I. Vorbemerkungen
In einer Rede vor der Hochschulrektorenkonferenz hat Roman Herzog im Sommer 1996 angemahnt, lebenslanges Lernen sei nötiger denn je -„aber bitte vorwiegend im Beruf und nicht als Beruf!“ Das klingt gut, berührt allerdings kaum die aktuellen Probleme des Ausbildungssystems und des Arbeitsmarkts, die der Bundespräsident hier implizit mit angesprochen hat. Der gern verwandte Satz vom „lebenslangen Lernen“ soll also so wörtlich nicht genommen werden: So wie die Dinge liegen, schiene das der Overkill für ein Bildungs-und Beschäftigungssystem, das bereits heute heftig aus dem Tritt geraten ist. Aber stimmt die Perspektive?
Es mag zwar so scheinen, als zögerten ganze Jahrgänge von Schulabgängern, Studierenden und anderen Lernenden den Zeitpunkt eines Berufs-eintritts oder aber die Berührung mit beruflicher Praxis fortwährend und mutwillig hinaus, nur um „lebenslang“ und jenseits aller Erfordernisse und Lockrufe des (inter-) nationalen Beschäftigungssystems weiterlernen zu können, aber das Gegenteil ist der Fall: Die Probleme beginnen zunächst dort, wo (junge) Menschen vermittels Schule, Ausbildung und Studium sehr wohl einen Beruf, gar ihre Berufung, gefunden zu haben glauben, indes wenig und immer weniger „Rufe“ aus dem Beschäftigungssystem zu hören bekommen. „Lernen im Beruf“ setzt ein funktionierendes System, d. h. eine hinreichend große Nachfrage klassischer Erwerbsarbeit voraus. Wer lernte nicht lieber im Beruf bzw. mit konkreter Aussicht auf einen Beruf, der hier eben nur als Synonym für bezahlte Arbeit verstanden werden kann? Die Wirklichkeit sieht anders aus, weil es zunehmend schwieriger wird, in einen Beruf, das heißt in Erwerbsarbeit, zu kommen. Das betrifft in (Aus-) Bildung Begriffene ebenso wie bereits „Gebildete“, „Berufene“, * und es geht dabei nicht nur um den „überzähligen“ Bergmann, Stahl-oder Werftarbeiter, vielmehr genauso (und immer mehr) um den Ingenieur, Juristen, Arzt, Facharbeiter und Bankangestellten bis hin zum Spezialisten und Dienstleister jeglicher Couleur-von den Ungelernten („Unberufenen“) ganz zu schweigen.
Nichtsdestoweniger wird von allen mit Nachdruck verlangt, weiter zu lernen. Und es gibt kaum jemanden, der sich dem heute innerhalb oder außerhalb eines Berufes (bezahlter Erwerbsarbeit) entzöge oder auch nur entziehen könnte und entziehen wollte! Insofern ist jene Mahnung des Bundespräsidenten unnötig provokativ. Aber wie könnte dann eine notwendige Provokation aussehen? Ich plädiere dafür, den Bundespräsidenten beim Wort zu nehmen bzw.seinen Hinweis „aufzuheben“: Könnte es nicht sein, daß heute in der Tat „lebenslanges Lernen“ selbst zum Beruf wird bzw. zum Beruf werden kann und werden muß?
II. Vision im Vollzug: Die Informations-und Wissensgesellschaft
Der Gedanke verweist auf ein Veränderungsgeschehen, das sich innerhalb unserer Industriegesellschaften seit längerem so sichtbar wie radikal präsentiert. Als orientierende Topoi lassen sich Arbeit, Bildung, technologischer und soziokultureller Wandel anführen: Arbeit zählt zu den bedrängendsten Themen unserer Zeit; Bildung ist im Begriff, drängendes und bedrängendes Thema auf der politischen Agenda zu werden; Prozesse des fortwährend beschleunigten, technologisch induzierten Wandels sind für jedermann sichtbar bzw. alltäglich und oftmals irritierend, desorientierend, spürbar. Visionen und Herausforderungen dieses Wandels bündeln sich im Begriff der Informations-und Wissensgesellschaft Diese ist eineVision im Vollzug und bringt als Katalysator Arbeit und Bildung in einen „modernisierten“, komplementären Zusammenhang: Arbeit und Bildung sind mehr denn je zwei Seiten einer Medaille -Bildung ist Arbeit.
