Zur Entwicklung ostdeutscher Städte nach der Wende: nicht nur „dem Tod von der Schippe gesprungen“
Heinz Sahner
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Zusammenfassung
Der Autor untersucht unter der forschungsleitenden Hypothese, daß die Stadtentwicklung sich nach den je spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vollzieht, die Entwicklung der ostdeutschen Großstädte nach der Wende. Obwohl in der DDR die Bedingungen (Gemeineigentum an Grund und Boden, Zentrale Verwaltung) für ein von Ideen des Humanismus getragenes Programm der Stadtentwicklung günstig waren, war der Zustand der Städte zum Zeitpunkt der Wende so desolat, daß manche DDR-Forscher darin auch eine der Ursachen für den Zusammenbruch sahen. Investitionen in die Infrastruktur waren weitgehend unterblieben, Altbauten verfielen, die Wohnsituation war auch im Vergleich zu Westdeutschland unbefriedigend. Die Schwierigkeiten der ostdeutschen Städte heute resultieren aus dem nach wie vor hohen Reinvestitionsbedarf, der unmittelbar nach der Wende unregulierten Bautätigkeit (Einkaufszentren) und der starken Abwanderung. Daneben gibt es eine Fülle positiver Entwicklungen auf dem Gebiet des Wohnungswesens, der Umweltbelastungen, des allgemeinen Lebensstandards und der Etablierung einer funktionstüchtigen kommunalen Selbstverwaltung. Die für die (Innen-) Stadtentwicklung bedeutsamen Sachverhalte, wie z. B. die Einkaufszentren auf der grünen Wiese oder das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“, werden neu bewertet. Die ostdeutschen Städte werden noch lange ein eigenes Gepräge behalten, das im Vergleich zu westdeutschen Städten nicht immer nachteilig ausfallen muß.
I. Faktoren der Stadtentwicklung
Die miserable Situation, in der sich die Städte der DDR zur Wendezeit befanden, war ein Ergebnis der Rahmenbedingungen, unter denen diese Gesellschaft wirtschaftete und lebte. Diese haben sich seit der Wiedervereinigung radikal geändert.
Will man die Entwicklung ostdeutscher Städte nach der Wende analysieren und die dabei auftretenden Probleme verständlich machen, empfiehlt es sich, diejenigen Faktoren etwas genauer zu identifizieren, die für die Stadtentwicklung generell bedeutsam sind.
Man kann vier Faktorengruppen unterscheiden. Erstens ist die Personal-und Sachausstattung zu nennen, also das Ausbildungsniveau und das Motivationspotential der Bevölkerung und daneben die materiale Ausstattung wie die Qualität des umbauten Raumes, der Industrialisierungsgrad, die Infrastruktur (über-und unterhalb der Erde), oder aber einmalige Zufälligkeiten, wie die Lage an einem Fluß, Rand-oder zentrale Lagen usw. Von besonderer Bedeutung sind zweitens die Institutionen-struktur, soziale Normen oder Verhaltensregelmäßigkeiten in grundsätzlich wiederkehrenden Situationen. So können wirtschaftliche Austausch-prozesse marktwirtschaftlich oder planwirtschaftlich organisiert, das politische System durch Konkurrenzdemokratie oder durch die „Diktatur des Proletariats“ und die Eigentumsverhältnisse durch Privateigentum bzw. Gemeineigentum gekennzeichnet sein. Drittens ist ein ganzes Bündel struktureller Faktoren anzuführen: Bevölkerungsentwicklung, Migration, Pendlerquote, Wohlstandsniveau, privater und öffentlicher Reichtum. Schließlich sind viertens historische und politische Zufälligkeiten zu nennen (Regierungssitz, Kriegszerstörungen etc.).
Wenn auch die Abgrenzbarkeit der Faktoren in dem einen oder anderen Fall schwierig sein mag, so stellen diese doch Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklung dar, und sie sind die Entscheidungsgrundlage für individuelle und kollektive Akteure.
Vor diesem Hintergrund gleicht die Entwicklung von Ost-und Westdeutschland in der Nachkriegszeit einer klassischen experimentellen Situation. Wenn es auch einige strukturelle Unterschiede gab (Stichwörter: Bodenschätze, Industrialisierungsgrad, Grad der Zerstörung der Städte, Demontageschäden, Unterstützung von den Siegermächten etc.), so hatten beide Länder zum Zeitpunkt der Stunde Null doch eine gemeinsame historische Vergangenheit, den gleichen Ausbildungsstand der Bevölkerung und eine vergleichbare Soziokultur. Bald darauf unterschieden sie sich jedoch gravierend hinsichtlich zentraler gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, so daß bestimmte Entwicklungen immer wieder auf diese Unterschiede zurückgeführt werden. Das geschieht auch, wenn es um die Abschätzung der Stadtentwicklung in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg geht.
