I. Vorüberlegungen
Das internationale System ist dadurch charakterisiert, daß es extrem fragmentiert ist (in mehr als 190 Staaten) und daß zwischen den Staaten die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zunehmen. Ausdruck dieser (meist asymmetrischen) Interdependenzen sind die zahlreichen internationalen Organisationen. Sie entstehen dann, wenn zwei oder mehrere Staaten gemeinsame Interessen haben und kontinuierlich verfolgen wollen, wenn sie diese Zusammenarbeit in einem festen Rahmen nach bestimmten Regeln vertraglich organisieren -befristet oder unbefristet. In jedem Fall spiegelt das, was man die Politik dieser internationalen Organisationen zu nennen pflegt, die Machtverhältnisse zwischen ihren Mitgliedstaaten wider.
Genauer betrachtet, erweist sich, daß internationale Organisationen -abgesehen von machtpolitisch peripheren Handlungsfeldern (wie z. B. Katastrophenhilfe) -eigentlich gar keine oder nur sehr bedingt eigenständige Akteure sind. Vielmehr sind sie primär Vehikel und Instrumente der Mitgliedstaaten, die je nach ihrer Interesseneinschätzung die internationalen Organisationen nutzen oder nicht nutzen. Und da in der Regel das Prinzip der rechtlichen Gleichheit der Staaten und das Konsensprinzip gilt, hat jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit, eine Entscheidung zu verhindern, also die internationale Organisation zu blockieren. Sofern von diesem Prinzip abgewichen wird (wie z. B. beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen), behalten sich immerhin die großen Mächte ein Vetorecht vor. Generell hängt die Umsetzung der gemeinsamen Entscheidungen von den Mitgliedstaaten ab.
All das hat erhebliche Konsequenzen für die Rolle von internationalen Organisationen im sicherheitspolitischen Bereich. Aus den genannten und anderen (hier nicht zu erörternden) Gründen ist kollektive Sicherheit durch internationale Organisationen nicht zu garantieren. Was realistischerweise angestrebt werden kann, ist die Organisation der kollektiven Verteidigung gegen eine konkrete gemeinsame Bedrohung mittels Allianzen oder Bündnissen.
Die NATO war und ist in diesem Sinne eine Allianz. Wenn die skizzierten Zusammenhänge zutreffend sind, dann sind Entstehung, Entwicklung, gegenwärtige Probleme und Zukunftstendenzen der NATO abhängig von der Bedrohungslage und deren Veränderungen sowie von der Machtverteilung sowohl im internationalen System insgesamt als auch innerhalb des Bündnisses. Das Verhältnis zwischen der NATO und anderen internationalen Organisationen und Allianzen hängt ebenfalls von der internationalen Gesamtstruktur und von deren Veränderungen ab. Mithin folgte und folgt aus dem internationalen Wandel der Imperativ zur Anpassung der NATO und ihres Verhältnisses zu internationalen Organisationen und Allianzen. Dieser systemische Aspekt steht im Mittelpunkt der folgenden Analyse.
II. Primat der NATO in der Ära des Ost-West-Konflikts und der Bipolarität
Daß die NATO ein Produkt des Ost-West-Konflikts und der durch ihn hervorgerufenen Bipolarisierung war und daß die NATO dann bei der Ausprägung und Stabilisierung von Bipolarität und Bipolarisierung eine mitgestaltende Rolle gespielt hat, muß an dieser Stelle nicht näher dargelegt werden. Wichtig ist in unserem Zusammenhang zunächst die Relation dieses nordamerikanisch-europäischen Verteidigungsbündnisses zu der umfassenden, globalen Organisation der Vereinten Nationen (und zu anderen internationalen Organisationen). Den Großmächten der ursprünglichen Vereinten Nationen -USA, Großbritannien, UdSSR (und China) -war von Anfang an klar, daß die „kollektiven Maßnahmen“ zur Friedenssicherung, die die UN-Charta vorsah, nur dann zustande kommen würden, wenn sie als Ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates in ihrer Interessendefinition übereinstimmten und daher zur Zusammenarbeit bereit sein würden. Ausdrücklich trafen sie in der Charta Vorkehrungen, um auf jeden Fall zu verhindern, daß die neue internationale Organisation gegen eine der Großmächte eingesetzt oder von einer Großmacht gegen eine andere instrumentalisiert werden könnte. Das war (und ist) der Sinn des sogenannten Veto-Rechts in Artikel 27. Die Blockadepolitik während des Ost-West-Konflikts, die zunächst vor allem von der Sowjetunion und dann von den USA betrieben wurde, war also gewollt Gerade für diese Konstellationen des Nicht-Handelns des Sicherheitsrates wurde Artikel 51 am Schluß des Kapitels über Zwangsmaßnahmen eingefügt: Das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ bleibt von den Charta-Bestimmungen im Falle eines bewaffneten Angriffs unbeeinträchtigt, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.
