Die Beziehungen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten sind schlechter, als sie aussehen. Zur Zeit des Kalten Krieges und auch noch eine Weile danach war es umgekehrt. Es gab zahllose „Familienkräche“, aber sie blieben an der Oberfläche, ließen die Interessenidentitäten und das Netzwerk der Zusammenarbeit intakt. Heute gibt es an der Oberfläche nur angenehme Kräuselungen. Die Spitzen der neuen Bundesregierung reisten unmittelbar vor und gleich nach ihrer Bestallung in die USA, wo sie sehr freundlich empfangen wurden. Westeuropa freute sich seinerseits darüber, daß Präsident Clinton und seine Demokratische Partei bei den „mid-turn“ -Wahlen am 4. November so gut abschnitten, daß in Washington wieder mehr Zeit zur Verfügung steht, die Weltläufe zu ordnen.
Dennoch muß vor überzogenem Optimismus gewarnt werden. Am 1. Januar 1999 beginnt die Europäische Währungsunion und verschiebt die Gewichte in der Atlantischen Gemeinschaft. Die seit fünfzig Jahren gewohnte Verteilung der Macht ändert sich, die Gemeinschaft bekommt eine neue Machtfigur.
Die dadurch zu erwartenden Veränderungen in der Atlantischen Gemeinschaft treffen auf neue Politiker-Generationen. Seit 1993 mit der Clinton/Gore-Administration Politiker in Washington die Regierung übernahmen, für die nicht mehr der Kalte Krieg, sondern der Vietnam-Krieg das traumatische Erlebnis ihrer Existenz und ihrer Karriere abgab, haben auch in vielen Staaten Westeuropas Regierungswechsel stattgefunden. In Großbritannien kam im Mai 1997 die Labour Party mit Tony Blair an die Macht, wenige Wochen später mit Lionel Jospin die Sozialistische Partei in Frankreich. Am 27. September 1998 siegte Rot-Grün in der Bundesrepublik, wenige Tage später wechselte die Regierung in Italien zu dem ehemaligen Kommunisten D’Alema und seinen Linksdemokraten. Innerhalb eines Jahres änderten sich in den vier Mittelmächten der Europäischen Union mit den Politikern auch die Perspektiven, von denen aus die Atlantische Gemeinschaft betrachtet wird.
I. Die Änderung der transatlantischen Machtfigur
Die am 1. Januar 1999 beginnende Währungsunion muß sich zwangsläufig zu einer Wirtschaftsunion entwickeln. Über diese Konsequenz wird möglichst wenig geredet, zumal über ihre Folgen zwischen Frankreich und Deutschland Meinungsverschiedenheiten bestehen. Die dezentrale Organisation der Europäischen Gemeinschaft, die jedes Problemfeld mit Einzelermächtigungen regelt, weil sie eben ein Bündnis von Regionalstaaten bleiben und kein zentral organisierter supranationaler Staat werden will, hat die Wirtschaftspolitik in der Kompetenz der Einzelstaaten gelassen. Die Währungsunion hingegen, die am 1. Januar 1999 in Kraft treten wird, ist straff zentral organisiert. Sowohl die Geld-, die Zins-und die Kredit-politik als auch die Wechselkurspolitik wird nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sondern von der Europäischen Zentralbank geregelt werden. Sind die Wirtschafts-und die Währungsunion im Vertrag von Maastricht auch deutlich auseinandergehalten, so sind sie doch aufeinander bezogen. Der Vertrag von Maastricht hat die Wirtschaftspolitik den Einzelstaaten überlassen, der Gemeinschaft aber deren „Überwachung“ übertragen, ebenso die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken Was sich sachlich ohnehin versteht, wird sich langsam durchsetzen, nämlich daß die Währungsunion die Wirtschaftsunion nach sich zieht.
Aber auch ohne diese zu erwartende Folge wird die Währungsunion das „Euroland“ in einen großen Währungsraum verwandeln, der seine Wechselkursbeziehungen eigenmächtig und souverän gestaltet. Es entsteht damit in der Europäischen Union etwas, was die Vereinigten Staaten schon immer kritisiert und, wenn möglich, zu vermeiden gesucht haben: ein Währungsblock. Neben den Dollar-Raum, der bisher wenigstens nominal die ganze Welt umfaßte, tritt ein Euro-Raum, der sein Verhältnis zum US-Dollar selbst regelt. Der Euro gilt ja nicht nur in der Währungsunion, er dient als Zahlungsmittel und als Reservewährung der ganzen Welt, macht dem Dollar also Konkurrenz. Sie wird noch größer werden, wenn, was um das Jahr 2003 zu erwarten ist, Großbritannien der Währungsunion beitritt, Schweden diesem Beitritt folgt, Dänemark ihm vielleicht vorausgeht.
