivenlos und eine Studien-und Berufskarriere über die staatlichen Angebote mit einem entsprechenden Ortswechsel als verlockend erschienen. Hierzu sei als ein Beispiel eine 1950 geborene, spätere Dozentin zitiert: „Es gab wenig Wechsel eigentlich, wenig Wechsel von den Personen, mit denen man Kontakt hatte, und wenig Wechsel eigentlich auch, was so ein bestimmtes Territorium ausmacht. Natürlich hatte mein Vater von seiner Berliner Seite her immer auch so ein bißchen Weltoffenheit dabei, das muß ich sagen, ja, während das von meiner Mutter Seite her doch so wirklich den absolut ländlichen Touch hatte. Also auch so -ich weiß gar nicht, wie man das bezeichnen soll -, von den Sitten und Gebräuchen, war das sehr, sehr eng gefaßt, also, wie man es aufdem Dorf eben kennt. Einer kennt den anderen, um Gottes Willen, das stehende Wort war: Was sagen die Leute dazu. Und so wurde ich dann eigentlich auch erzogen . . . Nach dem Abitur habe ich angefangen zu studieren, und das war eigentlich der Einschnitt in meinem Leben, ein solcher Einschnitt, der da für alle Bereiche -muß ich sagen -ganz enorme Auswirkungen hatte. Ich wußte genau, daß, wenn ich studiere, ich möglichst weit weg von zu Hause studieren wollte, was man damals als , möglichst weit weg‘ in der DDR bezeichnen konnte. Deswegen habe ich auch gesagt: Ich will jetzt etwas in der Weite suchen. Habe dann in Erfurt studiert, das war ja nun enorm weit weg von zu Hause, und habe eigentlich mit allen Riten gebrochen, also ich bin in der ersten Zeit kaum nach Hause gefahren. “
2. Ausbildung und Studium
Im Unterschied zu den vielfältigen Familienmilieus waren die Einflüsse der formellen Bildungsinstanzen in der DDR relativ homogen, zumindest was die ideologische Schulung betrifft. In den vorliegenden autobiographischen Berichten spielt die Schulzeit nur eine geringe Rolle. Manche erinnern sich dankbar an lebhafte Diskussionen im informellen Kreis von Schulkameraden. Andererseits werden Episoden berichtet, die deutlich machen, daß in den Schulen eine strenge Disziplin in allen politisch relevanten Fragen durchgesetzt wurde, so z. B. schon in bezug auf westlichen Kleidungs-und Musikstil, und daß dies durchaus als Konflikt mit politischen Konnotationen erlebt wurde. Eine gewisse Bedeutung für die politische Sozialisation könnte die verbreitete Internatsunterbringung spielen, insofern als sie Gelegenheit zu politischen Diskursen unter Gleichaltrigen bot.
Eine weitaus größere Rolle spielt die Studienzeit. Der Ausbildung bzw.dem Studium kommen im Hinblick auf die Bildung eines Individuums wie auch auf seinen späteren Platz im Beschäftigungssystem und die daran geknüpften sozialisatorischen Erfahrungen größte Bedeutung auch unter dem Gesichtspunkt seiner politischen Sozialisation zu. In der DDR war die Entscheidung, überhaupt ein weiterführendes Studium aufzunehmen, praktisch schon mit dem Besuch der Erweiterten Oberschule impliziert, es ging also im wesentlichen nur noch um die Frage des Studienfaches.
Generell muß dabei das Ausmaß an staatlicher Lenkung als hoch angesetzt werden. Im Rahmen der vorab nach ökonomischen, politischen und ideologischen Erfordernissen staatlich festgelegten Studienangebote wurden Wünsche der Bewerber zwar nach Möglichkeit berücksichtigt. Aber weit häufiger wurden ihnen doch -ohne Rücksicht auf ihre individuellen Wünsche und aufgrund oberflächlicher und nur legitimatorischer Kriterien -bestimmte Studiengänge nahegelegt, wobei es für sie meist keine Alternative gab und ihre Zustimmung nur formalen Charakter hatte. So konnte es passieren, daß sie am Ende ihres Studiums genau dort angelangten, wo sie gar nicht hatten hinkommen wollen. Einer der Teilnehmer unserer Untersuchung etwa, der ursprünglich Flugzeugtechnik, dann Deutsch und Geschichte studieren wollte, wurde Musiklehrer, weil er in der Schule gut sin-gen konnte, obwohl er „nicht wußte, was Dur und Moll war“. Ein anderer, der Architektur studieren wollte, wurde wegen seiner sozialen Herkunft (seine Eltern waren Lehrer) auf den Studiengang Wärme-und Kältetechnik verwiesen; er entzog sich dem jedoch und wurde Unterhaltungsmusiker. Ein weiterer Teilnehmer, der sich für Ethnologie interessierte, wurde auf marxistisch-leninistische Philosophie gelenkt, „weil er abstrakt denken konnte“.
Was die Erfahrungen im Studium selbst betrifft, so finden sich erstaunlicherweise so gut wie keine Aussagen über die Inhalte der einzelnen Fächer. Dies ist vielleicht so zu interpretieren, daß diese Inhalte weitgehend normiert waren und daß innerhalb der Disziplin keinerlei Alternativen im Sinne eines pluralistischen Wissenschaftsverständnisses diskutiert wurden, so daß sie den Studierenden als schlechthin selbstverständlich erscheinen mußten. Trifft dies zu, so würde das bedeuten, daß die Chancen, sich die Regeln einer wissenschaftlichen Diskurskultur anzueignen, die ja gerade auf solcher Pluralität beruht, eingeschränkt waren und daß statt dessen die Auffassung von Wissenschaft als einem Fundus feststehender Wahrheiten -„objektiver Gesetzmäßigkeiten“ -vermittelt wurde.
