Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das neue Strategische Konzept der NATO. Entwicklung und Perspektiven | APuZ 11/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 11/1999 Artikel 1 Ein halbes Jahrhundert Nordatlantische Allianz Die NATO im Geflecht internationaler Organisationen Das neue Strategische Konzept der NATO. Entwicklung und Perspektiven Die NATO, humanitäre Intervention und Völkerrecht Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten seit 1990

Das neue Strategische Konzept der NATO. Entwicklung und Perspektiven

Karl-Heinz Kamp

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit dem NATO-Gipfeltreffen im Juli 1997 arbeitet die NATO an einem neuen Strategischen Konzept, das die NATO-Strategie von 1991 ablösen soll. Auf dem NATO-Jubiläumsgipfel in Washington im April 1999 soll dieses Strategiedokument, welches die Aufgaben und Ziele der NATO für die kommenden Jahre definieren wird, feierlich verabschiedet werden. Derzeit konzentrieren sich die allianzinternen Diskussionen vornehmlich auf die Frage der Kernfunktionen der NATO, auf ihren geographischen Geltungsbereich sowie auf die völkerrechtliche Legitimation von NATO-Militärein-Sätzen jenseits der Bündnisverteidigung. In all diesen Diskussionspunkten dürfte das neue Strategische Konzept die nach wie vor existierenden Bewertungsunterschiede im Bündnis mit eher allgemeinen und interpretierbaren Formulierungen überdecken. Die neue Strategie wird damit ein Konsens-papier darstellen, das von einem hohen Maß an Flexibilität und Auslegbarkeit gekennzeichnet ist. Völlig fehl geht aber der gelegentlich erhobene Vorwurf, mit ihren weitreichenden Überlegungen zur Mandatsfrage oder zur geographischen Ausweitung des Handlungsrahmens befinde sich die NATO auf dem Wege zum „Weltpolizisten“, der nach eigenem Gutdünken überall auf dem Globus westliche Interessen vertritt. Eine solche Denkweise verkennt völlig, daß jegliches gemeinsames Handeln -politisch oder militärisch -von allen Bündnispartnern, d. h. einstimmig, gebilligt werden muß. Eine solche Allianz, die auf dem Konsens von 19 demokratischen Staaten basiert, ist zu militärischem Abenteurertum nicht in der Lage. Statt dessen gibt das neue Strategische Konzept der NATO die Möglichkeit, auch unter einem völlig gewandelten Risikospektrum ihre Bedeutung als Kern der euro-atlantischen Sicherheit zu bewahren. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Wenn sich die Staats-und Regierungschefs des westlichen Bündnisses am 24. April 1999 zum fünfzigsten Geburtstag der NATO in Washington versammeln, feiern sie auf diesem Gipfeltreffen eine NATO, die sich in den letzten Jahren an Haupt und Gliedern erneuert hat. Durch die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik wird das Allianzgebiet in östliche Richtung erweitert. Gegenüber Rußland hat die NATO ein völlig neues Kooperationsverhältnis aufgebaut und Ruß-land damit aktiv in die Gestaltung der europäischen Sicherheitslandschaft einbezogen. Mit den Ländern jenseits der Bündnisgrenzen ist ein enges Netz von Aktivitäten im Bereich des Dialoges und der Zusammenarbeit geknüpft worden -dadurch hat sich die NATO vom Instrument der Konfrontation im Ost-West-Konflikt zum zentralen Element der sicherheitspolitischen Kooperation in Europa gewandelt.

Im transatlantischen Rahmen ist die NATO heute mehr denn je der Kern der amerikanisch-europäischen Sicherheitsbeziehungen. Sie trägt somit zur Festigung des Engagements der USA in und für Europa entscheidend bei. Darüber hinaus hat die Allianz mit ihrem militärischen Engagement auf dem Balkan ihre Fähigkeit zu effektivem Krisenmanagement unter Beweis gestellt.

Angesichts dieser großen Veränderungen der europäischen Sicherheitslandschaft wie auch der NATO selbst wurde sehr bald deutlich, daß das 1991 beschlossene Strategische Konzept des Bündnisses zunehmend überholt war. Dieses Grundlagendokument wurde zu einer Zeit formuliert, als die Sowjetunion noch existierte, und es enthielt eine Vielzahl von Reminiszenzen an den Ost-West-Konflikt. Dennoch dauerte es bis zum NATO-Gipfeltreffen in Madrid im Juli 1997, bis die NATO die Erarbeitung eines neuen Strategischen Konzepts beschloß, welches die strategische und politische Basis für die „neue NATO“ darstellen soll.