Zwei Vorbemerkungen. Erstens: Was „die“ Informations-und Wissensgesellschaft ist, sein wird und sein soll, wissen wir derzeit höchstens in Umrissen. Tatsache ist, daß da „etwas“ auf uns zukommt, dessen vermuteter Charakter uns zugleich stimuliert und schreckt. Die gespürte Ungewißheit mündet in vielfältige Entscheidungsprobleme: Wie, mit welcher Intensität, mit welchen Akzenten und Mitteln, soll die Entwicklung vorangetrieben, gesteuert werden? Zweitens: Wir stehen damit zweifelsohne vor neuen Chancen und Möglichkeiten. Diese verwandeln sich aber in dem Maße in (zusätzliche) Risiken, in dem der bereits sichtbare Wandel in seinem strukturverändernden Charakter unterschätzt bzw. mit einer ökonomischen und gesellschaftspolitischen Heilserwartung kurzgeschlossen wird Eines liegt bereits jetzt auf der Hand: Die Informations-und Wissensgesellschaft enthebt uns nicht der Probleme im Kontext der Arbeitsgesellschaft. Sie enthebt uns ebenfalls nicht der deutlicher werdenden Probleme im Kontext von (öffentlich verantworteter) Bildung und Erziehung. Arbeit und Bildung dokumentieren im Gegenteil ein gemeinsames Krisen-, Konflikt-, aber auch Gestaltungspotential, dem noch kaum größere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Auch hier läßt sich auf den Bundespräsidenten verweisen, der Zusammenhänge von Arbeit, Bildung und neuen Medien, zuletzt Bildung als „Mega-Thema“, angesprochen hat Indes gilt auch hier: Jenseits von Sonntagsreden, programmatischen Appellen und bei flagranter struktureller und haushaltspolitischer Auszehrung wird Bildung eben nicht als zukunftsorientiertes Thema, geschweige denn als Mega-Thema behandelt. Auch in diesem Politikfeld fallen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. In den Debatten um die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft wird Bildung weiterhin instrumentalisiert -Stichwort „Standortfaktor“ nicht aber in einen gesellschaftlichen Zukunftsdiskurs zur Informationsund Wissensgesellschaft (der seinerseits ausbleibt) integriert. Arbeit und Bildung bleiben im überkommenen Hierarchieverhältnis -Bildung zur (Erwerbs-) Arbeit -und damit wechselseitig gefangen. Der andere, heute mögliche und hinzutretende Akzent, nämlich die Option von Bildungsarbeit -Bildung als Arbeit -, würde das bestehende Beziehungsgefüge allerdings „verstören“, es wäre neu zu justieren. Diese Verstörung ist aber überfällig, weil sich die Grundlagen der alten Arbeitsgesellschaft zunehmend verändern.
III. Arbeit im „elektrischen Zeitalter"
Bildung und Arbeit sind bereits „unter Bedingungen einer Erosionskrise“ (Oskar Negt) geraten, der mit Rezepten des „Weiter so“ immer weniger begegnet werden kann. Auf der anderen Seite fehlen politische Langfristperspektiven die heute gesellschaftspolitische Orientierung über den Tag hinaus initiieren und stimulieren könnten. Oskar Negt hat auf die Notwendigkeit einer neuen „kulturellen Suchbewegung“ hingewiesen, die (auch) „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“ zu diskutieren, dabei die Arbeitsprozesse „Lernen und Bildung“ mit zu thematisieren hätte Dabei wird die Notwendigkeit solcher Suchprozesse durch die Informations-und Wissensgesellschaft nicht nur verstärkt, sondern sogar provoziert Dazu soll an dieser Stelle ein -klassischer-Hinweis gegeben werden. Marshall McLuhan hat 1964 in seinem Essay „Understanding Media“ auf Entwicklungslinien im „elektrischen Zeitalter“ hingewiesen, die das angesprochene Themen-und Problemgefüge von Bildung/Lernen/Arbeit auf eine Weise fokussieren, die uns vielleicht heute deutlicher und greifbar(er) wird. Die Technik der Elektrizität, so McLuhan damals, ist „mitten unter uns, und wir sind benommen, taub, blind und stumm bei ihrem Zusammenprall mit der Technik Gutenbergs“. Eine Folge davon sei, daß (noch) nicht wahrgenommen werde, daß mit dieser Technik „die ganze Aufgabe des Menschen im Lernen und Wissen bestehen“ wird: „Derselbe Prozeß der Automation, der ein Abziehen der gegenwärtigen Arbeitskräfte aus der Industrie verursacht, bewirkt auch, daß Lernen selber zur wichtigsten Form von Erzeugung und Verbrauch wird. Daher die sinnlose Aufregung über Arbeitslosigkeit. Bezahltes Lernen wird jetzt schon zur Hauptbeschäftigung und außerdem die Quelle neuen Reichtums in unserer Gesellschaft. Das ist die neue Rolle für Menschen in der Gesellschaft, während der alte mechanische Begriff des Jobs der zugeteilten Aufgabe und der Facharbeit für den . Arbeiter im Zeitalter der Automation seinen Sinn verliert.“ Und McLuhan setzt noch einen drauf, wenn er sagt, daß in Zukunft Arbeit nicht mehr darin (besteht), seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern darin, im Zeitalter der Automation leben zu lernen 8.