Die NATO-Staaten beriefen sich in ihrem zentralen Beistandsversprechen (Artikel 5 des Washingtoner Vertrages) ausdrücklich und in wörtlicher Anlehnung auf diesen UN-Charta-Artikel (so wie das 1955 auch der Warschauer Vertrag tat) Damit war die Relation der NATO zu den Vereinten Nationen für die Zeit des Ost-West-Konflikts eindeutig geklärt -im Sinne des Primats der NATO und der sicherheitspolitischen Marginalisierung der UN. Nur wenn die beiden antagonistischen Allianzführer ein gemeinsames Interesse daran hatten, einen lokalen bzw. regionalen Konflikt nicht eskalieren zu lassen und ihn aus dem Supermächte-Konflikt des Washingtoner Vertrages) ausdrücklich und in wörtlicher Anlehnung auf diesen UN-Charta-Artikel (so wie das 1955 auch der Warschauer Vertrag tat) 3. Damit war die Relation der NATO zu den Vereinten Nationen für die Zeit des Ost-West-Konflikts eindeutig geklärt -im Sinne des Primats der NATO und der sicherheitspolitischen Marginalisierung der UN. Nur wenn die beiden antagonistischen Allianzführer ein gemeinsames Interesse daran hatten, einen lokalen bzw. regionalen Konflikt nicht eskalieren zu lassen und ihn aus dem Supermächte-Konflikt herauszuhalten, war der Sicherheitsrat in seinem zentralen Aufgabenbereich handlungsfähig, und zwar unterhalb der Ebene der Zwangsmaßnahmen -nämlich beim neuerfundenen „peace-keeping“ mittels Blauhelm-Truppen. Als mit der Entwicklung des nuklearen Patts ein gemeinsames Interesse an kooperativer Rüstungskontrolle entstand, wurden diese Verhandlungen bilateral, also außerhalb der Vereinten Nationen, geführt (SALT und START).
In der konfrontativen Phase des Ost-West-Konflikts entstand somit im Prozeß der Macht-und Gegenmachtbildung ein eigenständiges bipolares Sicherheitssystem aus zwei sich gegenseitig balancierenden Verteidigungsbündnissen -im „Osten“ geführt und dominiert von der Sowjetunion, im „Westen“ unter der Führung (Hegemonie) der USA 4. Diese Allianz war auch für die Zusammenarbeit der westlichen Staaten in anderen internationalen Organisationen (z. B. in der OEEC) vorrangig. Das Gewicht der NATO wurde noch erhöht und ihre hegemoniale Struktur noch gestärkt, als infolge der Eskalation des Ost-West-Konflikts (Korea-Krieg) 1951 eine integrierte Kommandobehörde und Verteidigungsstreitmacht mit einem amerikanischen Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR), der in Personalunion Oberster Befehlshaber der US-Streitkräfte in Europa war, geschaffen wurden.
Der Primat der NATO und die Binnenstruktur der Nordatlantischen Bündnisorganisation ergaben sich also aus der gemeinsamen Bedrohungssituation der Mitgliedstaaten: Die USA folgten ihrer säkularen Sicherheitsdoktrin, daß die Beherrschung des europäischen Kontinents und ihrer atlantischen Gegenküste durch einen feindlichen Staat verhindert werden müsse 5; sie brauchten Westeuropa, um der weltpolitischen Herausforderung durch die Sowjetunion begegnen zu können. Die westeuropäischen Staaten benötigten die USA, um ihr schieres Überleben in Freiheit zu sichern. Amerikanische Führungsmacht und westeuropäische Bereitschaft zur Gefolgschaft entsprachen sich gegenseitig. Das Gespräch, das Präsident Truman und seine Minister am Vorabend derUnterzeichnung des NATO-Vertrags mit den westeuropäischen Außenministern führten, das treffend als „Lehrstunde in Machtpolitik" bezeichnet worden ist machte diesen Sachverhalt wie in einem Brennglas sichtbar. Es zeigte auch deutlich, daß dem Primat der NATO sowie der Eindämmung und schließlichen Überwindung der sowjetischen Bedrohung alle anderen Politikbereiche -vor allem die Kolonialpolitik der westeuropäischen Staaten -unterzuordnen waren. Das galt auch für die Einbeziehung des in Gründung befindlichen deutschen Weststaates im Sinne eines „kalkulierten Risikos“.
In den folgenden Jahren wurde mit dem von Frankreich lancierten Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zwar zunächst eine westeuropäische Integrationslösung für die deutsche Wiederbewaffnung betrieben. Wenn der EVG-Vertrag in Kraft getreten und nicht ausgerechnet an Frankreich selber gescheitert wäre, wäre allerdings eine enge Verzahnung zwischen der EVG und der NATO zustande gekommen, einschließlich des Rechts jedes EVG-Staates (also auch des Nicht-NATO-Staates Bundesrepublik Deutschland), im Bedrohungsfall gemeinsame Sitzungen der beiden Allianzgremien herbeizuführen (so daß dann die Bundesrepublik auch am Entscheidungstisch gesessen hätte). Nach dem Scheitern der EVG wurde 1955 bekanntlich die Bundesrepublik direkt in die NATO aufgenommen. Die europäische Komponente -die aus dem Brüsseler Pakt 1955 entwickelte Westeuropäische Union (WEU) -erhielt keine eigenständigen Streitkräfte und war zunächst vor allem ein Instrument zur Bindung britischer Streitkräfte an den Kontinent und zur Rüstungskontrolle gegenüber der Bundesrepublik. Damit war der Primat der NATO fest verankert. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und der Einfügung der DDR in den neu gegründeten Warschauer Pakt war auch das Verhältnis zwischen den beiden antagonistischen Allianzen eindeutig geklärt und stabilisiert. Danach nahm die Bipolarisierung in den nichtmilitärischen Bereichen, insbesondere beim Ost-WestHandel und bei den Bedrohungsperzeptionen, merklich ab
Die transatlantische Organisation des westeuropäischen Sicherheitsproblems via NATO hatte einen positiven Entlastungseffekt für die Organisation der ökonomischen Zusammenarbeit zwischen den westeuropäischen Staaten, insbesondere für die Weiterentwicklung der Montanunion zur EWG/EG. Im wirtschaftlichen Bereich wurde das Problem einer potentiellen deutschen Hegemonie im Sinne eines integrativen Gleichgewichts, d. h. durch die Europäische Gemeinschaft, gelöst. Sicherheitspolitisch fungierten die USA zwischen den westeuropäischen Staaten mittels der NATO als „balancer" und „pacifier“ Aus der Sicht des Allianzführers USA bot die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft die Möglichkeit, „Hegemonie durch Integration“ zu fördern Aber es wurde strukturell auch ein Spannungsverhältnis zwischen westeuropäischer und transatlantischer Organisation begründet.