II. Die Ausgangssituation
Abbildung 11
Tabelle: Einnahmen-und Ausgabenstruktur der Gemeinden in Ost-und Westdeutschland. Quelle: H. Karrenberg/ E. Münstermann (Anm. 25) S. 200
Tabelle: Einnahmen-und Ausgabenstruktur der Gemeinden in Ost-und Westdeutschland. Quelle: H. Karrenberg/ E. Münstermann (Anm. 25) S. 200
1. Die Voraussetzungen für die Stadtentwicklung in Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg Schon lange hatten kritische Architekten und Stadtplaner für die sich mit der Industrialisierung ausbreitenden Übel der Stadt (z. B. menschenunwürdige Wohnverhältnisse) die private Verfügung über Grund und Boden verantwortlich gemacht. Daher wurde in der „Charta von Athen“ gefordert, das Privatinteresse in Zukunft dem Interesse der Gemeinschaft zu unterstellen um so den Leitlinien des Humanismus, der Ganzheitlichkeit und der Zentralität gerecht werden zu können. Nicht zuletzt wegen einer gewissen personellen Kontinuität hat dieses Gedankengut Eingang in die sechzehn Grundsätze des Städtebaues gefunden, die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik am 27. Juli 1950 beschlossen wurden In einer Präambel werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen -das verfassungsrechtlich abgesicherte sozialistische Eigentum, Artikel 9 (1), die Planwirtschaft, Artikel 9 (3), und der Zentralismus, Artikel 78 (2) -betont. Wenn auch teilweise in ausdrücklicher Abgrenzung zur Charta von Athen wird doch der Geist dieses Auf-rufes in den sechzehn Grundsätzen immer wieder deutlich, nämlich der des Humanismus (Grundsätze 2 und 15), der Ganzheitlichkeit (Grundsatz 5) und der Zentralität (Grundsätze 6 und 9). Besondere Betonung -und zwar in einem doppelten Sinne -erfährt der Gesichtspunkt der Zentralität. So liegen im Zentrum nicht nur die wichtigsten politischen und administrativen sowie kult und der Zentralität (Grundsätze und 9). Besondere Betonung -und zwar in einem doppelten Sinne -erfährt der Gesichtspunkt der Zentralität. So liegen im Zentrum nicht nur die wichtigsten politischen und administrativen sowie kulturellen Stätten, sondern dort finden auch die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volks-feiern an Festtagen statt (Grundsatz 6). Eine ganz andere Form des Zentralismus findet sich im Grundsatz 3: „Die Bestimmung und Bestätigung der städtebildenden Faktoren ist ausschließlich Angelegenheit der Regierung.“
Vergleicht man die Bedingungen „sozialistischer“ und „kapitalistischer“ Stadtentwicklung, so waren die Voraussetzungen für ein humanistisches Programm in der Tat nicht ungünstig. Während im Westen trotz aller Rahmenplanung letztlich viele Akteure -bei der Autonomie der Gemeinden nicht nur private -unter Wettbewerbsbedingungen und unter dem regierenden Prinzip der Wirtschaftlichkeit konkurrieren, unter Bedingungen also, unter denen Leitlinien leicht auf der Strecke bleiben, waren die Voraussetzungen in Ostdeutschland für die Durchsetzung als sinnvoll erachteter Leitlinien wesentlich günstiger. Frei von Profitinteressen konnte in einer Gesellschaftsordnung, die auf das Gemeinwohl des Volkes gerichtet war, dieses Ziel -nach zentraler Festlegung über die Nutzung des Stadtraumes -langfristig und begleitet von streng hierarchischen Kontrollprozessen verfügt werden. Stadtgestaltung aus einem Guß war vergleichbar höchstens im Absolutismus möglich, diente dort aber nur der Verherrlichung des Herrschers, konnte nun aber als massenhaft sich verwirklichender Humanismus verstanden werden 4.
Nicht nur gemessen an den hehren Zielen der Leitlinien präsentierten sich die Städte jedoch nach fast vierzig Jahren Sozialismus in einem so miserablen Zustand, daß sie von manchem Stadtplaner, Architekten oder Sozialforscher, die dieses Politikfeld lange wohlwollend und fördernd begleitet hatten, als eine der Ursachen des Zusammenbruchs der DDR gedeutet wurden 5. 2. Die Situation vor der Wende Die Bilanz war denn auch alles andere als positiv, und sie muß als relevante Ausgangsbedingung für die Stadtentwicklung nach der Wende wenigstens kurz umrissen werden.
So waren die Gebäudeschäden beträchtlich. Obwohl z. B. Halle im Vergleich zur übrigen DDR eine junge Bausubstanz aufweist 6, waren 44 Prozent der Bürger 1993 der Meinung, ihr Haus bedürfe der Rekonstruktion oder sei abbruchreif (1, 3 Prozent) Der Bauzustand der in der DDR vor 1945 errichteten Mehrfamilienhäuser wies 1990 zu 40 Prozent schwerwiegende Schäden auf oder war in der Funktion unbrauchbar (11 Prozent) Die Altbauviertel verfielen, und die Innenstädte, denen man zu Beginn eine so hohe Priorität bei der Ausgestaltung eingeräumt hatte, waren -als Aufmarschplätze häufig ausgeräumt -leer und windig. „Wer als DDR-Bürger Stadt konzentriert erleben wollte, der fuhr zur Messezeit nach Leipzig oder -weil er in der Regel keine Möglich-keit hatte, in westliche Städte zu reisen -gleich weiter nach Prag oder Budapest.“
Besonders hinsichtlich der Infrastruktur hatte die DDR weitgehend von der Substanz gelebt. Deren Niveau lag weit unter dem, was in Westeuropa üblich war. Für den Bereich Verkehr lag es im Vergleich bei 18 Prozent, der Telekommunikation bei 40 Prozent und bei der Energieversorgung bei 16 Prozent" des westeuropäischen Durchschnitts. In Halles Innenstadt -und ähnliches gilt für andere ostdeutsche Städte auch -war das Abwasserkanalnetz älter als sechzig Jahre. 77 Prozent galten als sanierungs-und erneuerungsbedürftig. Wasserrohrschäden kommen etwa sechsmal so oft und Störungen im Gasleitungsnetz etwa achtmal so häufig vor wie in vergleichbaren westdeutschen Städten (z. B. Karlsruhe). Für die Sanierung des Abwasserkanalnetzes der Stadt Halle muß man etwa 270 Millionen DM veranschlagen
Selbst die Wohnungsfrage, die in der DDR oberste Priorität hatte -bis zum Jahre 1990 sollte das Wohnungsproblem behoben werden -, konnte nur statistisch gelöst werden, und zum Zeitpunkt der Wende war die Wohnungsversorgung in der DDR immer noch wesentlich ungünstiger als in der Bundesrepublik. Wohnungsnot, nach Friedrich Engels das notwendige Ergebnis der bürgerlichen Gesellschaftsform gab es eher in Ost-als in Westdeutschl Prozent" 10 des westeuropäischen Durchschnitts. In Halles Innenstadt -und ähnliches gilt für andere ostdeutsche Städte auch -war das Abwasserkanalnetz älter als sechzig Jahre. 77 Prozent galten als sanierungs-und erneuerungsbedürftig. Wasserrohrschäden kommen etwa sechsmal so oft und Störungen im Gasleitungsnetz etwa achtmal so häufig vor wie in vergleichbaren westdeutschen Städten (z. B. Karlsruhe). Für die Sanierung des Abwasserkanalnetzes der Stadt Halle muß man etwa 270 Millionen DM veranschlagen 11.
Selbst die Wohnungsfrage, die in der DDR oberste Priorität hatte -bis zum Jahre 1990 sollte das Wohnungsproblem behoben werden -, konnte nur statistisch gelöst werden, und zum Zeitpunkt der Wende war die Wohnungsversorgung in der DDR immer noch wesentlich ungünstiger als in der Bundesrepublik. Wohnungsnot, nach Friedrich Engels das notwendige Ergebnis der bürgerlichen Gesellschaftsform 12, gab es eher in Ost-als in Westdeutschland.