Die Hinweise von McLuhan sind herausfordernd: Lernen als wichtigste Form von Erzeugung und Verbrauch, bezahltes Lernen als Hauptbeschäftigung („leben lernen“), sinnlose Aufregung über Arbeitslosigkeit -das klingt angesichts dramatischer Arbeitsmarktprobleme mit ihren sozialen und politischen Folgen und angesichts verzweifelter Versuche, neue Beschäftigungspotentiale zu erschließen, wie Hohn. Und doch ist hier ein realistischer Zugang zu dem skizzierten Problemszenario, vor allem aber eine notwendige Provokation zur Wiedervorlage gebracht. Und es gibt heute Anhaltspunkte dafür, daß diese Wiedervorlage durchaus zeitgemäß sein könnte.
Viviane Forrester hat unlängst eine weitere und durchaus anschlußfähige Provokation thematisiert. Arbeit sei ein „hohles Gebilde ohne jede Substanz“ und als „unverzichtbarer Antrieb des privaten wie des öffentlichen Räderwerks unserer Gesellschaft“ ein Mythos. Selbst wenn man die Diagnose in dieser Apodiktik nicht teilen mag: Forrester fügt einen therapeutischen Aspekt hinzu, der sehr wohl ins Zentrum aktueller Gesellschaftspolitik gehört, nämlich damit zu beginnen, „das Fehlen der Erwerbsarbeit zur Grundlage von Zukunftsüberlegungen zu machen“ 9. Das hieße allerdings, die augenblickliche Situation in einem anderen, radikalen und zugleich realistischen Sinn zu interpretieren. Denn die „globale Lage“ unserer Arbeitsgesellschaften und ihrer Zukunft im Ausblick auf die Informations-und Wissensgesellschaft hat ja bereits seit längerem nachdenkenswerte Fakten und Herausforderungen sichtbar, d. h. empirisch evident, nachvollziehbar gemacht. Die westlichen Industriegesellschaften stehen danach vor der -quälend langsam realisierten -Erkenntnis, daß der identitätsbildende Leitwert Arbeit im Vollzug des beschleunigten ökonomisch-technologischen Wandels brüchig, zumindest aber ambivalent wird. Das heißt nicht, daß Arbeit (die die Arbeitsgesellschaft tragende Erwerbsarbeit) verschwindet; aber sie wird kontingent, ihr treten neue Möglichkeiten an die Seite. Jedenfalls trägt Arbeit als klassisch definierter Produktionsfaktor ganz offensichtlich zunehmend weniger zum aktuellen „Buchwert“ unserer Volkswirtschaften bei. Der Faktor Arbeit erscheint sogar -die Börse boomt in Reaktion auf die Baisse am Arbeitsmarkt -als Klotz am Bein gesamtökonomischer Entwicklung. Trotzdem wird das (Reiz-) Wort vom „Mythos Arbeit“ (Viviane Forrester) bzw.dem „Ende der Arbeit“ (Jeremy Rifkin) nicht in den Mund genommen. „Arbeit“ bleibt im Optativ der Vollbeschäftigung (Erwerbsarbeit im „Normalarbeitsverhältnis“: Achtstundentag; ununterbrochene Lebensarbeitszeit) und entsprechender Leitbildorientierung gefangen. Politik und Ökonomie sperren sich gleichermaßen gegen die Wahrnehmung, daß die allenthalben sichtbaren Veränderungen der Arbeitsgesellschaft