Über wenige Fragen ist in den vergangenen Jahrzehnten leidenschaftlicher und ausdauernder gestritten worden als über die nach der Legitimität der Abtreibung. Was für die einen nichts als eine Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung ist, erscheint den anderen als ein permanenter bethlehemischer Kindermord. Auch mehrfache Gesetzesänderungen und nachfolgende Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben diesen Streit nicht entschärfen, geschweige denn beilegen können. Und nichts deutet darauf hin, daß sich an dieser Situation in Zukunft etwas ändern könnte. Wir werden weiterhin damit leben müssen, daß dieselbe Handlung den einen als Mord, den anderen als Akt legitimer Selbstbestimmung gilt.
Schon vor knapp zwei Jahrzehnten hat der Moral-philosoph Alasdair Maclntyre diese divergierende Bewertung der Abtreibung in einem vieldiskutierten Buch als Indiz für eine tiefe moralische Krise der modernen Gesellschaft angeführt. Moralische Äußerungen dienen nach Macintyres Beobachtung heute oft der Artikulation von Meinungsverschiedenheiten. Das Erstaunlichste an den damit verbundenen Debatten sieht er darin, daß sie endlos sind. „Endlos“ nicht nur in dem Sinne, daß sie dauern und dauern, sondern daß sie offenbar zu keinem Ende geführt werden können: „In unserer Kultur scheint es keinen vernünftigen Weg zu geben, eine moralische Übereinstimmung zu erzielen.“
Tatsächlich ist es leicht, gerade im Bereich der Medizin weitere Beispiele für solche anhaltenden und augenscheinlich unlösbaren öffentlichen Debatten aufzuzählen. Es genügt, die Stichworte „Sterbehilfe“, „Euthanasie“, „Organtransplantation“ oder „Hirntod“ zu nennen. An diesen Beispielen wird zugleich deutlich, warum uns Meinungsverschiedenheiten im Bereich des medizinischen Handelns oft tiefer unter die Haut gehen als andere Kontroversen: Hier geht es um Leben und Tod. Das Engagement und die Leidenschaft, mit der die Auseinandersetzungen hier geführt werden, kann daher kaum überraschen. Was könnte bestürzender sein als die Aussicht, daß ein Konsens über Fragen von Leben und Tod auch in Zukunft nicht erreichbar sein wird? Was, wenn nicht diese Situation, verdiente den Namen einer „moralischen Krise“? Und schließlich: Kann eine Gesellschaft überhaupt dauerhaft und friedlich existieren, die offenkundig unfähig ist, sich in derart grundlegenden und existentiell wichtigen Fragen zu einigen?
I. Eine babylonische Moralverwirrung?
Daß mit diesen Fragen ein ernstes Problem angesprochen wird, ist schwerlich zu bestreiten: Es stellt ein ernstes Problem für das tägliche Zusammenleben von Menschen divergierender moralischer Überzeugungen, für die Politik und das Recht und die Moralphilosophie dar. Zugleich aber sollte der dramatisierende Gestus dieser Fragen nicht über die simple Tatsache hinwegtäuschen, daß wir ohne Konsens über die genannten „Fragen von Leben und Tod“ leben, und dies bereits seit geraumer Zeit. Offensichtlich haben die moralischen Kontroversen über die Abtreibung, über die Sterbehilfe oder den Hirntod bislang ebensowenig ins gesellschaftliche Chaos geführt wie die zahllosen Kontroversen in der Sozial-, Energie-und Außenpolitik; sie haben das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft oft und nachhaltig strapaziert, aber nicht unmöglich gemacht. Auch kann von einem Zusammenbruch der moralischen Kommunikation nicht ernsthaft die Rede sein: Eine babylonische Moralverwirrung, die der Verständigung zwischen den divergierenden Positionen den Boden entzöge, ist nirgends zu beobachten. Wer einen solchen Zusammenbruch behauptet, dramatisiert die sich tatsächlich abspielenden Auseinandersetzungen und übersieht, daß auch die Artikulation von Differenzen eine (wenngleich nicht immer bequeme) Form der Kommunikation ist. Auch zeigt uns ein nüchterner Blick auf die Realität keineswegs das Bild einer durchgängigen und tiefen moralischen Zerklüftung. Alles in allem dürfte es in der modernen Gesellschaft weit mehrKonsens als Dissens geben. Dies gilt auch für den Bereich der Medizin und ihre ethische Dimension. Sofern man eine quantitative Betrachtung überhaupt anstellen kann, gibt es über 99 Prozent des medizinisch relevanten Handelns keine kontroversen öffentlichen Debatten. Der Eindruck einer Dominanz von Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiet ist das Resultat einer Art optischer Täuschung. Da wir das medizinische Handeln