Allerdings wurde in bestimmten Seminar-und informellen Jahrgangsgruppen durchaus kritisch diskutiert, wobei man sich vor Bespitzelung bzw. möglichen Sanktionen relativ wenig fürchtete. So dürfte ein Diskursverhalten eingeübt worden sein, das durch den Austausch über und die Kritik an wahrgenommenen Mißständen charakterisiert ist und das später in der Familie und im kleinen Kreis seine Fortsetzung fand. Man diskutierte auch über politische Fragen, auch kontrovers, aber all dies nur bis zu einer gewissen Grenze, die durch die grundsätzliche Loyalität mit dem sozialistischen Staat definiert war (s. u.). Vor allem Vertreter der älteren Kohorten kritisieren das hohe Maß an bürokratischer Regelung und Lenkung im Studium, das -wie wir oben gesehen haben -einen Konflikt zwischen den eigenen Wünschen und den diesen zuwiderlaufenden staatlichen Maßnahmen deutlich werden ließ und Anlaß einer distanzierten Haltung werden konnte. Von den um 1960 geborenen Teilnehmern stammen vor allem kritische Äußerungen über das Niveau und die niedrigen Anforderungen, die jedenfalls den an Wissenschaft interessierten anspruchsvolleren Studierenden nicht gerecht wurden. Bei diesen muß sich der Eindruck verfestigt haben, um Möglichkeiten ihrer wissenschaftlichen Bildung und Qualifikation betrogen worden zu sein, was Konsequenzen nicht nur für die Bewertung ihres Staates, sondern auch für ihr Selbstbild gehabt haben könnte. Ein weiterer Punkt der Kritik betrifft den marxistisch-leninistischen Studienanteil, der in jedem Studiengang obligatorisch war. Einige wenige Teilnehmer bekennen, daß sie von der Theorie fasziniert waren, insbesondere von ihrer Geschlossenheit und den „Gesetzen“, durch die verschiedenartige Phänomene aufeinander bezogen werden konnten. Andere haben sie noch mit einem gewissen Interesse zur Kenntnis genommen. Das Gros der Studierenden hat jedoch offenbar die betreffenden Lehrveranstaltungen als langweilige und unvermeidliche Pflicht, als „Rotlichtbestrahlung“ über sich ergehen lassen. Interessant ist die Feststellung einiger Teilnehmer, daß an dem geringen Interesse vor allem die didaktische Qualität der Literatur und der Vorlesungen schuld war und daß man gerade nicht dazu gekommen ist, sich durch eine wissenschaftlich seriöse und gründliche Beschäftigung etwa mit dem Marxschen Werk die Theorie so anzueignen, daß man sie selber als analytisches und kritisches Instrument hätte handhaben können. Ein Teilnehmer aus der Fünfziger-Kohorte berichtet folgendes: „Also ich hatte nach dem ersten Studienjahr die Faxen dicke eigentlich, weil, es hat sich da etwas gezeigt, was ich später irgendwann mal hei Jaspers gelesen habe. Er sagt also, das wird da mit der kommunistischen Idee bei denen sowieso nichts, weil. . . das ist derartig fad und langweilig, daß das niemals ankommen kann, das hat keine Substanz. “
Obwohl also die intendierten Ziele dieser Lehrveranstaltungen kaum erreicht wurden, haben die Zuhörer trotz ihrer Ablehnung anscheinend doch gewisse Botschaften daraus entnommen und verinnerlicht. Wie wir noch genauer sehen werden, ist bei nahezu allen unseren Teilnehmern, auch den besonders kritischen, ein Grundkonsens hinsichtlich der Bewertung der Idee des Sozialismus festzustellen: Da diese grundsätzlich gut sei, müsse die DDR, die sie erklärterweise zu verwirklichen suchte, gegenüber dem kapitalistischen Westen trotz vieler Mißstände letztlich der bessere Staat sein. Die Einmütigkeit dieser Auffassung könnte ein Ergebnis konsensueller Erfahrung der Realität sein; daß sie allerdings bis in die sprachlichen Formulierungen reicht, spricht eher für die Hypo-these, daß diese Wahrnehmung ein Ergebnis des gemeinsamen ideologischen Studienanteils bzw. staatlicher Propaganda ist.
3. Das Dilemma der Frauen in der DDR
Häufiger und ausführlicher als über das Studium selbst berichten vor allem die Frauen aus der Vierziger-und Fünfziger-Kohorte von Problemen, die sich einerseits aus den Anforderungen von Studium und Beruf, die nicht selten einen Ortswechsel, mindestens ein Pendeln erforderlich machten, und andererseits aus den Anforderungen ihrer Familie ergaben, insbesondere im Hinblick auf ihre Kinder und ihre Wünsche nach einem Privatleben. In der DDR wurde bekanntlich früh geheiratet, und auch Kinder stellten sich früh ein, gleichzeitig war die Integration der Frauen in das Berufsleben in weit höherem Maße realisiert als z. B. in der Bundesrepublik. Die sich aus dieser Konstellation ergebende Doppelbelastung der Frauen in der DDR -auch schon während ihres Studiums -kommt in der Untersuchung an vielen Stellen zum Ausdruck. Bei den Teilnehmerinnen aus den beiden älteren Kohorten lassen sich zwei Typen der Prioritätensetzung erkennen. Beim ersten Typ steht die Sorge um die Familie und die Kinder an erster Stelle, und es werden Nachteile für die Karriere, z. B.der Verzicht auf die B-Promotion (Habilitation), in Kauf genommen. Beim zweiten Typ wird ebenfalls nicht auf Familie und Kinder verzichtet, doch wird der eigenen Ausbildung und Karriere Priorität eingeräumt und versucht, die gegebenen Probleme irgendwie pragmatisch mit Hilfe des Ehemannes oder der Eltern zu lösen. Anscheinend folgen besonders diejenigen Frauen diesem Muster, die sich stark auf die Ideologie bzw. die Partei verlassen, wie etwa im folgenden Beispiel:
Wissen Sie, wir hatten doch in den sechziger Jahren so eine Linie: Der Staat wollte die Erziehung der Kinder übernehmen, nicht, wollte praktisch die Frau davon entlasten. Na ja, und wir als brave DDR-erzogene Frauen haben das auch alles mitgemacht. Für uns war das natürlich. “
Die gleiche Teilnehmerin etwas später: „Bei uns ist das so weit gegangen: Als wir die Dissertation B geschrieben haben, haben wir beide im Arbeitszimmer gesessen. Wenn die Kinder etwas wollten, haben sie geklopft: . Dürfen wir mal 'reinkommen?'Ich muß sagen, das hat sich dann sehr auf das Verhältnis ausgewirkt. Wir haben zwar ein sehr gutes Verhältnis, die Kinder sind jetzt alle erwachsen, und sie kommen auch zu uns, aber es ist trotzdem etwas kühl. Sie regeln viele Dinge für sich alleine, ohne zu den Eltern zu kommen. Ich muß sagen, wenn ich jetzt sehe, daß ich im beruflichen Aus bin, also Warteschleife und dann Arbeitslosigkeit, daß ich das bitter, bitter bereue. “
In den Erzählungen der Frauen aus allen drei Alterskohorten fällt auf, daß die Beziehung zum Partner nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ihr wird überwiegend eine pragmatische Rolle zur gemeinsamen Lebensbewältigung zugeschrieben, bei der es vor allem auf Vertrauen und Zuverlässigkeit ankommt. Der Wunsch etwa, mehr Zeit gemeinsam zu verbringen, sowie die erotische Seite werden in den Erzählungen ausgeblendet. Von Beziehungsproblemen, wie sie westliche Paare thematisieren, ist keine Rede. Vor dem Hintergrund der westdeutschen Frauenbewegung und des feministischen Diskurses, wie sie sich im Gefolge der 68er Diskussion herausgebildet haben, erscheint das Verhalten der ostdeutschen Frauen -bis heute -eher konservativ. Tatsächlich bringen ostdeutsche Frauen dem feministischen Diskurs nur wenig Verständnis entgegen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Leistungen, die sie als Berufstätige, Hausfrauen und Mütter tagtäglich erbracht haben, halten sie die Frauenbewegung nicht für relevant. 4. Kritische Erfahrungen mit dem System
Es wäre entschieden zu eng, nur die institutionelle Bewußtseinsbildung in Schule und Hochschule als politische Sozialisation anzusehen. Erstens hat schon die primäre Sozialisation, durch die noch vor dem im engeren Sinne politischen Bewußtsein fundamentale Persönlichkeitsmerkmale geprägt werden, einen Einfluß auf Stilmerkmale des späteren politischen Verhaltens; zweitens findet auch nach Abschluß der institutionalisierten eine weitere Persönlichkeits-und Bewußtseinsentwicklung statt, die wir ebenfalls als Teil der politischen Sozialisation bewerten müssen. Die vorliegende Untersuchung zeigt deutlich, daß die persönlichen Erfahrungen in der Alltagsrealität und insbesondere mit der Staatsgewalt zu einer weiteren individuellen Differenzierung sowohl des Verhaltens wie auch des Bewußtseins -z. B. zu Strategien, sich gewissen Anforderungen zu entziehen, bzw. zu kritischen Denkfiguren in bezug auf die politische Realität -führen, die sich unter Umständen weit von den erklärten Bildungszielen der Institutionen entfernen. Daher soll auch über einige typische Erfahrungen unserer Teilnehmer mit dem realen Sozialismus berichtet werden, die Gemeinsamkeiten der Lebenswelt in der DDR widerspiegeln und insofern als kollektive Sozialisationsbedingungen aufgefaßt werden können.
Zunächst sind bestimmte politische bzw. historische Ereignisse zu nennen, die nicht in das propagandistisch verbreitete Bild von der Realität paßten und bei denen, die es verinnerlicht hatten, zu einer Verunsicherung auch bezüglich der staatlichen Informationspolitik und der Glaubwürdigkeit der Medien führten. Wie sich zeigt, war bei man-chen die Toleranzschwelle, jenseits deren eine Irritation, ja unter Umständen eine persönliche Krise eintrat, relativ niedrig. Eine solche Situation kann unterschiedliche sozialisatorische Konsequenzen zur Folge haben, die von den weiteren psychologischen Randbedingungen in der Persönlichkeitsstruktur abhängen. Zum Beispiel können Angst und Abwehr ausgelöst werden, die eine Verhärtung der schon bestehenden Position zur Folge hätten; möglich wäre aber auch, daß solche Diskrepanzerlebnisse im Sinne einschlägiger Theorien der kognitiven Entwicklung zu bewußtseinsverändernden Lernprozessen führen.
So weit es sich um historische Ereignisse handelt, hängt ihre Wirkung natürlich vom Alter der Betreffenden ab, ist also kohortenspezifisch. So waren z. B. für die Teilnehmer aus der um 1940 geborenen Kohorte der Tod Stalins (1953) und die darauf folgende Kritik am Personenkult ein Schock, der ihr bisheriges Bild von der sozialistischen Welt trübte. Der Bau der Mauer (1961) sowie der Aufstand von 1953 werden dagegen erstaunlicherweise kaum erwähnt, was sich daraus erklären ließe, daß deren propagandistische Legitimierung den damals jungen Menschen plausibel erschienen ist. Für die um 1950 Geborenen war dagegen der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR (1968) ein solches Ereignis, das ihren Glauben an die Harmonie der sozialistischen Staatengemeinschaft erschütterte und dessen öffentliche Darstellung ihnen die Augen für die Methoden der Meinungslenkung schon in den Schulen öffnete. Um 1960 geborene Teilnehmer nennen das Verbot der Zeitschrift „Sputnik“ (1988) und besonders die Zustimmung der DDR-Regierung zu der blutigen Niederschlagung der Studentendemonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking (1989) als Skandalen.
