Die ostdeutschen Regionen im Wandel Regionale Aspekte des Transformationsprozesses
Steffen Maretzke/Eleonore Irmen
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Zusammenfassung
Acht Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung werden die regionalen Disparitäten in Deutschland noch immer maßgeblich von den Ost-West-Unterschieden geprägt. Auch wenn diese Ungleich-gewichte hauptsächlich der Entwicklung vor 1990 geschuldet sind, trugen auch die spezifischen Regelungen des Einigungsvertrages dazu bei, daß die strukturellen Probleme der ostdeutschen Wirtschaft kurzfristig so schonungslos offengelegt wurden. Und weil es vor allem strukturelle und weniger regionale Schwächen waren, die für diese Anpassungskrise verantwortlich sind, äußerten sich auch ihre Symptome in den ostdeutschen Regionen mehr oder weniger ähnlich (Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit, Strukturschwäche). Entsprechend sind auch die regionalen Disparitäten innerhalb der neuen Länder meist deutlich geringer ausgeprägt als in den alten Ländern. Waren die Agglomerationsräume bei der Bewältigung des ostdeutschen Transformationsprozesses anfangs offensichtlich etwas erfolgreicher, so mehren sich nun die Zeichen, daß sich die Entwicklung stärker in die Regionen außerhalb der Zentren verlagert. Der regionale Ausdifferenzierungsprozeß ist demnach auch innerhalb der neuen Länder in vollem Gange, wobei einiges darauf hindeutet, daß die zukünftige regionale Wirtschaftsentwicklung den Abstand zwischen dem besser entwickelten Süden und dem weniger entwickelten Norden der neuen Länder vergrößern wird. Damit ist absehbar, daß sich die regionalen Ungleichgewichte künftig immer weniger auf die Ost-West-Dimension beschränken lassen, was aber eher ein langfristiger Prozeß sein wird. Entgegen der anfangs weitverbreiteten Auffassung, daß dieser Angleichungsprozeß zwischen den alten und neuen Ländern kurzfristig zu bewältigen ist, wird die Verwirklichung dieses Anspruchs -trotz massiver finanzieller West-Ost-Transfers -länger als angenommen dauern. Zwischenzeitlich liegt die Wachstumsrate des ostdeutschen Bruttoinlandsproduktes sogar unter dem westdeutschen Vergleichswert.
I Vorbemerkungen
Mit der Wiedervereinigung sind die räumlichen Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft, in den sozialen und ökologischen Lebensbedingungen in Deutschland wieder gewachsen. Insbesondere die Intensität räumlicher Struktur-schwäche in den alten Ländern wurde durch die Wende stark relativiert, denn mit den Regionen der neuen Länder kamen völlig neue Dimensionen von strukturschwachen ländlichen und altindustrialisierten Räumen in die Diskussion über regionale Unterschiede.
Abbildung 6
Karte 3: Arbeitslosigkeit im Dezember 1997 und Komponenten der Arbeitsmarkt-entwicklung 1991-97.Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR
Karte 3: Arbeitslosigkeit im Dezember 1997 und Komponenten der Arbeitsmarkt-entwicklung 1991-97.Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR
Für die heutigen regionalen Unterschiede in den neuen Ländern gibt es verschiedene Ursachen. Zum einen resultieren sie bereits aus der Zeit vor 1945, wenn man zum Beispiel an das starke Süd-Nord-Gefälle in der Einwohnerdichte oder im Industriebesatz (Industriebeschäftigte je 000 Einwohner) denkt. Zum anderen sind sie ein direktes Ergebnis aus 40 Jahren DDR-Entwicklung. Zwar wurden auch in der DDR anfänglich relativ anspruchsvolle raumordnerische Zielstellungen formuliert, wie etwa die angestrebte Über-windung des traditionellen Stadt-Land-Gegensatzes. Die Vorhaben zur gezielten Umsetzung dieses Anspruchs basierten jedoch zu keinem Zeitpunkt auf einem effizienten und abgestimmten Politik-konzept. In dem Maße,'wie sich die Schwächen sozialistischer Planwirtschaft offenbarten, in dem Maße wurden auch die regionalpolitischen Ziel-stellungen der Absicherung von „höherrangigen“ wirtschafts-und sozialpolitischen Zielen geopfert 1. Solch übergeordnete Ziele waren in den achtziger Jahren u. a. das überdimensionierte Wohnungsbauprogramm, das vorsah, bis 1990 die Wohnungsfrage als soziales Problem zu lösen, die Entwicklung einer eigenständigen Mikroelektronik u. a. m.
Abbildung 7
Karte 4: Wanderungsprozesse Wanderungssaldo im Zeitraum 1991 bis 1996 .Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR
Karte 4: Wanderungsprozesse Wanderungssaldo im Zeitraum 1991 bis 1996 .Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR
Aber auch diese Vorhaben waren letztendlich nicht geeignet, den Wettbewerbsrückstand der DDR-Wirtschaft oder gar die regionalen Un-* gleichgewichte zu verringern. Im Gegenteil: Zum einen wurden vielen Unternehmen durch diese zentralplanwirtschaftlichen Eingriffe Investitionsmittel entzogen, die diese dringend zur Modernisierung ihres eigenen veralteten Kapitalstocks benötigten. Zum anderen konzentrierte sich der Wohnungsneubau meist auf ausgewählte Städte, so daß viele Kommunen selbst Ende der achtziger Jahre noch mit gravierenden Wohnungsproblemen konfrontiert waren. Der Erhalt der vorhandenen Bausubstanz (Wohn-und Wirtschaftsgebäude) und der Infrastruktur wurde zudem grob vernachlässigt.