I. Der Weg zum neuen Strategischen Konzept

Die Bereitschaft, seine strategischen Grundlagen den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, bekundete das Bündnis erstmals öffentlich im Frühjahr 1997. In der am 27. Mai 1997 unterzeichneten NATO-Rußland-Grundakte erklärte die NATO, ein neues Dokument ausarbeiten zu wollen, das . mit der neuen Sicherheitslage und den neuen Herausforderungen in Europa voll im Einklang steht“ Im Juli desselben Jahres beschlossen die Staats-und Regierungschefs der NATO dann in Madrid offiziell die Überarbeitung des bisher gültigen Strategischen Konzepts und beauftragten den NATO-Rat, Richtlinien zu erarbeiten -sogenannte Terms of Reference nach denen die Aktualisierung des Konzeptes erfolgen sollte. Diese Terms of Reference wurden im November 1997 vom NATO-Rat beschlossen und von den Verteidigungsministern und den Außenministern im Dezember 1997 auf der NATO-Herbsttagung in Brüssel gebilligt. Sie bildeten den Rahmen bzw. das Mandat für die Policy Coordination Group (PCG), die mit der inhaltlichen Arbeit am Konzept beauftragt wurde.

Der Auftrag an die NATO zur „Überarbeitung“ des Strategischen Konzepts machte bereits deutlich, daß es nicht um eine völlige Neuformulierung der Strategie gehen konnte, sondern eher um eine Fortschreibung politisch-militärischer Grundlagen. Demzufolge sollte der konzeptionelle Anpassungsprozeß die nach wie vor gültigen Elemente des Strategischen Konzepts von 1991 beibehalten. Hierzu gehören insbesondere die Kernfunktionen der kollektiven Verteidigung und der transatlantischen Bindung. Hingegen sollte das Konzept hinsichtlich der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen, wie etwa die Proliferationsbe-kämpfung oder die Notwendigkeit friedensschaffender Maßnahmen, deutlich erweitert werden. Dabei waren insbesondere die bereits von der NATO eingeleiteten Entwicklungen der letzten Jahre zu berücksichtigen, wie etwa der NATO-Mittelmeer-Dialog oder die NATO-Ukraine-Kommission

Anfang 1998 fanden die ersten Sitzungen der Policy Coordination Group unter der Leitung des Beigeordneten NATO-Generalsekretärs für Verteidigungsplanung, dem britischen Diplomaten Anthony Cragg, statt. Hier zeigte sich ein breiter Konsens für die weitere Vorgehensweise der Gruppe und für ihre Informationspolitik gegenüber den Ländern, die nicht der NATO angehören. So sollten die Beratungen in drei Phasen erfolgen, wobei man zunächst -bis etwa März 1998 -über die zu erhaltenden Passagen des alten Konzepts debattieren wollte. In einer zweiten Phase -etwa bis zur NATO-Frühjahrstagung -sollten dann die neu einzubeziehenden Elemente definiert werden, wobei die seit 1991 gefallenen Entscheidungen und Verlautbarungen des NATO-Rates zu berücksichtigen wären. Der dritte Schritt sollte dann die eigentliche Textarbeit mit dem Ziel sein, einen allseits akzeptierten Entwurf bis zur Herbsttagung im Dezember 1998 vorlegen zu können. In jeder dieser Phasen sollten alle relevanten NATO-Stellen und insbesondere die militärischen Gremien berücksichtigt werden.

Auch die künftigen NATO-Mitglieder Polen, Ungarn und die Tschechische Republik wollte man in die Beratungen einbeziehen, da sie nach ihrem geplanten Beitritt im April 1999 ebenfalls an die Formulierungen des Strategischen Konzepts gebunden sein werden. Allerdings sahen die Terms of Reference ursprünglich keine aktive Beteiligung dieser Länder vor -sie sollten lediglich den Erörterungen beiwohnen können. Diese strikte Regelung wurde aber nicht lange aufrechterhalten -sehr bald saßen alle drei Beitrittsländer am Verhandlungstisch und konnten ihre Positionen zu Einzelfragen erläutern. Darüber hinaus wurden sowohl Rußland und die Ukraine als auch die übrigen Partnerstaaten der NATO in Abständen über den Verlauf der Beratungen informiert. Auch hatte Rußland die Möglichkeit, das Thema „Strategisches Konzept“ auf die Agenda der regelmäßigen Beratungen im NATO-Rußland-Rat zu setzen. Das neue Strategische Konzept wird auf dem historischen Gipfeltreffen anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der NATO im April 1999 in Washington von den Staats-und Regierungschefs feierlich beschlossen werden. Das so verabschiedete Dokument wird sich hinsichtlich des Inhalts und der Ausrichtung primär an drei Zielgruppen wenden: -an die NATO-Mitglieder selbst, und hier insbesondere an die Öffentlichkeit, -an die Militärbehörden des Bündnisses -und an die Partnerländer außerhalb der Atlantischen Allianz.