Schon bilden die elf Mitglieder der Währungsunion ein wirtschaftliches Gegengewicht in der Weltwirtschaft. Die Europäische Union insgesamt erzeugt 31 Prozent der Weltproduktion und 20 Prozent des Welthandels. Die Vereinigten Staaten dagegen erzeugen nur 27 Prozent des Weltprodukts und bestreiten nur 18 Prozent des Handels. Der US-Dollar aber war im globalen Finanzsystem überproportional vertreten, bestritt 40 bis 60 Prozent des Finanzvolumens. Damit ist es nach dem 1. Januar dieses Jahres vorbei. Fachleute schätzen, daß der Euro 40 Prozent des globalen Finanzvolumens auf sich ziehen und dem US-Dollar nur einen gleich großen Anteil überlassen wird; 20 Prozent bleiben für den japanischen Yen, den Schweizer Franken und andere Währungen
Damit ist die Dominanz des US-Dollars, der seit 1945 die Welt beherrscht und die USA privilegiert hatte, zu Ende. Im Bereich des Außenhandels war schon die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als einheitlicher Akteur aufgetreten, hatte sich also gegenüber den USA als gleichwertiger und ebenbürtiger Partner präsentiert. Das führte in der Atlantischen Gemeinschaft schon zu erheblichen Schwierigkeiten, sorgte aber auch dafür, daß sie, wie in einer symmetrischen Beziehung üblich, rasch gelöst wurden Diese Parität der Europäer auch auf dem Gebiet der Weltwährungspolitik zu honorieren wird den USA sehr viel schwerer fallen. Denn hier genossen sie zahllose Vorteile. Als „economie dominante“, als „lender of the last resort“, als Besitzer der Weltreservewährung befanden sie sich in der angenehmen Lage, sich über ihre Zahlungsbilanzdefizite keine Sorgen machen zu müssen; sie versorgten das globale Finanzsystem mit der notwendigen Liquidität. Als einziges Land der Welt waren die USA damit von dem Zwang befreit, solche Zahlungsbilanzdefizite ausgleichen zu müssen. Der US-Dollar war, wie das geflügelte Wort in den USA hieß, die Währung Amerikas und das Problem der übrigen Welt.
II. Amerikas Sorgen
Daß die Europäische Union den USA jetzt dieses Monopol streitig macht, wird gravierende weltpolitische Konsequenzen nach sich ziehen. Viele Länder der Welt werden, weil sie fortan im Euro rechnen und zahlen, mehr auf Brüssel als auf Washington hören. Entsprechend groß sind die Sorgen dort.
Offiziell begrüßen die Vereinigten Staaten die Bildung der Europäischen Währungsunion als einen weiteren Schritt zur Vollendung der europäischen Integration. Die war in der deklaratorischen Politik der USA immer sehr hoch besetzt gewesen, in der operativen hingegen nur mit langen Fingern angefaßt und kaum gefördert worden. Sie hatten auch nicht damit gerechnet, daß diese Währungsunion, von der die Europäer seit Jahrzehnten geredet, die sie aber nie zustande gebracht hatten, am Ende doch Wirklichkeit werden würde. Martin Feldstein, der frühere Wirtschaftsberater Präsident Reagans, sieht in der Währungsunion den Auftakt zur politischen Vereinigung Europas mit dramatischen Folgen. „Geleitet von einer Kombination wirtschaftlichen Selbstinteresses, historischer Traditionen und Nationalstolz könnten (die Europäer) Bündnisse suchen und eine Politik betreiben, die dem Interesse der Vereinigten Staaten entgegengesetzt sind.“ Diese Reaktion scheint überzogen, läßt aber das Trauma erkennen, das die Europäische Währungsunion in den USA auslöst. Was die europäische Diskussion verdrängt und ausklammert, wird in den USA sehr deutlich antizipiert. Die Währungsunion muß als logische Folge nicht nur die Wirtschaftsunion, sondern auch die Politische Union nach sich ziehen. Das wird lange dauern, aber unvermeidlich sein.
Die amerikanischen Sorgen sind zumindest mittelfristig unberechtigt. Auch das vereinte Europa wird stets ein solidarischer Partner, Bundesgenosse und Freund der Vereinigten Staaten sein, daran ist gar nicht zu zweifeln. Aber die Atlantische Gemeinschaft wird zu einer anderen Machtfigur werden. Die Währungsunion verschiebt die Machtgewichte in Richtung auf Parität. Währungsund wirtschaftspolitisch wird Euroland genauso stark sein wie die USA; es wird deren ökonomische Hegemonie beenden und den Amerikanern die Gleichberechtigung aufzwingen. Damit einher geht ein spürbarer Machtverlust der USA. Da das Schicksal bekanntlich nicht darin liegt, arm zu sein, sondern reich gewesen zu sein und jetzt arm zu werden, könnte die amerikanische Reaktion heftig ausfallen.
Die Veränderung von Machtfiguren war schon immer ein außerordentlich konflikt-, ja geradezu auch gewalthaltiger Vorgang. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 hatte das bis dahin bestehende europäische Gleichgewicht dermaßen gestört, daß sie als Teilursache zweier Weltkriege begriffen werden muß. Der Ost-West-Konflikt stellte, weil er die Teilung Deutschlands hervorrief und über lange Zeit bewahrte, das Problem ruhig; es tauchte mit der Wiedervereinigung blitzartig wieder auf und wird erst mit der Bildung der Politischen Union Europas und der Integration des wiedervereinigten Deutschlands in diese Union gelöst.