Abbildung 8
Karte 5: Strukturschwache ländliche Räume; siedlungsstrukturelle und wirtschaftliche Defizite und Entwicklungschancen. Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBR Kreiseaggregate, 1 1 1996
Karte 5: Strukturschwache ländliche Räume; siedlungsstrukturelle und wirtschaftliche Defizite und Entwicklungschancen. Quelle: Laufende Raumbeobachtung des BBR Kreiseaggregate, 1 1 1996
Im Ergebnis der ineffizienten Wirtschafts-und Sozialpolitik der DDR-Regierung bauten sich in den ostdeutschen Regionen flächendeckend massive regionale Strukturschwächen auf. Diese Defizite äußerten sich zu Beginn des deutschen Einigungsprozesses u. a. in: -erheblichen Modernisierungsdefiziten der Wirtschaftsstruktur (hoher Industrie-und Landwirtschaftsbesatz); weitverbreiteten regionalen Monostrukturen und einem niedrigen Niveau der Arbeitsteilung;
-einer einseitigen Ausrichtung der Wirtschaftsstruktur auf die Erfordernisse des RGW-Marktes;
-vielfältigen Ausstattungslücken der Infrastruktur, die zudem stark verschlissen war;
-einem Mangel an leistungsfähigen städtischen Zentren.
Dies waren von gesamtwirtschaftlicher Seite her denkbar ungünstige Ausgangsbedingungen für einen Start der ostdeutschen Regionen in die Marktwirtschaft. Die ostdeutsche Bevölkerung schätzte ihre persönliche Lage entsprechend ein: Auf die Frage „Wie schätzen Sie ihre gegenwärtige wirtschaftliche Situation ein?“ antworteten die Ostdeutschen im Jahre 1990 wesentlich häufiger als die Westdeutschen mit „schlecht“. Nur ein Drittel der Ostdeutschen bewertete ihre Lage mit „gut“ (alte Länder 63 Prozent), wobei die Bewohner der ländlichen Räume ihre Situation etwas ungünstiger als die Städter einschätzten. Daß diese Einschätzungen durchaus realistisch waren, zeigt die spezifische räumliche Dynamik der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse nach der deutschen Wiedervereinigung.
An ausgewählten Beispielen sollen im folgenden die neuen räumlichen Ungleichgewichte (vgl. Karte 1, Tabelle 1 und Tabelle beschrieben werden, wobei die ostdeutschen Strukturen im Mittelpunkt der Diskussion stehen.
II. Wirtschaftskraft und Einkommensentwicklung
Abbildung 2
Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe Arbeitslose je 100 Empfänger von Ifd. Hilfe abhängige Erwerbs-personen Lebensunterhalt. Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR Analyseregionen, Stand 1. 6. 1996 Einkommensniveau und Steuerkraft
Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe Arbeitslose je 100 Empfänger von Ifd. Hilfe abhängige Erwerbs-personen Lebensunterhalt. Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR Analyseregionen, Stand 1. 6. 1996 Einkommensniveau und Steuerkraft
Infolge der desolaten ostdeutschen Wirtschaftsverhältnisse, die durch die Währungsunion schonungslos offengelegt wurden, verschlechterten sich die Voraussetzungen der ostdeutschen Unternehmen zur Bewältigung des anstehenden Transformationsprozesses weiter. Brachen ihnen zuerst vor allem die heimischen Märkte weg, so folgten bald auch die traditionellen Exportmärkte. Die Produktion mußte in den meisten Unternehmen kurzfristig zurückgefahren werden, so daß sich die Wirtschaftskraft allein von 1989 bis 1991 um mehr als 40 Prozent verringerte 2. Mit 206 Milliarden DM trugen die neuen Länder 1991 lediglich 7, 2 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Deutschlands bei, was angesichts eines Bevölkerungsanteils von 19, 7 Prozent extrem wenig war. Diese Entwicklung schlug sich entsprechend im ostdeutschen Beschäftigungssystem nieder. Mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze Millionen) gingen nach der Wende verloren 3. Von diesem Beschäftigungsabbau 2 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt Deutschlands bei, was angesichts eines Bevölkerungsanteils von 19, 7 Prozent extrem wenig war. Diese Entwicklung schlug sich entsprechend im ostdeutschen Beschäftigungssystem nieder. Mehr als ein Drittel der Arbeitsplätze (3, 4 Millionen) gingen nach der Wende verloren 3. Von diesem Beschäftigungsabbau waren alle Regionen und Wirtschaftsbereiche der neuen Länder betroffen.
Den größten Arbeitsplatzverlust verzeichneten die Land-, Forst-und Fischereiwirtschaft sowie das Produzierende Gewerbe. Entsprechend wiesen die ländlichen Räume und die altindustrialisierten Regionen, auf die sich diese Wirtschaftsbereiche konzentrierten, auch die stärksten Beschäftigungseinbußen auf. Traf der Beschäftigungsabbau anfangs ländliche wie stärker industriell geprägte Regionen gleichermaßen (Altmark, Nordthüringen, Oberlausitz-Niederschlesien, Prignitz-Oberhavel, Vorpommern), so verlagerte er sich nach 1992 stärker auf Industrieregionen wie Dessau, Mittleres Mecklenburg/Rostock (Schiffbau), Halle/Saale und Chemnitz/Erzgebirge, deren Wirtschaftsstruktur vor 1990 sehr stark durch den Maschinen-, Fahrzeug-und Elektrogerätebau geprägt wurde 4. In diesen Regionen verringerte sich die Zahl der sozial-versicherungspflichtig Beschäftigten von 1992 bis 1997 nochmals um mindestens 12 Prozent. Die Beschäftigungsgewinne im Dienstleistungsbereich, zum Teil auch in den Bereichen Handel, Verkehr und Nachrichtenübermittlung konnten die enormen Beschäftigungsverluste im Produzierenden Gewerbe sowie in der Land-, Forst-und Fischereiwirtschaft jedoch nicht kompensieren.