So kamen im Jahr 1989 in der Bundesrepublik 35, 5 Quadratmeter Wohnfläche auf die Person, während es in der DDR nur 27, 2 waren 13. Die Wohnfläche, die pro Wohnung zur Verfügung stand, war im Westen mit 86, 1 Quadratmetern wesentlich höher als im Osten mit 64, 3 Quadratmetern. Man lebte aber nicht nur räumlich beengter, sondern auch mit einer wesentlich bescheideneren Ausstattung der Wohnung. Im Westen waren mit einem Innen-WC 98, 3 Prozent, mit Bad und Dusche 95, 8 Prozent und mit einer modernen Heizung 73, 3 Prozent aller Wohnungen ausgestattet, während die entsprechenden Anteile in der DDR wesentlich niedriger lagen: bei 75, 6/81, 7/47, 2 Prozent. Betrachtet man nur Plattenbauten mit ihren schon sprichwörtlich gewordenen kleinen Wohnungen 14 mit guter Infrastruktur, dann trifft man die Situation, die Brigitte Reimann in ihrem 1974 erschienenen Roman „Franziska Linkerhand“ mit dem Terminus „Komfortzellen“ umschrieben hat.
Man muß bedenken, daß diese im Vergleich zu Westdeutschland bescheidenen Zahlen das Ergebnis eines gigantischen Wohnungsinvestitionsprogrammes sind, das mit dazu beigetragen hat, die DDR in den Ruin zu treiben. Von 1958 bis 1990 wurden in Ostdeutschland nach der Fertigteilbauweise 2 172 000 Wohnungen errichtet 15. Damit wurde etwa für die Hälfte der Bevölkerung neuer Wohnraum geschaffen. Welche Konsequenzen die zunehmende Verwendung des Erwirtschafteten für den konsumtiven auf Kosten des produktiven Sektors hatte, hat 1989 Gerhard Schürer, der Vorsitzende der staatlichen Planungskommission, in seinem Geheimpapier 16, in dem er die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR konstatierte, deutlich gemacht. In den Städten seien jeweils Tausende Altbauwohnungen nicht bewohnbar, das Gesundheitssystem werde vernachlässigt, vor allem aber liege die Arbeitsproduktivität zur Zeit 40 Prozent hinter der der Bundesrepublik Deutschland zurück -eine Konsequenz fehlender Investitionen in das Produktivkapital. Der Verschleißgrad lag nach Schürer in der Industrie bei 54 Prozent und im Bauwesen sogar bei 67 Prozent. Hier liegen die Ursachen vielfältiger nach der Wende auftauchender Probleme. Für eine Stadtentwicklung nach den selbst gesetzten Leitlinien reichte unter diesen Bedingungen der Atem nicht. Und der Verfall der Innenstädte und vieler Altbaugebiete, die ohnehin als Relikte einer überholten Gesellschaftsformation galten und die bei einem auf dem Vorkriegsniveau eingefrorenen Mietzins auch von privater Seite nicht erhalten werden konnten, wurde hingenommen. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten wirtschaftlichen Situation der DDR Ende der achtziger Jahre und der Transformation des Institutionensystems seit der Wende, die den Bürgern eine bisher nicht gekannte Optionenvielfalt brachte, vor allen Dingen die der Mobilität, sind im folgenden die gravierenden Veränderungen in der Stadt-entwicklung ostdeutscher Städte seit Beginn der neunziger Jahre zu betrachten.
III. Die Entwicklung nach der Wende
Wie schon erwähnt, resultierten aus der veränderten Anreizstruktur eine Fülle von Veränderungen in Ostdeutschland, die auch für die Entwicklung der Städte bedeutsam waren. Die Öffnung der Grenzen, die Abschaffung der „Diktatur des Proletariats“, die Verwaltungsautonomie der Gemeinden, die neuen Bedingungen individuellen und kollektiven Handelns leiteten einen rapiden sozialen Wandel ein, der hier nur pauschal angesprochen werden kann. Neben der Wohlstandssteigerung, der zunehmenden Versorgung mit höherwertigen Konsumgütern muß dabei auch auf die wachsende Arbeitslosigkeit und die zumindest teilweise daraus resultierenden Wanderungsströme hingewiesen werden.
Der Neubau von Wohnparks im stadtnahen Umland, die Modernisierung der Altbauten, der wachsende Wohlstand und die damit einhergehende Ungleichverteilung der Einkommen führte mit der Zunahme entsprechender Optionen zu einer Entmischung der Wohnbevölkerung und leitete eine bisher in Ostdeutschland nicht gekannte Wohnsuburbanisierung ein. Zwar gab es auch in der DDR Segregationsphänomene, denn wer auf dem damals relevanten „Markt“ nichts bieten konnte (z. B. Arbeitskraft, Jugend, Kinder), hatte kaum Chancen, eine der begehrten Neubauwohnungen zugewiesen zu bekommen und blieb in den verkommenden Altbauvierteln Doch die Segregationsphänomene bekamen nach der Wende eine ganz andere Dimension
Die Bedeutung all dieser Veränderungen kann hier nur ausschnitthaft vertieft werden. 1. Bevölkerungsverluste durch Geburtendefizit und Wanderung, Wohnsuburbanisierung Seit 1990 haben die ostdeutschen Großstädte (bereinigt um Eingemeindungen) bis 1997 fast 12 Prozent ihrer Bevölkerung verloren (siehe Abbildung), während der Bevölkerungsrückgang in Ostdeutschland insgesamt nur 4, 6 Prozent betrug Das hat -letztlich -wirtschaftliche Gründe, sei es, daß durch wirtschaftliche Unsicherheit die Geburtenquote sank, sei es, daß aufgrund der nunmehr gegebenen Mobilität ein Arbeitsplatz in Westdeutschland gesucht wurde, sei es, daß aufgrund des steigenden Wohlstands und wachsender Wahlmöglichkeiten eine Stadt-Land-Wanderung einsetzte.