Gegenüber den Öffentlichkeiten der NATO-Staaten soll das neue Strategische Konzept die künftigen Aufgaben der NATO definieren und die zentrale Bedeutung der Allianz glaubhaft untermauern. Damit schafft das Grundsatzdokument die raison d’etre des Bündnisses zumindest für die nächsten Jahre, da angesichts der nach wie vor im Wandel begriffenen sicherheitspolitischen Lage kein wirklich dauerhaftes Konzept angestrebt werden kann. Gegenüber den militärischen Autoritäten der NATO soll das neue Strategische Konzept einen politischen Rahmen zeichnen, der als Richtlinie für künftige militärische Planungen dienen soll. Dies kann allerdings -wie auch in dem Strategischen Konzept von 1991 -nur in grundlegender Form geschehen, da der öffentliche Charakter des Dokuments keine detaillierten militärischen Ausführungen erlaubt. Gegenüber den Nicht-NATO-Staaten und insbesondere gegenüber Rußland soll das Dokument die Abkehr vom Denken in Ost-West-Kategorien auch in den zentralen Planungsdokumenten der NATO dokumentieren. Damit soll die neue Strategie zum schrittweisen Abbau antiquierter Denkmuster in Rußland beitragen, indem es das neue Verständnis der NATO hinsichtlich der sicherheitspolitischen Herausforderungen im euroatlantischen Raum verdeutlicht. Allerdings stellen die verschiedenen Zielgruppen Politik, Militär und Öffentlichkeit durchaus widersprüchliche Anforderungen an das Strategische Konzept. Während gegenüber der Öffentlichkeit der politische Erfolg der NATO herausgestellt werden soll, erwarten politische Entscheidungsträger konkrete Aussagen zu den künftigen Aufgaben des Bündnisses. Militärs hingegen wünschen klare militärische und politische Vorgaben für ihre Streitkräfte-und Einsatzplanung, die aber naturgemäß in einem allgemein zugänglichen Dokument nur schwer wiedergegeben werden können. Mögliche Beitrittsinteressenten in Osteuropa erhoffen sich Formulierungen, die auf spätere Erweiterungsschritte der NATO hindeuten. Moskau erwartet demgegenüber von den Ausführungen im Strategischen Konzept ein Eingehen auf russische Vorstellungen und Konzepte hinsichtlich der „strategischen Partnerschaft“ mit der NATO. All dies erschwert zweifelsohne den Grad der Präzision, mit dem das neue Strategische Konzept formuliert werden kann.

II. Die Diskussion in der Allianz

Die ersten inhaltlichen Gespräche in der Policy Coordination Group im Januar und Februar 1998 wurden in Form von Beratungen geführt, die allen Beteiligten die Gelegenheit gaben, grundsätzliche Positionen und Präferenzen zu den künftigen Aufgaben der NATO zu vertreten. Dabei waren die Positionen wichtiger NATO-Partner von großer Zurückhaltung gekennzeichnet, was den Gesprächen einen eher schleppenden Start verschaffte. Insbesondere die USA brachten sich kaum in die Beratungen ein, da die Clinton-Administration vollauf damit beschäftigt war, die Ratifizierung der NATO-Osterweiterung im amerikanischen Senat sicherzustellen. Auch Großbritannien und Frankreich hielten sich mit eigenen Beiträgen eher zurück. Folglich war der erste Textentwurf des neuen Konzepts, der im Herbst 1998 im NATO-Hauptquartier erarbeitet wurde, nur wenig konkret. Auch wurde bemängelt, daß dieser Entwurf allein unter der Ägide der Abteilung für Verteidigungsplanung {Defence Planning and Operations) entstanden sei, deshalb politische Mängel aufweise und zu sehr am alten Konzept von 1991 orientiert sei.