nur ausschnittweise „direkt“ wahrnehmen; da wir es überwiegend durch die Berichterstattung in den Medien, durch die parlamentarischen Debatten und durch die einschlägige Literatur vermittelt bekommen, wird unser Blick einseitig auf die Kontroversen und Auseinandersetzungen gelenkt. Denn „natürlicherweise“ beschäftigen sich die Medienberichterstattung, das Parlament oder die Literatur bestenfalls am Rande mit dem, was unstrittig, normal und selbstverständlich ist; ihr Fokus liegt auf den problematischen und kontroversen Fragen. Daß Hausärzte Blutdruck messen und Medikamente verschreiben, daß Chirurgen Knochenfrakturen richten und Tumoren entfernen wird in der Regel nicht zum Gegenstand von Fernsehsendungen, von parlamentarischen Debatten oder von Aufsätzen in Fachzeitschriften; wohl aber die erstmalige Zeugung eines „Retortenbabies“, ein illegaler Fall von Sterbehilfe oder ein neues Gesetz zur Organtransplantation. Diese Konzentration auf die neuen, schwierigen und kontroversen Fragen ist nichts, das zu kritisieren oder zu beklagen wäre. Aber sie darf die wirklichen Proportionen zwischen Konsens und Dissens nicht verstellen. Hinzu kommt, daß nicht alle Kontroversen ihren Ursprung in moralischen Differenzen haben. In vielen Fällen gehen sie auf unterschiedliche Beurteilungen der empirischen Sachlage zurück. Differenzen in deren Beurteilung treten besonders leicht dort auf, wo die relevanten Fakten in der Zukunft liegen. Dies ist bei der Einführung neuer biomedizinischer Technologien der Fall, und es kann nicht verwundern, daß bei der Frage nach den Folgen dieser Einführung Meinungsverschiedenheiten auftreten. Selbst wenn alle Beteiligten sich darüber einig sind, daß das Eintreten einer bestimmten Folge schlecht und ein Grund für die Ablehnung der betreffenden Technologie wäre, können sie stark abweichende Einschätzungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Folge haben. Es besteht dann ein moralischer Konsens bei empirischem Dissens, der aber als moralischer Dissens wahrgenommen wird. In der bioethischen Diskussion treten Differenzen dieser Art oft im Zusammenhang mit dem „slippery-slope-Argument“ auf. So wird in der Debatte über die Sterbehilfe oft die Befürchtung vertreten, daß eine Zulassung von aktiven Tötungshandlungen unweigerlich zu einem Verlust von Vertrauen in die ärztliche Profession, zu einer generellen Relativierung des Lebensschutzes und am Ende zu einer schrankenlosen Beseitigung von Kranken und Behinderten führen werde. Es liegt auf der Hand, daß dieses Argument zu einer strikten Ablehnung jeglicher Form von Sterbehilfe führen muß, wenn man es für empirisch zutreffend hält. Auch diejenigen, die eine Sterbehilfe in begrenzten und klar definierten Fällen für zulässig halten, würden die befürchtete Entgrenzung von Tötungshandlungen ablehnen; insoweit besteht daher kein Dissens zu den Gegnern jeglicher Sterbehilfe. Der Dissens besteht darin, daß sie die befürchtete Entgrenzung für nicht zwingend und (die Stabilität demokratischer Verhältnisse vorausgesetzt) nicht einmal für wahrscheinlich halten. Zur Begründung können sie auf Beispiele früherer Gesellschaften verweisen, in denen die Tötung kranker oder behinderter Neugeborener zulässig war, ohne daß diese -über Jahrhunderte hinweg geübte -Praxis schrittweise ins Uferlose ausgeweitet worden wäre. Wenn sich die beiden Parteien in der zentralen moralischen Frage aber einig sind (denn beide lehnen eine extensive Tötungspraxis ab), wenn sich ihr Dissens auf Beurteilung und Gewichtung der relevanten Tatsachen und historischen Erfahrungen bezieht, dann kann ihre Kontroverse nicht als Indiz für eine moralische Krise gewertet werden. Es bleibt also festzuhalten, daß wir erstens mit dem Dissens leben und daß von einem Zusammenbruch der moralischen Verständigung keine Rede sein kann; daß wir zweitens nicht unter den Bedingungen eines totalen moralischen Dissenses leben, daß der Konsens den Dissens bei weitem überwiegt; und daß drittens nicht aller Dissens moralischer Natur ist. Doch diese notwendige Relativierung darf natürlich nicht bis zur Leugnung von Kontroversen und Auseinandersetzungen getrieben werden. Wenngleich die Vision einer babylonischen Moralverwirrung übertrieben ist, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß in modernen Gesellschaften in wichtigen Fragen -darunter auch in Fragen von Leben und Tod -kein Konsens besteht.