Der sich vollziehende Strukturwandel hat die ostdeutschen Wirtschaftsstrukturen spürbar verändert (vgl. Tabelle 1). So arbeiteten 1997 bereits 65 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten im Dienstleistungssektor 5 (alte Länder: 63 Prozent). Damit wurde die dominante Position des primären 6 und sekundären 7 Sektors im ostdeutschen Beschäftigungssystem abgebaut und eine Angleichung der Wirtschaftsstrukturen an westdeutsche Beschäftigungsmuster erreicht. Während der höhere Beschäftigungsanteil des primären Sektors in den neuen Ländern hauptsächlich aus der traditionell gewichtigeren Rolle der Landwirtschaft im ostdeutschen Beschäftigungssystem resultiert und daher wohl eine Besonderheit der neuen Länder bleiben wird, ist der Bedeutungsverlust des Produzierenden Gewerbes eher kritisch zu werten. Kamen in den stark industrialisierten Regionen Sachsens 1989 noch fast 280 Industriebeschäftigte auf 1 000 Einwohner, so waren es Mitte 1997 bereits weniger als 100. Im Ergebnis dieser nahezu flächendeckenden Deindustrialisierung ostdeut-1 scher Regionen liegt der Industriebesatz inzwischen selbst an den traditionellen ostdeutschen Industriestandorten unter dem Niveau der ländlichen Räume im Westen (vgl. Karte 2).
Daß sich die Wirtschaftsstrukturen in Ost und West zwischenzeitlich nahezu angeglichen haben, bedeutet aber noch nicht, daß der ostdeutsche Strukturwandel bereits erfolgreich bewältigt wäre. Zum einen weisen alle Wirtschaftsbereiche der neuen Ländern noch immer enorme Produktivitätsrückstände gegenüber dem Westen auf Zum anderen erweist sich gerade die flächendeckende Deindustrialisierung der ostdeutschen Regionen als eine schwere Bürde für die Initiierung eines sich selbst tragenden Aufschwungs. Den sich erst entwickelnden produktionsorientierten Dienstleistungen fehlen die großen Industrieunternehmen, die qualitativ hochwertige Dienstleistungen nachfragen. Franz-Josef Bade verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß „Dienstleistungssektor und Produzierendes Gewerbe einer Region . . . in der Regel in einem ähnlichen, für die Region typischen Verhältnis zu ihrer jeweiligen Bundes-entwicklung stehen. Schneidet das Verarbeitende Gewerbe überdurchschnittlich ab, so wachsen auch die Abteilungen des Dienstleistungssektors besonders intensiv. Wird dagegen in einer Region das Verarbeitende Gewerbe überdurchschnittlich abgebaut, dann fällt (auch) die Expansion der Dienstleistungen bescheiden aus“ Da zudem gerade der Handel und das haushaltsorientierte Dienstleistungsgewerbe in bedeutsamem Maße von der regionalen Nachfrage und damit auch von der regionalen Einkommens-und Beschäftigungsentwicklung abhängen, werden sich die Entwicklungschancen für die ostdeutschen Dienstleistungsunternehmen wohl auch in den nächsten Jahren weiter schwierig gestalten.
Seit 1991 hat sich die Wirtschaftskraft der ostdeutschen Regionen kontinuierlich erhöht. 1997 erwirtschafteten die Ostdeutschen bereits ein Bruttoinlandsprodukt von 422, 1 Milliarden DM, was einem Anteil von 11, 6 Prozent entspricht. Dieser Wert liegt zwar immer noch deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil, aber erheblich über dem Ausgangs-wert von 1991. Vor allem die ländlich geprägten Regionen Mecklenburg-Vorpommerns sowie zahlreiche andere strukturschwache Regionen weisen ein weit unterdurchschnittliches Niveau der Wert-schöpfung auf. Entsprechend niedriger liegen dort auch die Kaufkraft der Bevölkerung und das Steueraufkommen der Kommunen. Nimmt man die durchschnittliche Kaufkraft eines Einwohners in Deutschland von 1997 als Maßstab (1997 = 28 625 DM), so erreichten viele der ostdeutschen strukturschwachen Regionen nicht einmal 70 Prozent dieses Durchschnittswertes. In den Kreisen Demmin, Uecker-Randow, Stollberg und Güstrow waren es weniger als 20 000 DM je Einwohner, in vielen kreisfreien Städten der neuen Länder dagegen zum Teil weit über 25 000 DM (Dresden-Stadt 26 083 DM). Einmal abgesehen von Berlin (Berlin-gesamt 29 080 DM), entspricht aber selbst dieses Niveau lediglich den Werten, die in den alten -Län dern von den strukturschwächsten Regionen erreicht werden. Die regionalen Kaufkraftunterschiede sind im Westen aber noch immer stärker ausgeprägt als im Osten. So lag das Kaufkraftniveau in den Räumen München, Frankfurt am Main sowie in den Hauptstädten der Bundesländer Nordrhein-Westfalens, Baden-Württembergs und Hessens 1997 zum Teil weit über 35 000 DM (Hochtaunuskreis im Umland Frankfurts 40 196 DM).
Die Einwohnerdichte, das Niveau der Arbeitslosigkeit und die sektorale Wirtschaftsstruktur beeinflussen deutlicher als im Westen das Einkommensniveau der Ostdeutschen Regionen mit einer geringen Einwohnerdichte, mit einem hohen Niveau der Arbeitslosigkeit und/oder latenten Schwächen der Wirtschaftsstruktur sind in den neuen Ländern viel eher auch Regionen, in denen die Bevölkerung nur ein vergleichsweise niedrigeres Einkommen realisiert. Paradoxerweise sind es aber gerade die kaufkraftstarken, verdichteten Gebiete, also die ostdeutschen Städte, in denen die Abwanderungsraten am höchsten sind. Dies ist ein raumwirksamer Ausdruck der zunehmenden Abwanderung der städtischen Bevölkerung ins engere und weitere Umland der Städte; ein Suburbanisierungsprozeß, der in den westdeutschen Regionen schon seit Jahrzehnten abläuft, der sich in den ostdeutschen Regionen aber erst nach der Wiedervereinigung entfalten konnte.