Dieses Spa’nnungsverhältnis wurde akut und zwang die NATO zu Anpassungen, als Westeuropa im Zuge der Integration erstarkte (also das Binnenverhältnis der Allianz sich änderte) und als gleichzeitig in der Machtrelation zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt aufgrund der forcierten sowjetischen Rüstung eine gravierende Verschiebung zugunsten der Sowjetunion entstand, nämlich eine nukleare Pattsituation aufgrund der Erlangung der sowjetischen Zweitschlagfähigkeit in den sechziger Jahren.
Daraus resultierte im Binnenverhältnis der Allianz die Tendenz zur „Europäisierung“ und im Außenverhältnis zur Gegenallianz die Tendenz zur Detente bzw. Entspannungspolitik. Beide Tendenzen können hier nicht nachgezeichnet werden; Stichworte müssen genügen.
Katalysator für die Anpassung der NATO an die Europäisierungstendenz war das zunächst angedrohte und dann 1966 vollzogene Ausscheiden Frankreichs aus der integrierten Verteidigungsstruktur und der Aufbau einer eigenständigen französischen Nuklear-Macht („force de frappe“). Zwar scheiterte das amerikanische Projekt, zur Stärkung des europäischen Pfeilers des Bündnisses eine Multilaterale Nukleare Streitmacht (MLF) aufzubauen. Aber statt dessen wurde die stärkere Mitwirkung der europäischen Verbündeten an der nuklearen Verteidigung durch die Einrichtung der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) ermöglicht. Die Gründung der EURO-Group und der Unabhängigen Europäischen Programmgruppe (IEPG) sowie anderer europäischer Untergruppen komplementierten diese Politik, die -verbunden mitanderen politischen Grundsatzentscheidungen -die amerikanische Hegemonie zwar nicht beseitigte, aber abschwächte. Die Organisation der intergouvernementalen Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) zwischen den EG-Staaten seit 1970, die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland seit dem Elysee-Vertrag (1963), die 1988 durch die Errichtung des deutsch-französischen Sicherheitsund Verteidigungsrates und die deutsch-französische Brigade ausgedehnt wurde, sowie die Reaktivierung der WEU in den achtziger Jahren sind Ausdruck der Europäisierungstendenz außerhalb des NATO-Rahmens. So entstand innerhalb und außerhalb der NATO ein Geflecht von organisatorischen Gruppierungen im transatlantischen Beziehungsfeld.
Die Anpassung der NATO an die Detente erfolgte durch den sogenannten Harmel-Bericht (1967), der militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung als „gegenseitige Ergänzung“ konzipierte, und zwar in dem Sinne, daß kollektive Verteidigung als notwendige Voraussetzung für eine „wirksame, auf größere Entspannung gerichtete Politik“ begriffen wurde -mit dem Ziel, „eine gerechte und dauernde Friedensordnung in Europa“ zu errichten. Die rüstungskontrollpolitische Komponente dieser Politik wurde durch das „Signal von Reykjavik“ (1969) konkretisiert -durch das Angebot an die Sowjetunion und den Warschauer Pakt, Verhandlungen über eine beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierung (MBFR) aufzunehmen.
Diese rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen zwischen den beiden Allianzen wurden 1973 in Wien aufgenommen und bis 1988/89 erfolglos geführt, parallel zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und deren Folgekonferenzen. Solange der Ost-West-Konflikt andauerte, war im Verhältnis zwischen NATO und KSZE die sicherheitspolitische Priorität oder gar Exklusivität des atlantischen Bündnisses unbestritten. Die KSZE blieb abhängig von dem Verhältnis zwischen den beiden Allianzen bzw.den beiden Allianzführungsmächten. Im gesamteuropäischen KSZE-Rahmen standen sich zwar nicht NATO und Warschauer Pakt gegenüber. Aber auch hier wurde die Binnenstruktur von den beiden allianzpolitischen Gruppierungen sowie der Gruppe der nichtgebundenen und neutralen Staaten bestimmt; die westlichen Allianz
Staaten stimmten ihre Verhandlungspolitik -nach den Beratungen der EG-Staaten in einem für die KSZE eingerichteten EPZ-Ausschuß -im soge-nannten NATO Caucus ab. Nachdem die MBFR-Verhandlungen zu keinem Ergebnis geführt hatten, wurde der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) im Mandatsrahmen der KSZE zwischen NATO und Warschauer Pakt ausgehandelt -mit asymmetrischen Truppenreduzierungen, die für das Ende des Ost-West-Konflikts und für die sicherheitspolitische Neustrukturierung des euro-asiatisch-atlantischen Raumes von größter Bedeutung bleiben; es sei denn, die Anpassungen, die nach der Osterweiterung der NATO notwendig sind und von Rußland zu Recht verlangt werden, kommen nicht zustande.