Der Zerfall des modernen Jugoslawiens und die Probleme, die er in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo ausgelöst hat, können durchaus als letzte Nachwehen der Auflösung des Osmanischen Reiches begriffen werden, der Veränderung einer Machtfigur also. Die Gründung des Staates Israel 1948 hat im Nahen Osten Konflikte hervorgerufen, die sich bis heute nicht beruhigt haben. Der indische Subkontinent leidet an der 1948 vorgenommenen Teilung zwischen Indien und Pakistan.
Entstehung und Zerfall von Hegemonien haben die Weltgeschichte schon immer besonders vorangetrieben Der Ost-West-Konflikt wurde nicht zuletzt um den Anspruch der Sowjetunion geführt, die Parität mit den Vereinigten Staaten zu erreichen, ihnen ebenbürtig zu sein. Waren erst die Präsidenten Nixon und Carter bereit, Moskau diese Gleichheit auf dem Gebiet der strategischen Waffen zuzugestehen, so setzte Präsident Reagan alles daran, die amerikanische Suprematie wiederherzustellen. Kaum war das, weil Gorbatschow die Sowjetunion aus dem Rennen nahm, auch gelungen, erwächst dem amerikanischen Vormachtanspruch ausgerechnet aus den Reihen der Verbündeten eine neue Herausforderung. Sie hat politisch einen ganz anderen Stellenwert als die Herausforderung der Sowjetunion, weil sie eine Machtverschiebung bewirkt, die sorgfältiger Aufmerksamkeit bedarf. Westeuropa muß begreifen, daß seine Währungsunion kein harmloser, unpolitischer und allseits mit Freude und Erleichterung aufgenommener Vorgang ist, sondern die Macht der USA deutlich beeinträchtigt.
So richtig, nützlich und unvermeidlich die Bildung der Europäischen Währungsunion ist und so groß das kooperative Wohlwollen ausfällt, das ihr von Washington entgegengebracht wird -die darin enthaltene Machtverschiebung kann einigen Sprengstoff enthalten. In Großbritannien, das der Währungsunion vorab nicht beigetreten und traditionell um seine „special relationship“ mit den Vereinigten Staaten bemüht ist, wird die Europäische Union sogar als der fünfte Versuch Europas begriffen (nach Napoleon, Wilhelm II., Adolf Hitler und der Sowjetunion), eine europäische Hegemonie zu errichten Sie könnte das atlantische Bindeglied zerbrechen und die USA in den Isolationismus zurückführen. Diese Vision überschätzt die europäische Bereitschaft und Fähigkeit zur Supermachtbildung, reflektiert aber sehr anschaulich die historische Größenordnung, in der sich die Europäische Währungsunion bewegt.
III. Europäische Interessen
Auf diese neue Rolle ist die Atlantische Gemeinschaft nicht vorbereitet. Der Generationswechsel hat auf beiden Seiten des Atlantik die alten Politiker aus dem Amt weichen lassen, deren Netzwerke und persönliche Freundschaften dazu beigetragen hatten, daß die unvermeidlichen Irritationen und Probleme leicht wieder aus der Welt geschafft werden konnten. Zwischen den neuen politischen Eliten der USA und Westeuropas ist statt dessen eine gewisse Entfremdung eingetreten. Sie wurde auch in der Bundesrepublik deutlich registriert Die USA klagen seit langem über die Trittbrettfahrer-Mentalität der Europäer, ihre Unfähigkeit zu gemeinsamem Handeln. Die Europäer ihrerseits regen sich über den Unilateralismus der USA auf. Washington entschied im voraus und unilateral, daß nur drei und nicht etwa fünf Staaten Osteuropas zunächst in die NATO aufgenommen werden sollten. Der Kongreß drohte den Europäern mit einem Sekundärboykott, wenn sie die von ihm verhängten Zwangsmaßnahmen gegen Kuba und Iran nicht mittragen, sondern unterlaufen würden. Im Kosovo entschied der amerikanische Sonderbotschafter Richard Holbrook für sich allein, ob die europäischen Sanktionen an-oder abgedreht werden sollten; er hielt es nicht einmal für nötig, die europäischen Mitglieder der Kontaktgruppe von seinem Verhandlungsergebnis mit Belgrad zu informieren. Auf solche Brüskierungen des Hegemon reagieren die neuen Eliten Westeuropas nur öffentlich mit Gelassenheit. Sie kompensieren ihre Ohnmacht mit Ärger bzw. wie Frankreich mit Kooperationsverweigerung.
Besonders aufmerksam wird in diesem Zusammenhang die neue Bundesregierung in Berlin beobachtet werden. Zum ersten Mal ist daran mit dem Bündnis 90/Die Grünen eine Partei beteiligt, deren Mitglieder dem Militärbündnis der NATO und der amerikanischen Führung darin traditionell skeptisch gegenüberstehen. Auch der Widerstand der SPD gegen den einstigen Doppelbeschluß der NATO ist in Washington nicht vergessen worden. Die neue Bundesregierung war daher sehr gut beraten, die von ihr zu erwartende Außenpolitik sehr schnell und ganz deutlich unter das Zeichen der Kontinuität zu stellen, denn der Generationsund Politikerwechsel in der Bundesrepublik muß sich des Argwohns erwehren, möglicherweise auch einen Politikwechsel einzuleiten. In der Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Oktober 1998 wird das „Atlantische Bündnis als unverzichtbares Instrument für die Stabilität und Sicherheit Europas“ bezeichnet. Die „enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA . . . bleibt eine unverzichtbare Konstante der deutschen Außenpolitik. Pflege und Ausbau der deutsch-amerikanischen und der europäisch-amerikanischen Beziehungen sind Voraussetzungen“ für die Bewältigung der globalen Herausforderung.
