Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Annäherung durch Wandel Für eine neue Sicht auf die „innere Einheit“ und die Rolle der politischen Bildung | APuZ 7-8/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7-8/1999 Restauration oder Neubeginn? Politische Bildung 1945-1960 Entstehung und Krise der Fachdidaktik Politik 1960-1976 Annäherung durch Wandel Für eine neue Sicht auf die „innere Einheit“ und die Rolle der politischen Bildung Politikverdrossenheit, populäres Parlamentsverständnis und die Aufgaben der politischen Bildung

Annäherung durch Wandel Für eine neue Sicht auf die „innere Einheit“ und die Rolle der politischen Bildung

Hans-Jürgen Misseiwitz

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 ist Abbild eines gleichgerichteten Stimmungswandels im Osten wie im Westen Deutschlands. Die wachsende Wahrnehmung von Gerechtigkeitsdefiziten -im Osten stärker ausgeprägt als im Westen -schuf eine neue Mehrheit, die zwei durchaus nicht identische politische Kulturen verbindet, und zwar eine Ost-und eine Westdimension der Erwartung neuer Chancen nicht nur wirtschaftlicher Partizipation angesichts vielgestaltigen Wandels. In diesen Erwartungen zeichnet sich, verglichen mit 1990, eine neue Fähigkeit der Überwindung trennender Tendenzen ab im Hinblick auf einen noch zu verwirklichenden neuen Gesellschaftsvertrag. Neun Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit zeigen sich in der Bilanz der „inneren Einheit“ immer tiefere Risse und Entfremdungen zwischen Ost und West. Besonders in der für die politische Bildung relevanten Frage der Angleichung politischer Grundwerte sind zumindest an der Oberfläche deutliche Differenzen wahrnehmbar. Was entsprechend der föderalen Verfassung im kulturellen Bereich als tolerierbar erscheint, stellt sich im politischen Bereich als Phänomen zum Teil bewußter Abgrenzungstendenzen heraus. Die Bemühungen der politischen Bildung für die Herstellung „innerer Einheit“ sollten angesichts difeser Situation weniger bei einer normativ-abstrakten Werte-vermittlung liegen als bei der Einübung und Mitgestaltung von demokratischen Vermittlungsprozessen. Der demokratische Prozeß selbst und die Befähigung zur Teilnahme an diesem ist der Schlüssel für eine neue Erfahrung von Einheit angesichts der wohl für eine unbestimmte Zeit noch fortbestehenden Unterschiede. Die Fixierung der ostdeutschen politischen Bildung auf eine fast ausschließlich vom Charakter des SED-Systems abgeleitete Aufklärung über die Vergangenheit wird verstärkt als tendenziös und delegitimierend empfunden, weil sie den Eindruck einer nachträglichen allgemeinen Haftung für ostdeut-sehe Probleme erweckt und somit wachsende Abwehr erzeugt. Notwendig ist eine Neubesinnung darauf, was historisch-politische Aufklärung soll, wie ein Klima der Respektierung unterschiedlicher Erfahrungen und ein stärker an den jeweils geltenden politischen Kontexten vermitteltes Geschichtsbild entstehen kann, das in der Verschiedenheit das Zusammengehörige herausarbeitet. Eine stärkere Orientierung der politischen Bildung an den gemeinsamen Herausforderungen der Zukunft bietet überdies geeignete Themenfelder und Praxisfragen, um ost-west-übergreifend zum Gelingen des deutsch-deutschen Integrationsprozesses beitragen zu können. Politische Bildungsangebote, die zugleich Orte solcher politischer Kommunikation sind, sind Vorwegnahmen einer künftig größeren Gemeinsamkeit, eines neuen und breiteren gesamtgesellschaftlichen Konsenses. Für ihre Förderung im Rahmen staatlicher Programme bedarf es neuer Konzepte in Bund und Ländern.

„Mit der Bundestagswahl 1998 wird entschieden, was das für ein Land sein wird, die Berliner Republik.“ Das sah Elisabeth Noelle-Neumann, die große alte Dame der bundesdeutschen Meinungsforschung, am 23. Februar 1998 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ voraus. Nun ist das Ergebnis bekannt, aber das Geheimnis noch nicht gelüftet: .. was das für ein Land sein wird, die Berliner Republik“. Das überließe man getrost der Zukunft, hätte es sich nicht herausgestellt, daß das Aliensbacher Institut für Demoskopie -die Quelle, aus der Frau Noelle-Neumann schöpfte -zugleich die einzig treffsichere Prognose für das Wahlergebnis vom 27. September 1998 lieferte. Dabei bediente sich Frau Noelle-Neumann b& i ihrer Vorhersage nicht der üblichen Frage nach der Parteienpräferenz, sondern eines Stimmungsbildes in der Bevölkerung, das in erstaunlicher Übereinstimmung auf jenen Wechsel hindeutete, den die Wahl schließlich markierte.