ein nicht nur vorübergehendes (konjunkturelles) Phänomen und Problem bezeichnen, sondern vielmehr eine grundlegende, „säkulare“ Veränderung unserer Industriegesellschaften dokumentieren. Und schließlich: Die Dynamik der technologischen Veränderungsprozesse zur Informations-und Wissensgesellschaft wirkt gerade nicht als Heilmittel, sondern vielmehr als Problemgenerator, ja sogar als Problem-beschleuniger. So ist die anfängliche Euphorie einer Erschließung unbegrenzter Arbeitsplatzressourcen längst verflogen und hat -bei gelegentlichen Rückfällen -nüchterner Betrachtung Platz gemacht. Dementsprechend wird es keinen Status quo ante der (relativen) Vollbeschäftigung und des (uneingeschränkten) Vertrauens in überkommene Systeme ökonomischer und sozialer Sicherheit mehr geben -vor allem bleiben wir nachhaltig mit dem Paradox eines Wachstums ohne Zugewinn an Erwerbsarbeit (Jobless Growth) konfrontiert. Auch Arbeit ist eben keine „lineare Erzählung“ (Richard Sennett) mehr, und die Krise der Arbeitsgesellschaft muß nicht zuletzt als Bewußtseinskrise (Manfred Brocker) begriffen werden
IV. „Entwertung“ der Arbeit
Die Industriegesellschaft erreicht als Arbeitsgesellschaft eine Schwelle, an der sie heute an die Grenzen ihrer selbsterzeugten materiellen wie ideellen Strukturen stößt: Sie wird -ähnlich dem ökologischen Kontext -mit den Folgen ihres Erfolgs konfrontiert bzw. daran mit Nachdruck erinnert. Immerhin sind ja auch die neuen Informations-und Kommunikationstechnologien Produkte genau der Industrie-und Arbeitsgesellschaft, die in ihrer Geschichte immer wieder vor den sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen ihres Handelns gestanden hat. So wird weiterhin und verschärft automatisiert und/oder dort produziert, wo traditionell-industrielle Strukturen noch (!) modern sind. Und in der Regel haben wir selbst diese Strukturen aufgebaut und exportiert, damit unseren eigenen Standort nachhaltig gefördert, d. h. technologisch evolvieren lassen. Auch aus diesem Grund gibt es eine Globalisierung von Arbeitsmärkten, eine „weltweite Neuverteilung der Arbeit“ die durchaus als endogen erzeugter Entwicklungsschub betrachtet werden muß. Jedenfalls ist ein Abschied von der Arbeit, wie wir sie bislang definieren, qua Produktivitätsexplosion/Technologierevolution -schon John Maynard Keynes hat von „technologischer Arbeitslosigkeit“ gesprochen -längst in den Horizont des Möglichen gerückt. Heute betrifft das auch den Dienstleistungsbereich, den „technologische Arbeitslosigkeit“ vermutlich noch schneller und treffen wird. Eine Rückkehr rücksichtsloser zur „Vollbeschäftigung alten Typs“ scheint jedenfalls auch aus dieser Perspektive illusorisch. Rifkins Diktum: „Das Informationszeitalter wird die Massenbeschäftigung abschaffen“ bleibt aktuell.