Einen großen Anteil in den vorliegenden Berichten nimmt die Schilderung von Mängeln und Widersprüchen ein, vor allem im beruflichen Erfahrungsfeld, darüber hinaus aber auch in der Alltagswelt der DDR. Diese Äußerungen sind durchaus als Kritik gemeint, doch fällt auf, daß diese Kritik nicht explizit und als Vorwurf an die Adresse bestimmter verantwortlicher Personen formuliert wird, sondern daß sie in die Form von Anekdoten über Mißstände oder über Fehlentscheidungen gegossen wird. Auch tritt der Sprechende nicht selbst als Kritiker auf, der einen persönlichen Standpunkt -bestimmte Wertungen oder Bedürfnisse eingeschlossen -vertritt, sondern die Kritik ist systemimmanent in dem Sinne, als das System selbst, das heißt dessen Ziele und sein Funktionieren, den Maßstab der Kritik bilden. Hier zeigt sich ein spezifischer Kommunikationsstil, der sich funktional als Schutz vor persönlicher Regreßnahme unter totalitären Verhältnissen erklären ließe. Die Bedingungen für kritische Kommunikation scheinen in der DDR also durchaus erfüllt gewesen zu sein. Jedoch waren die Freiheitsgrade politischer Diskussionen -und damit auch die Chancen entsprechender Lernprozesse -auf Grund äußerer Bedingungen systematisch eingeschränkt, und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens beschränkte sich kritische Kommunikation auf relativ kleine Kreise vertrauter Personen und auf informelle Situationen, z. B. in der Familie und im Freundeskreis. In öffentlichen oder auch nur parteiöffentlichen Kontexten dagegen, die ja die eigentlichen Foren politischen Handelns gewesen wären, waren kritische Äußerungen sehr riskant und wurden daher zurückgehalten. Zweitens gab es, wie unsere Berichte zeigen, eine geradezu magische thematische Grenze für kritische Diskussionen: Bei aller Kritik an Mißständen, Entscheidungen und an Personen, ja selbst an den Repräsentanten der Staatsund Parteispitze, wurden niemals die Grundsätze des realen Sozialismus, wie er in der DDR verstanden wurde (insbesondere das Prinzip der zentralen Planung und Kontrolle, die strikte Abgrenzung von marktwirtschaftlichen Grundsätzen, das Sozialstaatsprinzip, das Einparteiensystem und die Rolle der Partei, auch die Abhängigkeit von der Sowjetunion und anderes), offen in Frage gestellt. Dieser Begriff von Sozialismus, der faktisch aus einem Konglomerat heterogener Elemente bestand, war bei nahezu allen unseren Teilnehmern tabu. Das erklärt sich zum Teil daraus, daß eine Kritik daran als „staatsfeindlich“ galt, mit harten Sanktionen bedroht und auch in informellen Kontexten äußerst riskant war, zum Teil aber auch daraus, daß zumindest die loyalen Parteimitglieder sich mit diesen Grundlagen identifizierten.
Sozialisationstheoretische Überlegungen sprechen für die These, daß äußere Beschränkungen des Handelns entsprechende innere Beschränkungen der Sozialisation zur Folge haben, hier also eine Beschränkung der politischen Reflexion und des politischen Handlungsrepertoires auf der subjektiven Ebene. Politische Sozialisation konnte daher unter diesen Umständen kaum zu einem Bewußtsein führen, das das System und seine Grundlagen in Frage hätte stellen können, vor allem nicht zu kollektiv organisierter verändernder Praxis. Ihre kritische Komponente erschöpfte sich typischerweise im Erzählen von Anekdoten, Ironisieren und Witzeln oder auch nur Nörgeln im vertrauten Freundeskreis.
Hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte der Kritik fanden sich interessante Unterschiede zwischen den verschiedenen Kohorten. In den Berichten aus den beiden älteren Kohorten werden vor allem Mängel im beruflichen Alltag genannt, z. B. bei der Versorgung mit Ausrüstungen und Material. Häufig wird das Problem thematisiert, daß Verantwortliche, die auf Grund der Parteizugehörigkeit auf ihren Posten gekommen waren, sachlich inkompetent waren (z. B. eine Schulleiterin, die die deutsche Sprache nicht beherrschte). Ein weiteres, häufig genanntes Problem war, daß ideologischen bzw. politischen, von Parteigremien verfügten Entscheidungen die Priorität vor sachlichen Erfordernissen und dem Urteil der Fachleute eingeräumt werden mußte. Über solche immanente Kritik hinaus wird vor allem von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Fünfziger-Kohorte eine zunehmende Einschränkung und Vereinheitlichung des geistigen Lebens, von Möglichkeiten des Denkens und Handelns beklagt. Die Versorgung mit Konsumgütern ist dagegen in dieser Altersgruppe kein Thema.
Die um 1960 geborenen Teilnehmer setzen bei ihrer Kritik andere Akzente. Die systemimmanente Denkweise tritt zurück zugunsten einer moralischen und in gewissem Sinne auch ästhetischen Kritik an der Verhaltenskultur in der Partei, aber auch an der älteren Generation insgesamt, an dem dort wahrgenommenen Spießertum, an Mediokrität und Karrieredenken. Hart gehen sie mit der zunehmenden Konsumorientierung der DDR-Gesellschaft bzw.der entsprechenden Politik in den siebziger Jahren ins Gericht, in der sie auch einen Widerspruch zu sozialistischen Grundsätzen sehen. Weitere in der jüngeren Kohorte kritisch kommentierte Erscheinungen sind die militaristischen Elemente auch im alltäglichen Leben sowie gewisse Relikte aus dem Nationalsozialismus. Auch soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Einkommen und Ressourcen, die in der DDR entgegen den Grundsätzen sozialistischer Ideologie bestanden, wurden wahrgenommen. Besonders kritisch wird gerade von Genossen angemerkt, daß die Parteimitglieder zahlreiche Privilegien besaßen (z. B. bei der Versorgung mit westlichen Konsumgütern) und daß auch innerhalb der Partei „feudales“ Denken vorherrschte.
Ein ausführlich und durchweg kritisch diskutiertes Thema ist die staatliche Kontrolle des öffentlichen Diskurses, die Bewußtseinslenkung und Bespitzelung. Das Verbot, westliche Fernsehprogramme zu sehen, versuchte man unter anderem durch Ausfragen der Kinder in der Schule oder durch Kappen von Antennenleitungen durchzusetzen. Die öffentlichen Medien waren bis ins Detail weisungsabhängig. Ein Journalist erwähnt, daß er sich bei der täglichen Pflichtlektüre des eigenen Blattes geschämt habe.
Als Beispiel für die nahezu allgegenwärtige Bespitzelung auch in informellen Situationen sei eine von einem Lehrer aus der Vierziger-Kohorte berichtete Episode über seinen Schulleiter angeführt: „Man konnte mit ihm reden, also wirklich. Auch die Versammlungen, die er abgehalten hat, das hatte Hand und Fuß. [Am Tag der Republik] haben die Bankett gehabt. Ich war auch abends da, bin aber, weil ich keinen weiter kannte, zeitig gegangen, sogegen zehn. Und die haben fleißig gebechert noch. Und gegen Mitternacht hat er [der Schulleiter] dann ein paar Schoten losgelassen gegen die Partei und Regierung. Und da haben seine Leute, mit denen er gesoffen hat, ihn angehängt. Und am nächsten Tag gleich, da war der nie mehr. . .der durfte die Schule nur noch einmal betreten, um seine persönlichen Sachen zu holen ... da war der weg, fristlos entlassen. “
Eine Kritik dieser Praktiken der Bewußtseinslenkung in der DDR wird von unseren Interviewteilnehmern in selbstreflexiven Passagen formuliert. Die Tabuisierung sowohl bestimmter Themen als auch bestimmter diskursiver Verhaltensweisen, mehr noch die drohende Bestrafung, habe sich schließlich mental -als „Selbstzensur" -niedergeschlagen.