Im Stimmungsbild der Nation zeichnete sich eine bemerkenswerte Verschiebung der Wertehierarchie ab: weg vom Vorrang der Freiheit, hin zu neuer Wertschätzung von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Seit 1994 tendierte die Stimmung wieder in Richtung Gleichheit: im Osten von 50 auf 60 Prozent im Jahre 1998, im Westen von 30 auf 42 Prozent. Entsprechend nahm der Vorrang von Freiheit im Osten von 37 auf 25 Prozent im Jahre 1998 ab, im Westen von 60 auf 47 Prozent. Vergleicht man das mit dem Stimmenanteil links von CDU/CSU und FDP, so addieren sich im Osten die Stimmen für SPD. Bündnisgrüne und PDS auf exakt 60, 8 Prozent und im Westen auf 50, 8 Prozent. Im Osten deckt sich der Stimmenanteil der Linken ziemlich genau mit der Präferenz für mehr Gerechtigkeit, im Westen dann, wenn man etwa die bündnis-grünen Stimmen davon abzieht. Der konservativ-liberale Stimmenanteil von 30, 6 Prozent im Osten und 44, 1 Prozent im Westen entspricht wiederum annähernd dem „freiheitlichen“ Lager im Schema von Frau Noelle-Neumanns Befund vom Februar letzten Jahres.

Soweit die Zahlen. Aber Frau Noelle-Neumann ahnte Schwerwiegenderes: „Unsere Gesellschaft steht dicht vor einer Rückkehr zu einem sozialistischen Verständnis von Freiheit: Freiheit, wie sie der Staat gewährt, Freiheit von Arbeitslosigkeit, von Armut im Alter, von Krankheitsfolgen.“ Der Aufstieg der PDS in das System der etablierten politischen Parteien konnte damit nicht allein gemeint gewesen sein. Deren Zugewinn von knapp einem Prozent brachte ihr zwar den Fraktionsstatus, aber nicht die allseits gefürchtete Schlüsselrolle in der Republik. Wahlentscheidend war die Schwächung des konservativ-liberalen Lagers, und den Ausschlag dazu gaben die Verluste der CDU von über 11 Prozent im Osten. Dagegen nehmen sich die Gewinne der SPD im Osten in Höhe von 3, 6 Prozent geradezu bescheiden aus. Die SPD hat die Wahl nicht in erster Linie im Osten gewonnen, sondern die CDU hat sie dort verloren.

Damit steht -verglichen mit 1990 -das ostdeutsche Wahlergebnis im Zeichen eines diametralen Wandels. Die Ostdeutschen gaben damals Helmut Kohl den Kredit, die formal vollzogene Einheit inhaltlich zu vollenden. Acht Jahre später war dieser Kredit aufgebraucht, weil der „Wandel durch Annäherung“ -die versprochene Wiedervereinigung auf westdeutschem Niveau, eine rasche Angleichung der Lebensbedingungen -in weite Ferne gerückt ist. Statt dessen fand die Annäherung, die zum Wandel führte, vom Westen her statt. Zur ostdeutschen Wahrnehmung der in die Krise geratenen Vereinigung bedurfte es nämlich der westdeutschen Wahrnehmung, daß das „Modell Deutschland“ selbst nicht mehr das ist, was es einmal war. Die zunehmend kritische Bewußtseinslage angesichts einer durch gigantische Staatsverschuldung zwangsläufig auf die Reduzierung von immer mehr Elementen des bundesdeutschen Gesellschaftsvertrages zielenden Politik schuf die Basis für eine neue Mehrheit in der Republik. Hinter dem politischen Wechsel steht der Wunsch nach einem Wandel und die Möglichkeit, uns über Annäherung neu zu verständigen. Der verbindende Konsens der sogenannten „Neuen Mitte“ ist der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf gesicherte Teilhabe an der allge-meinen Entwicklung. Sie steht damit „links von der Mitte“ im Sinne des politischen Definitionsrahmens der alten Bundesrepublik. Als Mehrheit ist sie aber gesamtdeutsch verankert -eine mögliche neue Gestalt der noch nicht vollendeten inneren Einheit. Sie verbindet mit ihrem Anspruch zwei durchaus nicht identische politische Kulturen sowie eine Ost-und eine Westdimension der Erwartung neuer Chancen der Partizipation, nicht allein im materiellen Sinne. Damit die „Neue Mitte“ nicht die Mehrheit verliert, wird sie ihren Zusammenhang zwischen Ost und West nicht riskieren dürfen. Frau Noelle-Neumann mag das geahnt haben, als sie im Februar 1998 schrieb: „Die Kluft zwischen Ost und West ist dabei, sich zu schließen durch Anpassung der Westdeutschen an die Empfindungswelt der Ostdeutschen. Die innere Einheit Deutschlands wird durch den Bundestagswahlkampf bestimmt gestärkt.“

I. Bilanz der „inneren Einheit“: Ziel verfehlt oder falsch gestellt?

Mit dem programmatischen Wort von der „Vollendung der inneren Einheit“ wurde seit Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zumeist bezeichnet, was noch fehlte. Die Schaffung des politischen und rechtlichen Rahmens -vor allem die umfangreichen Maßnahmen zur Angleichung der wirtschaftlichen, sozialen und strukturellen Verhältnisse des Ostens an den Westen -bedurfte gleichwohl der allgemeinen Akzeptanz, der überwiegenden Zustimmung zu einem im weiteren außerordentlich kostspieligen Prozeß nicht durch die Bevölkerung im Osten, sondern auch Westen. Politisch mußte die Rede von „innerer Einheit“ also keine nationalistische Hochzeit beschreiben, sondern sie zielte zunächst praktisch auf die Fähigkeit, ost-west-übergreifende Grundkonsense zu stiften, die politischen Voraussetzungen für die weitere Gestaltung des Prozesses der „inneren Einigung“ zu schaffen. Wir sprechen also von einem politischen, geistig-kulturellen Vermittlungsprozeß und seinen Bedingungen. In diesem Zusammenhang fiel auch der politischen Bildung mit ihren unterschiedlichen Medien, Angeboten und Institutionen eine Aufgabe zu, die nach 1990 zeitweilig sogar die Hoffnung auf eine Renaissance oder gar Neubegründung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nährte.