Einiges spricht dafür, die Hinweise von Forrester und McLuhan, das Fehlen von Erwerbsarbeit zur Grundlage des Nachdenkens zu machen und Lernen selbst als Form von Erzeugung und Verbrauch anzusehen, ernst zu nehmen. Dann -erst dann -käme auch Bildung als „Mega-Thema“ ins Spiel. Dazu sind allerdings Fragen zu Arbeit und Bildung im Ausblick auf die Informations-und Wissensgesellschaft anders, nämlich offener, zu definieren und zu bewerten. Hier wäre heute eine Veränderung, ein Gestaltwandel anzubahnen, der mittelfristig -etwa über einen „Dritten Sektor“ „öffentliche Arbeit“ sowie grundlegend veränderte (sozialstaatliche) Sicherungsmechanismen („Bürgergeld“) -neue Entwicklungspfade eröffnet. Damit ist gewiß nicht sofortiger Vollzug gemeint, wohl aber ein forcierter gesellschaftspolitischer Impuls, eine notwendige Anmutung (die auch Verunsicherung, „Verstörung“ sein kann und sein soll), die den Blick auf die Notwendigkeit längerfristiger Veränderungsprozesse richtet und gleichwohl vorbereitend und experimentierend in die politische Agenda eingreift -auch wenn solche Anmutung vielerorts (noch) als Zumutung, eben als Provokation, aufgefaßt werden mag
Wolf Lepenies hat verschiedentlich für eine „Politik der Mentalitäten“ plädiert: Die Kernprobleme, denen sich die modernen Industriegesellschaften des Westens gegenübersehen, sind „nicht Probleme der mittelfristigen Konjunktur“, sondern Probleme der „longue duree“ (der langen Dauer), die „ohne tiefreichende mentale Umorientierungen“, ohne eine „Politik auf lange Sicht“ nur schwer zu lösen sein werden Mit Blick auf das Thema Arbeit müssen wir, so Lepenies weiter, fragen. „ob die traditionelle Erwerbsarbeit der Wertekern der Industriegesellschaft bleiben wird oder ob wir uns vorstellen können, daß sich Arbeit , entwerten’ und Arbeitslosigkeit damit entdramati-sieren läßt“ Das wäre gleichsam ein Einstieg in einen gesellschaftlich zu diskutierenden bzw. politisch zu organisierenden Wandel der traditionell reproduzierten „Gestalt“ von Arbeit. Immerhin könnte ein solcher Diskurs anknüpfen an bereits bestehende und dokumentierte Prozesse solchen Gestaltswandels bzw. manifesten Veränderungen im „Wertekern Arbeit“. Wenn es stimmt, daß die Arbeit bereits heute den Arbeitenden „keine stabile Identität“ mehr liefert bzw. Arbeit nicht mehr „das Großereignis einer Biographie“ bezeichnet dann ist es eben höchste Zeit, genau diesen Zusammenhang -über neue Arbeitszeit-konzepte bis hin zu einer Neudefinition des Arbeitsbegriffs -ernsthaft in die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu bringen. Jedenfalls sollte damit begonnen werden, über ein „lebenswertes Ideal der Nicht-Arbeit“ (Karlheinz A. Geißler), eine „Emanzipation von der Arbeit“ (Ulrich Beck) nachzudenken und dafür realpolitische (experimentelle) Szenarien anzubieten. Mittelfristiges Ziel wäre dann in der Tat, „eine Gesellschaft anzustreben, die nicht mehr wie heute strikt in Arbeitsplatzbesitzer und Menschen ohne Arbeit geteilt ist“ Das setzt aber eine neue Haltung, einen neuen Begriff von (Erwerbs-) Arbeit, schließlich die Förderung neuer Möglichkeiten des Tätig-Seins und des Miteinander-Seins voraus.