Denn nachdem die Grenzen gefallen waren und die ostdeutsche Wirtschaft sich der internationalen Konkurrenz stellen mußte, zeigte sich bald, daß sie nicht wettbewerbsfähig war. Die Nachfrage nach Produkten aus Ostdeutschland ging radikal zurück. Dies hatte seine Ursache sicher auch darin, daß traditionelle Märkte in Osteuropa weg-gebrochen waren, kann aber nicht allein damit erklärt werden. Die ostdeutsche Wirtschaft wäre auch bei weiterhin konstanter Nachfrage aus Osteuropa der westlichen Wirtschaft unterlegen gewesen. Die Situation wurde noch durch das Konsumverhalten der Bürger verstärkt, deren -durch die Währungsunion gestärkte -Kaufkraft sich vorwiegend auf „West“ -Produkte richtete. Die Konsequenz war ein gravierender Einbruch vorwiegend des gewerblichen Sektors mit rapide steigenden Arbeitslosenzahlen, die zu Beginn der neunziger Jahre rasch die Zahl von einer Million erreichte. Dies waren nur die von der Statistik als arbeitslos registrierten Bürger. Die ganze Misere wird aber erst bei Betrachtung der Zahl der Personen, die einen sicheren Arbeitsplatz hatten, deutlich. Sie ist von ursprünglich fast zehn Millionen (durch die hohe Quote der Frauenarbeit auf unter sechs Millionen zurückgegangen. Viele gingen in den Vorruhestand, andere in die Kurzarbeit, wieder andere traten in Umschulungsprozesse oder in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ein Mit anderen Worten, fast jeder zweite fühlte sich zurückgesetzt. In fast jeder Familie gab es Zukurzgekommene. Das blieb nicht ohne Konsequenz für die weitere Lebensplanung. Und die Individualentscheidungen hatten auch Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland, insbesondere auf die der Städte. Die Geburtenziffer -traditionell durch eine entsprechende Bevölkerungspolitik in Ostdeutschland höher als in Westdeutschland -fiel noch unter die von Westdeutschland, und viele besonders der jüngeren und gut ausgebildeten Bürger suchten sich in Westdeutschland einen sichereren und in der Regel besser bezahlten Arbeitsplatz.
Es ist eine ganz normale Reaktion und in der Geschichte immer wieder zu beobachten, daß in Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit die Lebensplanung überdacht wird. In besonderer Weise gilt dies für die Familienbildung und das generative Verhalten. So sank die Zahl der Eheschließungen je 1 000 Einwohner in Ostdeutschland von 7, 9 im Jahre 1989 auf 3, 5 im Jahre 1997 und die Zahl der Geburten von 12 im Jahre 1989 auf 5, 1 im Jahre 1993 und 1994, um seither wieder langsam anzusteigen. Sie betrug 1997 aber auch erst wieder etwa die Hälfte des Ausgangswertes, nämlich 6, 4. Es paßt in dieses Bild, daß die Scheidungen während dieser Zeit zurückgingen. Demgegenüber erfuhren diese Zahlen in Westdeutschland keine dramatischen Änderungen. Die Werte liegen auch heute noch deutlich über dem ostdeutschen Niveau Anzumerken bleibt, daß diese gravierenden Änderungen im generativen Verhalten in Stadtregionen dramatischer ausfallen als im ländlichen Bereich.
Wie die wirtschaftliche Situation das generative Verhalten beeinflußt, so hat sie auch Einfluß auf das Wanderungsverhalten. Dies ist der zweite wichtige Faktor für die rückläufige Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland. Städtische Regionen sind aufgrund struktureller Besonderheiten hierfür anfälliger als ländliche. Das Durchschnittsalter ist niedriger, die Ausbildung im Schnitt besser und die regionale Identität geringer.
Wenn wir von Wanderungen sprechen, müssen wir aber zwei Entwicklungen auseinanderhalten: einmal die zu beobachtende Ost-West-Wanderung und zum anderen die Stadt-Land-Wanderung. In den ersten Jahren nach der Wende dominierte die Ost-West-Wanderung eindeutig die West-Ost-Wanderung. Die Wanderungsströme haben sich aber im Lauf der Zeit nahezu angeglichen. Das Wanderungsdefizit reduzierte sich von 169 500 Einwohnern im Jahr 1991 auf schließlich lediglich 10 400 im Jahr 1997. Hier kann man fast von einer Normalisierung sprechen. Obwohl die Jobfindungschancen bei höherem Einkommensniveau in Westdeutschland immer noch eindeutig besser sind, reichen die Anreize nicht mehr für eine nennenswerte Abwanderung aus. Dennoch schrumpfen die Bevölkerungszahlen der Städte immer noch überproportional und können auch nicht allein durch das Geburtendefizit erklärt werden. Ursache ist eine zunehmende Stadt-Umland-Wanderung. Mit den zunehmenden Wahlfreiheiten, dem Anstieg des Wohlstands bei zunehmender Differenzierung der Einkommen und wachsendem Wohnungsangebot in den Umlandgemeinden der Städte entwickelt sich eine beträchtliche Wohnsuburbanisierung. Während alle Groß-und Mittel-städte in Ostdeutschland und die meisten Landkreise Einwohner verlieren, nimmt die Bevölkerung im Umkreis großer Städte zu -ein Phänomen, das in allen ostdeutschen Ländern zu beobachten ist, aber an einem Beispiel quantitativ genauer umrissen werden soll: So sind aus der Stadt Halle von 1992 bis 1996 11 906 Bürger in den Saal-kreis gezogen. Auf das Konto des Geburtendefizites geht in dieser Zeitspanne lediglich ein Bevölkerungsverlust von 6 247. Dagegen ist die Zahl der Einwohner des um Halle gelegenen Saalkreises von 64 000 im Jahre 1990 auf 76 239 im Jahre 1997 j. gestiegen . Hier wird etwas nachgeholt, was in Westdeutschland sich schon lange vollzieht, nämlich ein deutlicher Suburbanisierungsprozeß. Und -ist das verwerflich? Dies ist ein Beispiel dafür, wie individuelle Interessen, Interessen kollektiver Akteure, aber auch allgemeine Interessen kollidieren. In einer liberalen Gesellschaft mit Individual-und Gemeindeautonomie können und sollen hier keine Verbote eingeführt werden. Die Individuen nutzen die neuen Bewegungsspielräume aus. Das ist genau so legitim wie das Interesse des Saalkreises, die Steuerkraft -die Steuereinnahmen -anzuheben und gleichzeitig die Bevölkerungszahl so zu erhöhen, daß das bei der Kreisreform festgesetzte Limit von mindestens 100 000 Einwohnern erreicht wird. Und die Stadt Halle hat ein ureigenes Interesse, den Bevölkerungsstand zu halten oder gar zu mehren -aus den unterschiedlichsten Gründen, etwa um die Einnahmen aus der Einkommensteuer zu erhöhen oder um an Einwohnerzahlen gebundene Transferzahlungen zu sichern. Schließlich werden steigende/fallende Bevölkerungszahlen mit Erfolg/Mißerfolg gleichgesetzt. Es werden jedoch auch allgemeine Interessen berührt. Ein augenfälliger Sachverhalt, der in Westdeutschland meist negativ bewertet wird, fehlte in Ostdeutschland bis zur Wende ganz, nämlich das breiige Zerfließen der Städte in das Umland. Neben ästhetischen Gesichtspunkten sind aber auch materielle zu bedenken. Suburbanisierung verbraucht Land und erzeugt Verkehr. Vor dem Hintergrund der UN-Konferenz von Rio im Jahre 1992 und der Lokalen Agenda 21 geht es gerade darum, die hohe Wohndichte der Städte zu erhalten, wenn nicht noch auszubauen und so der ungebremsten Zersiedlung Einhalt zu gebieten. In Deutschland leben ca. 80 Prozent der Bevölkerung in Städten (die Verstädterung läßt sich weltweit beobachten). Würde der Raum gleichmäßig besiedelt, wäre von den heute noch existierenden natur-nahen Räumen nicht mehr viele übrig! Insofern gilt es in Ostdeutschland etwas zu erhalten. Allerdings konfligieren hier Individual-und Kollektiv-interessen.