Im Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung vom Dezember 1991 hieß es, politische Bildung müsse „ihren Beitrag Teilen Deutschlands ein geistiges und gesellschaftliches Miteinander wird“ Politische Bildung sollte zu einem Prozeß der Verständigung, der gegenseitigen Wahrnehmung und der Herausbildung eines gemeinsamen Selbstverständnisses der Deutschen beitragen. Im Mai 1998 zog die letzte Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage zur „Politischen Bildung in Deutschland“ eine vorsichtigere, gleichwohl immer noch positive Bilanz: Obwohl sich „naturgemäß nicht alle Erwartungen und Hoffnungen auf einen raschen, mit dem System der freiheitlichen Demokratie verbundenen Wohlstand erfüllen“ könnten, werden „das politische System der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie die Wiedervereinigung von der großen Mehrheit der Menschen positiv bewertet. An dieser Entwicklung hat die politische Bildungsarbeit ihren Anteil.“ Das Ziel „innere Einheit“ wird von Jahr zu Jahr langfristiger gesetzt, letztlich auch von der Bundesregierung aus der Einsicht heraus, daß weder eine perfekte institutionelle Anpassung noch die weitere wirtschaftliche Angleichung hinreichen, Differenzen im Bereich der Wahrnehmungen und Einstellungen zu überbrükken. In ihrem „Bericht zur Deutschen Einheit“ stand 1997 schließlich der Prozeßcharakter im Vordergrund und das implizite Dementi, es handele sich dabei um eine „Einbahnstraße“, auf der der Osten sich nach dem Westen zu orientieren habe: „Innere Einigung ist ein Prozeß: Sie ist Wissens- und Wertevermittlung zugleich und insofern von vornherein nicht beschränkt auf die Bürger in den neuen Bundesländern. Innere Einigung muß inhaltliches Element aller politischen und staatsbürgerlichen Bildung und Erziehung sein. Sie ist zukunftsgerichtet und auch dann noch notwendig, wenn die Einzelfragen des Einigungsprozesses nicht mehr zu Debatte stehen.“ nuSr oweit die Theorie. Praktisch gab es aber von imAnfang an keine einheitlichen Voraussetzungen für die politische Bildung in Ost und West: weder materiell noch ideell, weder in Form der Einrichtungen, noch hinsichtlich eines den normativen Standards entsprechenden Personals. Die objektive Asymmetrie der Interessen, Wahrnehmungen, Deutungen und Möglichkeiten mochte wohl durch Großzügigkeit und Einfühlungsvermögen vieler westlicher Akteure im Osten gemildert werden; sie konnte aber, nüchtern betrachtet, nur zu der Erkenntnis führen, daß die Entwicklung im Osten langfristig nicht ohne die Herausbildung eigener Träger und Institutionen vorankommen würde. „Innere Einheit“ als Ergebnis der Vielfalt und Eigenheiten ihrer Träger zu denken machte zwar logisch keine Schwierigkeiten, stellte aber politisch vor die Frage, wie weit man gewillt war, den Definitionsrahmen für diese innere Einheit zu stecken.

Unumstritten ist ein weitgesteckter Rahmen im Hinblick auf die Wiederbelebung von ostdeutschen Regionalkulturen, Landesidentitäten und Folkloren. Als leicht anschlußfähig erwiesen sich überdies die auf Konsum und Massenkultur orientierten Bedürfnisse im Osten, überwiegend schon aus der Zeit der DDR heraus. Die Wiederbelebung eigenständiger kultureller Szenen ostdeutscher Prägung -zum Beispiel in der Rockmusik und in der Literatur -stieß weniger im Verlagswesen als in den Medien auf Grenzen. In den Medien blieben überdies Ostdeutsche Beiträge auf die regionale Berichterstattung beschränkt. Ostdeutsche , Macher'und . Moderatoren sind bundesweit der Ausnahmefall. Authentische ostdeutsche Wirklichkeitsbearbeitung verflüchtigte sich somit teilweise in Subkulturen, in denen die eigene Vergangenheit zum Erfahrungsprivileg stilisiert und der Identitätsbewahrung dienstbar gemacht wird.

Das trifft noch stärker für die Politik als in der Kultur zu. Kulturell mag das Exotische noch marktfähig sein, politisch geht die Teilnahme Ostdeutscher an der öffentlichen Deutung der Verhältnisse lfeicht an das . Eingemachte West und kommt nur selten auf das Mindestniveau einer Quotierung. Das Fehlen authentischer ostdeutscher Beiträge führt im Ergebnis zu jenem geistig-politischen Vakuum, das dann beklagt wird, wenn anläßlich der Skandale ausländerfeindlicher Exzesse der Osten ins intellektuelle Blickfeld des Westens gerät. Ansonsten wird der Mangel an Beteiligung Ostdeutscher geflissentlich übersehen, etwa im Verlauf einer Reihe zentraler öffentlicher Debatten der letzten Jahre, wie z. B. zur Gedenkund Erinnerungspolitik (Goldhagen-Debatte, Wehrmachtsausstellung, Holocaustmemorial, Walser-Rede). Die Förderung von Foren für die verschiedenen ostdeutschen politischen und kulturellen Akteure ist eine dringende Aufgabe nicht zuletzt der politischen Bildung, um die Einbindung Ostdeutscher in die Diskurse über gesamtgesellschaftliche Fragen zu sichern.