II. Kann die Bioethik helfen?
Eine erste Möglichkeit der Reaktion auf diese Lage könnte in einer Strategie des „Aussitzens 'bestehen. Wenn wir -seit Jahrzehnten -mit demDissens leben, dann besteht möglicherweise gar kein Grund für das Bemühen um seine Beseitigung. Kann man nicht darauf hoffen, daß die erregten Kontroversen mit der Zeit „von selbst“ abklingen und schließlich ganz verschwinden? Tatsächlich kennt die Geschichte der Medizin und der Medizinethik eine Reihe von Beispielen für ein solches Verschwinden. Eher kurios mutet es heute an, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts schwere Bedenken gegen die Einführung der Anästhesie in der Geburtshilfe vorgebracht wurden: In der Bibel spreche der Herr zum Weib „Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären“ (Gen. 3, 16); die Linderung oder Beseitigung der Geburtsschmerzen widerspreche daher der göttlichen Naturordnung. Jüngere Beispiele für ein solches Abklingen von moralischen Diskussionen über medizinische Innovationen bieten die Anti-Baby-Pille und die Invitro-Befruchtung. Die Gründe für ein solches Abklingen sind vielfältig. Sie liegen zum einen in der Klärung von zunächst strittigen Sachfragen: Führt die Anwendung der „Pille“ zu einer schrankenlosen Promiskuität? Führt die In-vitro-Befruchtung zu einer umfassenden Technisierung der menschlichen Fortpflanzung? Bestätigt haben sich solche Befürchtungen nicht. Zum zweiten tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Medizintechnische Innovationen berühren uns tiefer und nachhaltiger als andere Neuerungen, gerade wenn sie den Anfang oder das Ende des menschlichen Lebens betreffen. Sie tangieren unser biologisches und kulturelles Selbstverständnis und werden daher häufig als eine moralische Provokation wahrgenommen; erst nach einem längeren Prozeß der Gewöhnung werden sie akzeptiert und assimiliert. Doch sollten solche Beispiele nicht zu der Illusion verleiten, daß sich mit der Zeit alle Dissense in Konsense verwandeln werden. Zum einen gibt es Gegenbeispiele; man denke an die Abtreibung. Zum anderen ist zu bedenken, daß wir auch in Zukunft mit biotechnologischen Innovationen konfrontiert sein werden, die starke Herausforderungen für unser moralisches Selbstverständnis darstellen werden (z. B. die Möglichkeit der Klonierung von Menschen). Selbst wenn ältere Kontroversen abklingen, werden daher stets neue hinzukommen. Und schließlich ist es auch keineswegs ausgeschlossen, daß gefundene Konsense angesichts neuer Erfahrungen wieder in Frage gestellt werden; die Kontroverse um das Hirntod-Kriterium nach dem „Erlanger Fall“ hat dies gezeigt. Auf das Aussitzen oder die „Spontanheilung“ von moralischen Kontroversen zu vertrauen wäre daher keine gute Strategie. Wir können uns die aktive Bearbeitung von Dissensen nicht ersparen.
Eine solche aktive Bearbeitung schließt das Bemühen ein, die in solchen Kontroversen verwandten Begriffe zu klären und zu definieren, die von den verschiedenen Parteien vorgebrachten Gründe zu analysieren und zu gewichten sowie die (oft impliziten) Voraussetzungen und (verborgenen) Implikationen divergierender Überzeugungen und Theorien offenzulegen. Man kann hoffen, durch Klärungen dieser Art Mißverständnisse auszuräumen, falschen Argumenten den Boden zu entziehen und damit zur rationalen Beilegung von Kontroversen beizutragen. So ist es sicher nicht gleichgültig, ob ein Dissens auf divergierenden moralischen Überzeugungen beruht oder auf unterschiedlichen Einschätzungen der empirischen Sachlage; im einen Fall wird man andere Wege zur Lösung des Konflikts einschlagen müssen als im anderen. In anderen Fällen trägt die Mehrdeutigkeit von Begriffen zur Entstehung oder Verhärtung von moralischen Auseinandersetzungen bei, so daß die Einführung von Unterscheidungen und die Präzisierung der Terminologie zur Voraussetzung für ihre Beilegung wird. Kurzum: Mehr Rationalität in der moralischen Auseinandersetzung ist ein Weg -und vielleicht sogar der Weg -zu mehr Konsens in Fragen des medizinischen Handelns.
In jedem Fall war diese Überzeugung von Beginn an grundlegend für die Bioethik. Sie entstand in den siebziger Jahren als eine philosophische Reaktion auf die technische Revolutionierung des medizinischen Handelns unter den Bedingungen eines tiefen Wertewandels. Die traditionelle ärztliche Ethik gab keine hinreichende Orientierung mehr; neue Ansätze waren notwendig geworden, um die neuen Probleme zu lösen. Die Bioethik bildet daher keine neue und einheitliche „Richtung“ des ethischen Denkens, sondern muß als eine Vielfalt von Bemühungen begriffen werden, die in einem bestimmten Bereich des menschlichen Handelns auftretenden moralischen Probleme zu durchdenken und zu lösen. Sie kann als der systematisch betriebene Versuch angesehen werden, durch rationale Analyse die Basis für die Lösung von moralischen Kontroversen zu schaffen und durch Argumente zur Erzeugung von Konsens in Fragen des medizinischen Handelns beizutragen.