Im Verlauf des Jahres und insbesondere mit der sich abzeichnenden Krise im Kosovo nahmen die Debatten um den Inhalt der neuen Strategie der NATO aber an Schärfe zu; sie konzentrierten sich auf wenige Kernprobleme, die bis zur Verabschiedung des Strategischen Konzepts die Debatte bestimmen sollten. 1. Der Streit um das UN-Mandat Bei dem Mandatsstreit ging es um die Frage, ob die NATO für friedenswahrende oder friedens-schaffende Operationen -also für über die Selbstverteidigung hinausgehende Militäreinsätze -zwingend der Legitimation durch die Vereinten Nationen (VN) oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bedarf. Insbesondere nach Auffassung Frankreichs erfordert ein militärisches Engagement der NATO in regionalen Krisen unbedingt ein Mandat des VN-Sicherheitsrates oder der OSZE. Darin sah eine Mehrheit der übrigen NATO-Mitglieder -allen voran die USA -eine unzulässige Einschränkung des Handlungsrahmens der Atlantischen Allianz. Kritiker der französischen Position verwiesen darauf, daß die jüngsten Erfahrungen mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gezeigt hätten, wie schwierig es sei, alle fünf ständigen Mitglieder auf eine einheitliche Position festzulegen. Der frühere Konsens im Sicherheitsrat gegenüber dem Irak oder dem serbischen Vorgehen in Bosnien-Herzegowina sei eher die Ausnahme gewesen -eine ähnliche Übereinstimmung sei künftig angesichts der politischen Entwicklungen in Rußland oder in Anbetracht des wachsenden weltpolitischen Selbstbewußtseins Chinas kaum noch zu erwarten. Folglich könnte sich der VN-Sicherheitsrat als mandatsgebendes Organ in der Mehrheit künftiger Krisenszenarien als handlungsunfähig erweisen -gleiches gelte für die OSZE. Es sei aber schlicht inakzeptabel, die NATO in einer Krise, die möglicherweise vitale Interessen ihrer Mitglieder berühren würde, zur militärischen Untätigkeit zu verpflichten, nur weil UNO oder OSZE sich nicht auf ein eindeutiges Votum für ein Mandat einigen könnten. Darüber hinaus stellte sich die Frage, ab welchem Intensitätsgrad einer militärischen Aktivität ein Mandat erforderlich ist -würde etwa eine präventive Stationierung von Streitkräften in einem Krisengebiet ebenfalls ein Mandat erfordern, oder wäre eine solche Legitimation lediglich für einen wirklichen Kampfeinsatz erforderlich?

Politische Aktualität gewann die Mandatsfrage mit den Entwicklungen im Kosovo seit Anfang 1998. Im Februar war der schwelende Konflikt in der serbischen Provinz, in der Teile der albanisch-stämmigen Bevölkerung nach Unabhängigkeit streben, offen ausgebrochen. Serbische Sonder- kommandos traten an, um die illegale Befreiungsarmee UCK zu zerschlagen, und gingen mit großer Härte gegen die Kosovo-Albaner vor. Damit stellte sich sogleich die Frage, wie eine Wiederholung der Bosnien-Tragödie verhindert werden kann. Hier gingen die Einschätzungen auseinander. Während einerseits gerade bei den europäischen NATO-Partnern die Sorge wuchs, eine Verschärfung der Kosovo-Krise könnte eine erneute Fluchtwelle von Kosovo-Albanern nach Westeuropa auslösen, wurde andererseits heftig diskutiert, welche rechtlichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der NATO gegeben sein müßten. Da Rußland und auch China eine militärische Intervention unter der Führung der NATO grundsätzlich ablehnten, war mit einem Mandat durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht zu rechnen.

Damit hatte sich die Paralyse der mandatsgebenden Organisationen UNO bzw. OSZE, vor der die Kritiker des französischen Beharrens in der Mandatsfrage gewarnt hatten, sehr rasch bestätigt. Was bislang eher abstrakt in den NATO-Gremien diskutiert worden war, stellte sich nun als ganz praktische Frage: Soll die NATO einer weiteren Eskalation und damit einer möglichen humanitären Katastrophe auf dem Balkan tatenlos zusehen, oder soll eine militärische Intervention auch ohne Mandat des VN-Sicherheitsrates erwogen werden? Falls die NATO aber eingreifen würde, so müßte sie auf dem Boden eines souveränen Staates militärisch agieren, ohne von diesem angegriffen worden zu sein. Diese schwierige Situation spiegelt auch einen Mangel des Völkerrechts wider, der mit dem Ende des Ost-West Konfliktes immer stärker zutage getreten war. Die Charta der Vereinten Nationen ist in ihrer Grundausrichtung an der Gefahr zwischenstaatlicher Kriege orientiert, in denen zwischen dem Angreifer und dem angegriffenen Staat unterschieden werden kann. Für die neue Realität innerstaatlicher Konflikte (Bürgerkrieg, Sezessionskonflikt, Genozid) setzt die VN-Charta keine klaren Vorgaben.