England und Frankreich haben es da leichter. Der britische Premierminister Blair kann neuerdings sehr wohl für eine stärkere politische Zusammenarbeit der Europäer in der NATO werben; Frankreich kann die Rückkehr in die Organe der NATO verweigern und im Schmollwinkel bleiben, weil sein Anspruch auf das Oberkommando Süd der NATO von den USA so rüde zurückgewiesen wurde. In Washington weiß man, daß auf London wie auf Paris absolut Verlaß ist, wenn es hart auf hart kommt. Zwischen den USA und England herrscht eine „special relationship“, die sich in den Händen Tony Blairs und der Labour Party zwar verändern, aber nicht abschwächen wird. Mit Paris sind die USA seit fast zwei Jahrhunderten in einer „peculiar relationship“ verbunden, deren Verläßlichkeit und Stabilität im zweiten Golfkrieg spon-tan zutage trat. Sie hat schon viele Generationswechsel überstanden. Das muß die „particular relationship“ zwischen Bonn und Washington erst noch beweisen. Präsident Clinton und Bundeskanzler Schröder senden zwar, wie sie sich wechselseitig versichert haben, auf der gleichen Wellenlänge. Sie hat aber nicht die historische Tiefenschärfe, so daß der Generationswechsel viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.
IV. Atlantische Formlosigkeit
Daß der Generationswechsel überhaupt so viel Beachtung verdient, weil er die kommende Machtverschiebung zusätzlich belasten könnte, ist darauf zurückzuführen, daß die Atlantische Gemeinschaft über keinerlei Institutionen verfügt, die den Wechsel der Personen und den Wandel der Gewichte auffangen und verarbeiten könnten. Beides sind eigentlich ganz natürliche Vorgänge, die eine auf Dauer angelegte Staatengemeinschaft mühelos absorbieren sollte. In der Europäischen Union haben sich, seit sie 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, die Machtgewichte erheblich verschoben, ohne die Gemeinschaft zu belasten. Der Ministerrat, die Kommission und das Europäische Parlament haben den Wandlungsprozeß gesteuert. In der Atlantischen Gemeinschaft fehlt dergleichen Instrumentarium völlig. Sie hat nicht einmal einen Ministerrat. Wohl hat sie die NATO, die über einen Ministerrat und eine Parlamentarische Versammlung verfügt. Aber sie ist eine Militärallianz, keine politische Organisation. Mit ihr kann man die Atlantische Gemeinschaft nicht steuern, die in Europa alsbald 25 Mitglieder und fast 300 Millionen Menschen umfassen wird. Für die von der Währungsunion eingeleitete Veränderung der Machtfigur der Atlantischen Gemeinschaft ist die Militärallianz ohnehin nicht zuständig. Dafür fehlt ihr nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Kapazität. Daß die Atlantische Gemeinschaft in den Sachbereichen Politik und Wirtschaft über keinerlei Institutionen verfügt, ist nur zum Teil historisch bedingt. Während der 40 Jahre des Kalten Krieges wurde der Sachbereich der Politik ganz von der militärischen Sicherheit ausgefüllt; die Außenpolitik der Atlantischen Gemeinschaft war vornehmlich Verteidigungspolitik. Die NATO-Grcmien reichten vollständig aus, um die Politik des Bündnisses gegenüber dem Warschauer Pakt zu koordi-nieren. Als sich der Konflikt in den siebziger Jahren entspannte und damit sichtbar wurde, daß es in der Atlantischen Gemeinschaft auch noch andere Probleme mit Abstimmungsbedarf gab, die Wirtschaftspolitik eben und die Weltpolitik insgesamt, wurde in Europa schon darüber nachgedacht, der Gemeinschaft die entsprechenden neuen Institutionen zu geben Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ventilierte der damalige Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt in Bonn, Elbe, 1992 eine Neuorganisation der Atlantischen Gemeinschaft, die sich nicht mehr allein auf die NATO, sondern auf einen neuen Vertrag stützen sollte. Neben der militärischen Kooperation würde er auch die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und Nordamerika organisieren Drei Jahre später, 1995, wurde das Thema europaweit diskutiert. Auf der Wehrkundetagung in München sprachen sich nicht nur der deutsche, sondern auch der französische und der britische Verteidigungsminister für einen „neuen, zweiten transatlantischen Pakt“ aus, der neben den militärischen Beziehungen auch die wirtschaftlichen institutionalisieren und dafür die weltpolitische Aufgabe der Gemeinschaft ins Auge fassen und beschreiben sollte Der britische Verteidigungsminister Malcolm Rifkind unterstützte Verteidigungsminister Rühe in der Auffassung, daß die Verteidigung allein keine ausreichend große Basis für das transatlantische Gebäude abgebe.