V. Der andere Standortfaktor: Kulturelles Kapital
Der skeptisch-prognostische Blick auf die (Re-) Produktionsbedingungen einer zukünftigen Informations-und Wissensgesellschaft zeigt, daß Veränderungen zu gewärtigen sind, die das tradierte System gesellschaftlicher Arbeitsbeziehungen in Frage stellen bzw. bereits heute hinter sich lassen. Die Geschäftsgrundlagen der Arbeitsgesellschaft (die „Terms of Work“) definieren sich neu, ohne daß wir uns bislang selbst an diesem Definitionsprozeß mit größerem Engagement beteiligten: Die Veränderungen, die eine Umformung der Gesamt-gestalt unserer materiellen Existenz zur Folge haben, wirken in stiller Synergie -erst am Ende der Strukturevolution steht die Strukturrevolution. Prekär ist allerdings, daß so der Wald vor lauter Bäumen unsichtbar bleibt: Je heftiger „Arbeit“ oder aber „Bildung“ („wichtigstes Kapital“, „Produktionsfaktor“, „Rohstoff“ etc), beschworen wird, desto mehr verstricken sich die gängigen politisch-ökonomischen Rezepte in den aktuellen Entwicklungsparadoxa der (Arbeits-) Märkte. Die (bildungs-) ökonomischen Leitimpulse sind und bleiben widersprüchlich: Das, was der Arbeitsmarkt (d. h.seine Interpreten) heute vom Ausbildungssystem einfordern, ist oftmals höchst ambivalent oder aber schon morgen wieder überholt. Fortwährend wird eine Mobilisierung von (kognitiven) Quantitäten und Qualitäten beschworen, für die es am Arbeitsmarkt keine adäquaten Realisierungsmöglichkeiten gibt So betont Claus Offe, daß „diese Gesellschaft.. . ständig ein Über-angebot an Arbeitskraft (mobilisiert), das sie dann nicht aufnehmen kann“ Und Bildung -die hier nicht nur betriebliche Ausbildung meint -spielt dann eine ambivalente Rolle, wenn sie (bestenfalls!) „immer differenzierter auf Arbeitsplätze vorbereitet, die es nicht gibt .“
Wird Wissen (Bildung) -einschließlich der Prozesse, in denen Wissen (Bildung) erworben und geformt wird, also der Prozesse des Lernens -als kulturelles Kapital definiert dann bedarf das mit Blick auf die sich abzeichnenden Konturen einer Informations-und Wissensgesellschaft der Thematisierung entsprechender Konsequenzen.
Gernot Böhme hat darauf hingewiesen, daß wir seit langem in der Genese und Ausformung einer solchen Gesellschaft begriffen sind und daß „mit dem Wachsen (des) kulturellen Kapitals der Anteil der Bildungsphase an der Gesamtbiographie ständig gestiegen“ und zudem kein Ende der Wachstumstendenz dieses kulturellen Kapitals abzusehen ist. Eine seiner Schlußfolgerungen lautet: „Bildung wird damit in den Wissensgesellschaften zu einer selbständigen Art der Lebenserfüllung und, was noch wichtiger ist, der gesellschaftlichen Integration“ Beide Aspekte sind sowohl Fingerzeige auf ein (empirisch) bereits vorzufindendes Ist als auch auf ein (normativ) zu reflektierendes und auszugestaltendes Soll. Hier gewinnt jene Provokation des „Lernens als Beruf“ und Lernens als wichtigster Form von Erzeugung und Verbrauch -Arbeit als „leben lernen“ (Marshall McLuhan) -Kontur. Mit anderen Worten: Wenn gesellschaftliche Integration und lebenserfüllende Identität am Horizont klassischer Arbeit immer problematischer, gebrochener, flüchtiger werden, bedarf es auch deshalb einer grundlegenden Neuorientierung: Integration und Identität durch Bildung. Das zivilgesellschaftliche Politik-modell wird ohne gezieltere Hege nicht auskommen können. So sehr Wissen als kulturelles Kapital Reproduktion und Reproduktionsfähigkeit unserer Gesellschaften bestimmt, so sehr kommt es darauf an, sich mit dem Zustandekommen und der Bewahrung von „sozialem Kapital“ (Jeremy Rifkin) eine hinreichende Basis für den Fortbestand des zivilen, demokratischen Gemeinwesens zu erhalten.
Leider gibt es genügend Hinweise dafür, daß die Industrienationen mit den tradierten Mechanismen gesellschaftlicher Integration und Identitätsbildung diese Aufgabe nurmehr in zunehmend engeren Grenzen erfüllen können. Die „Zivilgesellschaft“ ist schließlich in aller Munde, weil sie an ihren Rändern, aber auch in den Zentren, erodiert. An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert wäre „Standortsicherung“, wenn überhaupt, als Stärkung des Gemeinwesens, als Bildung zur Polis zu begreifen Indes setzt das andere Prioritäten, ein verändertes oder besser: erweitertes Verständnis von Bildung (in ihren öffentlichen Institutionen) und Arbeit voraus. Denn auch die Vorbereitung der Sozialisationsinstanz Schule zielt bislang allemal auf (Erwerbs-) Arbeit, nicht etwa auf den Bürger (die Polis). Die Frage: „Wie werden Demokratie und soziale Integration jenseits der Erwerbsgesellschaft möglich?“ ist jedenfalls hochaktuell und mit unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. Könnte es nicht sein, daß wir heute für morgen unsere demokratische und soziale Existenz auf durchaus neue Art und Weise erarbeiten müssen?