Konfrontiert mit zwei überaus problematischen Alternativen, sprang die NATO Mitte Oktober 1998 über ihren eigenen Schatten und kündigte gegenüber dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic Luftschläge für den Fall an, daß die jugoslawische Armee weiter gegen Kosovo-Albaner vorgehen sollte. Um der Drohung Nachdruck zu verleihen, erteilte der NATO-Rat die soge-nannte „Activation Order“, auf deren Grundlage militärische Einsätze unmittelbar durchgeführt werden konnten. Wenn mit dem Einlenken Milo-

evis in buchstäblich letzter Minute auch die geplanten Bombardements serbischer Militärziele im Kosovo zunächst vermieden wurden, so hatte die NATO mit ihrer Entscheidung dennoch Fakten geschaffen, die für die Frage nach der völkerrechtlichen Grundlage militärischen Handelns von entscheidender Bedeutung waren. Die Angriffsdrohung des Bündnisses -die man jederzeit hätte in die Tat umsetzen können, solange die „Activation Order“ noch galt -erfolgte ohne ein vorliegendes Mandat des Sicherheitsrates, sie wurde vielmehr mit der humanitären Notwendigkeit des Einschreitens gerechtfertigt.

Bemerkenswert war, daß dieser Entscheidung auch Paris zugestimmt hatte, ungeachtet der unveränderten französischen Haltung in der Mandatsfrage. Selbst die neugewählte deutsche Bundesregierung entzog sich dem NATO-Konsens nicht, obgleich die Koalitionsvereinbarungen von SPD und Grünen die Zustimmung der Vereinten Nationen zu militärischen Handlungen der NATO jenseits der Bündnisverteidigung explizit vor-schrieben. Zwar wurde in vielen NATO-Hauptstädten sogleich betont, daß es sich bei der Kosovo-Entscheidung um einen Einzelfall handele, der nicht als Muster für das künftige Vorgehen der NATO genommen werden könne.

Dennoch sind die Konsequenzen für die völkerrechtliche Grundlage von NATO-Friedensmissionen weitreichend. Die NATO wird sich in ihrem neuen Strategischen Konzept nicht auf Formulierungen festlegen, die eine Einschränkung der militärischen Handlungsfreiheit des Bündnisses -sei es durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder durch die OSZE -bedeuten würden. Ein Mandat einer dieser beiden Organisationen wird deshalb eine zwar wünschenswerte, aber keine zwingende Voraussetzung für ein militärisches Engagement der NATO sein. Allerdings wird sich die NATO ebensowenig „aus dem Völkerrecht verabschieden“, wie dies von den strikten Mandatsbefürwortern gelegentlich unterstellt wird. Statt dessen wird das Strategische Konzept ausdrücklich -wenn auch in allgemeiner Form -erklären, daß militärische Aktionen der NATO jenseits der Bündnisverteidigung immer auf der Grundlage des Völkerrechts und im Sinne derCharta der Vereinten Nationen erfolgen werden. Über den genauen Wortlaut dieser Selbstverpflichtung wird innerhalb der NATO aber vermutlich noch bis unmittelbar vor dem Gipfeltreffen verhandelt werden. 2. Die Diskussion um die Kernfunktion -eine globale Rolle für die NATO?

Ein zweiter großer Streitpunkt innerhalb des Bündnisses bezog sich auf die künftigen Kernfunktionen der NATO. Hier ging es um die Frage, welchen neuen sicherheitspolitischen Aufgaben sich die Allianz angesichts der neuen weltpolitischen Rahmenbedingungen primär widmen soll. Während innerhalb des Bündnisses breiter Konsens bestand, daß die gegenseitige Beistandspflicht gemäß Artikel des NATO-Vertrages nach wie vor die „conditio sine qua non 1'der Atlantischen Allianz darstellen würde, herrschte Uneinigkeit darüber, ob etwa die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen oder die Bekämpfung des Terrorismus ebenfalls zu den zentralen Funktionen der Allianz gehören. Während die Vereinigten Staaten für ein eher breites Verständnis der künftigen Rolle des Bündnisses plädierten, wollten einige europäische Verbündete die Aufgaben der NATO eher begrenzt sehen. Dabei waren die Motive für den Wunsch nach Eingrenzung durchaus unterschiedlich.