Das habituell manifestierte Resultat dieser späteren Sozialisationsphase wäre, daß man seine Kommunikation mit anderen drastisch einschränkt und insbesondere Kritik in sich hineinfrißt, anstatt sie politisch wirksam werden zu lassen, letztlich also das Schweigen, ein zweifellos sehr restringierter Verhaltensmodus, durch den man sich selbst aus dem politischen Prozeß ausschließt. Eine weitere Implikation wäre die Dichotomisierung von öffentlichem und privatem Denken und Handeln, die mehrfach zitierte „Schizophrenie“. Auch dies bedeutet, daß die Subjekte sich nicht mehr in den öffentlichen Raum einbringen, sondern diesen sich selbst bzw.der etablierten Herrschaft überlassen und sich ihm nur noch anpassen. Statt dessen suchen sie die Erfüllung ihrer Wünsche und Ideen im privaten Bereich und in der Nische, ein in der DDR tatsächlich weit verbreitetes Phänomen.
Sicher ist die aus der genannten Struktur resultierende Sensibilität dafür, was denn nun wahr und was falsch im öffentlichen Bewußtsein ist, sowie für Herrschaftsmechanismen, die den Kernbestand des Selbstverständnisses denkender Subjekte zu vereinnahmen versuchen, unter der Perspektive unseres Begriffs von politischer Sozialisation ein positiv zu bewertendes Ergebnis. Hierin übertreffen die Ostdeutschen den durchschnittlichen Westdeutschen vermutlich. Allerdings ist der Eindruck nicht ganz von der Hand zu weisen, daß die Erfahrungen mit den gleichgeschalteten Institutionen ihres Staates von manchen so weit generalisiert wurden, daß grundsätzlich alles, was von staatlichen bzw. öffentlichen Institutionen verlautet, für Lüge gehalten wird. Die heute bei Ostdeutschen gelegentlich zu beobachtende, über gesunde Skepsis weit hinausgehende pauschale Ablehnung der relativ unabhängigen Medien und auch der Justiz könnte so zu einer Ablehnung auch der Institutionen führen, die notwendige Bedingung einer demokratischen Willensbildung sind, damit konsequent auch zu der Weigerung, sich daran zu beteiligen.
Das vorliegende Material enthält auch einige Berichte über persönliche Erfahrungen in der direkten Konfrontation mit der Staatsgewalt. Sol-che Erfahrungen hinterlassen einen tiefen, über die Wirkung der kollektiven Sozialisationsbedingungen weit hinausgehenden Eindruck, doch sind sie eben individuell und untypisch und können nicht direkt in eine verallgemeinernde Aussage über die Sozialisation in der DDR einfließen. Daher soll an dieser Stelle nicht näher auf diese Erfahrungen eingegangen werden.
Das Bild, das die DDR-Intelligenz von der Bundesrepublik hatte, bzw. ihr Verhältnis zu dieser, bestimmt die Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen, sozialistischen Realität -zumal der DDR-Staat seine Identität zum großen Teil in Abgrenzung zur Bundesrepublik definierte -und das Handeln ihr gegenüber. Auch bei der Handlungsoption, eventuell in die Bundesrepublik auszureisen bzw. in der DDR zu bleiben, ist dieses Bild ausschlaggebend. Insofern kann es als eine Bedingung der politischen Sozialisation bzw. politischen Handelns in der DDR angesehen werden.
Angesichts der Reisebeschränkungen für DDR-Bürger kommt den offiziellen Medien, insbesondere dem DDR-Fernsehen, hierbei eine große Bedeutung zu. Das West-Fernsehen scheint nach den Aussagen der Gesprächsteilnehmer dagegen keine große Rolle gespielt zu haben; bedenkt man allerdings, daß viele trotz des Verbotes regelmäßig Sendungen aus dem Westen sahen, wird man dies wohl einschränken müssen. Das DDR-Fernsehen jedenfalls hatte zwei unterschiedliche Effekte: Zum einen weckte es auf Grund seines offensichtlich propagandistischen Charakters durchaus Skepsis bezüglich des vermittelten Bildes vom Westen und erhöhte das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Medien. Zum anderen gelang es ihm dennoch, wenn schon kein differenziertes Bild, so doch eine unterschwellige emotionale, defensiv getönte und pauschale Ablehnung der Bundesrepublik zu erzeugen. In allen Kohorten wurde die Bundesrepublik als ein fremdes Land neben vie-len, als „kapitalistisches Ausland“ mit der Konnotation „Klassenfeind“ und ohne eine besondere, historisch oder kulturell gestiftete Beziehung zur DDR angesehen. Zwei typische Zitate mögen dies belegen. Zunächst ein um 1950 geborener Teilnehmer:„Ich habe mich da [gemeint ist die Bundesrepublik -D. G. J nie mehr oder weniger mit identifiziert, daß es dort. . . ich habe das nur empfunden: DDR, das ist der Staat, in dem ich geboren bin. Es sind zwei Staaten da, der eine ist die DDR, und das andere sind die anderen Staaten. Damit war BRD mehr oder weniger weggerückt; ich will es mal so sagen. “ (Interviewer:) „Das heißt, die BRD hatte keine Sonderstellung?“ „Nee, das war ein kapitalistischer Staat unter vielen für mich. “
Ein Teilnehmer aus der Sechziger-Kohorte äußert sich ähnlich: „Das [die DDR] war meine Heimat, über allem Knatsch und Frust, der auch da war. Und ich empfinde mich jetzt [1991] auch nicht die Spur als Bundesbürger oder so. Also ich bin jetzt auch natürlich gereist und finde das auch toll, daß ich das kann. Aber ich fahre auch ins Ausland, ne, also auch selbst nach West-Berlin, das ist für mich Ausland . . . “
Auf die Frage, warum sie angesichts der von ihnen monierten Mißstände die DDR nicht verlassen haben, wird von den meisten Teilnehmern ein ebenso starker wie trivialer Grund genannt: Die DDR war ihre Heimat, in der sie aufgewachsen waren und in der sie ihre Familie und Freunde sowie eine in der Regel gesicherte berufliche Stellung hatten. Man rechnete auch mit beträchtlichen Schwierigkeiten und Risiken, wenn man z. B. in die Bundesrepublik gegangen wäre; dies ist eben-falls kein im engeren Sinne politisches Motiv. Interessant ist, wie unsere Teilnehmer die Eindrücke, die sie auf kurzen Reisen in den Westen gesammelt haben, verarbeiteten. Die Berichte stimmen darin überein, daß die ihrem bisherigen Stereotyp völlig widersprechenden Erfahrungen der sauberen Städte, des Warenangebots, des Lebensstandards und Lebensstils im Westen als Schock gewirkt und sie nachhaltig verändert haben. Es fällt ihnen schwer, sich einzugestehen, in welchem Maße ihr eigener Staat rückständig war und wie sehr er sie durch seine Medienpolitik und sein Ausreiseverbot hinters Licht geführt hat. Was Anlaß zu einer radikalen Kritik sein könnte, mündet daher in eine ganz andere Richtung: Der Westen wird wiederum -in neuer Weise -als eine ihnen fremde und bedrohliche Welt erfahren, weshalb sie sich noch stärker in die vertraute Heimat der DDR und die Loyalität mit ihr zurückziehen. Dies mag noch verstärkt werden durch eine arrogante Haltung seitens der Westdeutschen, die von denjenigen, die sich mit der DDR identifizierten, als narzißtische Kränkung erlebt wurde (und wird) und eine Trotzreaktion auslöste, so insbesondere bei Angehörigen der jüngeren Kohorte. Gleichzeitig sehen sie nun gewisse Probleme in ihrem Staat deutlicher, interpretieren diese aber auch jetzt nicht als Symptome tiefreichender Widersprüche dieses Systems, sondern als Mängel, die sich durch „Reformen“ beheben lassen können.