Neun Jahre nach der deutschen Einheit müssen wir damit leben lernen, daß zwei immer noch unterschiedliche politische Kulturen Ost und West prägen. Der augenfälligste . Beitrag des Ostens ist die wieder im Bundestag vertretene PDS. Tatsächlich ist sie eine regional zwar beachtliche, bundes-politisch jedoch marginale Größe, die lediglich im Getümmel traditioneller westdeutscher parteipolitischer Abgrenzungsrituale in den Mittelpunkt der Bundespolitik rückt. Neu ist, daß sich diesmal die Wählerschaft nicht hat irritieren und abhalten lassen, die Regierung abzuwählen. Die PDS bleibt zwar unübersehbar, aber eher nur dort, wo sie ist -ein Teil der ostdeutschen politischen Realität.

Neben dieser Besonderheit des Wahlverhaltens gehören zur politischen Realität des Ostens bestimmte Strömungen und Wertedifferenzen, wie etwa Symptome einer fremdenfeindlichen Grund-strömung, Abstinenz gegenüber politischen Parteien und hohe Erwartungen an die soziale Verantwortung des Staates. Das Vertrauen der Ostdeutschen in die demokratischen Institutionen ist seit 1990 dramatisch gesunken. Trotz einer mehrheitlich betonten demokratischen Orientierung waren 1998 lediglich 13 Prozent mit der Demokratie zufrieden, 41 Prozent sind unzufrieden und 42 Prozent sind „teilweise zufrieden“. Entsprechend sahen sich 1998 lediglich 17 Prozent der Bürger in den neuen Ländern als vollwertige „Bundesbürger”, 11 Prozent wollten „am liebsten die DDR wiederhaben“, und 65 Prozent antworten auf die entsprechenden Fragen mit „weder/noch“ Tatsache ist also, daß sich die politischen Einstellungen im Osten keineswegs hin zu wachsendem Vertrauen in Demokratie, Rechtsstaat und geltende Wirtschaftsordnung entwickelt haben. Sowohl die Rückwendung eines Teils der Ostdeutschen zu sozialistischen Grundwerten als auch die Hinwendung eines anderen Teils zu nationalistisch motivierten Ressentiments sind Symptome einer gewachsenen Entfremdung, einer Gegenidentifikation zum öffentlich proklamierten Wertekonsens der Republik. Die massiven Integrationsprobleme der mittleren und älteren Generationen -zwei Drittel von ihnen durchlief eine berufliche Neuorientierung oder gar Arbeitslosigkeit -schienen die Verklärung verlorener realsozialistischer Besitzstände zu befördern. Nun taucht aber langfristig eine ganz andere Gefahr auf, die von Teilen der jungen Generation droht. Unter dem Eindruck der Deklassierung ihrer Eltern glaubten diese lernen zu müssen, ihre Ansprüche gegen diejenigen durchzusetzen, die in der Anrechtshierarchie unter ihnen stehen. Mangelndes Selbstwertgefühl, Orientierungsdefizite und Ungewißheiten bilden hier eine explosive Mischung von Gewaltbereitschaft und Intoleranz. Die Meinung, es gelte bis zur Vollendung der Einheit nur das Ab-und Aussterben der noch von der DDR geprägten Generationen abzuwarten, geht also in die Irre. Identifikation setzt Anerkennung voraus; ein Klima, in dem Menschen ihre Herkunft und Lebensleistung, ihren Gestaltungswillen und ihre Ansprüche an die Gesellschaft ernst nehmen und verantworten dürfen; in dem Selbstbewußtsein, Konfliktfähigkeit und Toleranz gedeihen. Dieses Klima zeichnet aber selten die öffentliche Wahrnehmung und Deutung der Probleme des Ostens aus. Ostdeutsche Realität macht in der Regel als deutscher Sonderfall Schlagzeilen; Extreme wie wuchernde Stasi und Mangelwirtschaft, Täter und Opfer, junge Nazis und alte Kommunisten prägen das öffentliche Bild und begünstigen gegenläufige Identifikationen und Vorurteile. Über die langfristigen Nachwirkungen der durch die Teilung und die Erfahrungen des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs im Osten entstandenen Einstellungen dürfte es keine Zweifel mehr geben. Die Frage ist, ob und wieviel „innere Einheit“ wir brauchen. Meine Antwort wäre: Wir brauchen nur soviel, daß die gewachsenen Unterschiede nicht die Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln und die Respektierung demokratischer Spielregeln unterminieren. Für die politische Bildung bedeutet das, daß sie über eine gewisse Grundlagenvermittlung hinaus vor allem auf den jeweiligen Kontext eingehen muß, um konkrete Probleme zu bearbeiten. Allein mit sogenannter positiver Wertevermittlung oder abstrakter Aufklärung über ökonomische, soziale und kulturelle Fragen sind die konkreten Erfahrungen bzw. Erwartungen der Menschen noch nicht getroffen. Statt dessen wird politische Bildung sich in das Feld der verschiedenen Interessen und Antworten begeben müssen, wozu gerade im Bereich der Erwachsenenbildung eine plurale, zielgruppen-orientierte Struktur unabdingbar ist. Praktisch bedeutet das, daß politische Bildung einen Vermittlungsprozeß mitgestaltet, eine Streitkultur einübt und die Möglichkeiten demokratischen Handelns zu erschließen hilft.