Einige Bündnispartner wandten ein, daß ein zu breites Aufgabenspektrum die NATO überbürden könnte und langfristig in ihrer Leistungsfähigkeit schwächen würde. Frankreich argumentierte im Kern genau entgegengesetzt -zu viele Kernaufgaben könnten die Bedeutung der NATO eher erhöhen, was einer Schwächung des nach wie vor von Paris geforderten „Europäischen Pfeilers“ in der Sicherheitspolitik gleichkäme. Deutschland riet aus ganz anderen Gründen zur Zurückhaltung. Würde die gegenseitige Beistandspflicht als die zentrale Funktion der NATO festgeschrieben, aus der sich alle anderen Aufgaben -wie etwa Krisenmanagement oder friedensschaffende Maßnahmen -ableiten würden, so wäre der Erhalt der Hauptverteidigungskräfte der Bundeswehr am ehesten zu begründen. Damit ließe sich -nach Ansicht Bonns -auch das Festhalten an der Wehrpflicht in Deutschland am ehesten rechtfertigen.

Diese vielschichtige Auseinandersetzung reduzierte sich im weiteren Verlauf aber weit stärker auf den Aspekt des geographischen Handlungsrahmens der NATO. Prominente Stimmen in hatten schon seit längerem gefordert, Washington daß die NATO zur umfassenden Verteidigung amerikanischer und europäischer Interessen in der Welt befähigt werde müsse 5 und daß in der Diskussion über den „strategischen Zweck der NATO“ auch Krisen am Golf oder in der Straße von Taiwan berücksichtigt werden sollten Außenministerin Madeleine Albright machte bei den Ministertreffen im NATO-Rahmen immer wieder deutlich, daß die strategische Ausrichtung der NATO von der gemeinsamen Verteidigung des Vertragsgebietes hin zum Prinzip der Verteidigung gemeinsamer Interessen geändert werden müsse -also von der Diskussion über „out of area“ hin zu der Frage: „out of interests?"

Derart weitreichende Vorstellungen stießen bei den europäischen Verbündeten auf verbreitete Skepsis, da nicht eindeutig zu erkennen war, wer denn die „gemeinsamen Interessen“ definieren soll, die es künftig zu verteidigen gelte. Die globalen Belange Amerikas sind nicht notwendigerweise deckungsgleich mit den Interessen der europäischen Bündnispartner, und auch innerhalb Europas weichen die jeweiligen politischen Ziele und Präferenzen erheblich voneinander ab. Auch war unklar, was geschehen würde, wenn die NATO in der Interessenfrage uneins sein sollte. Gerade von französischer Seite wurde deshalb die Befürchtung geäußert, daß eine auf Interessenvertretung ausgerichtete NATO rasch zu einem bloßen Instrument der amerikanischen Globalstrategie verändert werden könnte Andererseits ist unbestreitbar, daß zentrale sicherheitspolitische Risiken -wie etwa die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen -jenseits der europäischen Grenzen entstehen können und den Gefahren auch dort begegnet werden muß. Geographische Distanz ist heute ohne Zweifel ein Faktor von schwindender Bedeutung bei der Analyse sicherheitspolitischer Bedrohungen. Eine Ausdehnung der NATO-Verantwortlichkeiten über Europa hinaus wäre somit eine logische Konsequenz veränderter weltpolitischer Rahmenbedingungen.