Dieser starke Bezug auf Konsensbildung kommt besonders in jenen Teilen der Bioethik zum Tragen, die man die „institutionalisierte Bioethik“ nennen kann. Damit sind jene Aktivitäten gemeint, die über den Rahmen der akademischenLehre und Forschung hinausreichen und sich in Ethik-Kommissionen und Beratungsgremien verschiedenster Art vollziehen. Auftrag und Ziel solcher Kommissionen oder Gremien ist die Erarbeitung von Stellungnahmen zu konkreten Problemen, von Empfehlungen für die Gesetzgebung oder von Richtlinien für die medizinische Praxis. Typischerweise sind in ihnen die Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Weltanschauungen und Professionen vertreten; sie sollen ein Spielgelbild der entsprechenden gesellschaftlichen Kräfte bilden, so daß der (innere) Konsens, den solche Kommissionen und Gremien im Idealfall erreichen, als Basis und Vorwegnahme eines die ganze Gesellschaft umfassenden Konsenses verstanden werden kann. Auch die theoretischen Konzepte und methodischen Strategien, die von der eher „akademisch-philosophischen Bioethik“ entwickelt wurden, lassen sich als Verfahren der Konsensbildung deuten. Dies gilt etwa für jenen sehr einflußreichen Ansatz, der den Prinzipien der Autonomie, der Nichtschädigung, der Wohlfahrt und der Gerechtigkeit eine tragende Rolle zuweist. Im Hinblick auf solche „Prinzipien mittleren Allgemeinheitsgrades“ scheint man noch am ehesten annehmen zu können, daß sie auch für ansonsten divergierende ethische Positionen akzeptabel sind, daß sie den Kern einer gemeinsamen „Minimalmoral“ bilden und damit als Basis der Verständigung dienen können.
So weit das Programm. Doch wie steht es um den tatsächlichen Erfolg? Hat die Bioethik zur Konsensbildung beigetragen? Die Antwort fällt zwiespältig aus. Auf der einen Seite hat sie (vor allem in ihren institutionalisierten Teilen) sicher in vielen Einzelfragen zur Lösung von Differenzen und zur Bildung von Konsens beigetragen. Ebenso sicher ist jedoch auf der anderen Seite, daß die zentralen Streitfragen durch sie nicht geschlichtet wurden. Von einer generellen Konvergenz der Überzeugungen kann keine Rede sein, und alle Hoffnungen, durch rationale Argumentation das Problem der Abtreibung, der Sterbehilfe oder des Hirntodes lösen zu können, haben sich als naiv erwiesen. Die Bäume des Konsenses wachsen eben nicht in den Himmel, und daran vermag auch die Bioethik nichts zu ändern. Konsens und Dissens liegen bisweilen nahe beieinander, und was als eine Übereinstimmung in der einen Hinsicht angesehen werden kann, erweist sich in anderer Hinsicht als Quelle von Kontroversen. Ein Beispiel dafür bietet die „Bioethik-Konvention“ des Europarates von 1997. Sie kann als ein Beleg dafür angeführt werden, daß Konsense über schwierige bioethische Fragen auf internationaler Ebene möglich sind, auch wenn dies nur durch Kompromisse und durch das Ausklammern strittiger Fragen möglich war. Daß ein solcher diplomatischer Konsens jedoch keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, zeigen die starken Vorbehalte, die vor allem in Deutschland von seiten einiger Gruppen gegen diese Konvention artikuliert wurden und werden. Was einerseits als ein Konsenserfolg der (institutionalisierten) Bioethik auf der internationalen Ebene erscheint, kann auf der nationalen Ebene zu neuen Kontroversen führen. Die Konstruktion einer allgemein akzeptierten medizinischen „Minimalmoral“ ist der Bioethik also bisher nicht gelungen; und man wird kaum erwarten können, daß ihr dies in der Zukunft gelingen wird. Kann schon deshalb nicht pauschal von einer „Konsensbildung durch Bioethik“ gesprochen werden, so ist sie selbst zum Auslöser und Gegenstand einer heftigen Kontroverse geworden. Als der australische Philosoph Peter Singer in mehreren Publikationen die Auffassung vertrat, daß die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener mit unheilbaren Leiden zulässig sei, führte dies zu einem Aufschrei der Empörung (allerdings fast nur in deutschsprachigen Ländern). Im Zusammenhang der „Singer-Affäre“ ist von einigen Autoren die gesamte Bioethik mit einer bestimmten Position identifiziert und als „technokratisch“ oder „inhuman“ abqualifiziert worden. Dies ist zwar sachlich ungerechtfertigt, jedoch insofern nicht verwunderlich, als der für die Bioethik grundlegende Anspruch, alle relevanten Überzeugungen einer rationalen und vorurteilsfreien Prüfung zu unterziehen und theoretisch in Frage zu stellen, auch für Überzeugungen gilt, die von vielen als unhinterfragbar angesehen werden (z. B. die Idee der Heiligkeit des menschlichen Lebens). Die Bioethik kann daher jenes Mißverständnis provozieren, dem nach Arthur Schopenhauer jede philosophische Untersuchung des Fundaments der Moral ausgesetzt ist, nämlich „daß sie leicht für ein Unterwühlen desselben, welches den Sturz des Gebäudes nach sie ziehen könnte, gehalten wird“.