V. Betonung der NATO
Im Frühjahr 1995 waren die Würfel in Washington aber schon gefallen, und zwar in eine andere Richtung. Präsident Clinton hatte auf der Gipfelkonferenz der NATO im Januar 1994 seine Bereitschaft erklärt, den Europäern eine größere Selbständigkeit und damit auch größere Mitsprache im Bündnis zu gewähren. Er brach, wie er wörtlich sagte, mit der Politik seiner Vorgänger, die eine solche Selbständigkeit immer verhindert hatten. Präsident Clinton eröffnete den Europäern in Brüssel die Perspektive, in der Westeuropäischen Union enger Zusammenarbeiten und mit ihr auch militärische Aktionen ohne Beteiligung der USA ausführen zu können. Freilich sollte dies im Rahmen der NATO und mit deren Logistik und Gerät geschehen. Den Europäern wurde also eine „separable, but not separate“ Kompetenz zugestanden, eine größere Eigenständigkeit in der NATO, aber unter amerikanischer Oberhoheit. Das Konzept der Alliierten Streitkräftekommandos, der Combined Joint Task Forces (CJTF), war geboren.
Washington brauchte zwar zwei Jahre, um es in der Allianz durchzusetzen; es wurde im Juni 1996 in Berlin gebilligt Es kam den Wünschen und Vorstellungen der Europäer entgegen, ließ aber das Organisationsmonopol der NATO intakt. Das Konzept räumte den Europäern die Möglichkeit zu selbständigen Militäraktionen im Rahmen der NATO ein; es öffnete die Allianz auch für Einsätze „out of area“ und für die Ad-hoc-Zusammenarbeit mit Nicht-Mitgliedern.
Diese Einigung erfüllte zwei amerikanische Wünsche. Erstens wird es keine institutioneile Erweiterung der Altantischen Gemeinschaft geben, keine Konkurrenz zur NATO. Sie bildet nach wie vor den Kern der Beziehung und steht weiterhin unangefochten unter der amerikanischen Hegemonialführung. Zweitens wird die NATO auch für weltweite Einsätze zur Verfügung stehen und damit die globale Hegemonialpolitik der USA unterstützen. Dieses neue Selbstverständnis der Militärallianz soll auf der Jubiläumskonferenz im April 1999 in Washington verabschiedet werden. Das neue strategische Konzept soll festlegen, welcher Art die Bedrohungen sind, gegen die die NATO eingesetzt werden kann, und welche Art von Streitkräften sie dementsprechend aufbauen muß. Neben regelrechten Kriegseinsätzen sind Friedenssicherungsaktionen mit niedrigem und solche mit hohem Gewalteinsatz wie in Bosnien-Herzegowina im Gespräch. Dazu müssen die NA FO-Streitkräfte gut ausgerüstet, sehr effektiv sein und rasch über große Entfernungen . transportiert werden können Umstritten ist die Bindung solcher Einsätze an ein UN-Mandat. Die ursprüngliche Bestimmung der Alliierten Streitkräftekommandos, die Europäische Sicherheits-und Verteidigungsidentität in der NATO zu stärken, wurde also weit nach hinten gerückt. In erster Linie werden diese Alliierten Streitkräfte-kommandos der Flexibilisierung der NATO dienen, die sich künftig, sozusagen stillschweigend, als globales Einsatzkommando versteht. In erster Linie verstärkt das neue Konzept die Fähigkeit der NATO, multinationale Streitkräfte der verschiedensten Waffengattungen weltweit einsetzen und dabei auch mit Nicht-Mitgliedern Zusammenarbeiten zu können Gleichzeitig wurde der Verselbständigung der Europäischen Sicherheits-und Verteidigungsidentität ein weiterer Riegel vorgeschoben. Sie kann nur in der NATO stattfinden. Der Stellvertretende Oberkommandierende der NATO, der traditionell ein Europäer ist, bildet auch das oberste Glied der Kommandokette der Westeuropäischen Union, die auf diese Weise „fest in die Kommandostruktur der NATO eingebettet“ bleibt
VI. Kleine Fortschritte in den Beziehungen
Die Wünsche der Europäer nach einer stärkeren Politisierung der Atlantischen Gemeinschaft verhallten aber nicht gänzlich ungehört. Die in Madrid im Dezember 1995 verabschiedete Neue Transatlantische Agenda und der Gemeinsame Aktionsplan trugen der Tatsache Rechnung, daß sich die Europäer in Maastricht zu einer Politischen Union zusammengefunden und darin auch zu einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) verabredet hatten. Weil die GASP auch nach der Regierungskonferenz von Amsterdam nur deklaratorisch blieb sah die Neue Transatlantische Agenda auf dem Papier sehr viel besser aus als in der Praxis. Ihre vorläufige Bilanz ist „sehr bescheiden“ -jedenfalls was den Sachbereich der Sicherheit und der Politik angeht. Wirksam geworden sind die Verabredungen zu größerer wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Insbesondere der Transatlantische Business Dialogue (TABU) hat die Wirtschaftspartner stärker zusammengeführt und ihre Kooperation erleichtert. Sie hat sich allerdings als nicht so problemlos erwiesen, wie man es ursprünglich angenommen hatte Während die Neue Transatlantische Agenda vom Dezember 1995 faktische Bedeutung nur im Sachbereich der Wirtschaft erlangte, wo ihr im Mai 1998 eine „Transatlantic Economic Partnership“ nachgeschoben wurde, zog sie unter die Neuorganisation der Atlantischen Gemeinschaft einen vorläufigen Schlußstrich. Die Militärallianz der NATO bleibt die Kernorganisation der Atlantischen Gemeinschaft, die hegemoniale Führungsposition der USA bleibt unangetastet. Es gelang den Europäern weder, das organisatorische Gefüge der Atlantischen Gemeinschaft zu