VI. Schule zum „leben Lernen“
Hinweise auf eine entsprechende Diskussion gibt es bereits. Die Denkschrift der nordrhein-westfälischen Bildungskommission betont vor dem Hintergrund veränderter „Zeitsignaturen“ neue Herausforderungen an öffentliche Verantwortung: Schule kann sich „nicht der Verantwortung entziehen, Fähigkeiten zu vermitteln, die es Menschen ermöglichen, auch Zeiten der Nichtbeschäftigung -im Sinne von Erwerbsarbeit -produktiv zu nutzen. Dabei wird sich schulische Bildung auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, welche spezifischen Qualifikationen und Kompetenzen für ein Leben benötigt werden, das -zumindest zeitweise und mehr oder weniger gewollt -nicht auf Erwerbsarbeit zentriert ist.“ In einer weiteren (belgischen) Studie werden ähnliche Überlegungen formuliert, die Autoren gehen aber noch einen Schritt weiter: Es sei „zu erwarten, daß die Schulen junge Menschen auch auf ein Leben ohne Arbeit vorbereiten“ Mit diesen Hinweisen ist nun allerdings keine quietistisch-pädagogische Strategie zur sozial-technischen Befriedung potentieller Unruheherde gemeint, vielmehr eine politisch offensive Auseinandersetzung mit den brüchig gewordenen Reproduktionsbedingungen unserer „postmodernen“ Arbeitsgesellschaften Zumindest ist damit ein Kontext -schulische Sozialisation -angedeutet, in dem eine Entwertung (Wolf Lepenies) des bislang vorherrschenden Verständnisses von Arbeit ansetzen bzw. in dem sich eine solche neue Wertung fortsetzen könnte und fortsetzen müßte. Der Aufbruch zur Überwindung des „Monopols der Erwerbsarbeit“ durch eine „plurale Tätigkeitsgesellschaft“ hätte auch hier anzuknüpfen. Wir werden schließlich nicht darum herumkommen, die fortwährend beschleunigte Veränderungsdynamik im „System Arbeit“ auch in den Erfahrungs-und Sozialisationsraum der Schule einzubeziehen und auf diese Weise auch den Einstieg in eine Neubewertung von Arbeit in Gang zu setzen bzw. zu ergänzen.
Immerhin bestehen hier Chancen, Sinn und Wert der eigenen Person (Identität) jenseits ausschließlicher Fixierung auf überkommene „Normalarbeitsverhältnisse“ zu thematisieren. Nicht zuletzt wären auch damit Elemente jener Lern-und Suchbewegungen angesprochen, die Oskar Negt für neue Lösungen (und Experimente) im Gesamtrahmen von Schule und Bildung vorgeschlagen hat Auch der jüngst vorgestellte UNESCO-Bericht setzt hier Akzente, die in der bildungspolitischen Praxis der (westlichen) Industrienationen bislang eher marginal behandelt worden sind. Danach beruht das zugrundegelegte „Konzept lebenslangen Lernens“ auf vier Säulen: 1. Lernen, Wissen zu erwerben; 2. Lernen, zu handeln; 3. Lernen, zusammenzuleben; 4. Lernen für das Leben
Interessant ist also, daß die jeweiligen Bildungspolitiken auf andere Schwerpunkte hin orientiert werden sollen: Das Wie und Wozu des Lernens (vor allem „lernen, zusammenzuleben“ und „leben lernen“) wird fokussiert, die Schule als „Ort von Leben“ und als Polis vorgestellt. Das alles sind Hinweise, die auch auf ein neues Verhältnis von Bildung und Arbeit abstellen, indes voraussetzen, daß hier nicht nur Bildungspolitik, sondern in der Tat Gesellschaftspolitik im weiteren Sinne gefragt und gefordert ist. Man wird sich demnach über einige Dinge grundsätzlich verständigen und Politik als „Versuch der gemeinschaftlichen Selbstdefinition“ wieder bewußt in Gang setzen müssen.