Politische Bildung steht immer dann in diesem Prozeß, wenn sie durch die öffentlichen Diskussionsangebote eines pluralistischen Spektrums freier Träger das Vorfeld einer demokratischen Kommunikationskultur schafft und die Einübung in politische Partizipation ermöglicht. Denn es ist der demokratische Prozeß selbst, die Befähigung zur Teilnahme an diesem, der den Schlüssel für ein neues Verständnis dessen bietet, was „innere Einheit“ heißt.

II. Politische Bildung jenseits der vergangenheitspolitischen Offensive im Osten

Thomas Meyer hatte 1991 in dieser Zeitschrift betont, daß der „Aufbau einer politischen Kultur der Demokratie -also die Übernahme ihrer Regeln, Chancen, Zumutungen und Grundwerte als Teil des persönlichen Selbstverständnisses -die Aufarbeitung der typischen Biographien in der Rückbesinnung auf die Geschichte des kommunistischen Systems in Deutschland voraussetzt. Dazu muß politische Bildung einen, vielleicht den entscheidenden Beitrag leisten.“ Vor einem Jahr stellte nun der Berliner Zeitgeschichtler Jürgen Kocka fest: „Nach mehr als vierzig Jahren getrennter Geschichte und sieben Jahren Wiedervereinigung treten im Geschichtsbewußtsein von Ost-und Westdeutschen tiefreichende Spaltungen zutage, besonders im Blick auf die Zeitgeschichte. Von einem gemeinsamen Bild der geteilten Geschichte sind wir weit entfernt.“

Die Bilanz ist also ernüchternd. Dabei eröffnete sich nach 1990 für die westdeutsche zeitgeschichtliche Forschung eine nie dagewesene Möglichkeit neuer wissenschaftlicher Karrieren und Instituts-gründungen im Osten. Zahllose Forschungsprojekte entstanden angesichts des Umstandes, sämtliche Akten des SBZ/DDR-Herrschaftsapparates von 1945 bis 1990 -soweit sie nicht westliche Interessen betrafen, wie die Akten des DDR-Außenministeriums und der Auslandsspionage -auf einmal in den Blick zu nehmen. Zwei Enquetekommissionen des Bundestages widmeten sich dem Thema. Von Ermittlungsbehörden über die Medien bis zu freien Initiativen und Vereinen zieht sich die Spur von geschichtlicher Aufarbeitung der DDR. Die „Gauck-Behörde“ (für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes) wurde zur bislang größten Bundesbehörde mit Sitz auf ostdeutschem Boden. Ihre Dienste und Forschungen läßt sich der Bund jährlich soviel kosten wie die Zuwendungen für die Industrieforschung in Ostdeutschland.

Was immer diesen Aufwand auslöste, man wird sich nach zunächst unabweislichem gesellschaftlichem Interesse der Frage stellen müssen, welchem Ziel diese Asymmetrie kritischer Geschichtsaufarbeitung innerhalb einer Nation dient und ob das Ergebnis den Aufwand rechtfertigte. Der Eindruck einseitiger historischer Haftung des Ostens erzeugt jedenfalls in wachsendem Maße Ignoranz und Abwehr nicht nur der potentiell Belasteten, sondern inzwischen der allgemeinen Öffentlichkeit. Wenn aber dies das Ergebnis eines -wie Lutz Niethammer meint -„weltgeschichtlich einzigartigen“ Vorgehens ist, sollten kritische Nachfragen erlaubt sein, wenigstens die nach dem Verhältnis von Aufwand und Nutzen Die Rede vom „posthumen Overkill des SED-Regimes“ signalisiert eine Überfütterung mit geschichtspolitischen Lektionen, die wegen ihrer Fixierung auf die Herrschafts-, Repressions-und Oppositionsgeschichte der DDR nur selten etwas mit der Erfahrungswelt und den Erinnerungen der „normalen“ DDR-Bürger zu tun haben. Das erzeugt nicht selten Überdruß, schlimmer noch: wachsendes Desinteresse.

Diejenigen, die das Regime hinter sich gelassen haben, interessieren sich verständlicherweise eher dafür, was ihnen die neuen Verhältnisse an Perspektiven bieten. Das naheliegende Argument, ein solches Verhalten sei vergleichbar der vergangenheitspolitischen Verweigerungshaltung der Deutschen in der Nachkriegsperiode, mag in erster Näherung stimmen. Wer aber die Lehren aus dem einstigen Versagen nun auf die Ostdeutschen anwenden, die Unterlassungssünden im Umgang mit der NS-Diktatur nicht noch einmal wiederholen und statt dessen am Erbe der SED-Diktatur nachholen und somit wiedergutmachen will, was man andernorts versäumt hat, endet in einer weiteren Sackgasse. So entsteht nämlich der Eindruck, es werde an den Ostdeutschen ein Exempel statuiert und Kompensation geleistet für das, was andere unterlassen haben. Auch deshalb wird die These, man habe es bei der DDR mit einer dem Dritten Reich vergleichbaren totalitären Diktatur zu tun, die theoretisch erlaubt sein mag, praktisch als ungerechte moralische Doppelbelastung empfunden und zurückgewiesen.