Die Erhaltung der militärischen Stärke und Handlungsfähigkeit der NATO und ihrer sicherheitspolitischen Stabilisierungsfunktion waren zweifellos von großer, wenn nicht ausschlaggebender Bedeutung für die Friedenswahrung in den verschiedenen Phasen des Ost-West-Konflikts und nicht zuletzt auch für dessen Beendigung Sie übertraf damit bei weitem die Bedeutung anderer internationaler Organisationen. Als die Sowjetunion das militärische Gleichgewicht in Europa durch die Stationierung moderner Mittelstreckenwaffen (SS 20) gefährdete (und zwar ungeachtet des KSZE-Prozesses!), antwortete die NATO mit dem sogenannten Doppelbeschluß (12. Dezember 1979). Die rüstungskontrollpolitischen Verhandlungen (d. h. die Umsetzung des ersten Teils des Doppeibeschlusses) führten die USA bilateral mit der Sowjetunion. Nach deren Scheitern und der Stationierung der amerikanischen Mittelstrecken-waffen waren es wiederum die USA, die bilateral mit der Sowjetunion den INF-Vertrag über den kontrollierten Abbau der Mittelstreckenwaffen aushandelten (1987). Die Verhandlungen zur Begrenzung der Interkontinentalwaffen (SALT und START) wurden ebenfalls bilateral zwischen den beiden Supermächten geführt, also nicht zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt und auch außerhalb der Vereinten Nationen. In diesem Sinne wurde der in der gesamten Ära des Ost-West-Konflikts bestehende sicherheitspolitische Primat der NATO relativiert durch die machtpolitisch herausragende Stellung der USA und ihr direktes Verhältnis zu der anderen Supermacht.
III. Der institutionelle Wettbewerb nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
Mit dem „Sieg“ der NATO, der sich insbesondere in der Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO und in der Auflösung des Warschauer Pakts dokumentierte, änderte sich die Bedrohungslage und Mächtekonstellation grundlegend. Deshalb mußte die Ratio der atlantischen Verteidigungsallianz und ihr Verhältnis zu anderen internationalen Organisationen neu bestimmt werden. Es entstand so etwas wie ein „institutioneller Wettbewerb“ (Kori Schake) bei der Neuordnung des euro-asiatisch-atlantischen Raumes. Zum Verständnis dieses Prozesses ist der Sachverhalt wichtig, daß sich der „Sieg“ im Ost-West-Konflikt aus der zweiten, umfassenden Detente entwickelt und in Verhandlungen vollzogen hatte, also ein Sieg am Verhandlungstisch war -ein durch kooperative Konfliktbeilegung kaschierter Sieg ohne Siegesfeiern.
Solange der Warschauer Pakt und die Sowjetunion noch existierten, war im Westen unbestritten, daß die NATO mit den USA als Führungs-und Balancemacht erhalten bleiben müsse. Nur durch die NATO waren und sind die USA eine „europäische Macht“, läßt sich der amerikanische Führungsanspruch in Europa realisieren -mit der Möglichkeit zu amerikanischen Machtprojektionen von der europäischen Basis aus in benachbarte Regionen (etwa Nahost). Das militärische Engagement mittels der NATO zu erhalten war und ist nach wie vor auch im Interesse der europäischen Staaten, um so die Nuklearmacht UdSSR (dann die Rußländische Föderation) und das wiedervereinigte Deutschland zu balancieren. Nicht nur Großbritannien und andere kleinere Staaten, sondern auch Frankreich forderten gerade aus diesem letztgenannten Grunde 1990 nachdrücklich die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zur NATO als unabdingbare Sicherheitsgarantie; deshalb müsse „zuerst einmal“ der Zusammenhalt der NATO „gewährleistet werden und die Notwendigkeit der amerikanischen Präsenz in Europa betont werden" (Mitterrand) Auch Deutschland sah bekanntlich seine doppelte Einbindung in NATO und EG als im eigenen Interesse liegend an. 1. Das Verhältnis zwischen NATO und KSZE/OSZE Die strittige Frage war -jenseits dieses Konsenses -die Einordnung der NATO in die neue gesamteuropäische „Sicherheitsarchitektur", das hieß konkret: das Verhältnis zwischen einer „neuen“ NATO und der KSZE. Schon Ende der sechziger Jahre hatten die Architekten der deutschen Ostpolitik (insbesondere Egon Bahr) eine gesamteuropäische Friedens-und Sicherheitsordnung anvisiert, die die beiden Bündnisse „überwölben“ und schließlich überflüssig machen sollte. Dies schien jetzt praktikabel zu sein.
Das KSZE-Gipfeltreffen in Paris (19. -21. November 1990) und die Art und Weise, wie wenig später der Irak militärisch aus Kuwait vertrieben wurde, konnten als Anfang dieses Prozesses verstanden werden. Im „zweiten Golf-Krieg“ kämpfte gegen den irakischen Aggressor eine (die alten Trennungslinien des Ost-West-Konflikts bereits übergreifende) Staatenkoalition unter Führung der USA, deren Legitimation auf einer Verbindung von kollektiver Verteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta und einem Mandat des UN-Sicherheitsrates beruhte; die NATO war direkt nicht beteiligt (obwohl ihr unterstellte nationale Streitkräfte und ihre Logistik teilweise genutzt wurden).
Wichtiger aber noch als diese Erfahrung waren für unseren Zusammenhang die Ergebnisse des Pariser KSZE-Gipfels: (1) Die Staaten der NATO und des Warschauer Vertrages unterzeichneten den bereits erwähnten Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE), der die konventionelle Angriffsfähigkeit und die Überlegenheit der Warschauer-Pakt-Staaten beseitigte und ein konventionelles Gleichgewicht auf niedrigem Niveau herstellen sollte. Ausdrücklich ging der Vertrag von den fortbestehenden Allianzen aus (Artikel II) -mit der „Gruppe von Vertragsstaaten“ des Warschauer Vertrags und der „Gruppe von Vertragsstaaten“ des Washingtoner NATO-Vertrags (und des Brüsseler Vertrags, aus dem sich 1955 die WEU entwickelte). (2) Die zweiundzwanzig Staaten der beiden Allianzen gaben eine Gemeinsame Erklärung ab, in der sie feierlich versicherten, „daß sie in dem anbrechenden neuen Zeitalter europäischer Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen beiden wollen“. Die Allianzen wurden in dieser Erklärung gar nicht mehr erwähnt (wohl aber das Recht jedes Staates, Ver tragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein). Institutionell war die Ausrichtung an der KSZE sowie die Stärkung und Vertiefung des KSZE-Prozesses das Leitmotiv. (3) Die Staats-und Regierungschefs der KSZE-Staaten verabschiedeten schließlich die „Charta von Paris für ein neues Europa“, die die KSZE-Schlußakte (1975) weiterentwickelte und vor allem den KSZE-Prozeß „institutionalisierte“ (regelmäßige Treffen der Staats-und Regierungschefs sowie der Außenminister; Errichtung eines Ausschusses Hoher Beamter, eines Sekretariats, eines Konfliktverhütungszentrums, eines Büros für freie Wahlen sowie die Schaffung einer parlamentarischen Versammlung).