verbreitern bzw. ihr einen politischen Rahmen hinzuzufügen, noch konnten sie ihre Verteidigungs-und Sicherheitsidentität im Rahmen des Bündnisses profilieren. Das liegt nicht nur an der erfolgreichen Weigerung der USA, ihre Vormachtstellung einschränken zu lassen; es liegt auch an der Unfähigkeit der Europäischen Union, der Macht der Vereinigten Staaten eine gleich starke Macht zur Seite zu stellen. Wie Amsterdam gezeigt hat, wird die Europäische Union auf absehbare Zeit keine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik entwickeln. Bosnien-Herzegowina und das Kosovo demonstrieren anschaulich, daß die Europäische Union auch als Kollektiv nicht handlungsfähig ist, jedenfalls nicht ohne amerikanische Führung. Die Hartnäckigkeit, mit der die Vereinigten Staaten ihren Machterhalt betreiben, findet ihr Pendant in der Unfähigkeit und der Unwilligkeit der Westeuropäer, auf dem Gebiet der Sicherheits-und Verteidigungspolitik ihre Macht zu steigern. Werden sie sich eines Tages dazu aufraffen, wird Washington, wenn auch widerwillig, die Macht mit ihnen teilen. Bis zu diesem Zeitpunkt aber kann niemand es den USA verdenken, daß sie ihre Machtposition zu bewahren und, wenn möglich, noch auszubauen suchen.
VII. Europas Neuordnung
Ob die Vereinigten Staaten gut beraten sind, die in der Atlantischen Gemeinschaft herrschende Machtverteilung im Sachbereich Sicherheit und Politik bis zur letzten Stelle hinter dem Komma auszureizen, steht auf einem anderen Blatt. Selbst ihre Freunde werfen ihnen inzwischen eine gewisse „Arroganz der Macht“ vor. In Westeuropa herrscht Unbehagen über das Tempo und die Rigidität, mit denen die USA die Europäische Union bei der Neuordnung Europas abgehängt haben. Von der früher betonten Gleichrangigkeit zwischen NATO, Europäischer Union, Europarat und OSZE ist keine Rede mehr. Mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns im April 1999 kommt die Allianz der Europäischen Union zuvor, die frühestens im Jahre 2003, wenn nicht noch später, die ersten neuen Mitglieder aufnehmen wird. Mit dem Einsatz in Bosnien-Herzegowina und mit dem Aufmarsch gegen Belgrad in der Kosovo-Krise im Herbst 1998 hat sich die NATO zum „Sheriff“ in Europas wildem Südosten gemacht. Sie hat damit nicht nur ihren Aufgabenkreis erheblich erweitert, sie hat sich auch zur „Gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation“ aufgeschwungen Den USA ist es ganz offensichtlich gelungen, nicht die Kollektive Sicherheit, sondern die Kollektive Verteidigung zum Leitmotiv der Neuordnung Europas zu erheben, sie auch nicht der OSZE zu überlassen, sondern der NATO zu übertragen Diese Akzentverschiebung wurde nicht nur lange Zeit von den osteuropäischen Regierungen gern gesehen und gefordert; sie befriedigte auch das westliche Sicherheitsestablishment und erfreute in der Bundesrepublik diejenigen, die dadurch die „Nachbarn im Osten. . .dem deutschen Bündnispartner direkt zugeordnet“ sehen
Ob dieses amerikanische Kalkül aufgeht, ist keineswegs sicher. Die Neuordnung Europas hat nur am Rande etwas mit Verteidigungspolitik und Sicherheit zu tun; selbst die NATO rechnet in den nächsten zwanzig Jahren nicht damit, daß irgendeine Art von militärischer Bedrohung sichtbar würde. Es geht vielmehr um Probleme der politischen Stabilität, der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Neuordnung, um Bereiche also, in denen die Westeuropäer nicht nur über konkrete Vorstellungen, sondern auch über Mitwirkungspotentiale verfügen. Wie groß sie sind, wird sich ebenfalls 1999 zeigen, wenn auf der Gipfelkonferenz der OSZE deren neue Charter diskutiert werden wird.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit wird in Europa durchweg höher bewertet als in den Vereinigten Staaten. Zwar sind die hochfliegenden Aufgaben, die der Organisation auf dem Gründungsgipfel in Paris 1990 zugewiesen wurden, etwas zerronnen; auch die Europäer haben nicht verhindert, daß die OSZE nur eine „Nischenexistenz“ führt Washington möchte sie darin auch noch auf ein Minimalprogramm verpflichten. Sie soll sich um die Verhinderung bzw. Lösung von Konflikten kümmern, demokratische Institutionen und die Menschenrechte befördern sowie die Umwelt betreuen Mit diesen Aufgaben wird die OSZE von Washington durchaus ernst genommen und zunehmend auch höher bewertet. Präsident Clinton hat bei seinem Deutschlandbesuch 1998 die OSZE als ein wichtiges Instrument für die Ausbreitung der Demokratie gerühmt In Europa wird der Wert der OSZE aber auch darin gesehen, daß sie die einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation ist. Sie kann dazu dienen, die durch die NATO-Erweiterung bewirkte Entfremdung Rußlands zu überwinden und den besonders in Frankreich und Deutschland gehegten Wunsch nach stärkerer Einbeziehung Rußlands in die Europäische Sicherheitsarchitektur zu erfüllen. In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung wird die OSZE daher zu Recht als „unersetzlich“ bezeichnet. In der nach der Aufnahme der drei osteuropäischen Staaten in die NATO zunächst eintretenden Pause werden die Europäer vor allem über die Osterweiterung der Union, sicherlich aber auch in der neu definierten OSZE versuchen, politisches Terrain wiederzugewinnen.