III. Der Konsens als Maß aller Dinge?
Ist die Bioethik darum sinn-und nutzlos? Ist sie möglicherweise sogar kontraproduktiv? Wenn der Konses das Maß aller Dinge ist, dann scheint eine positive Antwort unausweichlich zu sein. Um zuzeigen, daß dieser Schluß voreilig wäre, sind einige Überlegungen zum Begriff „Konsens“ notwendig. Bisher wurde ja (implizit) unterstellt, daß erstens klar sei, was unter diesem Begriff zu verstehen ist, und daß zweitens Konsens in jedem Fall erstrebenswert und positiv sei.
Der Begriff „Konsens“ wird naheliegenderweise als die „Übereinstimmung aller“ definiert. Geht man von dieser Bestimmung aus, so dürfte es allerdings schwerfallen, überhaupt irgend eine auch nur einigermaßen komplexe Einsicht anzugeben, über die ein Konsens „aller“ besteht. Selbst über die Grundgesetze der Physik besteht so lange keine Einigkeit, wie einige Außenseiter an der Konstruktion des Perpetuum mobile und der Widerlegung der Relativitätstheorie arbeiten. De facto verlangen wir daher meist auch keine vollständige Einigkeit aller, sondern sprechen von „Konsens“ dann, wenn es in einer Frage keinen energischen öffentlichen Widerspruch relevanter Gruppen der Gesellschaft gibt. Eine solche Gleichsetzung von „Konsens“ mit „Abwesenheit öffentlicher Kontroversen“ ist aber keine ethische, sondern eine politische Bestimmung. Dieser Punkt ist von erheblicher Bedeutung; er leitet unmittelbar über zu der zweiten angekündigten Überlegung.
Stellen wir uns eine Situation vor, in der es zu einer bestimmten Frage keine öffentliche Kontroverse gibt; allerdings ist dieser „Konsens“ nicht das Resultat einer intensiven Diskussion, sondern Ausdruck mangelnder Kenntnis und Aufmerksamkeit (das Hirntod-Kriterium vor dem „Erlanger Fall“ wäre ein Beispiel dafür). Die Frage ist nun: Kann ein solcher „Konsens“ als erstrebenswert angesehen werden? Oder allgemeiner: Ist jede Übereinstimmung als solche bereits moralisch wertvoll, unabhängig davon, wie sie zustande gekommen ist und auf welcher Grundlage sie beruht? Die Bedeutung der Frage beruht darauf, daß sie die Selbstverständlichkeit in Frage stellt, mit der wir geneigt sind, Konsens (an sich) für gut -und Dissens (an sich) für schlecht -zu halten; und daß sie uns zwingt, über die Gründe und Bedingungen nachzudenken, die einen Konsens wertvoll machen. Ohne dies an dieser Stelle näher ausführen zu können, lassen sich drei Bedingungen angeben, die erfüllt sein müssen, um einem Konsens moralischen Wert zusprechen zu können: Er muß erstens von informierten Individuen, zweitens auf der Basis von Gründen und drittens zwanglos und frei eingegangen worden sein.