Infolge der sich durch alle Wirtschaftsbereiche ziehenden Produktivitätsrückstände stehen die ostdeutschen Unternehmen nach wie vor unter einem erheblichen Rationalisierungsdruck. Da das ostdeutsche Einkommensniveau bisher schneller als die Produktivität stieg, wurden die Ost-West-Unterschiede beim Einkommen stärker abgebaut als bei der Produktivität. Erreichte das monatliche Nettoeinkommen eines ostdeutschen Arbeitnehmers 1997 mit 2 270 DM bereits 85 Prozent des westdeutschen Niveaus, so waren es bei der Produktivität mit 69 700 DM erst 60 Prozent Diese erheblichen Unterschiede von Einkommens-und Produktivitätsniveau machen auf ein latentes Freisetzungspotential an Beschäftigung aufmerksam, welches noch immer mehr oder weniger alle Wirtschaftsbereiche betrifft Stellt man beispielsweise die Frage, wie viele Arbeitskräfte zur Erstellung des Bruttoinlandsproduktes von 1997 -bei unterstelltem Westniveau der Produktivität -benötigt würden, dann wären in den neuen Ländern noch immer etwa 2, 4 Millionen Erwerbstätige (39, 6 Prozent) „entbehrlich“. Besonders betroffen wären die Länder Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen-Anhalt, weisen sie derzeit doch die größten Produktivitätsrückstände auf. Eine ungebremste Freisetzung dieses Potentials würde allerdings massive sozialräumliche Konflikte heraufbeschwören, schließlich gab es 1997 in den neuen Ländern, bezogen auf 1 000 Einwohner, bereits weniger Erwerbstätige (393) als in den alten Ländern (418). Ein weiterer Beschäftigungsabbau würde unweigerlich zu einer weiteren Verfestigung der Ost-West-Disparitäten führen und wäre daher u. a. mit den Leitvorstellungen des Raumordnungsgesetzes unvereinbar, das einen Ausgleich der räumlichen und strukturellen Un-gleichgewichte zwischen den bis zur Herstellung der Einheit Deutschlands getrennten Gebieten* sowie die Herstellung regional gleichwertiger Lebensverhältnisse anstrebt.
III. Regionale Arbeitsmarktdisparitäten
Abbildung 3
Tabelle 1: Ausgewählte regionale Strukturindikatoren Alte Länder Neue Länder. Quelle Laufende Raumbeobachtung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, eigene Berechnungen.
Tabelle 1: Ausgewählte regionale Strukturindikatoren Alte Länder Neue Länder. Quelle Laufende Raumbeobachtung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, eigene Berechnungen.
Der bisherige Beschäftigungsabbau war mit gravierenden Umstrukturierungen verbunden (vgl. Tabelle 2). Die Ergebnisse des Arbeitsmarkt-Monitors zeigen, daß bereits 1993 nur noch 29 Prozent der ostdeutschen Erwerbstätigen seit 1989 ununterbrochen im selben Betrieb beschäftigt waren Demnach mußten sich fast drei von vier Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt völlig neu orientieren, ein Großteil wurde arbeitslos.
Seit der Wiedervereinigung hat sich die Zahl der Arbeitslosen in allen ostdeutschen Regionen beachtlich erhöht. Im Juni 1998 waren fast 4, 1 Millionen Personen arbeitslos, womit die Arbeitslosenquote bundesweit bei 11, 7 Prozent lag. Obwohl sich das Niveau der Arbeitslosigkeit seit 1991 auch in den alten Ländern kontinuierlich erhöhte, lag die ostdeutsche Arbeitslosenquote Mitte 1998 noch immer mehr als 84 Prozent über dem westdeutschen Niveau. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich auch die Reintegrationschancen der Arbeitslosen. Ganz gleich, welche soziale Gruppierung man dabei herausfiltert, sowohl bei den Langzeitarbeitslosen wie auch bei der Gruppe der Ausländer liegt das Niveau der Arbeitslosigkeit weit über dem westdeutschen Vergleichswert. Am deutlichsten fällt dieser Unterschied bei den Frauen aus. Bezogen auf 100 Erwerbswillige zählte man im Juni 1998 in den neuen Ländern mehr als doppelt so viele arbeitslose Frauen wie im Westen. Besonders benachteiligt waren die Frauen in den verstädterten Räumen der neuen Länder, insbesondere in den sächsischen Regionen Chemnitz-Erzgebirge und Südwestsachsen, in denen die Arbeitslosenquote der Frauen zum Teil mehr als 50 Prozent über der männlichen lag. Eine solch einseitige Benachteiligung der Frauen gibt es auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt nicht. Aufgrund der traditionell geringeren Integration von Frauen in das Beschäftigungssystem bieten dort allerdings auch deutlich weniger Frauen ihre Arbeitskraft an So lag die Erwerbsbeteiligung westdeutscher Frauen 1997 noch immer fast 20 Prozent unter dem ostdeutschen Vergleichswert.
Während sich in den alten Ländern die Arbeitslosigkeit stärker auf die Agglomerations-, d. h. Ballungsräume konzentriert, sind in den neuen Ländern die Regionen außerhalb der Agglomerationsräume stärker betroffen. Noch immer weisen die strukturschwachen und/oder ländlich gepräg Prozent unter dem ostdeutschen Vergleichswert.