III. Resultate politischer Sozialisation in der DDR
Menschliches Handeln ist zwar zum einen von der jeweils vorgegebenen (objektiven) Situation abhängig -insofern handeln Menschen nicht autonom -, zum anderen aber auch von spezifischen subjektiven Bedingungen wie Motiven, Vorstellungen, Zielen usw., die als Ergebnisse der vorangehenden Sozialisation der betreffenden Individuen aufzufassen sind. In der vorliegenden Untersuchung wurden daher die von den Teilnehmern berichteten Handlungsoptionen in bestimmten Situationen sowie auch ihre Vorstellungen von der politischen Realität der DDR als Resultate ihrer politischen Sozialisation, d. h. ihrer oben dargestellten Erfahrungen von der Kindheit über ihre Ausbildung bis hin zum Beruf und zur politischen Arbeit, aufgefaßt. So berichteten unsere Teilnehmer zum Beispiel über politisches Protestverhalten in ihrer Jugendzeit, nach entsprechenden Fragen unsererseits über ihre Motive für den Eintritt in die SED sowie über die Gründe, die sie trotz ihrer Kritik dazu bewogen haben, die DDR nicht zu verlassen.
1. Typen des politischen Habitus in der DDR
Die Berichte unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer über ihr Verhalten in konkreten Situationen insbesondere gegenüber den Instanzen des Staates und der Partei sowie ihr entsprechendes Bewußtsein lassen sich in eine Typologie des politischen Habitus fassen. Der Begriff des politischen Habitus wird dabei verstanden als eine idealtypische Sinneinheit von politischem Handeln und Bewußtsein; er ist also ein konstruierter Begriff, der vor allem deskriptive und analytische Funktionen erfüllt. Wichtig ist, daß nicht nur das tatsächliche Verhalten, sondern auch das entsprechende Bewußtsein einbezogen wird, denn ersteres war in der DDR durch eng definierte Handlungsspielräume bestimmt, bei deren Überschreitung mit mehr oder weniger harten Sanktionen gerechnet werden mußte; aus diesem Grunde haben sich die meisten unserer Teilnehmer äußerlich konform verhalten. Jedoch verbirgt sich hinter dieser Konformität eine große Vielfalt subjektiver Einstellungen, die ihr Handeln dann im Detail bestimmten. So ist bemerkenswert, daß äußerlich konformes Verhalten durchaus Zusammengehen konnte mit einer subjektiven Distanz, ja mit einer kritischen Einstellung gegenüber der Partei und der Regierung. Allerdings stellte eine selbst weitgehende Kritik nicht die grundsätzliche Loyalität mit der DDR in Frage und bedeutet auch keineswegs, daß die Betreffenden eine „prowestliche“ Einstellung hatten.
Innerhalb unserer Population der staatsnahen Intelligenz lassen sich selbst bei denjenigen, die sich gegenüber den Erwartungen der Parteiinstanzen äußerlich konform verhielten, unterschiedliche Habitustypen ausmachen. Die folgende Aufzählung ist nach abnehmender Verhaltenskonformität geordnet; sie spiegelt weder eine Wertung noch eine empirische Häufigkeitsverteilung wider.
Es werden vier Haupttypen unterschieden, wobei der erste Haupttyp der „Konformen“ entsprechend dem subjektiven Hintergrund weiter in vier Subtypen unterteilt wurde. Der erste dieser Subtypen, der „identifiziert-konforme Habitus“ ist dadurch gekennzeichnet, daß man sowohl vom Sozialismus als Ideologie wie auch von seiner realen Gestalt in der DDR uneingeschränkt überzeugt war und sich soweit mit ihm identifizierte, daß man sich von Kritik an diesem und vor allem vom Untergang dieses Staates persönlich zutiefst getroffen fühlte. Bei einem zweiten Subtyp, dem „unreflektiert-konformen Habitus“ spielt im Bewußtsein die politische Dimension keine oder höchstens eine marginale Rolle; man könnte ihn auch „unpolitisch“ nennen.