Damit sind wir bei einer Schlüsselfrage angelangt. Wenn Konsense ihre moralische Autorität erst auf der Basis dieser Bedingungen erlangen, stellen sich Situationen moderner Gesellschaften in einem anderen Licht dar. Die Rede von einer „moralischen Krise der Gegenwart“ lebt von der Kontrastierung der babylonischen Moralverwirrung unserer Zeit mit einer heilen Welt moralischer Einmütigkeit vergangener Jahrhunderte. Zu einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit besteht aber bei nüchterner Betrachtung kein Grund. Zum einen ist es höchst fragwürdig, ob in früheren Zeiten tatsächlich eine übergreifende Einhelligkeit in moralischen Fragen geherrscht hat. Das historische Schrifttum von der Antike bis in die Gegenwart zeigt bei genauerem Studium ein differenzierteres Bild; und die opferreichen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts sollten jegliche Illusion über die Einmütigkeit in weltanschaulichen und moralischen Fragen zerstören. Zum zweiten muß gefragt werden, wie die größere Einhelligkeit -so weit sie tatsächlich bestand -zustande gekommen ist. War sie das Ergebnis einer breiten und offenen Diskussion über die entsprechenden Probleme, waren die beteiligten Individuen gut informiert, und konnten sie ohne Angst« vor Repressalien zustimmen oder ablehnen? Man muß kein Historiker sein, um zu wissen, daß diese Bedingungen in der Regel nicht erfüllt waren. Sofern es überhaupt offene Diskussionen über entsprechende Fragen gab, waren es in der Regel winzige Eliten, die sich artikulieren konnten; die politischen Machtverhältnisse und religiöser Dogmatismus setzten dem, was diskutierbar war, enge Grenzen. Mit einem Wort: Die „Konsense“ der Vergangenheit waren häufig das Resultat von Alternativlosigkeit und Zwang. Anders gesagt: In historischer Perspektive erweisen sich die Kontroversen und Dissense, mit denen wir heute leben (müssen), zunächst und in erster Linie als ein Ausdruck gewachsener Freiheit. Unsere Vorfahren haben in langen und harten Auseinandersetzungen für die Möglichkeit kämpfen müssen, über religiöse, politische und moralische Fragen offen debattieren und ohne Angst vor Repression von der Mehrheitsmeinung abweichen zu können. Und bis heute konnte diese Freiheit nur in einem Teil der Welt verwirklicht werden; in dem anderen (größeren) Teil der Welt, ist der Raum für Dissens und Kontroverse nach wie vor eng. Warum sollen wir diese Möglichkeit zum Dissens als eine „Krise“ ansehen, statt als eine Errungenschaft? Wer den religiösen Pluralismus angreift, gilt (zu Recht) als dogmatisch oder fundamentalistisch; wer den politischen Pluralismus angreift, gilt (zu Recht) als totalitär. Warum soll im Hinblick aufdie Moral etwas anderes gelten? Warum soll der Pluralismus hier etwas sein, das überwunden werden muß, wärend wir ihn im Bereich von Religion und Politik so hochschätzen? Im 1792 erschienenen zweiten Teil seines berühmten Buches Die Menschenrechte schrieb Thomas Paine über die Religion: „Ich glaube nicht, daß zwei Menschen über sogenannte Glaubensfragen gleich denken, wenn sie überhaupt denken. Nur diejenigen, die nie gedacht haben, scheinen übereinzustimmen.“ Wahrscheinlich ist dieser Satz übertrieben. Denn warum soll man durch Denken nicht zu übereinstimmenden Resultaten -sei es in Fragen des Glaubens oder in Fragen der Moral -kommen können? Doch zumindest insoweit wird man Paine zustimmen können, daß Nachdenken keine Übereinstimmung garantiert. Die Existenz moralischer Differenzen muß daher auch nicht notwendigerweise als Ausdruck von Irrationalität angesehen werden: Innerhalb der Grenzen der Rationalität bleibt, ebenso wie innerhalb der Grenzen der Moral, Raum für Differenzen.
Von den Schlußfolgerungen, die sich daraus ergeben, möchte ich eine hervorheben. Wenn der Konsens nicht das Maß aller Dinge ist, kann das Unvermögen der Bioethik zur Herstellung umfassender und allgemeiner Konsense nicht als ein Einwand gegen sie akzeptiert werden. Zum einen weil der Konsens nicht mehr als Wert an sich vergöttert werden muß. Zum anderen weil nicht mehr nur die Lösung eines Dissenses als Erfolg der bioethischen Analyse gelten kann: Auch die Klärung und Offenlegung der Grundlagen eines solchen Dissenses sowie der Nachweis seiner Unüberwindbarkeit durch rationale Argumentation kann nun als ein Beitrag zur moralischen Kommunikation gewertet werden. Denn wenn wir gesehen haben, daß eine von der unseren abweichende Auffassung rational vertretbar ist, haben wir einen guten Grund, sie zu respektieren und zu achten.
IV. Die Freiheit -und ihre Kosten
Unter den Bedingungen des moralischen Pluralismus erweist sich die Individualisierung von Entscheidungen als die angemessene Art der Lösung von Auffassungs-und Bewertungsdifferenzen. Mit ihr wird ein Urteil über die Richtigkeit konkurrierender Bewertungen vermieden, und es bleibt den jeweiligen Personen überlassen, die für sie richtige Option zu wählen. Dies ist der Weg, der beispielsweise im Hinblick auf die bis heute umstrittene Technik der medikamentösen Kontrazeption beschritten wurde. Ein Konsens zwischen denen, die die „Pille“ moralisch ablehnen, und denen, die sie für akzeptabel halten, hat sich nicht hersteilen lassen. Die Individualisierung ermöglicht den Frauen, die dies wünschen, die „Pille“ zu nehmen, ohne daß dadurch die anderen zu derselben Handlung gezwungen wären.