Man muß sich noch einmal den Ausgangspunkt vorstellen: Vor fast zehn Jahren schickte die DDR-Bevölkerung die SED in die Wüste und entschied sich für eine freiheitlich-demokratische Staatsform. Die Zustimmung zur „Wiedervereinigung“ verhieß ein Wiederanknüpfen an eine offensichtlich verpaßte, glücklichere Geschichte nach dem gemeinsam verlorenen Krieg. Man wollte dem Legende gewordenen Konzept des westdeutschen Wiederaufbaus beitreten, einer Wiederholung des „Wirtschaftswunders“ auf ostdeutschem Boden, um -wie im Westen gehabt -in 10 bis 15 Jahren aus dem Gröbsten heraus zu sein. Nicht zuletzt versprach diese Lösung auch kollektive Entlastung: So wie nach 1945 beinhaltete die Einwilligung in die bedingungslose Kapitulation, in den Status des Besiegten, zugleich die psychologische Hintertür der Selbstwahrnehmung als Opfer der Geschichte und mit Blick auf den glücklichen Westen in einem gewissen Sinne auch die Anspruchsberechtigung auf ein besseres Leben.

Im Allgemeinen schien das Zugutehalten des geschichtlichen Opfers die Hoffnung auf Zuwendung zu bestätigen. Individuell aber mußte man die Erfahrung machen, daß die eigene Geschichte und Herkunft, die beruflichen Werdegänge und Abschlüsse keine wirkliche Empfehlung waren. Die Rede von den strukturellen Deformationen, die die Ostdeutschen durch die Diktatur erfahren haben mögen, der vergangenheitspolitische, generalisierende Fokus auf Repression, Denunziation und Indoktrination fielen nun als persönliche Beschädigung auf jeden einzelnen zurück, der sich etwa einem Bewerbungsgespräch stellte. Die offizielle Geschichte wurde mehr und mehr zur persönlichen Belastung und daher -wenn möglich -, gemieden. Unfreiwillig einte sie die Ostdeutschen in der Meinung, nur sie selbst könnten beurteilen, was es mit ihr auf sich habe -vom Täter bis zum Opfer. Jürgen Fuchs, einer der Aktivisten und Sprecher der Opferseite, äußerte in einer Anhörung der Enquetekommission des Bundestages, ihm sei klar geworden, daß sie, der Definitionskompetenz über die eigene Biographie beraubt, „verloren“ hätten Die notwendige weitere Beschäftigung mit der ostdeutschen Vergangenheit -jenseits ihrer in kurzer Zeit abgeschlossenen juristischen oder strafrechtlichen Behandlung -bedarf einer Neubesinnung und -Orientierung. Man wird künftig nur dann jene Blockaden wieder abbauen können, wenn historische Aufklärung auf Verständnis zielt und Verständigung bewirkt. Generell muß daher gelten, daß nur in einem Klima der Respektierung unterschiedlicher Erfahrungen und politischer Kontexte die Aufklärung geschichtlicher Verantwortung und moralisch-politischen Versagens erfolgreich sein kann. Die politische Bildung im Osten und im Westen Deutschlands steht dabei vor einem gemeinsamen Problem: Das faktische Ende der DDR bedeutet die Herausforderung, ein Ost und West verbindendes, aber auch unterscheidendes Geschichtsbild über die Zeit zwischen 1945 und 1990 zu vermitteln. Sorgfalt und Einfühlungsvermögen in die jeweiligen geschichtlichen Umstände sind dabei nicht bloß eine Frage des fairen Umgangs mit der „Geschichte der Mitlebenden“ (Hans Rothfels), sondern eine Voraussetzung dafür, daß neue Einsichten zum Bestandteil der gemeinsamen Erinnerungen werden können.

Dietrich Mühlberg hat darauf hingewiesen, daß die Nation zu allen Zeiten der Teilung eine Kategorie kulturgeschichtlicher Art gewesen sei, ein Ausdruck von Zusammengehörigkeit der deutschen Teilgesellschaften und eine Spezifik der System-konkurrenz auf deutschem Boden Die Teilhabe an einer übergreifenden nationalen Geschichte im sogenannten kulturellen Erbe, in den Begriffen Nationalkultur wie Kulturnation habe das Selbstverständnis der östlichen wie westlichen Bildungseliten immer geprägt. Um zu verstehen, warum es 1990 so selbstverständlich erschien zu behaupten, es werde zusammenwachsen, was zusammengehört, müsse der Spur jener in allen Schichten verbliebenen oder gepflegten Bestände gemeinsamer kultureller Identitäten oder Wechselbeziehungen nachgegangen werden. Um aber auch die Unterschiede, das jeweils Besondere zu verstehen, bedürfe es jedoch mehr, als vor allem dasjenige wiederzugeben, was die Dokumente der Herrschaft, die Akten ihrer Bürokraten verlautbarten.

Da die Beteiligten in Ost und West zum größten Teil noch da sind, müssen sie nur gehört, zur Kenntnis genommen werden. Auch dieser Aufgabe sollte sich die politische Bildung stellen, wenn sie ihren Beitrag für die deutsche Vereinigung leisten will. Das heißt, der Grundsatz vom Fortbestand der einen Nation über die Teilung hinweg schließt die verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen ein und hat es nicht nötig, sie einem engen Identitätskonstrukt zu unterwerfen. Als Gradmesser für die „innere Einheit“ kann gelten, was wir als Erinne-rung oder Tradition schließlich auch in der Verschiedenheit als zusammengehörig anerkennen.