Von NATO und Warschauer Pakt ist in der Charta nicht die Rede. Daß dadurch die beiden militärischen Allianzen bzw. -nach der Auflösung des Warschauer Vertrags -die NATO irrelevant oder gar der KSZE untergeordnet werden sollten, wurde freilich nur von der Sowjetunion (und später von Rußland) angestrebt. Die UdSSR/Rußland wollte ein „System kollektiver Sicherheit und Stabilität in Europa unter der Ägide der KSZE“ dem die NATO, so sie denn bestehen bleiben würde, klar untergeordnet werden sollte. Da auch die neue KSZE an dem Konsensprinzip festhalten sollte (sogar die russischen Reformer waren und sind strikt gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen!), wäre in dieser neuen europäischen „Ordnung“ Rußland (wie auch jedem anderen Mitgliedstaat) eine Blockademacht und mitbestimmender Einfluß auf die NATO eingeräumt worden.
Anders als die UdSSR bzw. Rußland plädierten zwar alle europäischen Staaten für eine Funktionsausweitung, Institutionalisierung und Effektivitätssteigerung der KSZE, wie sie mit der Charta von Paris begonnen und auf den Konferenzen von Berlin und Helsinki fortgesetzt wurden -bis hin zur neuen Bezeichnung „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE). Aber keine Regierung glaubte, daß die KSZE/OSZE verteidigungspolitisch-militärisch die NATO ersetzen könnte oder auch nur sollte, noch daß die NATO ihr unterzuordnen sei. Das hat es den USA erleichtert, nach einigem Zögern eine positive Einschätzung der KSZE/OSZE vorzunehmen und an dem institutionellen Ausbau und der ergänzenden Nutzung ihrer nichtmilitärischen Möglichkeiten mitzuwirken.
Diese Tendenz ist zusätzlich gestärkt worden durch die Einrichtung des NATO-Kooperationsrats, wodurch die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den NATO-Staaten und allen ost-/mitteleuropäischen Staaten sowie den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) quasi institutionalisiert wurde -mit der engmaschigen Infrastruktur der bilateralen Verträge der Partnerschaft-für-den-Frieden (PfP), dem exklusiven NATO-Rußland-Rat und der „Distinctive Partnership between NATO and Ukraine“ im Jahre 1997. Im selben Jahr wurde der Nordatlantische Kooperationsrat in den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat umgewandelt Den USA eröffnete sich dadurch die Möglichkeit, mittels der NATO eine Führungs-und Balance-funktion in Gesamteuropa bzw. Eurasien differenziert auszuüben. Mit der ersten Osterweiterung der NATO, die zunächst primär ein Anliegen der ost-/mitteleuropäischen Staaten war, ist schließlich auch der durch Artikel 5 des Washingtoner Vertrags gesicherte Raum vergrößert worden. Falls durch den Beitritt weiterer Staaten nicht eine „OSZEisierung“ der NATO -nolens oder volens -stattfindet, wird dadurch der sicherheitspolitische Primat der NATO mit der Führungsmacht USA im OSZE-Raum noch stärker werden.
Die Arbeitsteilung zwischen NATO und OSZE in Bosnien und nunmehr im Kosovo -Beobachter der OSZE vor Ort und militärische Garantie und notfalls Erzwingung durch die NATO -könnte modellhaften Charakter gewinnen. Dabei ist die asymmetrische gegenseitige Abhängigkeit zugunsten der NATO evident. Auch als Mandatgeberin für Zwangsmaßnahmen der NATO kommt die OSZE -entgegen mancher „Hoffnungen“ -nicht in Frage. Denn nur der UN-Sicherheitsrat könnte seinerseits die OSZE beauftragen, und es ist unwahrscheinlich, daß er dann nicht direkt die NATO ermächtigt.
In der Übergangszeit hatte NATO-Generalsekretär Wörner die Beziehungen der NATO zu „anderen Europäischen Organisationen“, insbesondere zu EG/WEU und zur KSZE, zu einem „System ineinandergreifender Institutionen“ entwickeln wollen (wobei der englische Ausdruck „interlocking institutions" zum ironischen Wortspiel „interblocking institutions“ anregte, solange sich alle Organisationen im Bosnienkrieg als handlungsunfähig oder erfolglos erwiesen). Im institutionellen Wettbewerb hat sich, gegen den externen Widerstand Rußlands und gegen die internen Bedenken Frankreichs, der sicherheitspolitische Primat gesamteuropäisch inzwischen durchgesetzt. Sowohl die russischen als auch die französischen Alternativen, die hier nicht näher beschrieben werden können sind gescheitert. 2. Das Verhältnis zwischen NATO und Europäischer Integration (EG/EU/WEU)
Weniger eindeutig, aber tendenziell ähnlich ist das Ergebnis des institutionellen Wettbewerbs im Binnenverhältnis der NATO, in der Relation USA-Europa. Mit dem Wegfall der gemeinsamen Bedrohung entfiel auch die Beschränkung der erwähnten Europäisierungstendenz. Die Beziehungen zwischen NATO und EG bzw. WEU konnten und mußten nun neu geregelt werden. Die EG-Staaten begaben sich auf den Weg zur Schaffung einer Europäischen Union, dessen erste Station der Maastrichter Vertrag (1992) darstellte -mit einheitlichem Binnenmarkt, einer gemeinsamen Währung (Euro) und einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik, „wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“ (Artikel J. 4 EU-Vertrag). Die WEU, „die integraler Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union ist“, wurde ersucht, die verteidigungspolitischen Entscheidungen und Aktionen der EU „auszuarbeiten und durchzuführen“; ausdrücklich wurde die Entwicklung „einer engeren Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten auf zweiseitiger Ebene sowie im Rahmen der WEU und der Atlantischen Allianz“ gestattet (Artikel J. 2 und 5). Im Vertrag von Amsterdam (1997) sind diese Bestimmungen übernommen und geringfügig weiterentwickelt worden (Titel V), und zwar insbesondere durch die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der WEU.