Ein dritter Subtyp der Konformen ist als „distanziert-konform“ zu bezeichnen. Hier war das äußere Verhalten korrekt konform, aber es bestand innerlich -durchaus auf der Basis einer Grundidentifikation mit gewissen Prinzipien des Sozialismus als Ideologie -eine bewußte Distanz, sei es zur aktuellen Politik, zur Regierung, zur Partei oder zum DDR-Staat in seiner vorliegenden Gestalt insgesamt. Da nach unseren Befunden dieser Subtyp in der Population der staatsnahen Intelligenz besonders weit verbreitet zu sein schien, wurde eine weitere Unterteilung nach den Gründen für die Distanzierung vorgenommen. So stan-den beispielsweise die „von vornherein Ablehnenden“ dem System schon immer ablehnend gegenüber und haben sich innerlich zurückgezogen. konnten aber nicht die Konsequenz etwa der Ausreise ziehen. Die „Frustrierten“ waren anfangs wohlgesonnen, wenn nicht sogar begeistert für das Projekt der DDR, meist weil sie von der ideologischen Begründung überzeugt waren, doch wurden sie von der realen Entwicklung und Praxis zunehmend enttäuscht und wandten sich ab. Bei den „Traumatisierten“ beruht die -stark affektiv getönte -Distanz auf einem Erlebnis der Konfrontation mit der Gewalt des Staates, in der dieser sich in ihrer Wahrnehmung mit aller Deutlichkeit als repressiv und unmenschlich und seiner eigenen Ideologie widersprechend zeigte. Die „Theoretisch-Reflektierten“ haben auf Grund ihrer Erfahrungen im Laufe der Zeit ein analytisches Bild von der Realität ihres Staates gewonnen, in dem seine Widersprüche und Probleme so deutlich zutage traten, daß sie seine Zukunft pessimistisch beurteilten und sich innerlich von ihm lösten.
Der vierte Subtyp der Konformen, hier „individualistisch-unterlaufend“ genannt, zeigte einerseits korrekte Konformität in bezug auf ideologisch und politisch legitimierte Verhaltenserwartungen, verfolgt aber gleichwohl in dem damit gesteckten Rah-men individuelle Ziele, wobei er bloß informelle Erwartungen notfalls ignorierte und den Apparat strategisch für sich nutzte.
Die folgenden Typen sind dadurch gekennzeichnet, daß bei ihnen die Konformität im offenen Verhalten mehr oder weniger eingeschränkt bzw. verweigert wurde. Dies konnte jedoch durchaus mit einer tieferen Identifikation z. B. mit sozialistischen Prinzipien Zusammengehen. So lag dem zweiten Haupttyp, den wir „loyal und immanent kritisch“ nennen, vor allem das Funktionieren des Systems, mit dem er unreflektiert und unbedingt loyal war, auch auf der Ebene der alltäglichen beruflichen Arbeit am Herzen. Daher übte er schonungslos Kritik an Mängeln und Schlampereien und setzte sich über Konformitätsrituale hinweg, wenn er es im höheren Interesse des Ganzen für notwendig hielt.
Der „legalistisch-oppositionelle Habitus“ als dritter Haupttyp klagte die in der Theorie bzw. Ideologie formulierten Ansprüche des Sozialismus und auch nur schon des geltenden Rechts in der DDR demonstrativ und offensiv gegen die davon oft weit entfernte Praxis ein, nahm den Staat also beim Wort, und begab sich dadurch in Gegensatz zu jeweils bestimmten Repräsentanten dieser Praxis, in deren Sicht er sich nicht mehr „konform“ verhielt. Ein Beispiel für diesen Typ ist der Vater, der bei der Wahl mit seinem Sohn in die Wahlkabine geht, einige Namen streicht und die ausgefüllten Zettel zusammengefaltet in die Wahlurne steckt, was nach Bekunden unserer Teilnehmer überhaupt nicht üblich war, denn man nahm seinen Wahlzettel in Empfang und steckte ihn gleich wieder in die Wahlurne (das sogenannte „Zettelfalten“). Wer sich wie die beiden genannten Männer verhielt, wurde von den anwesenden Beobachtern registriert und lief Gefahr, einer Stigmatisierung ausgesetzt zu werden.
Schließlich war ein „demonstrativ nichtkonformer Habitus“ auszumachen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er -meist nach einem Schlüsselereignis -in demonstrativer und provokatorischer Absicht gegen Normen und konkrete Erwartungen offizieller Stellen verstieß, um dadurch kundzutun, daß er gegen bestimmte Praktiken und die dahinter stehenden Prinzipien, letztlich gegen die herrschende politische Realität selbst war.
Deutlich zeichnen sich Unterschiede zwischen den drei Alterskohorten ab. Die beiden älteren Kohorten zeigen eine größere Bandbreite; dies entspricht der oben festgestellten größeren Variabilität ihrer Sozialisation. Bemerkenswert ist vor allem, daß in der Fünfziger-Kohorte die markantesten Beispiele sowohl für den identifiziert-konformen als auch für den legalistisch-oppositionellen Habitus vorliegen, was beides auf eine relativ starke Identifizierung mit der Ideologie schließen läßt. Bei den um 1960 Geborenen liegt der Schwerpunkt auf der individualistisch-unterlaufenden Variante des distanzierten Habitus.
Nimmt man hinzu, daß diese jüngste Kohorte im Vergleich zu den älteren eine größere Distanz zum Staat, zur Stasi und insbesondere zur Partei und zur Führungsspitze -die sie vor allem unter moralischen Gesichtspunkten kritisiert -erkennen läßt, so sind diese Befunde insofern erstaunlich, als gerade die Mitglieder dieser Kohorte ja eine relativ einheitliche Sozialisation erlebt haben, in der weniger die Familie als staatliche Institutionen eine Rolle spielen, und sie in einem konsolidierten Sozialismus aufgewachsen sind. Die Bezugspunkte ihrer Kritik sind auch keineswegs der Westen, den sie eher noch entschiedener als die Älteren ablehnen, sondern es sind offensichtlich gewisse Grundsätze des Sozialismus, die sie jedoch nicht als Dogma verinnerlicht haben und verbal reproduzieren, sondern sich als Maximen ihres persönlichen Handelns und Denkens angeeignet haben. Dies kann kaum als das intendierte Ergebnis sozialistischer Erziehung in den Institutionen der DDR interpretiert werden, die sie ja gerade ablehnen. Eher wäre daran zu denken, daß sie selber zu Beginn der siebziger Jahre -also in ihrer Adoleszenz -die für sie relevanten Grundsätze aus den ideologischen Angeboten herausgelesen und sich zu eigen gemacht haben und sie der Staatsführung von dem Moment an entgegenhielten, als diese Mitte der siebziger Jahre zu einer restriktiven Politik zurückkehrte. Ein weiterer Grund für ihre kritische Haltung scheint zu sein, daß sie sich durch die Generation an der Spitze von Staat und Partei nicht mehr vertreten fühlten und ihnen gleichzeitig klar wurde, daß diese sie vom Zugang zur Macht fernhielt.