So bedauerlich die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland in vielerlei Hinsicht auch ist, sie trägt doch Züge der Normalisierung -denken wir etwa an den Ausgleich der Wanderungsströme und die Wohnsuburbanisierung. Für die Städte bedeutet der überproportionale Bevölkerungsverlust von nahezu 12 Prozent seit 1990 in schwieriger Zeit jedoch ein zusätzliches Handicap. 2. Die finanzielle Situation Der Bevölkerungsrückgang ist nicht ohne Einfluß auf die finanzielle Situation der Städte. Ist diese in den Kommunen -auch in Westdeutschland -ohnehin schon prekär so verschärft sie sich in Ostdeutschland noch durch den hohen Investitionsbedarf und die immer noch schwächliche Steuerkraft der meisten Kommunen. Die Einnahmen aus der Einkommensteuer haben sich im Jahre 1997 gegenüber dem Vorjahr nicht erhöht, sondern sogar um 10 Prozent vermindert. Dies geht freilich nicht nur auf das Konto der Bevölkerungsentwicklung, sondern ist auch ein Ergebnis des neugeregelten Familienlastenausgleichs. Damit haben sich die Steuereinnahmen aus dieser Quelle in den neuen Ländern im Jahre 1997 auf rund 30 Prozent des Westniveaus reduziert, nachdem dieser Prozentsatz im Jahre 1995 schon einmal bei fast 50 Prozent gelegen hat.
Betrachtet man die Entwicklung der Steuereinnahmen ostdeutscher Kommunen seit der Wende, so hat sich der Anteil der Steuern am Verwaltungshaushalt insgesamt von zehn Prozent im Jahre 1991 auf 17 Prozent im Jahre 1997 erhöht und wird nach Schätzungen (zu der Einkommensteuer und der Gewerbesteuer kommt ein Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer hinzu) auf 20 Prozent steigen. In Westdeutschland liegt dieser Anteil bei deutlich über 40 Prozent. Angesichts der schwachen konjunkturellen Entwicklung werden die ostdeutschen Kommunen bei anhaltend hohem Investitionsbedarf noch lange am Finanztropf von Bund und Ländern hängen. Zur Charakterisierung der Situation: In Halle (Leipzig) ist das Gewerbesteueraufkommen insgesamt im Jahre 1997 so hoch wie in Sindelfingen (Heilbronn) bei Bevölkerungsrelationen von jeweils etwa 4: 1. Wird in Westdeutschland eine Gewerbesteuer pro Einwohner von 996 DM erwirtschaftet, sind es in Ostdeutschland lediglich 243 DM. Aber immerhin hat sich beim Steueraufkommen insgesamt die Relation DM/Einwohner in den neuen Ländern zu DM/Einwohner in den alten Ländern von 12 Prozent (1991) auf 37 Prozent (1997) verbessert.
Die Finanzsituation der ostdeutschen Kommunen im Vergleich zu den westdeutschen läßt sich an den kommunalen Deckungsquoten und an der Struktur der kommunalen Ausgabearten demonstrieren (vgl. Tabelle). Während die Kommunen in Westdeutschland zu 50 Prozent ihre Ausgaben mit Mitteln aus eigenen Quellen (Steuern und Gebühren/Beiträge) abdecken können, beläuft sich dieser Prozentsatz in Ostdeutschland mittlerweile auf knapp 25 Prozent. Entsprechend fallen die Transferzahlungen aus. In ostdeutschen Kommunen wird augenblicklich noch mehr als jede zweite DM, die ausgegeben wird, durch Transferzahlungen finanziert. Darüber soll nicht vergessen werden, daß die Ausgaben des Verwaltungshaushaltes pro Einwohner in Ostdeutschland mittlerweile unter denen von Westdeutschland liegen (90 Prozent für das Jahr 1997). 1995 lag der Wert noch bei 102 Prozent.
Die Ausgabenstruktur (vgl. Tabelle) der kommunalen Haushalte spiegelt einige ostdeutsche Besonderheiten und gravierende Änderungen wider. Die bekannte Unterentwicklung des tertiären Sektors in der DDR schloß Überbesetzungen in bestimmten Bereichen nicht aus. Dazu zählte auch die öffentliche Verwaltung. In ostdeutschen Kommunen war im Jahre 1992 etwa doppelt so viel Personal je Einwohner tätig wie in Westdeutschland. 1994 betrug diese Relation nur noch 1, 5. Entsprechend reduzierten sich die Personalausgaben in den kommunalen Haushalten von 35, 5 Prozent im Jahr 1991 auf 28, 6 Prozent im Jahr 1998. Dahinter verbirgt sich ein schmerzlicher Personalabbau z. B. in den Kindertageseinrichtungen. Dennoch liegt das Angebot an Plätzen je 1 000 Einwohner in Ostdeutschland immer noch höher (39 Plätze) als in Westdeutschland (33 Plätze). Die entsprechende Belastung der kommunalen Haushalte ist aber in Ostdeutschland ungleich größer als in Westdeutschland, wo zwei Drittel des Platzangebotes in Kindertageseinrichtungen durch freie Trä-ger bereitgestellt werden; in Ostdeutschland ist das nur bei etwa einem Drittel der Fall. Zunehmend belastet werden die ostdeutschen Gemeinden auch durch wachsende Sozialleistungen. Die zunehmende Arbeitslosigkeit, die sich in den ersten Jahren -als die Betroffenen noch Arbeitslosengeld und -hilfe erhielten und durch Fortbildungs-, Umschulungs-und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufgefangen wurden -noch nicht so stark auswirkte, schlägt jetzt voll durch.