Nun ist diese Lösung nicht in allen Fällen angemessen. Obwohl seit langem energisch gefordert, hat es der Gesetzgeber bisher abgelehnt, auch den Schwangerschaftsabbruch auf ähnliche Weise ins Belieben jeder Frau zu stellen wie die Einnahme der „Pille“. Der sachliche Grund dafür besteht darin, daß ein Schwangerschaftsabbruch nicht nur die betreffende Frau unmittelbar betrifft, sondern auch den Fötus. Handlungen zu Lasten Dritter können nicht auf dieselbe Weise individualisiert werden wie Handlungen, die keine direkten Konsequenzen für andere haben. Die heute gültige gesetzliche Regelung beruht daher auf einer etwas anderen, aber nicht grundsätzlich verschiedenen Lösung: Ein Schwangerschaftsabbruch bleibt straffrei, wenn er im Rahmen eines bestimmten Verfahrens (vor allem: „Schwangerschaftskonfliktberatung“) durchgeführt wird. Eine solche Prozeduralisierung ist auch als Lösungsstrategie für andere kontroverse Probleme vorstellbar, etwa für das Problem der Sterbehilfe. Schon heute läßt das in Deutschland geltende Recht eine Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen zu, sofern dabei bestimmte Kriterien beachtet und bestimmte Verfahrensvorschriften (die vor allem der Ermittlung des Willens des Sterbenden gelten) eingehalten werden. Der entscheidende Vorzug der Individualisierungs-und Prozeduralisierungsstrategie besteht offenkundig darin, daß sie den beteiligten Personen die Möglichkeit eröffnet, eine Entscheidung ihrer Wahl zu treffen. Übersehen werden darf dabei aber nicht, daß sie ihnen damit zugleich auch die Last der Entscheidung aufbürdet. Die triviale Lebensweisheit „Wer die Wahl hat, hat die Qual!“ kann gerade auf dem Gebiet des medizinischen Handelns ihre höchst unwillkommene Bestätigung finden. Manches deutet darauf hin, daß es nicht wenigen Patienten schwerfällt, eine angemessene und kompetente Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden medizinischen Optionen zu fällen. Und bisweilen wird schon die Existenz der Wahlmöglichkeit selbst als eine Belastung empfunden. Dies zeigen beispielsweise die Erfahrungen, die in den USA mit Patientenverfügungen gemacht wurden. Seit 1991 sind hier staatliche und staatlich geförderte Krankenhäuser verpflichtet,ihre Patienten bei der Aufnahme nach eventuell bestehenden schriftlichen Willensäußerungen zu fragen, in denen sie für oder gegen die Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen optieren können. Aus der relativ begrenzten Zahl von Patienten, die eine solche Verfügung schriftlich fixieren, kann geschlossen werden, daß viele es als eine Zumutung empfinden, auf diese Weise über die Umstände des eigenen Todes mitbestimmen zu können (und damit in gewissem Sinne: zu sollen). Zugleich scheinen auch viele Ärzte Schwierigkeiten mit den dafür notwendigen Gesprächen und Entscheidungen zu haben.
Dies zeigt: Die größer werdenden individuellen Entscheidungsmöglichkeiten sind nicht nur und in jeder Hinsicht ein Segen. Der mit ihnen verbundene Freiheitsgewinn wird erkauft durch eine wachsende Verantwortung. Wo man sich früher einem unbeeinflußbaren Schicksal ausgeliefert sah und/oder den vorgegebenen Gleisen einer verbindlichen Allgemeinmoral folgen mußte, kann (und muß) jedes Individuum heute in zunehmendem Maße selbst wählen und damit Verantwortung übernehmen. Gerade im Bereich des medizinischen Handelns, wo es um Fragen von Leben und Tod geht, sind nicht alle darauf hinreichend vorbereitet: weder im Hinblick auf die dafür notwendigen Informationen noch im Hinblick auf die emotionale Kraft, die dies erfordert.
Ein zweites Problem ergibt sich daraus, daß die Lösung moralischer Probleme durch Individualisierung und Prozeduralisierung darauf hinausläuft, die Entscheidung ins „Belieben“ der Individuen zu stellen; damit werden Handlungen für moralisch akzeptabel erklärt, die in den Augen anderer eben nicht akzeptabel sind. Einmal mehr kann der Schwangerschaftsabbruch als drastisches Beispiel dienen. Die gegenwärtige Regelung mutet es einem Teil der Bevölkerung zu, in einer Umgebung zu leben, die eine Art von „Massenmord“ an Unschuldigen zuläßt. Und sie mutet zugleich den ungewollt Schwangeren zu, sich einer Zwangsberatung zu unterziehen, die ihnen die Kompetenz abspricht, autonom über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden. Die Individualisierung überwindet den moralischen Dissens ja nicht, sondern bekräftigt ihn und fordert von den Individuen ein Maß an Toleranz, das nicht immer leicht aufzubringen ist. Es besteht kein Grund, das Leben in und mit moralischer Verschiedenheit zur Idylle zu verklären; es ist immer auch eine Zumutung.