Auch in dieser Frage wird sich das Bündnis kaum zu einer eindeutigen Wortwahl im Strategischen Konzept durchringen können und statt dessen die fortbestehenden Bewertungsunterschiede mit einer interpretierbaren Formulierung überdecken. Ungeachtet dessen strukturieren aber bereits jetzt europäische NATO-Partner wie Großbritannien, Holland und selbst Frankreich ihre Streitkräfte in einer Weise um, die einen Schwerpunkt auf das Krisenmanagement außerhalb des NATO-Gebietes legt. Kleinere, mobile Einheiten sowie ausreichende Transportkapazitäten und Kommunikationsmittel sollen die Projektion militärischer Macht über weite Distanzen ermöglichen. Damit wird de facto das vorangetrieben, was im Strategischen Konzept noch umstritten ist: nämlich die Fähigkeit zum raschen militärischen Handeln außerhalb Europas. 3. Die kurze Debatte um den nuklearen Ersteinsatz Ein kurzer, aber heftiger Streit entzündete sich in der NATO über die Strategie des Ersteinsatzes von Kernwaffen, obgleich nuklearstrategische Fragen aus den internen Beratungen über das neue Strategische Konzept eigentlich ausgeblendet werden sollten. Relativ frühzeitig hatte man in der NATO Übereinstimmung dahin gehend erzielt, die Frage der künftigen Rolle von Kernwaffen nicht weiter zu erörtern. Statt dessen sollte das neue Strategische Konzept weitgehend die Formulierungen aus der alten Strategie von 1991 übernehmen. Die damals gefundene, eher allgemeine Beschreibung der Funktion nuklearer Abschreckung erschien insbesondere den Nuklearstaaten USA, Frankreich und Großbritannien flexibel genug, um auch im neuen Konzept die Aufgabe von Kernwaffen unter geänderten politischen Bedingungen adäquat zu definieren. Lediglich einige redaktionelle Änderungen sollten vorgenommen werden. Auf diese Weise wollte man eine neue Nukleardiskussion im Bündnis nach Möglichkeit vermeiden, da die Konsequenzen in den Öffentlichkeiten der Mitgliedsländer unvorhersehbar schienen.

Ende 1998 durchbrach der deutsche Außenminister diesen Konsens, indem er forderte, im neuen Strategischen Konzept den Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz festzuschreiben. Da der Warschauer Pakt mit seinen starken konventionellen Streitkräften nicht mehr existiere, könnte auch die NATO von ihrer Drohung abrücken, im Falle eines gegnerischen Angriffs Kernwaffen als erste einzusetzen. Dieser überraschende Vorstoß des grünen Außenministers traf nicht nur in der NATO auf breite Ablehnung, sondern er wurde auch von Bundesverteidigungsminister Scharping nicht geteilt. Statt dessen argumentierten die Befürworter des Ersteinsatzes mit der neuen Rolle, die den Kern-waffen nach dem Ende des Kalten Krieges zukommen würde: Atomare Abschreckung werde heute primär im Kontext der Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln -also atomaren, biologischen und chemischen Waffen -gesehen. Der Krieg gegen den Irak 1991 habe gezeigt, daß nukleare Abschrekkung sehr wohl auch gegen die Bedrohung mit chemischen Waffen wirksam sein könne. Offenbar war es nicht zuletzt die verklausulierte Drohung eines nuklearen (Erst-) Einsatzes von Präsident George Bush gegenüber dem Irak, welche Saddam Hussein davon abgehalten hatte, chemisch bestückte Scud-Raketen gegen Israel einzusetzen. Eine solche Abschreckungsoption hätte man nach einem Verzicht auf die Strategie des nuklearen Ersteinsatzes nicht mehr -vorausgesetzt, die Kernwaffenstaaten der NATO würden sich im Konfliktfall an ihre Verzichtserklärung halten.

Aufgrund der überwältigenden Mehrheit im Bündnis gegen die Initiative des deutschen Außenministers wird es im Strategischen Konzept keine Formulierung zum Ersteinsatzverzicht geben. Allerdings wird die Allianz betonen, daß ein Einsatz von Nuklearwaffen nur unter äußerst extremen Umständen erwogen werden kann und damit in weite Ferne rückt. Die Diskussion um die Nuklearfrage in der NATO dürfte jedoch auch nach der Verabschiedung der neuen Strategie weitergeführt werden -dann allerdings in dem zuständigen Gremium, der „High Level Group", und nicht unter den Augen der Öffentlichkeit.