Während sich in den alten Ländern die Arbeitslosigkeit stärker auf die Agglomerations-, d. h. Ballungsräume konzentriert, sind in den neuen Ländern die Regionen außerhalb der Agglomerationsräume stärker betroffen. Noch immer weisen die strukturschwachen und/oder ländlich geprägten Regionen der neuen Länder die höchsten Arbeitslosenquoten mit zum Teil weit über 20 Prozent auf (Dessau, Halle/Saale, Mecklenburgische Seenplatte). Infolge des allgemein hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern sind die regionalen Arbeitsmarktdisparitäten 18 im Westen stärker ausgeprägt. Während man in den alten Ländern neben wenigen Regionen mit massiven Strukturproblemen (Ruhrgebiet, Saarland u. a.) vergleichsweise viele Regionen mit eher geringen Problemlagen findet (Bayern und Baden-Württemberg), ist „Strukturschwäche“ in den neuen Ländern noch immer ein flächendeckendes Phänomen. Vor allem die Regionen mit dem ungünstigsten Entwicklungspotential (u. a. Uckermark-Barnim, Prignitz-Oberhavel) 19 sind vergleichsweise stärker mit der Arbeitslosigkeit konfrontiert. So waren im Juni 1998 in vielen dieser Regionen, bezogen auf 100 Erwerbspersonen, mehr als sieben Personen bereits ein Jahr oder länger arbeitslos.
Nach wie vor erfaßt die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern nicht das gesamte Ausmaß der Unterbeschäftigung. Zum einen werden die über 58jährigen und krank gemeldeten Arbeitslosen in der monatlichen Arbeitslosenstatistik nicht erfaßt, stehen sie dem Arbeitsmarkt doch nicht zur Verfügung. Zum anderen wurde zur sozialen Abfederung des ostdeutschen Transformationsprozesses ein umfangreiches Paket arbeitsmarktentlastender Maßnahmen geschnürt, das mittels Vorruhestandsund Altersübergangsregelungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, beruflicher Weiterbildungsangebote, großzügiger Regelungen zur Kurzarbeit u. a. m.den Arbeitsmarkt spürbar entlastet. Im Oktober 1998 kamen fast 650 000 Ostdeutsche in den Genuß solcher Angebote, nachdem diese zwischenzeitlich auf weit unter 400 000 zurückgefahren worden waren. In der Hochphase dieser Maßnahmen, das heißt im zweiten Quartal des Jahres 1991, profitierten mehr als 2, 8 Millionen Personen davon. Konzentrierte sich der Einsatz dieser Instrumente anfangs vor allem auf die Kurzarbeit, so verschob sich ihr Schwerpunkt immer stärker auf die geförderte Beschäftigung in Arbeitsbeschaffungsund Strukturanpassungsmaßnahmen (§ 249h/242s des Arbeitsförderungsgesetzes). Über solche Maßnahmen werden zahlreiche Umweltsanierungsprojekte, soziale Dienste, Jugendhilfe, Kulturarbeit, Denkmalpflege u. a. m. gefördert 20, so daß ihnen in den Regionen eine zum Teil beachtliche strukturpolitische Bedeutung zukommt.
Für den kontinuierlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Regionen Deutschlands ist sowohl die Entwicklung des Arbeitskräfteangebotes, als auch die Entwicklung der Arbeitskräftenachfrage verantwortlich. Schaut man sich die Dynamik dieser Einflußfaktoren im Zeitraum 1991 bis 1997 etwas differenzierter an, so läßt sich der bundesweite Anstieg der Arbeitslosigkeit einzig auf die sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften zurückführen, da sich das Angebot an Arbeitskräften seit 1991 um mehr als drei Prozent verringerte. Die daraus resultierende leichte Entlastung des Arbeitsmarktes führte aber nicht zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit, weil dieser an sich günstige Effekt durch den vergleichsweise stärkeren Beschäftigungsabbau mehr als kompensiert wurde.
In den Regionen Deutschlands entwickelte sich in den letzten Jahren das Angebot bzw. die Nachfrage nach Arbeitskräften zum Teil völlig gegensätzlich (vgl. Karte 3). Während sich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage in den alten Ländern im Zeitraum 1991 bis 1997 sowohl aufgrund des steigenden Angebotes (+ 2, 8 Prozent) als auch infolge der sinkenden Nachfrage (-2, 2 Prozent) weiter öffnete, stieg die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Ländern einzig aufgrund des drastischen Beschäftigungsabbaus weiter an. Obwohl sich das ostdeutsche Arbeitskräfteangebot seit Ende 1991 um fast 20 Prozent verringerte, reichte die daraus resultierende Entlastung des ostdeutschen Arbeitsmarktes nicht aus, um den drastischen Nachfragerückgang (-27 Prozent) zu kompensieren.
In den alten Ländern gestaltete sich dieses Wechselspiel der Entwicklung von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage noch vielfältiger. Neben Regionen, in denen sich die Zahl der Arbeitslosen trotz einer beachtlichen Ausweitung der Beschäftigung, also einzig aufgrund der noch stärkeren Zunahme des Arbeitskräfteangebotes erhöhte (Hamburg-Umland-Süd, Hochrhein-Bodensee, Osnabrück u. a.), gibt es viele Regionen, in denen genau das Gegenteil der Fall war. Dort verringerte sich zwar das Arbeitskräfteangebot, demgegenüber fiel der Beschäftigungsabbau -wie im Osten -aber noch stärker aus. Zu diesen Regionen gehören u. a. Stuttgart, Unterer Neckar, Schwarzwald-Baar-Heuberg und Bremen.
In vielen westdeutschen Regionen führten allerdings sowohl eine rückläufige Nachfrage als auch ein steigendes Arbeitskräfteangebot zu einem spürbaren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Beispielhaft sei hier nur die Region Starkenburg im Regierungsbezirk Darmstadt genannt, in der sich die Nachfrage seit Ende 1991 um 1, 5 Prozent verringerte, das Angebot aber um 3, 6 Prozent stieg. Per Saldo stieg die Arbeitslosenquote in dieser Region bis Ende 1997 auf 8, 5 Prozent (+ 131 Prozent).