III. Eine neue Tagesordnung für die politische Bildung

Die tiefgreifenden Auswirkungen gesellschaftlichen Wandels seit 1990 im ganzen Land, die eine Weile lediglich als „Einigungskrise“ wahrgenommen wurden, haben die Notwendigkeit eines umfassenden Wandels ins Bewußtsein gebracht, die auch die demokratischen Institutionen und nicht zuletzt die politische Bildung vor neue Legitimationsfragen stellt. Zweifellos ist es die Politik selbst, die herausgefordert ist, auf diese für das demokratische Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland neue Situation Antworten zu finden. Ob sie es kann, wird aber nicht nur von der soge-nannten „politischen Klasse“, ihrer Kompetenz und ihrem Tun abhängen. Politische Antworten auf Krisen bzw. Zeiten strukturellen Wandels setzen in einer Demokratie die Zustimmung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger voraus. Die gegenwärtigen zentralen gesellschaftlichen Problemfelder verlangen daher auch nach neuen Ansätzen für die Vermittlung von Medienkompetenz, Umweltbildung, interkulturellem Dialog sowie generell von Orientierungsfähigkeit in einer sich verändernden Arbeitsgesellschaft. Die neuen, durchaus konfliktgeprägten Wechselbeziehungen zwischen globaler Realität und nationaler Identität, das Aufleben gewaltsamer innergesellschaftlicher Konflikte haben -u. a. angesichts von fremdenfeindlichen Übergriffen -auch Aktualität bei uns. Der beschleunigte technologische Wandel, insbesondere das Vordringen neuer elektronischer Medien und deren globale Vernetzung, beeinflußt das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Welche Anforderungen stellt dieser Prozeß an die Weiterentwicklung des freiheitlich-demokratischen Systems? Wie lassen sich diese stärker gewordenen Einflüsse internationaler Entwicklungen, globaler ökologischer und ökonomischer Herausforderungen auf die Ebene politischer Diskurse und Handlungsoptionen bringen, damit sie für den Einzelnen überschaubar und zugänglich werden? Welche Bereiche verlangen nach einer Neuorientierung unseres politischen Wissens, unseres bisherigen politischen Orientierungsrahmens? In ihrem „Münchener Manifest“ vom 26. Mai 1997 mahnen die Zentralen für politische Bildung eine verstärkte Hinwendung der politischen Bildungsarbeit zu den globalen Zukunftsaufgaben angesichts der mit dem weltweiten Wandel einhergehenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Umbrüche an. Zuvor hatte im „Darmstädter Appell“ eine Initiativgruppe von Politologen und Vertretern der politischen Bildungsorganisationen festgestellt und gefordert: „Der Zustand und die gegenwärtige Entwicklung der politischen Bildung an Schulen sowie ihre wissenschaftliche Fundierung in den Hochschulen drohen zu einer Gefahr für Demokratie und Staat zu werden. Der Standort Deutschlands in der Welt ist nicht nur vom wissenschaftlich-technischen Erfolg, sondern ebenso von der Kontinuität und dem Ausbau der sozial-und rechtsstaatlichen Demokratie abhängig . . . Gerade in einer Zeit, in der schwierige Probleme die Grenzen der Problemlösungsfähigkeit auch demokratischer Politik erahnen lassen und autoritäre Scheinlösungen Anziehungskraft gewinnen, bedarf politische Bildungsarbeit verstärkter Unterstützung und neuer Entwicklungsimpulse.“

Das betrifft nicht nur Schulen und Hochschulen. Immer stärkere Bedeutung haben angesichts von Informationsüberfluß und Flexibilitätszwängen Erwachsenenbildungsangebote, die Orientierung geben und Informationen verarbeiten können. Dem Ausbau und der Förderung von freien Trägern politischer Erwachsenenbildung muß daher weiterhin Aufmerksamkeit gelten. Wegen der Knappheit öffentlicher Mittel besteht gegenwärtig die Gefahr, daß die staatliche Förderung immer stärker auf aktuell-politische Interventionsaufgaben reduziert, auf die Versorgung der am stärksten etablierten Träger beschränkt und das Angebot durch immer engere Förderkonditionen selektiert wird. Ohne einen neuen Konsens in der Sache, ohne eine nach neuen Kriterien reformierte öffentliche Förderungspraxis könnten der Pluralismus der Träger sowie der Angebote politischer Bildung und damit deren gesellschaftliche Akzeptanz allmählich verschwinden.

Dabei mangelt es durchaus nicht an Nachfrage und politischem Interesse, wie zuletzt die hohe Wahlbeteiligung bezeugte. Die sich verändernden Beteiligungsformen signalisieren einen Bedarf an größerer Offenheit und Zugangsfreiheit, an befristeten und zielorientierten Engagements, an bürgernahen Organisationsformen -ein Potential, das der Soziologe Helmut Klages als eine „riesige schlafende Ressource“ bezeichnet Für Thomas Leif ist die „Notwendigkeit der Vitalisierung der Bürgergesellschaft“ vor allem eine Frage danach, wie ein „noch längst nicht erschlossenes Reservoir aktiver Bürgerschaft“ freigesetzt werden kann: „Eine aktive Bürgergesellschaft, die sich einer starken Demokratie verpflichtet fühlt, ist allerdings auf die motivierende Akzeptanz durch den etablierten Politikbetrieb angewiesen. Diese Unterstützung für den gesamten . Dritten Sektor 1 zwischen Markt und Staat darf jedoch nicht länger nur in wohlwollenden Reden Vorkommen. Künftig muß die Entwicklung einer sozialen Infrastruktur für Initiativen, kommunale Agenturen, Informations-und Kontaktstellen vom Staat aktiv gefördert werden. Nur mit Hilfe einer solchen Infrastruktur können sich die vorhandenen Kräfte der Selbstorganisation und Selbstverwaltung in der Gesellschaft entfalten.“