2. Die Sicht der Gründe für den Untergang der DDR
Die Art des politischen Bewußtseins und damit der politischen Sozialisation der Befragten kann auch daraus erschlossen werden, wie sie den Untergang der DDR bewerten bzw. welche Gründe sie hierfür sehen. Es ist bemerkenswert, daß auch diejenigen unter den loyalen Intelligenzlern, die der politischen Wirklichkeit in ihrem Staat kritisch gegenüberstanden, von der Wende offensichtlich völlig überrascht wurden. Dies scheint damit zusammenzuhängen, daß sie -nicht unbedingt immer bewußt -unterschieden zwischen der Alltagsrealität, die zu kritisieren war, und dem ideologischen Selbstverständnis, das ihre Identität und die ihres Staates definierte und das auf Grund seines hohen Legitimationsanspruches tabu war. So fällt auf, daß sich ihre Kritik stets nur auf einzelne, konkrete Erscheinungen und Probleme bezog, nicht jedoch auf das System als Ganzes bzw.seine Strukturmerkmale, ln den Gesprächen wird dieses Reflexionsdefizit verschiedentlich selbstkritisch angemerkt und unter anderem dadurch erklärt, daß es einem im Grunde ja gutging und man eben an die Idee des Sozialismus geglaubt habe. Was die Gründe und Erklärungen für das Scheitern der DDR betrifft, so stimmen die weitaus meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen unserer Untersuchung in frappierender Einhelligkeit quer durch alle Kohorten und Habitus-Typen in einer Sicht überein, die wir als „ Theorem der falschen Leute an der Spitze“ bezeichnen möchten und die sich durch folgende Annahmen charakterisieren läßt: Erstens: Die Idee des Sozialismus ist gut. Zweitens: Das System in der DDR verkörpert diese Idee, ja ist mit ihr geradezu definitorisch verbunden. Drittens: Die offensichtlichen Probleme und Mißstände lassen sich innerhalb des Systems beheben, nötigenfalls sind dazu Reformen notwendig. Viertens: Die Ursache für die faktischen Probleme und Mißstände liegt darin, daß die falschen. d. h. inkompetente und insbesondere zu alte Leute an der Spitze von Staat und Partei stehen.
Ein Zitat einer Teilnehmerin aus der Fünfziger-Kohorte muß hier genügen: „ Es ist ja nun vieles in letzter Zeit vor allem an der Basis auch viel kritischer gesehen worden. Und ich hatte also auch bis zuletzt die Hoffnung und habe daran geglaubt, daß der Sozialismus eigentlich was Gutes ist, und diesem Ideal, dem war ich auch eigentlich verpflichtet, muß ich wirklich sagen. Und ich war auch der Meinung, also diese alte Horde muß dort weg, die da unfähig sind, die verkalkt sind und so. Irgendwo sind da in der zweiten Reihe intelligente Leute, und die wissen, was sie wollen, und da ist in den Schubladen was, da gibt es einen Weg, und dann geht das irgendwie wieder vorwärts. Und daran hat man ja irgendwie geglaubt
Die Idee und damit auch das mit ihr verbundene System waren auf Grund des hohen moralischen und historischen Anspruches jeder Kritik enthoben, zumal auch noch der Fortschritt als historische Zwangsläufigkeit unterstellt wurde. Es ist allerdings bemerkenswert, daß der Begriff „Sozialismus“ nicht im Sinne der Theoretiker des Sozialismus bis hin zu Marx verstanden wird, sondern schlicht als Sozialstaatlichkeit (s. o.). Aus dieser Sicht konnten die Fehler also gar nicht im System, sondern nur bei den verantwortlichen Politikern liegen. Die von Michail Gorbatschow, dem neuen Mann an der Spitze der führenden Sowjetunion, verkündete Perestroika wurde als Signal für den Beginn der lang ersehnten Reformen wahrgenommen. Daß die DDR-Führung die-sen Weg bewußt ausschlug, war für die Bürger eine tiefe Enttäuschung und dürfte einer der Flauptgründe für die dann einsetzende, zur Wende führende Entwicklung gewesen sein. Die Ursa-chen für die behauptete Inkompetenz werden im hohen Alter und in einer beginnenden Demenz der Spitzenpolitiker gesehen („biologisches Problem“). Nach der Wende wird den Genossen außerdem klar, daß die Politiker an der Spitze der DDR sie über das Ausmaß der Probleme bewußt getäuscht und daß sie zahlreiche Privilegien genossen haben. So kommt zur Kritik an ihrer Inkompetenz noch eine moralische Verurteilung hinzu. Das typische Gros unserer Teilnehmer sieht sich im nachhinein nicht als Akteur, sondern eher als betrogenes Opfer des Systems und ist von dem Gedanken einer möglichen Mitschuld sowohl am Geschehen in der DDR wie an ihrem Ende weit entfernt.
Erstaunlich ist an diesen Befunden besonders, daß die Intelligenzler, in deren Studium und Ausbildung mit dem Marxismus-Leninismus doch eine gesellschaftstheoretische Komponente verankert war und von denen einige sogar einen Hauptfachabschluß darin hatten, im Verständnis von ihrem eigenen Staat und seinem Untergang zentrale Begriffe miteinander vermischen, eine gesellschaftstheoretische Begrifflichkeit gerade vermissen lassen und stattdessen Zuflucht zu personalisierenden Erklärungen suchen, die in eine Zuschreibung der Sündenbock-Rolle an ihre Führungsspitze münden.
Unsere in der genannten Buchveröffentlichung weit ausführlicher dargestellten Befunde über die Bedingungen und Resultate der politischen Sozialisation der staatsnahen Intelligenz in der DDR bis zur Wende können nicht unvermittelt auf das Verhalten dieser Population in der Bundesrepublik der Gegenwart extrapoliert werden, da wir es ja mit einer neuen Situation zu tun haben. Aber die Darstellung und Analyse ihrer früher entstandenen Denkweisen kann vieles von ihrem Verhalten auch unter den neuen Bedingungen besser verständlich machen, und dies ist im Hinblick auf das politische Klima in Deutschland sicher ein wichtiges Anliegen.