VIII. Globale Rivalitäten zwischen Partnern
War es den Vereinigten Staaten in der euro-atlantischen Region gelungen, durch die Dominanz der NATO ihre Führungsposition wiederherzustellen und zu stärken, so genoß Westeuropa in der außer-europäischen Welt seine nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wieder vergrößerte Handlungsfrei-heit. Ohne die Zwänge der Lagerbildung konnte Frankreich seine Führungsposition in Afrika, Großbritannien die seine in Südostasien und die Bundesrepublik ihre traditionellen Sonderbeziehungen zu Zentral-und Südamerika verstärken. Sie treffen aber dabei verstärkt auf die Vereinigten Staaten, die nach dem Kalten Krieg ihre globale Präsenz nicht nur beibehielten, sondern ausbauten. 1989 wurde die APEC gegründet, ein loser Zusammenschluß von 18 asiatisch-pazifischen Staaten, die bis zum Jahr 2010 eine Freihandelszone errichten wollen. Die EU ist daran nicht beteiligt, wohl aber die USA, die ihrerseits 1994 die Freihandelszone mit Kanada um zunächst Mexiko zur nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) erweiterten. Hatten sie den Einfluß auf dem afrikanischen Kontinent während des Kalten Krieges weitgehend ihren europäischen Verbündeten überlassen, so meldeten sie sich jetzt auch dort zu Wort. Als erster amerikanischer Präsident nach Jimmy Carter besuchte Bill Clinton im April 1998 sechs Staaten in Afrika und unterstrich damit öffentlich das amerikanische Interesse, das sie durch die Eingriffe in Somalia, durch die Unterstützung der Vertreibung Mobutus aus Zaire (Kongo) und die Bekämpfung der Regierung in Sudan bereits praktiziert hatten. Ihnen geht es dabei natürlich auch um die riesigen Rohstoffvorkommen, nicht zuletzt um das Öl Nigerias, Gabuns und Angolas. Es geht ihnen aber auch um die Festigung ihres Einflusses. Das wurde besonders in Frankreich übel vermerkt, wo Clintons Reise als „kommerzieller Imperialismus“ kritisiert wurde
Hatte schon Präsident Jimmy Carter den Persischen Golf zur vitalen Einflußzone der USA erklärt, so machte Präsident George Bush im zweiten Golfkrieg Ernst mit diesem Anspruch, den Präsident Clinton weiterführt. Sehr zum Verdruß der Franzosen (sowie der Russen und Chinesen) beharrt Washington darauf, den Irak niederzuhalten, wenn es sein muß auch mit Gewalt. Sehr zum Ärger aller Westeuropäer drängen die USA auf die EU-Aufnahme der Türkei. Das vom amerikanischen Kongreß erlassene Investilionsverbol im Iran war derartig gegen die Interessen der Europäer gerichtet, daß sie es -ebenso wie das gegen Kuba gerichtete -nie akzeptierten Frankreich verstieß mit einer Ölinvestition ganz offen dagegen Die Europäische Union war in der Iran-und Kuba-Frage gegen die USA sogar vor den Gerichtshof der Welthandelsorganisation gezogen, hat ihre Klage aber dort Mitte April 1998 auslaufen lassen, um nicht die noch recht junge Welthandelsorganisation selbst zu sprengen Im Nahen Osten, wo der Einfluß der USA seit 1948 dominant ist, meldet nun die EU ihrerseits ihren Anspruch auf Mitsprache an; ob er diesmal mehr als Ärger bewirken wird, ist offen. Amerikanische und europäische Interessen treffen auch im Kaspischen Meer aufeinander, wo es um die Produktion und den Transport des dortigen Ölreichtums geht Hinzurechnen muß man die nun schon traditionelle Konkurrenz zwischen den USA und Westeuropa im Welthandel. Dazu tragen die Europäer mit ihrem Agrarprotektionismus kräftig bei, ohne sich, wie bei ihrer Bananenordnung, von der durch die USA zu Hilfe gerufenen Welthandelskonferenz im mindesten stören zu lassen. In dem amerikanischen Jahresbericht über Handelsbarrieren 1998 wird nach China die Europäische Union genannt, die mit ihren Zöllen und Testverfahren, ihren biotechnologischen Bedenken Importe amerikanischer Waren behindere Dem soll die am 18. Mai 1998 in London verabredete Ifansatlantische Wirtschaftspartnerschaft und die dazugehörige Initiative zur Handelserweiterung abhelfen. Die Europäer verpflichteten sich auf Zugangserleichterungen für amerikanische Produkte in den sensitiven Gebieten