Damit ist ein drittes Problemfeld angesprochen. Je tiefer und vielfältiger der Dissens in der Gesellschaft wird und je schwerer es wird, die für das Zusammenleben notwendige Toleranz tatsächlich aufzubringen, desto stärker wird die fundamentalistische Versuchung. Nur zu viele Erfahrungen -aus Vergangenheit und Gegenwart -bestätigen die Befürchtung, daß der Anschein moralischer Beliebigkeit und das Schwinden von (vermeintlichen) moralischen Gewißheiten die Neigung zu dogmatischen Lösungen wachsen läßt. Die bioethische Diskussion macht hier keine Ausnahme. An die Stelle der sorgsamen und alle involvierten Interessen abwägenden Prüfung einzelner Handlungsoptionen tritt nur allzu leicht die vorschnelle Postulierung „absoluter Grenzen“ der Machbarkeit. In Deutschland segeln solche Positionen bisweilen unter der Flagge eines Menschenwürde-Begriffs, der den Eindruck erwecken soll, als stünde von vorn herein und für alle Zeiten fest, was mit der Menschenwürde vereinbar ist und was nicht. Doch die begreifliche Sehnsucht nach moralischer Gewißheit darf nicht vergessen machen, daß diese in vielen Fällen nur noch als individuelle erreichbar sein wird; daß wir die moralische Gewißheit oft nur mit einer beschränkten Zahl Gleichgesinnter teilen können; und vor allem: daß uns die Sehnsucht nach ihr nicht dazu verleiten darf, unsere Gewißheit anderen aufzuzwingen.
V. Schlußbemerkungen
Im Fazit der in diesem Beitrag skizzierten Überlegungen wird die in der Überschrift gestellte Frage positiv beantwortet: Ja, wir können mit dem Dissens in bioethischen Fragen leben. Allerdings wird sich ein solches Fazit mit diesem Befund nicht zufrieden geben, sondern zugleich die Widersprüchlichkeit und Unübersichtlichkeit der heutigen Situation hervorheben. Die folgenden vier Thesen sollen diese Ambivalenz andeuten:
1. Obwohl ein allumfassender moralischer Konsens im Hinblick auf das medizinische Handeln ebenso weit entfernt ist wie im Hinblick auf die meisten übrigen komplexen ethischen Probleme und obwohl alles dafür spricht, daß dies keine vorübergehende Erscheinung ist, kann von einer „babylonischen Moralverwirrung“ keine Rede sein. Der Eindruck einer vollständigen Zerklüftung der moralischen Landschaft ist falsch; es gibt auch unter den Bedingungen der Moderne mehr Konsens als Dissens.
2. Die pauschale Rede von einer „moralischen Krise“ ist verfehlt: Zum einen weil sie auf einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit beruht; zum anderen weil sie die individuellen Freiheitsgewinne unterschlägt, die die Moderne eröffnet hat. Die Möglichkeit des Dissenses ist daher in erster Linie als eine Errungenschaft zu bewerten. Freilich wird man auch hier die Ambivalenz nicht übersehen dürfen. Der Zuwachs an individueller Freiheit hat seinen Preis. Er bürdet den Individuen einen Zwang zur Entscheidung auf und belastet sie mit Toleranzanforderungen, die oft nur schwer zu erfüllen sind. Der Rückzug auf den Fundamentalismus ist die Reaktion derer, die sich der Freiheit und ihren Lasten nicht gewachsen fühlen. Der fundamentalistischen Versuchung entgegenzutreten ist eine der wichtigsten Aufgaben der Bioethik. 3. Mehr Konsens wäre daher in mancher Hinsicht wünschenswert: Nicht weil Konsens dem Dissens an sich und in jeder Hinsicht überlegen wäre, sondern weil ein Leben unter den Bedingungen moralischer Einmütigkeit oft einfacher und komfortabler ist. Doch es gibt offenbar keine Patentrezepte zur Erzeugung moralischer Harmonie. Auch die Bioethik bietet keinen Königsweg in den Konsens. Dies ist kein Mangel. Wenn man die Verschiedenheit von Lebenszielen anerkennt und die individuelle Selbstbestimmung für einen Wert hält, dann sollte man es nicht für eine Katastrophe halten, wenn die Individuen auch in „Fragen von Leben und Tod“ zu unterschiedlichen Auffassungen gelangen. 4. Es gibt keinen Grund, in der Akzeptanz von moralischem Dissens eine Kapitulation der (Bio-) -Ethik zu sehen oder einen Relativismus, der zur Beliebigkeit führt. Diese Anerkennung muß vielmehr als Resultat einer starken moralischen Wertung begriffen werden: Es gibt keine „höheren“ Werte als die Autonomie der Individuen.