Die Unsicherheiten auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt sind mit vielen negativen Begleiterscheinungen verbunden: Zum einen engagieren sich die Betriebe angesichts des drastischen Beschäftigungsabbaus und unsicherer Unternehmensperspektiven nur unzureichend in der Berufsausbildung, so daß es einen nahezu flächendeckenden Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen gibt. Zum anderen steigt auch in den neuen Ländern die Zahl der Sozialhilfeempfänger kontinuierlich an. Ende 1997 bezogen bereits rund 389 000 Ostdeutsche Sozialhilfe, womit aber immer noch vergleichsweise weniger Personen als im Westen diese Hilfe in Anspruch nahmen. Waren 1997 in den neuen Ländern 3, 3 Prozent der Menschen von „laufender Hilfe zum Lebensunterhalt“ abhängig, so lag dieser Wert in den alten Ländern bei 3, 6 Prozent. Offensichtlich entwickelt sich das Armutsproblem in den neuen Ländern aber rasanter. So stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den neuen Ländern allein seit 1996 um 23, 9 Prozent, also wesentlich stärker als im Westen (4, 9 Prozent). Im Osten wie im Westen konzentriert sich das Armutsproblem vor allem auf die Agglomerationsräume, während in den Regionen außerhalb der Zentren deutlich weniger Personen „laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“ beziehen müssen.
IV. Trends der regionalen Bevölkerungsentwicklung
Abbildung 4
Karte 2: Deindustrialisierung . Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR
Karte 2: Deindustrialisierung . Quelle: Laufende Raum-beobachtung des BBR
Seit dem Ende der achtziger Jahre änderte sich die Bevölkerungszahl sowohl im Osten als auch im Westen besonders dynamisch. Während sich in den westdeutschen Regionen dieser Bevölkerungszuwachs vor allem auf die geringer verdichteten Gebiete sowie auf das Umland der Agglomerationsräume konzentrierte, ging der Bevölkerungsverlust in den neuen Ländern bisher vor allem zu Lasten der ländlichen Räume. Diese unterschiedlichen Trends der regionalen Bevölkerungsentwicklung resultieren aus z. T. völlig gegensätzlichen Prozessen der natürlichen und räumlichen Bevölkerungsentwicklung. Während sich die Bevölkerungszahl im Westen in starker Abhängigkeit von dem z. T. erheblich schwankenden Außenwanderungssaldo entwickelte, wurde die Bevölkerungsentwicklung in den ostdeutschen Regionen kurz nach der Wende vor allem durch die enormen Binnenwanderungsverluste und den drastischen Geburtenrückgang geprägt.
Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung hat sich das Geburtenverhalten der ostdeutschen Bevölkerung drastisch verändert. Während die Geburtenentwicklung im Westen derzeit vor allem durch den Echoeffekt des Babybooms in den sechziger Jahren bestimmt wird, überlagert von einem leichten Rückgang des Fertilitätsniveaus ab 1991, kam es in den neuen Ländern zu einem weltweit und historisch einmaligen Einbruch der Geburten-zahlen. Innerhalb weniger Jahre verringerte sich die Zahl der Geburten (1989 = 199 000) um mehr als 60 Prozent. Inzwischen sind die ostdeutschen Regionen flächendeckend durch Gestorbenenüberschüsse gekennzeichnet. Erst 1995 kam diese Entwicklung zum Stillstand. Im Ergebnis dieses drastischen Geburtenrückgangs bauten sich gravierende Defizite in der Besetzung der jüngsten Altersgruppen der Bevölkerung auf, die nun -ähnlich den Einschnitten aus den zurückliegenden Weltkriegen -die Bevölkerungsentwicklung der ostdeutschen Regionen noch über viele Generationen hinweg prägen werden.
Die regional differenzierten Trends der Bevölkerungsentwicklung resultieren aber auch aus der unterschiedlichen Partizipation der Regionen an den Wanderungsprozessen (vgl. Karte 4). Wenn man bedenkt, daß allein im Zeitraum 1991 bis 1996 über 38 Prozent der westdeutschen und mehr als 25 Prozent der ostdeutschen Einwohner ihren Wohnort in einen anderen Kreis oder ins Ausland verlegten, wird das gewaltige Umverteilungspotential von Wanderungsprozessen deutlich. Ein Vergleich des Mobilitätsniveaus der ost-und westdeutschen Bevölkerung Ende der achtziger Jahre verdeutlicht, daß die Westdeutschen bisher wesentlich mobiler waren als die Ostdeutschen. Wesentliche Trends der Wanderungen waren in den letzten Jahren u. a.: -umfangreiche flächendeckende Außenwanderungsgewinne; -massive Binnenwanderungsverluste der neuen an die alten Länder, die sich inzwischen aber normalisiert haben, sowie -anhaltende Suburbanisierungsprozesse im Westen sowie ein Anlaufen der Suburbanisierung im Osten.
Allein von 1991 bis 1996 kamen fast 7, 1 Millionen Personen aus dem Ausland nach Deutschland, während 4, 3 Millionen Personen ihren Wohnort ins Ausland verlegten. Per Saldo erhöhte sich also die Bevölkerungszahl Deutschlands infolge dieser Wanderungsverflechtungen mit dem Ausland um ca. 2, 8 Millionen Personen (+ 3, 5 Prozent). Von diesen Zuwanderungen aus dem Ausland profitierten vor allem die westdeutschen Regionen, denn nur 16 Prozent dieser Wanderungsgewinne entfielen auf die neuen Länder. Dieser deutlich unter ihrem Bevölkerungsanteil liegende Wert resultiert u. a. daraus, daß die neuen Länder aufgrund ihrer aktuellen Transformationsprobleme weniger Zu-wanderer aus dem Ausland aufnehmen konnten und die ostdeutschen Regionen aufgrund latenter Integrationsprobleme für Zuwanderer auch weniger attraktiv sind.