Die Westeuropäische Union hat sich in der Petersberger Erklärung (19. Juni 1992) bereit erklärt, die in Maastricht definierten Funktionen zu übernehmen -„als Verteidigungskomponente der Europäischen Union und als Instrument zur Stärkung des europäischen Pfeilers der Atlantischen Allianz“. Die WEU stärkte zugleich ihre „operative Rolle“: Die Mitgliedstaaten erklärten sich bereit, -konventionelle Streitkräfte für militärische Aufgaben unter der Befehlsgewalt der WEU zur Verfügung zu stellen;
-neben dem Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung (nach Artikel 5 des NATO-Vertrags und Artikel V des WEU-Vertrags) humanitäre und friedenserhaltende Aufgaben zu übernehmen und Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung durchzuführen;
-die notwendigen Strukturen (insbesondere einen Planungsstab) zu schaffen.
Gleichzeitig begannen Frankreich und Deutschland, die deutsch-französische Brigade zum Europäischen Korps unter größtmöglicher Beteiligung anderer WEU-Staaten weiterzuentwickeln, „um die Europäische Union mit Möglichkeiten des eigenen militärischen Handelns auszustatten" (Erklärung von La Rochelle, 22. Mai 1992). Mitterrand und Kohl versicherten: „Das Europäische Korps trägt zur Stärkung der Atlantischen Allianz bei.“
Diese (hier nur grob skizzierte) Entwickung war -auf einen Nenner gebracht -ein prozeßhafter Kompromiß zwischen der Europäisierungstendenz, die in erster Linie von Frankreich im Sinne einer eigenständigen europäischen Verteidigungsorganisation und der Transformation der NATO in eine neue, gleichgewichtige europäisch-amerikanische Allianz gefördert wurde, und dem amerikanischen Führungsanspruch mittels der NATO. Letztlich war dies jedoch ein asymmetrischer Kompromiß zugunsten des Prinzips „NATO first“. Ungeachtet traditioneller Lippenbekenntnisse zur europäischen Integration und einer größeren Rolle der europäischen Staaten in der NATO, hatten die USA in den ersten Jahren nach 1989/90 alle konkreten Pläne für die Schaffung einer unabhängigen europäischen Sicherheits-und Verteidigungsidentität kritisch betrachtet und -unterstützt von Großbritannien -zu verhindern versucht, weil sie darin einen „Spaltpilz für das Atlantische Bündnis“ diagnostizierten. Präsident Bush opponierte vehement gegen die deutsch-französische Initiative, die WEU zum verteidigungspolitischen Arm der EU und ein Euro-Korps zum Kern einer unabhängigen europäischen Militärstruktur zu machen. In einer diplomatischen Note vom 21. Februar 1991 wurde zwar die Aussicht auf die Stärkung der „transatlantic partnership on security affairs with a more confident and united Europe“ begrüßt, aber dann in offener Direktheit gewarnt: „In our view, efforts to construct a European pillar by redefining and limiting NATO’s role, by weakening its structure, or by creating a monolithic bloc of certain members would be misguided. We would hope such efforts would be resisted firmly." Wenig später hieß es ähnlich in der ersten Fassung der Defense Planning Guidance for Fiscal Years 1994 to 1999: „While the United States Support the goal of European integration, we must seek to prevent the emergence of European-only security arrangements which would undermine NATO, particularly the Alliance’s integrated command structure.“ Präsident Clinton hat dann später eine positivere Einstellung zur Weiterentwicklung der EU bekundet
Als Frankreich zu erkennen gab. daß es bereit sein könnte, in die integrierte Militärstruktur der NATO zurückzukehren, wenn strukturell und personell die europäische Komponente stärker zur Geltung komme, zeigten schließlich auch die USA Neigung zum Kompromiß: Auf dem Brüsseler NATO-Gipfel (1994) wurde das Konzept der „Combined Joint Task Forces“ (CJTF) aus der Taufe gehoben, das nach dem Prinzip „separable but not separate“ die NATO so umstrukturieren sollte, daß die europäischen Staaten unter WEUÄgide ohne Beteiligung der USA ihre NATO-Streitkräfte und die Logistik der NATO für eigenständige militärische Aktionen einsetzen könnten. Für einen derartigen Einsatz bedarf es jedoch eines Beschlusses des NATO-Rats, d. h., die USA würden, weil der NATO-Rat nur einstimmig beschließen kann, ein Veto-Recht haben und auch bei dem „Monitoring“ solcher Einsätze mitwirken. Dieses Konzept ist auf der Berliner NATO-Ministerratstagung (3. Juni 1996) bestätigt worden und wird seither zu implementieren versucht
Indes, die Weigerung der USA, in der neuen Kommandostruktur das Südkommando (Allied Forces Southern Europe) einem Europäer übertragen zu lassen, hat die erhoffte Rückkehr Frankreichs in die integrierte Militärstruktur der NATO einstweilen gestoppt und auch die Umsetzung des CJTF-Konzepts erschwert. Immerhin ist aber in Zusammenarbeit zwischen NATO und WEU (NATOWEU Joint Council) die Erarbeitung von Arrangements und Prozeduren „for the planning, preparation, conduct and exercises of WEU-led operations using NATO assets und capabilities“