Die Struktur der kommunalen Ausgabearten indiziert eine Talfahrt der Investitionen, deren Dramatik erst dann so richtig deutlich wird, wenn auch die absolute Reduktion der Einnahmen in Rechnung gestellt wird.
Bedenkt man, wie hoch der Reinvestitionsbedarf in ostdeutschen Kommunen ist, und stellt darüber hinaus in Rechnung, daß die Möglichkeiten der Verschuldung sich drastisch reduziert haben, weil sich der Verschuldungsgrad dem westlichen Niveau angeglichen hat, dann kennzeichnet das die prekäre Finanzsituation der ostdeutschen Städte. Während etwa daran gedacht werden kann, die Förderung von Unternehmen langsam auslaufen zu lassen, ist das für die Kommunen nicht angezeigt. Hier gibt es aufgrund des Sachverhaltes, daß in die kommunale Infrastruktur über einen Zeitraum von sechzig Jahren kaum investiert worden ist, noch ein erhebliches Defizit, das unter den obwaltenden Randbedingungen derzeit aus eigener Kraft nicht behoben werden kann. 3. Revitalisierung der Innenstädte und die Stadt-Umland-Problematik Am Prozeß der Revitalisierung der Innenstädte und der Problematik der Stadt-Umland-Beziehungen läßt sich besonders gut nachvollziehen, welche Konsequenzen die Veränderung der Rahmenbedingungen für das Verhalten der individuellen und kollektiven Akteure hatte und hat. So war die Aufhebung des Prinzips des „demokratischen Zentralismus“ und die Einführung der Verwaltungsautonomie der Gemeinden (GG Art. 28 Abs. 2) von einschneidender Bedeutung. Der Autonomiegrad der ostdeutschen Gemeinden überstieg in der Nachwendephase sogar den der westdeutschen Gemeinden, weil es die die übergeordneten Planungsvorgaben kontrollierenden Zwischeninstanzen noch nicht gab bzw. weil diese noch nicht funktionstüchtig waren wie etwa die Bezirksregierungen. Dies und eine Reihe weiterer Gründe führten innerhalb kurzer Zeit dazu, daß im stadt-nahen Umland, vorzugsweise an den Schnittstellen von Autobahnen, Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ Abs. 2) von einschneidender Bedeutung. Der Autonomiegrad der ostdeutschen Gemeinden überstieg in der Nachwendephase sogar den der westdeutschen Gemeinden, weil es die die übergeordneten Planungsvorgaben kontrollierenden Zwischeninstanzen noch nicht gab bzw. weil diese noch nicht funktionstüchtig waren wie etwa die Bezirksregierungen. Dies und eine Reihe weiterer Gründe führten innerhalb kurzer Zeit dazu, daß im stadt-nahen Umland, vorzugsweise an den Schnittstellen von Autobahnen, Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ entstanden, und zwar in Größenordnungen, die in mancherlei Hinsicht das im Westen Übliche in den Schatten stellten, während in den Innenstädten der Einzelhandel nicht so richtig erblühen wollte. Dies alles hat Gründe:
Erstens waren dem nach der Wirtschafts-und Währungsunion einsetzenden Kaufkraftschub die dürftigen Verkaufsflächen in den Innenstädten, die zudem zunehmend mit dem Auto 27 angesteuert wurden, nicht mehr gewachsen.
Zweitens standen einer raschen Expansion der Verkaufsfläche gleich mehrere Hindernisse im Wege. Da waren zunächst die ungeklärten Eigentumsfragen. Gerade in den Innenstädten mit ihrer in der Regel kleinen Parzellierung hat das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung einen zügigen Neuanfang erschwert. Gesichtspunkte des Denkmalschutzes behinderten und verzögerten die Planungen. Aber selbst ohne diese Hindernisse hätten die Innenstädte den zunehmenden Verkehr nicht aufnehmen können. Die Infrastruktur -vor allem die Straßen -befand sich in einem katastrophalen Zustand. Man hätte, wie die Verantwortlichen vor Ort sagten, eben alles zu gleicher Zeit schaffen müssen. Dies war nicht möglich, wird sich aber langfristig als Vorteil für die Städte erweisen. Demgegenüber befanden sich die Stadtrandgemeinden in einer ganz anderen Situation. Frei von ungeklärten Eigentumsverhältnissen konnten sie, unterstützt von „Developern“, ebenerdige und großflächige Warenhäuser (zuweilen geringschätzig als „Hüttendörfer“ oder „Flachmänner“ gekennzeichnet) mit ausreichendem Parkraum errichten.
Schon im Jahre 1995 entfiel auf je einen Einwohner in den neuen Ländern zweieinhalbmal soviel Verkaufsfläche in Einkaufszentren wie in den alten Bundesländern 28. Seitdem ist diese weiter gewachsen. In den alten Bundesländern befinden sich Mitte der neunziger Jahre 25 bis 30 Prozent der Verkaufsfläche im Außenbereich der Städte. In Ostdeutschland liegt dieser Anteil bei 55 Prozent. Die Städte können nur etwa 5 bis 15 Prozent der Kaufkraft binden. Bedenkt man ferner die im Vergleich zum Westen geringere Kaufkraft, kann man daran die Probleme ermessen, die einer Revitalisierung der Innenstädte im Wege stehen. Sicher hat die Suburbanisierung des Handels im Westen den innerstädtischen Einzelhandel auch belastet, aber während dieser dort bereits fest etabliert war, als die Warenhäuser auf der grünen Wiese entstanden, hatte der Fachhandel in den ostdeutschen Städten dazu kaum eine Chance.
Dieser Prozeß der Suburbanisierung sowohl des Handels als auch des Wohnens hat sich nicht nur nachteilig auf die Stadtentwicklung ausgewirkt, sondern er bedeutet auch Verbrauch naturnaher Räume und fördert den Verkehr, steht also dem Prinzip der Nachhaltigkeit entgegen. Er verläuft zudem anders als im Westen, nämlich schneller, „naturwüchsiger“ (ungeplanter) und in einer anderen Reihenfolge.