Das vorhandene breite Netzwerk freier Träger der politischen Bildung ist eine bereits existierende Form einer in der Bundesrepublik einzigartigen demokratischen Infrastruktur. Die Träger der politischen Erwachsenenbildung können mit ihren Möglichkeiten ihren Beitrag zur politischen Willensbildung leisten, indem sie praxis-oder problembezogene politische Diskurse unter Akteuren und Betroffenen organisieren und als Einheit von politischer Bildung, Vermittlung und Beratung realisieren. Dabei vermitteln sie Organisationsund Handlungskompetenz, sind Orte kultureller Begegnung, sozialer Identifikation und politischer Konsenserfahrung, kurz: Räume der Erfahrung des Politischen, der Praxis der freien Verständigung über gemeinsame Belange.

Solche Räume -Orte der politischen Kommunikation -braucht es vielleicht nicht zum politischen Wechsel. Für die Annäherung von Bürgerwillen und Regierungshandeln, der zum notwendigen gesellschaftlichem Wandel führt, sind sie unerläßlich. Wenn man den Wechsel von 1998 als einen Zugewinn an deutscher Einheit interpretiert, dann kommt es nach diesem „Wandel durch Annäherung“ allerdings darauf an, die „Annäherung durch Wandel“ zu verwirklichen. Für das Gelingen des deutsch-deutschen Integrationsprozesses ist es jetzt an der Zeit, die Teilhabe der Ostdeutschen in ihrer Verantwortung für das Ganze neu zu fassen und intensiver zu ermöglichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Deutschen Bundestag am 10. 12. 1991, Drucksache 12/1773.

  2. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Doris Odendahl, Wolf-Michael Catenhusen, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD vom 27. 5. 1998, Drucksache 13/10810, S. 2.

  3. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1997. Drucksache 13/8450 vom 1. 9. 1997, S. 17.

  4. Vgl. Leben 97/98. Sozialreport II. Quartal 1998. Neue Bundesländer, Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg, Berlin 1998.

  5. Thomas Meyer. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Politische Bildung im vereinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37-38/91, S. 13.

  6. Jürgen Kocka, Geteilte Erinnerungen. Zweierlei Geschichtsbewußtsein im vereinten Deutschland, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 43 (1998) 1, S. 104.

  7. Vgl. dazu Lutz Niethammer am 31. 10. 1998 auf einer Tagung in Potsdam: „Insgesamt kann man sagen, daß noch nie in so kurzer Zeit und in einem so großen Umfang der Geschichte eines so kleinen Landes wie der DDR (und auch noch überwiegend von außen) soviel wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. In dieser Hinsicht ist die DDR unzweifelhaft posthum doch noch Weltspitze geworden, sozusagen tonnenideologisch." Niet-hammer äußerte schließlich die Befürchtung, „daß der ausgedehnte und überpolitisierte Apparat, der zur Aufklärung über die Geschichte der DDR aufgebaut worden ist, das Interesse des Publikums bald in ähnlicher Weise verstopft haben wird, wie es seinem Vorgänger in der DDR bereits gelungen war“. Zit. nach unveröff. Manuskript; dessen Publikation erscheint Frühjahr 1999 unter dem Titel: „Deutsche Vergangenheiten -eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte“, hrsg. von Christoph Kleßmann. Hans-Jürgen Misseiwitz und Günter Wiehert.

  8. Vgl. Jürgen Fuchs, Öffentliche Anhörung „Zur Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart“, in: Materialien der Enquetekommission „Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band IX: Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland, Frankfurt am Main 1995, S. 701.

  9. Vgl. Dietrich Mühlberg, Überlegungen zu einer Kultur-geschichte der DDR, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 73 f.

  10. Vgl. Demokratie braucht politische Bildung. „Münchner Manifest“ zum Auftrag der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung vom 26. 5. 1997, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/97, S. 36-39.

  11. „Darmstädter Appell“, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 47/96, S. 37 f.

  12. Vgl. Helmut Klages, Engagement und Engagementpotential in Deutschland, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 38/98, S. 29-38.

  13. Thomas Leif, Unkonventionelle Beteiligungsformen und die Notwendigkeit der Vitalisierung der Bürgergesellschaft, in: ebd., S. 16. Anm.der Redaktion: Zum „Dritten Sektor“ -den Tätigkeitsfeldern zwischen Markt und Staat -vgl. auch die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/99.

Weitere Inhalte

Hans-Jürgen Misseiwitz, Dr. rer. nat., geb. 1950; seit 1991 Leiter der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung; bis 1981 als Biologe in der Forschung tätig, dann Theologiestudium und im kirchlichen Dienst; 1990 Eintritt in die aktive Politik, Mitglied der Volkskammer und Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium der letzten DDR-Regierung; Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Veröffentlichung u. a.: Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen, Bonn 1995; zahlreiche Beiträge zu Fragen der politischen Bildung und zum Umgang mit der DDR-Geschichte.