fortgesetzt worden In der neuen NATO-Strategie, die auf der Jubiläumstagung im April 1999 verkündet werden wird, wird sich diese Arbeit konzeptionell niederschlagen. Aber ohne Frankreich ist praktisch kein Fortschritt möglich -die „Europäisierung der NATO“ und die „NATOisierung Frankreichs“ bedingen sich wechselseitig, und durch die NATO bleiben die USA „europäisiert“. Parallel zu dem asymmetrischen Kompromiß im institutionellen Wettbewerb zwischen NATO und WEU hat sich in der politischen Praxis am Bosnien-Fall gezeigt, daß bei den neuen Krisenbewältigungsaufgaben außerhalb des Vertragsgebietes („out of area“) von NATO und WEU der militärische Primat der NATO gilt, sobald die USA zum Handeln bereit sind (die WEU hat in Bosnien nur eine marginale Rolle gespielt; im Juni 1993 wurden die zunächst getrennt operierenden Seestreitkräfte der NATO und der WEU unter NATO-Kommando gestellt). Insoweit als das CJTF-Konzept auch darauf abzielt, NATO-Krisenbewältigungsmaßnahmen mit Beteiligung von Nicht-Mitgliedstaaten durchzuführen, hat sich mit IFOR und SFOR (s. unten) dieses Konzept als brauchbar erwiesen. In Bosnien ist auch versucht worden, das Verhältnis der NATO zu den Vereinten Nationen neu zu gestalten. 3. Das Verhältnis der NATO zu den Vereinten Nationen Der Klärungsprozeß verlief mehrstufig. Am Anfang stand die generelle Bereitschaftserklärung der NATO, sich an friedenserhaltenden und sanktionenerzwingenden Operationen des UN-Sicherheitsrates zu beteiligen (NATO-Ministerratstagung im Dezember 1992 und Juni 1993) Über den Rekurs auf Artikel 51 der UN-Charta hinaus sollte ein kooperatives Verhältnis zu den Verein-ten Nationen hergestellt werden. D. h., zusätzlich zu den originären Aufgaben der kollektiven Verteidigung nach Artikel 51 (und nicht etwa an deren Stelle!) sollte die NATO von Fall zu Fall delegierte Aufgaben zur Durchführung von „peacekeeping“ und Zwangsmaßnahmen des UN-Sicherheitsrates übernehmen.
Dementsprechend überwachten AWACS-Flugzeuge das im Oktober 1992 vom Sicherheitsrat verhängte Flugverbot über Bosnien-Herzegowina; seit April 1993 waren etwa 100 Kampf-und Aufklärungsflugzeuge der NATO im Einsatz; und seit Juli 1993 sollten NATO-Luftstreitkräfte den Friedenssicherungstruppen der Vereinten Nationen (UNPROFOR) beim Schutz der vom Sicherheitsrat eingerichteten Sicherheitszonen helfen -durch Abschreckung oder gegebenenfalls durch Luft-schläge Die für diesen Zweck geschaffenen Entscheidungsstrukturen nach dem Zwei-Schlüssel-Prinzip („double key“) -Anforderung durch den UN-Sonderbeauftragten vor Ort und operative Entscheidung der NATO -erwiesen sich als in-effektiv, obwohl die massiven NATO-Luftschläge nach dem serbischen Granatenangriff auf Sarajevo am 30. August 1995 zweifellos die Verhandlungsbereitschaft Rest-Jugoslawiens herbeiführten.
Der „Dayton-Frieden“ wurde ohne die Mitwirkung der UNO von der informellen Bosnien-Kontaktgruppe (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Rußland) unter amerikanischer Führung (Holbrooke) ausgehandelt -also auch ohne die direkte Einschaltung der NATO. Die militärische Sicherung der Umsetzung des Dayton-Abkommens oblag nun einer multinationalen Streitmacht, an der neben den NATO-Staaten achtzehn weitere Staaten, darunter Rußland, beteiligt sind, und zwar unter Leitung und Gesamtverantwortung der NATO, während die nichtmilitärischen Aufgaben der OSZE übertragen wurden. Die sogenannte Implementation bzw. Stabilisation Force (IFOR/SFOR) operiert mit Zustimmung der Konfliktparteien im Rahmen des im Dayton-Abkommen formulierten Auftiags unter NATO-Führung. Diese Konstruktion, die sich bisher einigermaßen bewährt hat, ist mancher-orts -so z. B. vom Pentagon -als Konkretisierung der „Neuen NATO“ interpretiert worden, und zwar wegen der Beteiligung von Nicht
NATO-Staaten. Bezüglich des Verhältnisses zwischen NATO und UNO war damit eine Regelung gefunden, die die operative Unterordnung der NATO unter die UNO (wie beim Zwei-Schlüssel-Prinzip) und die UN-Oberaufsicht nicht enthielt.
Die jüngste Auseinandersetzung über eine Kosovo-Intervention der NATO ohne förmliches Mandat des UN-Sicherheitsrats hat das Verhältnis der NATO zur UNO ins Zwielicht gebracht. Die Auffassung der NATO-Führungsmacht USA, daß auch dann, wenn die Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sich nicht einigen können, die NATO Aufgaben der Krisenbewältigung wahrnehmen darf und muß, ist -wenn auch widerwillig und mit unterschiedlich begründeten Vorbehalten -von allen NATO-Mitgliedstaaten akzeptiert worden. Somit ist auch hier der Primat der NATO restituiert worden -zumindest in der europäischen Region.