Auch die Binnenwanderungen waren in der Vergangenheit für die ostdeutschen wie für die westdeutschen Regionen von herausragender Bedeutung für deren Bevölkerungsentwicklung. Langfristig relativ einseitige Binnenwanderungen brachten in Ost und West eine beachtliche räumliche Umverteilung der Bevölkerung mit sich, sei es nun infolge von Wanderungsgewinnen oder -Verlusten. Während die westdeutschen Regionen bisher vor allem durch starke Nord-Süd-Unterschiede der Binnenwanderung sowie durch Dekonzentrationsprozesse der Bevölkerung geprägt waren, liefen die Wanderungsprozesse der achtziger und neunziger Jahre in den ostdeutschen Regionen stärker auf eine Konzentration der Bevölkerung hinaus. Auch nach Realisierung der deutschen Einheit gestaltete sich die Binnenwanderungsbilanz der ostdeutschen Agglomerationsräume vergleichsweise günstiger. So fielen die Binnenwanderungsverluste der Agglomerationsräume in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung deutlich niedriger aus als in den verstädterten und ländlichen Räumen. Da sich die Wanderungsverflechtung der alten und neuen Länder anfangs relativ einseitig zuungunsten der neuen Länder vollzog -so zogen allein von Anfang 1990 bis Ende 1997 fast 1, 7 Millionen Ostdeutsche in den Westen wurde die ostdeutsche Bevölkerungs-und Sozialstruktur durch diese Abwanderungen massiv und nachhaltig verändert. Inzwischen haben sich diese Wanderungsströme zwischen den alten und neuen Ländern aber wieder normalisiert. Mit der Erhöhung der Attraktivität ostdeutscher Regionen, aber auch aufgrund der starken Belastungen des westdeutschen Wohnungs-und Arbeitsmarktes ziehen immer weniger Ostdeutsche in den Westen. Dagegen stieg die Zahl der Zuzüge aus dem Westen kontinuierlich an. Per Saldo sind die Binnenwanderungsverluste des Ostens an den Westen nur noch minimal.
Auch in den neuen Ländern hat die Suburbanisierung von Bevölkerung und Gewerbe, also die Verlagerung der Wohn-und Gewerbestandorte aus den Kernstädten ins Umland, die Wanderungsbilanzen vieler Regionen spürbar verändert. Dies ist eine Entwicklung, die sich in den ostdeutschen Regionen, im Gegensatz zur Entwicklung der alten Länder, erst nach der Wiedervereinigung entfalten konnte. Inzwischen ist dieser Suburbanisierungsprozeß in den neuen Ländern sogar stärker als im Westen ausgeprägt. Dementsprechend realisierten 1996 insbesondere die Umlandkreise der ostdeutschen Kernstädte weit überdurchschnittliche Binnenwanderungsgewinne, während die Kernstädte und der eher peripher gelegene ländliche Raum nach wie vor z. T. beachtliche Binnenwanderungsverluste aufweisen. Im Osten wie im Westen sind von diesen Wanderungsverlusten vor allem die strukturschwachen Regionen betroffen. In den neuen Ländern gehören beispielsweise die Mehrzahl der eher ländlich peripher gelegenen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns (außer Westmecklenburg) sowie die Region Prignitz-Oberhavel dazu. Aber auch stärker altindustriell geprägte Regionen wie Halle/Saale, Oberlausitz-Niederschlesien. Dessau oder Magdeburg sind ein Schwerpunkt der Abwanderung. In den alten Ländern waren vor allem die Regionen Dortmund, Saar und Duisburg/Essen von kontinuierlichen Binnenwanderungsverlusten betroffen.
V. Entwicklungsperspektiven
Abbildung 5
Tabelle 2: Entwicklung ausgewählter regionaler Strukturindikatoren Alte Länder Neue Länder 7) Deutschland .Quelle: Laufende Raumbeobachtung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, eigene Berechnungen.
Tabelle 2: Entwicklung ausgewählter regionaler Strukturindikatoren Alte Länder Neue Länder 7) Deutschland .Quelle: Laufende Raumbeobachtung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, eigene Berechnungen.
Die regionalen Disparitäten sind innerhalb der neuen Länder noch immer weniger stark ausgeprägt als in den alten Ländern. Ihre Entwicklung wurde im wiedervereinigten Deutschland anfangs maßgeblich von den strukturellen Unterschieden zwischen den alten und neuen Ländern überlagert. Aus diesem Grunde wiesen die vielfältigen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Disparitäten in erster Linie auch eine Ost-West-Dimension auf.
Die Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß die ostdeutschen Regionen sehr unterschiedlich auf die Bewältigung des anstehenden Transformationsprozesses vorbereitet waren und reagieren konnten So hatten die Agglomerationsräume, auf die sich die Entwicklung bisher zu konzentrieren schien, offensichtlich geringere Probleme mit der Bewältigung des notwendigen Transformationsprozesses als die ländlichen Räume. Einen Raumtyp „strukturschwache ländliche Räume ohne nennenswerte Entwicklungspotentiale“ gibt es -aus Bundessicht -sogar nur in den neuen Bundesländern. In diesen Regionen überlagern sich die räumlichen Problemstellungen: Die Bevölkerungsdichte ist extrem niedrig, die technische und soziale Infrastruktur unzureichend und das Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln eingeschränkt. Fehlende Arbeitsplätze im sekundären und tertiären Sektor können die im agrarstrukturellen Wandel arbeitslos gewordene Erwerbsbevölkerung nicht auffangen. Die Investitionstätigkeit bewegt sich auf geringem Niveau Beispiele sind weite Teile des mecklenburg-vorpommerischen Binnenlandes und Nordbrandenburgs (vgl. Karte 5).