III. Das neue Konzept -der große „strategische Wurf“?

Das neue Strategische Konzept wird in jedem Fall ein Konsenspapier darstellen, in dem die künftigen Aufgaben der NATO in breiter und daher interpretierbarer Form dargelegt werden. Damit steht das neue Konzept durchaus in der Tradition früherer Strategieformulierungen, die alle von einem hohen Maß an Flexibilität und Auslegbarkeit gekennzeichnet waren. Von einem solchen Konzept unzweideutige und explizite Planvorgaben zu erwarten geht an der NATO-Wirklichkeit vorbei. Um die erforderliche Zustimmung aller 19 NATO-Mitglieder zu erhalten, sind Kompromißformeln unerläßlich. Auch wird man angesichts der derzeit raschen Veränderungen der weltpolitischen Lage ohnehin von der Vorstellung Abschied nehmen müssen, langfristige Strategieentwürfe entwickeln zu wollen. Auch wird das neue Strategische Konzept eine Reihe von vermeintlich neuen Aufgaben der NATO festschreiben, denen sich das Bündnis in der Realität aber schon seit längerem erfolgreich widmet -so etwa das Krisenmanagement jenseits der Bündnisgrenzen. In diesem Sinn bedeutet das neue Konzept eher eine „Anpassung der Akten-lage“ an die Realität und weniger einen visionären Strategieentwurf. Auch dies ist keinesfalls ungewöhnlich in einem internationalen Umfeld, dessen rascher Wandel schnelles und pragmatisches Handeln erfordert, auch wenn die langfristigen Konzeptionen noch nicht endgültig abgestimmt sind.

Völlig fehl geht aber der gelegentlich erhobene Vorwurf, mit ihren weitreichenden Überlegungen zur Mandatsfrage oder zur geographischen Ausweitung des Handlungsrahmens befinde sich die NATO auf dem Wege zum „Weltpolizisten“, der nach eigenem Gutdünken überall auf dem Globus westliche Interessen . vertritt. Eine solche Denkweise verkennt völlig, daß jegliches gemeinsames Handeln -politisch oder militärisch -von allen Bündnispartnern, d. h. einstimmig, gebilligt werden muß. Eine solche Allianz, die auf dem Konsens von 19 demokratischen Staaten basiert, ist zu militärischem Abenteurertum nicht in der Lage. Statt dessen gibt das neue Strategische Konzept der NATO die Möglichkeit, auch unter einem völlig gewandelten Risikospektrum ihre Bedeutung als Kern der euro-atlantischen Sicherheit zu bewahren. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertragsorganisation und der Russischen Föderation, in: Presse-und Informationsamt, Bulletin Nr. 43/1997.

  2. Auf der Frühjahrstagung 1995 in Brüssel beschloß der NATO-Ministerrat, ausgewählte (prowestliche) Mittelmeer-staaten zu einem politischen Dialog auf Ministerebene nach Brüssel einzuladen. Erklärtes Ziel war es, zu einem besseren Verständnis der NATO-Aufgaben insbesondere in den arabischen Staaten beizutragen. Vgl. hierzu grundlegend Andreas Jacobs/Carlo Masala, Der Mittelmeerraum als Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik, Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studie Nr. 156/1998, Sankt Augustin 1998.

  3. Entsprechend der NATO-Rußland-Grundakte unterzeichnete die NATO im Juli 1997 ein Partnerschaftsabkommen mit der Ukraine (Charter for a Distinctive Partnership Between NATO und Ukraine). Im Rahmen dieser Vereinbarung wurde beschlossen, regelmäßig mindestens zweimal jährlich ein NATO-Ukraine-Gesprächsforum (NATO-Ukraine-Cbmmission) zu organisieren, um Fragen von beiderseitigem Interesse zu erörtern. Vgl. NATO Basic Fact Sheet Nr. 18, The Development of NATO’s Partnership with Ukraine, Internet Version (Externer Link: www.nato. int).

  4. Die NATO-Militärplaner hatten mehrere hundert militärische und andere strategische Ziele zunächst im Kosovo, aber auch in Serbien selbst ausgewählt, die im Bedarfsfall mit Kampfflugzeugen und Marschflugkörpern angegriffen werden sollten. Vorrangig wären die Luftabwehrstellungen der jugoslawischen Streitkräfte und im weiteren dann Kommandozentralen, Waffendepots oder Treibstofflager bombardiert worden. Vgl. Lothar Rühl, Die NATO vor der Stunde der Wahrheit im Kosovo, in: Neue Zürcher Zeitung vom 4. 1. 1999.

  5. Vgl. Warren Christopher/William Perry, NATO’s True Mission, in: New York Times vom 21. 10. 1997.

  6. So Senator Richard Lugar in seinen Ausführungen vor dem Deutsch-Amerikanischen NATO-Roundtable der Konrad-Adenauer-Stiftung in Washington, D. C„ 5. -7. November 1997.

  7. Der französische Außenminister Hubert Vedrine kleidete die Ablehnung Frankreichs in die diplomatischen Worte: „We generally take the view that NATO should not be too elastic in interpreting its global interests.“ Vgl. Follow U. S. Strategy, Albright Urges NATO, in: International Herald Tribune vom 9. 12. 1998.

Weitere Inhalte