Wenn die NATO zu einem „global player" werden sollte (was von den USA gefordert, aber von wichtigen europäischen NATO-Staaten wie Deutschland und Frankreich abgelehnt wird) dann würde die Legitimierung von Out-of-area-Einsätzen eine neue Dimension erhalten und damit die Klärung des Verhältnisses zur UNO noch dringlicher werden. Daß diese Frage zum Spaltpilz innerhalb der NATO werden könnte, sei nur am Rande erwähnt.
IV. Schlußbemerkungen
Da die Neuordnung der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Bipolarität noch nicht abgeschlossen ist, sind auch die Positionen und Funktionen der NATO im Geflecht internationaler Organisationen und Allianzen noch nicht so eindeutig festgelegt, wie dies in der vergangenen Ära der Fall war (Marginalisierung der UN, sicherheitspolitischer Primat der NATO im Westen mit Anfängen der Europäisierung, antagonistisches Verhältnis zwischen NATO und Warschauer Pakt). Wie bei der sich erweiternden und vertiefenden EU und WEU sind auch bei der sich erweiternden und neustrukturierenden NATO „Flexibilität“ und „Prozeß“ zu Leitmotiven geworden. Deshälb ist es schwierig, das Verhältnis der NATO zu den anderen internationalen Organisationen, Bündnissen und Integrationsverbänden genau zu definieren. Die Rede von „Europas unsichtbarer Sicherheitsarchitektur“ ist für diesen Zustand bezeichnend ohne freilich viel zu seiner Erhellung beizutragen. Immerhin ist jedoch -wenn man das Ergebnis der vorausgegangenen Erörterungen auf einen zusammenfassenden Nenner bringt -erkennbar: Der institutioneile Wettbewerb ist gesamteuropäisch eindeutig zugunsten der NATO ausgegangen -mit einer gewissen Arbeitsteilung mit anderen Organisationen, insbesondere mit der OSZE und mit dem Sonderverhältnis zu Rußland (NATO-Rußland-Rat) sowie in abgeschwächter Form zur Ukraine; und im „Westen“ ist ein asymmetrischer Kompromiß erreicht worden, der sich über die Zeit verschieben könnte.
Die funktionale Anpassung (kollektive Verteidigung und neue Krisenbewältigung) sowie die strukturelle Anpassung (Änderung der Kommandostruktur) sind nur partiell gelungen. Ein Erklärungsfaktor für die diesbezüglichen Schwierigkeiten ist das Spannungsverhältnis zwischen dem (mehr oder weniger sanften) Führungsanspruch der USA und der nur schwach ausgeprägten und nicht hinreichend organisierten Führungsbereitschaft der europäischen Staaten. Unbestritten scheint für geraume Zeit die Priorität der NATO im Bereich der kollektiven Verteidigung zu bleiben (sie ist auch die Ratio der Osterweiterung). Weit problematischer und offener ist die Anpassung im Bereich der Krisenbewältigung (out-ofarea). Die strukturelle und strategisch-konzeptionelle Reform der NATO dürfte auch mit dem neuen Strategiekonzept, das das Bündnis im April in Washington verabschieden wird, nicht beendet sein. Mit der allmählichen Herausbildung einer Europäischen Sicherheits-und Verteidigungsidentität könnte mittel-oder langfristig innerhalb der Atlantischen Allianz ein mehr balanciertes Verhältnis zwischen Europa und den USA entstehen. Unter diesem Aspekt ist die Neuregelung des Verhältnisses zwischen EU und WEU das strategische Problem. Bisher war die Perspektive vorherrschend, daß die WEU die „Brücke“ zwischen EU und NATO werden solle. Nach der Modifikation der britischen Position, die Premierminister Blair in Pörtschach (24. Oktober 1998) angedeutet hat rückt die Alternative der Integration der WEU in die EU (die Frankreich und Deutschland von Maastricht bis Amsterdam favorisiert haben) in den Bereich realer Möglichkeit -entweder als Vollintegration der WEU in die GASP oder als vierte „Säule“ des EU-„Tempelbaus“ (neben der dritten Säule der GASP). Das Kompromißkonzept der CJTF ist -wie gezeigt wurde -sowohl für die Neugestaltung des Verhältnisses der NATO zu WEU/EU als auch für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen der NATO und anderen Nicht-Mitgliedern (wie Rußland) und den Vereinten Nationen bedeutsam.
Die Staaten, insbesondere die großen Mächte, entscheiden -solange keine festen Konfliktlinien und Konfliktgruppierungen (wie beim Ost-West-Konflikt) bestehen -von Fall zu Fall, welche internationalen Organisationen sie zur Durchsetzung ihrer Interessen und möglicher gemeinsamer Interessen nutzen wollen (UN-Sicherheitsrat, OSZE, NATO, WEU, EU usw.). Insofern hängt auch die weitere Entwicklung der NATO und ihres Verhältnisses zu internationalen Organisationen von der Entwicklung der Interessenlage ihrer Mitglieder, vor allem der Weltmacht USA, ab. Und wenn es richtig ist, daß (wie im 2. Golfkrieg, dann in Bosnien, jetzt im Kosovo und gegenüber dem Irak) vermutlich auch in den kommenden Jahren von Fall zu Fall unterschiedliche Koalitionen gebildet werden -mit oder ohne Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat und mit informeller Ad-hoc-Führung -, dann wird sich die Rolle der NATO im Geflecht internationaler Organisationen nach deren Brauchbarkeit bei der Koalitionsbildung (der „coalitions of the will-ing“) sowie der Verfügbarkeit ihrer Ressourcen, die zur Zeit „separierbar“ organisiert werden (CJTF), bestimmen.