Während im Westen der Wohnsuburbanisierung -begleitet von einem Ausbau der Infrastruktur, besonders der Verkehrswege -die Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ folgten, verlief die Reihenfolge im Osten genau umgekehrt. Die Einkaufszentren in Ostdeutschland wurden gebaut, bevor eine hinreichende Infrastruktur vorhanden war. Zwar findet man sie an günstigen Stellen überregionaler Autoverkehrswege, dennoch ist das Straßenverkehrssystem nicht darauf eingestellt. Konnten sich im Westen die Erbauer der Einkaufszentren an einer bereits ausdifferenzierten Verkehrsinfrastruktur orientieren, kann man für den Osten mit einer gewissen Berechtigung behaupten:
Infrastruktur folgt (hoffentlich) den Einkaufszentren und den Wohnparks.
Die Einkaufszentren sind häufig als Totengräber der Innenstädte apostrophiert und der Beschluß Rückgabe vor Entschädigung als gravierende Fehlentscheidung bezeichnet worden.
Bei einer differenzierten Betrachtung gelangt man zu folgenden Ergebnissen: Die Einkaufszentren haben sehr früh Kaufkraft im Osten gebündelt, die Einkaufsfahrten in den Westen reduziert, Arbeitsplätze geschaffen und Steuereinnahmen gesichert.
Man stelle sich nur einmal den Gründungsboom, der auf der grünen Wiese stattfand, in innerstädtischen Bereichen vor. Eine zweite Zerstörung hätte stattgefunden. So aber konnte der Forderung nach einer autogerechten Innenstadt besser widerstanden werden. Eine Renaissance des Straßenbahn-verkehrs, wie sie häufig von westlicher Seite gewünscht wird, ist in Ostdeutschland nicht notwendig. Die Straßenbahn ist hier ein verbreitetes und effektives Verkehrsmittel.
Die Entscheidung Rückgabe vor Entschädigung hatte ebenfalls nicht nur negative Auswirkungen auf die Stadtentwicklung. Auch bei einer Umkehrung des Prinzips wäre ein beträchtlicher bürokratischer Aufwand unumgänglich gewesen und der Mauschelei vielleicht erst recht Tür und Tor geöffnet worden. Die ursprüngliche Eigentümerstruktur wäre noch mehr verlorengegangen, und die Innenstädte würden noch stärker von anonymen Immobiliengesellschaften und Investorgruppen dominiert. Und wie hätte man mit dem jüdischen Eigentum verfahren sollen, das auch und gerade im innerstädtischen Handel immer eine große Rolle gespielt hat? Und würden heute, bei nachlassender öffentlicher Förderung, immer noch so viele erhaltenswerte Häuser bei fallenden Mieten renoviert? Zudem gab es schon vor Einführung des Investitionsvorranggesetzes Regelungen, daß eine Rückübertragung von Grundstücken dann nicht stattfinden darf, wenn das betroffene Grundstück oder Gebäude für Investitionszwecke benötigt wird
Handel allein ist für die Innenstadtbelebung nicht ausreichend. Das lehren die abendlich leeren Innenstädte Westdeutschlands. Daß sich einiges in Ostdeutschlands Städten nicht nach dem vom Westen vorgegebenen Leitbild entwickeln konnte, wird den ostdeutschen Städten noch einmal zum Vorteil gereichen.
Die Beseitigung der Zerstörung der ostdeutschen Innenstädte wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Dafür, daß es vorangeht, gibt es in Ostdeutschland reichlich Anschauungsmaterial. So wird die Erreichbarkeit der Innenstadt von Halle für 70 000 Bürger von Halle-Neustadt zukünftig durch den Bau einer Straßenbahn verbessert. Funktionale Mischung, Konzentration und Dichte werden durch ein innerstädtisches Projekt gefördert, das zum Teil schon realisiert ist. Tausend Arbeitsplätze werden geschaffen, u. a. haben die Stadtwerke ihren Sitz in die Stadt verlagert, das Funkhaus steht vor dem Bezug, hundert Wohnungen sind fertiggestellt und die „Händel-Halle“ mit 1 500 Sitzplätzen wurde eingeweiht. Der Platz davor wurde durch einen beeindruckenden und künstlerisch überzeugenden Brunnen gestaltet, von dem die bundesweite Öffentlichkeit nur ein Detail -eine vermeintliche Obszönität -wahr-nahm Dies alles sind Sachverhalte, die die Attraktivität und Zentralität einer City nachhaltig steigern, die aber einen langen Planungsvorlauf erforderten.
Daß jetzt das öffentlich finanzierte Anreizsystem von der Förderung von Abschreibungsprojekten auf der grünen Wiese auf innerstädtische Investitionen umgestellt wird ist diesem im ganzen positiv zu bewerteten Prozeß nur förderlich. 4. Blühende Städte?
Läßt man die für die Stadtentwicklung eingangs formulierten Rahmenbedingungen Revue passieren, so ist der Datenkranz für eine prosperierende Stadtentwicklung nicht gerade günstig. Besonders negativ zu Buche schlagen hier aufgrund von Wanderung und generativem Verhalten die defizitäre Bevölkerungsentwicklung, das im Vergleich zum Westen unterdurchschnittliche Einkommen, also die geringere Kaufkraft, die rückläufigen Investitionen, die angespannte Finanzlage der Städte und insgesamt die stagnierende oder gar schrumpfende (Bau-) Wirtschaft.
Die rückläufige Bevölkerungsentwicklung wirkt sich -verbunden mit den Segregationstendenzen -besonders negativ auf die Großwohnsiedlungen aus. Waren die Wohnungen dort früher attraktiv für alle Schichten der Bevölkerung, so besteht heute die Tendenz, daß sie von Bürgern mit überdurchschnittlicher Bildung und Einkommen geflohen werden. Sie ziehen mittlerweile renovierte Altbauten und Einfamilienhäuser im stadtnahen Umland vor. Das macht die Plattenbauten nicht attraktiver. Der Leerstand nimmt zu. Die Wohnungsbaugesellschaften sind mit der Veröffentlichung von Zahlen zurückhaltend. Von punktuellem Abriß und von Rückbau ist unter der Hand die Rede. Die Stadt Schwedt hat nun als erste ostdeutsche Stadt damit einen Anfang gemacht.