Nach acht Jahren deutscher Einheit gibt es erste Anzeichen dafür, daß sich die Entwicklungsdynamik aus den Agglomerationsräumen hinaus in einige verstädterte und ländliche Räume verlagert, wie die dortige Bevölkerungs-, Beschäftigungs-und Arbeitslosenentwicklung zeigt. Diese veränderten regionalen Muster sind aber noch sehr instabil und daher kaum fortschreibungsfähig. Dabei wäre ein solcher Wandel durchaus plausibel, denn auch im Westen stiegen die Bevölkerungs-und die Beschäftigtenzahl in den letzten Jahren vor allem außerhalb der Agglomerationsräume
Der Prozeß der regionalen Ausdifferenzierung läuft demnach auch in den neuen Ländern. Einiges deutet darauf hin, daß die zukünftige regionale Wirtschaftsentwicklung den Abstand zwischen dem besser entwickelten Süden und dem weniger entwickelten Norden vergrößern wird. Dies zeigt sich am Investitionsumfang; an der regionalen Struktur der Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes an den Unternehmensgründungen die sich verstärkt in den südlichen Regionen konzentrieren, u. a. m. Im Ergebnis dieser Entwicklungen dürften sich die regionalen Ungleichgewichte künftig immer weniger auf die Ost-West-Dimension beschränken lassen. Erfolgreiche ostdeutsche Regionen werden die struktur-schwachen westdeutschen Regionen überholen, so daß sich die regionalen Unterschiede künftig immer stärker bundesweit vermischen. Aber dies wird ein eher langfristiger Prozeß sein. Zum Abbau der gravierenden regionalen Disparitäten sind allein von 1991 bis 1997 fast eine Billion Mark (895 Millionen DM Netto-Transfer) an öffentlichen Mitteln in die neuen Länder geflossen Mit diesen Geldern wurden u. a. umfangreiche gewerbliche und Infrastrukturinvestitionen initiiert, Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zur Entwicklung des Humankapitals angeschoben sowie die Verwerfungen am Arbeitsmarkt sozial abgefedert. Angesichts der aktuellen Entwicklungen muß realistischerweise jedoch darauf hingewiesen werden, daß trotz dieses enormen finanziellen Engagements von Seiten des Bundes, der Länder und der Europäischen Union die Entwicklungsimpluse nicht ausreichen, um eine sich selbst tragende Entwicklung zu initiieren. So lag die ostdeutsche Seibständigenquote 1996 mit 7, 3 Prozent noch immer weit unter der westdeutschen (10 Prozent) und der Ausbau-und Erneuerungsbedarf der Infrastruktur ist noch immer sehr groß Zudem hat die Dynamik des ostdeutschen Strukturwandels merklich nachgelassen Die Wachstumsraten des ostdeutschen Bruttoinlandsproduktes (BIP) liegen seit einiger Zeit wieder unter dem westdeutschen Vergleichswert, wodurch das Ziel der Verwirklichung „gleichwertiger Lebensbedingungen“ zwischen den Teilräumen wieder in weite Ferne rückt. Selbst wenn die eher optimistische Annahme des Bundesministeriums für Wirtschaft eintrifft, daß die neuen Länder für den Fünfjahreszeitraum 1996 bis 2001 ein reales
Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von jährlich drei Prozent realisieren (alte Länder 2, 5 Prozent), würde der Ost-West-Angleichungsprozeß noch mehrere Jahrzehnte dauern Damit bleibt die strukturelle Abhängigkeit der ostdeutschen Volkswirtschaft von den westdeutschen Güter-und Finanztransfers bestehen. Angesichts knapper finanzieller Ressourcen ist folglich vorprogrammiert, daß die Bewältigung der westdeutschen Strukturkrise und die Ausgestaltung des „Aufschwung Ost“ zunehmend in Konkurrenz zueinander-treten.
Die Fortschritte bei der Bewältigung des ostdeutschen Transformationsprozesses spiegeln sich auch in den Umfragen wider: Die Ostdeutschen sehen ihre wirtschaftliche Situation inzwischen optimistischer als vor acht Jahren. Auch die Unterschiede im Antwortverhalten der Ost-und Westdeutschen haben sich verringert. 1996 beantworteten mehr als 47 Prozent der Ostdeutschen die Frage „Wie schätzen Sie ihre gegenwärtige wirtschaftliche Situation ein?“ mit „gut“ (alte Länder 52 Prozent). Nur 12 Prozent antworteten mit „schlecht“ (alte Länder 10 Prozent). Der spürbarste Meinungswandel vollzog sich dabei im ländlichen Raum der neuen Länder, wo fast 55 Prozent der Einwohner auf die o. g. Frage mit „gut“ antworteten. 1997 war man bei der Beantwortung dieser Frage wieder etwas pessimistischer, vor allem im ländlichen Raum der neuen Länder. Inwieweit dieser Wandel den zunehmend ungünstiger werdenden Prognosen über eine schnelle Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West oder den Schwächen regionaler Umfragen (zu kleine Stichproben)
ist, kann diesem geschuldet in Zusammenhang nicht beantwortet werden.
Steffen Maretzke, Dr. oec., geb. 1959; seit 1990 Projektleiter in der Bundesforschungsanstalt für Landes-kunde und Raumordnung (BfLR) in Bonn, die 1998 mit der Bundesbaudirektion (BBD) zum Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) zusammengelegt wurde. Veröffentlichungen u. a.: Das Arbeitskräfteangebot in den Regionen Deutschlands bis 2010, Bonn 1995; „Regionalbarometer neue Länder“, Bonn 1995 und 1997. Eleonore Irmen, Dr. rer. nat., geb. 1954; seit 1986 als Wissenschaftlerin an der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) bzw. am BBR; Leiterin des Referates „Räumliches Informationssystem“. Veröffentlichungen u. a.: Räumlicher Strukturwandel: Konzentration, Dekonzentration und Dispersion, Bonn 1994; Typen ländlicher Entwicklung in Deutschland und Europa, Bonn 1997.
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