Die Skizze soll an dieser Stelle mit zwei weiteren Fragen zur Erneuerung des Verhältnisses von Arbeit und Bildung schließen. Erstens: Kann sich unsere Gesellschaft ein solches verändertes Verhältnis überhaupt -im Wortsinne -leisten? Zweitens: Wie lassen sich Arbeit, Bildung und Lernen anders zueinander in Beziehung setzen?
Die Antwort auf die erste Frage lautet: Ja -aber wir müssen es wollen! Karl Otto Hondrich hat das mit Blick auf die aktuellen Probleme der Arbeitsgesellschaft auf die Formel einer erneuerten „Balance zwischen Produktivität und Solidarität“ gebracht: Wenn es so ist, daß „in einer Wirtschaft, die ihre Produktivität steigert, . . . immer weniger arbeitende Menschen immer mehr nicht arbeitende mitversorgen (können), ohne daß es irgend jemand schlechter geht. Vorausgesetzt: Sie wollen es. Dies ist eine Frage der Solidarität, des Zusammengehörigkeitsgefühls“ dann kann eben auch das Verhältnis von Arbeit und Lernen anders, phantasievoller, nachhaltiger zueinander in Beziehung gesetzt werden. Lernen als Beruf gewinnt dann eine eigene Begründung bzw. Legitimation am Horizont einer Gesellschaft, sich die ihrer Möglichkeiten im „elektrischen Zeitalter“ bewußt wird. Natürlich geht auch das nicht von heute auf morgen. Notwendig bleibt allerdings ein neuer Anlauf zur Politik, die sich, wie Wolf Lepenies gesagt hat, wieder der öffentlichen Diskussion von Langfristperspektiven, schließlich einer Repolitisierung der Ökonomie zuzuwenden hätte Wir können uns also darauf einrichten, das Lernen, „Leben lernen", zum Beruf zu machen. Das setzt allerdings ein erneutes Nachdenken über die Verteilung vorhandener Ressourcen voraus. Die Informations-und Wissensgesellschaft kann Lernen als Beruf bzw. Lernen zum Beruf der Polis ermöglichen. Ihre Voraussetzung sind Bürgerinnen und Bürger, die „leben gelernt“ haben und zugleich fähig sind, ihre Bildung, ihr Wissen fortwährend auch in Prozesse der Erwerbsarbeit und/oder der „Bürgerarbeit“ (den „Dritten Sektor“) einzubringen. Der Beruf des Lernenden in der „kognitiven Gesellschaft“ entwickelt Kompetenz und Identität, eröffnet Lebensläufe, in denen unterschiedliche Phasen/Rollen der eigenen Teilhabe an der Gesellschaft abwechseln bzw. miteinander verschränkt sind.
Die zweite oben gestellte Frage schließt hier an: Arbeit, Bildung und Lernen lassen sich anders miteinander diskutieren, wenn anerkannt ist, daß auch Lernen und Nicht-Erwerbsarbeit Arbeit ist -und zwar vollgültige („öffentliche“) Arbeit. Dann ist Schule nicht lediglich Schularbeit auf „richtige“ Erwerbsarbeit hin, sondern bereits Arbeit „an und für sich“, nämlich selbsterfüllende und integrierende Tätigkeit am Horizont einer Gesellschaft, die sich darauf verständigt hat, was ihr wichtig, d. h. wertvoll ist. Schule ist heute „mehr denn je gesellschaftliche Arbeit junger Menschen“ und ein Zurück (bzw. Voran) zur Schule als „Muße“ wäre dann greifbare Vision und konkrete Utopie: Zöge nicht ein veränderter Begriff der Arbeit eine Annäherung der Schule (des Lernens) an ihren klassisch-ethymologischen Ausgangspunkt nach sich? Eine -auf Bildungsarbeit hin orientierte -tätige Muße, die sich über die Entfaltung des „elektrischen Zeitalters“ zur Informations-und Wissensgesellschaft bereits heute in Grundzügen erfahren und dokumentieren läßt Ob aber die Schule, wie wir sie heute kennen, noch Ort solcher Bildungsarbeit zu sein vermag, wäre eine weitere, keine Frage. wenn auch ganz andere