Trotz der schwierigen Situation, in denen sich ostdeutsche Städte befinden, und trotz des für die Infrastruktur nach wie vor hohen Investitionsbedarfs dürfen die Erfolge auf dem Wege einer nachholenden Modernisierung -institutionell und materiell -nicht vergessen werden. Vor allem werden die Erfolge deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß die Städte, wie es ein ostdeutscher Dezernent für Wirtschaftsförderung formuliert hat, mit der Wende dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen seien. Verschiedene Dimensionen sind zu unterscheiden:
So ist innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne der Aufbau einer Selbstverwaltung in den ostdeutschen Kommunen, nicht zuletzt durch einen beträchtlichen Personaltransfer (zum großen Teil auf Leihbasis), realisiert worden, der überhaupt erst die Voraussetzung für eine optimale lokalspezifische Stadtentwicklung war.
Die Umweltsituation hat sich grundlegend verbessert, was sich gut an Halle -einer Stadt, die zu DDR-Zeiten als „Dreckloch Deutschlands“ galt -demonstrieren läßt. Der typische Braunkohlegeruch während der Heizperiode ist verschwunden. Die Schwefeldioxidbelastung sank von 115 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahre 1991 (für frühere Zeitpunkte liegen keine Meßpunkte vor) auf etwa 35 im Jahre 1996 und hat sich damit exakt den Werten vergleichbarer westdeutscher Regionen angepaßt Waren im Jahre 1993 noch 23 Prozent der Wohnungen mit Kohleöfen ausgestattet, so waren es 1997 -aufgrund der Umstellung der Heizungen vorwiegend auf Erdgas -nu im Jahre 1996 und hat sich damit exakt den Werten vergleichbarer westdeutscher Regionen angepaßt 33. Waren im Jahre 1993 noch 23 Prozent der Wohnungen mit Kohleöfen ausgestattet, so waren es 1997 -aufgrund der Umstellung der Heizungen vorwiegend auf Erdgas -nur noch 8 Prozent 34. In der Saale kann wieder geangelt und das Trinkwasser, vor dessen Genuß die Zeitungen warnen mußten 35, kann wieder getrunken werden. Mittlerweile nimmt die Stadt innerhalb der ostdeutschen Großstädte hinsichtlich verschiedener Umweltfaktoren einen deutlich besseren Platz ein als der Durchschnitt
Der Lebensstandard ist seit der Wende deutlich gestiegen. Es geht tatsächlich, trotz der bedrückenden Arbeitslosigkeit, „jedem“ materiell besser. Nicht nur das Durchschnittseinkommen, sondern auch das Realeinkommen ist gestiegen. Die Kraftfahrzeugdichte hat inzwischen westdeutsches Niveau erreicht, das gilt auch für die Versorgung mit vielen anderen Produkten. Während etwa zu DDR-Zeiten nur bestimmte Bevölkerungsgruppen vergleichsweise leicht einen Telefonanschluß erhielten, hat die Zahl der Anschlüsse inzwischen fast die in Westdeutschland übliche Dichte erreicht. Hinzu kommt, daß das gesamte Telekommunikationssystem moderner (Glasfaser) als im Westen ist, ein Beispiel für überholende Modernisierung
Die Wohnungssituation hat sich deutlich gebessert. Mußte man in der DDR jahrelang auf die Zuweisung einer Wohnung warten (günstige Voraussetzung: jung verheiratet, Kinder), so können heute bei wachsendem Wohnraumüberhang und steigendem Wohnkomfort die Wohnwünsche rasch -allerdings bei steigendem Anteil an den Lebenshaltungskosten -befriedigt werden. Die Wohnzufriedenheit ist deutlich angestiegen. Waren -Umfragen zufolge -im Jahre 1993 24 Prozent der Befragten mit ihrer Wohnung zufrieden, so waren es im Jahre 1997 schon 53 Prozent. Ähnliches gilt für das Wohnumfeld.
e Überhaupt erreicht die subjektive Zufriedenheit Werte, die überraschen und dem Vorurteil vom „Jammer-Ossi“ hohnsprechen. So beurteilen zwar 56 Prozent der Befragten die wirtschaftliche Situation in den ostdeutschen Bundesländern als schlecht -und die der Stadt Halle zu 50 Prozent die eigene wirtschaftliche Situation kennzeichnen aber nur 20 Prozent als schlecht eine Einschätzung, die der der westdeutschen Bürger vergleichbar ist Hier dokumentiert sich ein unter den empirischen Sozialforschern bekannter Sachverhalt. Für den weiteren Kontext übernimmt man die in der veröffentlichten Meinung verbreitete Einschätzung, stellt aber für sich fest, daß es einem relativ gut geht. Alles in allem ergeben objektive Faktoren und subjektive Einschätzungen also insgesamt ein in der Tendenz positives Bild.
IV. Ostdeutsche Städte -wohin?
Wohin werden sich die ostdeutschen Städte entwickeln? Trotz aller „nachholenden Modernisierung“ werden die ostdeutschen Städte im Vergleich zum Westen ein eigenes Gepräge behalten: Aufgrund gravierenden Verfalls, des daraus resultierenden Investitionsbedarfs und der zunehmend enger werdenden finanziellen Situation wird den ostdeutschen Städten ein „Modernisierungsdefizit“ noch über einige Jahrzehnte erhalten bleiben. Sie werden aber auch ein eigenes Profil behalten, allein schon durch die typischen Großwohnsiedlungen. Diese werden -nicht zuletzt aufgrund der Segregationstendenzen -Problemgebiete bleiben. Positiv bemerkbar machen dürfte sich, daß im Modernisierungsprozeß nicht alle Fehler der westdeutschen Stadtentwicklung (z. B.: autogerechte Stadt) nachvollzogen werden. Im Zusammenhang mit den Anstrengungen zur Funktionsmischung dürfte hier positiv zu Buche schlagen, daß man in der Nachwendezeit die Innenstädte nicht bedingungslos den Großkaufhäusern und dem Autoverkehr öffnen konnte und daß in der DDR -anders als im Westen -manches städtebaulich wertvolle Ensemble überdauert hat und nun restauriert wird.
Ostdeutsche und westdeutsche Städte werden sich also aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichte noch lange unterscheiden. Die Stadt ist eben immer ein Ergebnis ihrer gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Heinz Sahner, Dr. rer. pol. habil., geb. 1938; Professor für Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichtungen u. a.: (zus. mit Andreas Rönnau); Frei Heilberufe und Gesundheitsberufe in Deutschland, Lüneburg 1991; (zus. mit Wendelin Strubelt/Joachim Genosko/Hans Bertram/Jürgen Friedrichs/Paul Gans/Hartmut Häußermann/Ulfert Herlyn) Städte und Regionen -Räumliche Folgen des Transformationsprozesses, Opladen 1996.
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