IX. Welthegemon USA?
Ist den Amerikanern der anhaltende Handelsbilanzüberschuß der Europäischen Union gerade angesichts ihrer traditionellen Defizite ein besonderer Anlaß zum Neid so vermuten die Europäer, daß die USA mit ihrer sich ausbreitenden globalen Präsenz das Ziel anstreben, das sie im euro-atlantischen Raum schon erreicht haben: die Position des Hegemon. Dieser Befund bildet das Hauptthema des im Sommer 1998 erschienenen Heftes 111 der Zeitschrift „Foreign Policy“. Die globale Hegemonie der USA wird darin unterschiedlich bewertet, aber übereinstimmend konstatiert. Die Erinnerung an die Nixon-Doktrin von 1969, mit der die USA ein Vierteljahrhundert solcher Hegemonialpolitik mit einer negativen Bilanz verließen, scheint wie ausgelöscht.
Es ist unbestreitbar, daß die amerikanische Führung weltweit gern akzeptiert wird Im asiatisch-pazifischen Raum gelten die USA als die Schutzmacht, von deren Präsenz die Sicherheit aller abhängt. Die Unwilligkeit der Westeuropäer, ihre Außen-und Sicherheitspolitik effektiv zu integrieren, hängt auch damit zusammen, daß sie ihre bilaterale Kooperation mit den USA der multilateralen in Westeuropa noch immer vorziehen.
Wenn die Vereinigten Staaten die Welthegemonie anstreben, so können sie also sicher sein, vielerorts begrüßt zu werden. Wenn irgendein Staat auf dieser Welt für Ordnung sorgen und das Chaos vermeiden kann, dann sind es die Vereinigten Staaten. Sie verfolgen weltweit hartnäckig ihre Ziele, aber im Rahmen eines „aufgeklärten Selbstinteresses, das in der Praxis der Großzügigkeit sehr nahekommt“.
Ob das Projekt der Welthegemonie gelingt und ob es den USA zusteht, ist eine andere Frage. Der erforderliche Machtaufwand ist teuer und ruft zudem geradezu zwangsläufig die Gegenmächte auf den Plan. Insofern erzeugt jede Hegemonie auch die Ursachen ihres Untergangs Die USA hatten das 1943 selbst sehr genau gewußt und deswegen ihre Weltführungspolitik nicht in traditioneller Hegemonialmanier, sondern als Führung einer internationalen Organisation angelegt.
Präsident Bush hatte diesen Ansatz nach 1989/90 wiederaufgenommen und die Vereinten Nationen in das Zentrum der von ihm proklamierten „Neuen Weltordnung“ gestellt. Sein Nachfolger Clinton hat 1993 den Multilateralismus in Asien-Pazifik stärken wollen, indem er die erste Gipfelkonferenz der APEC-Staaten nach Seattle einberief.
X. Multilateralismus der USA?
Warum die USA seit dem Herbst 1994 diese modernen Formen multilateraler Führung hinter sich gelassen und sich dem Unilateralismus traditionaler Hegemonialpolitik hingegeben haben, ist schwer zu erkennen. Sie wußten -und wissen eigentlich immer noch -, daß der Multilateralismus ein sehr flexibles Konzept ist, das es erlaubt, die Führung den unterschiedlichen Kontexten von Zusammenarbeit und Interdependenz anzupassen. Gerade deswegen sollte das Kapitel der Neuordnung der Atlantischen Gemeinschaft neu aufgeschlagen werden Sie braucht über die NATO hinaus Institutionen, die die Interdependenz in den Sachbereichen Wirtschaft und Politik bearbeiten können. Daß den USA darin die Führungsposition zufallen wird, steht außer Frage. Sie in Europa mit den Europäern zu teilen dürfte um so leichter fallen, als sich damit verhindern ließe, daß die Europäische Währungsunion sich als Gegen-macht zum US-Dollar ausgestaltet. Die Atlantische Gemeinschaft ist viel zu wichtig, als daß beide Seiten auch nur das Risiko einer solchen Entwicklung eingehen sollten. Nicht nur der Wohlstand Nordamerikas und Westeuropas hängt von der Stabilität und Weiterentwicklung dieser Gemeinschaft ab, auch die Welt ist darauf angewiesen.
Mit dem Zusammenschluß von elf Staaten zur Europäischen Währungsunion am 1. Januar 1999 wird sich mit der Machtposition der EU auch ihre Verantwortung erhöhen. Es hängt auch von ihr ab, ob sie sich weltwirtschaftlich zum Gegenpol der USA oder zu ihrem Partner entwickelt. In jedem Fall verändert sich die Machtfigur. Amerika muß sich von der Illusion befreien, diese Verschiebung durch die hegemonial organisierte Kooperation in der Militärallianz NATO kompensieren zu können. Die Westeuropäer müssen sich bewußt werden, daß sie nach dem 1. Januar 1999 eine Währungsunion sind, die eine Politische Union werden wird. Wenn sie nicht zur Gegenmacht der USA werden soll, sondern zum europäischen Pfeiler der Atlantischen (Wirtschaftsgemeinschaft, muß die neue Beziehung auch eine neue Form finden. Deren Kennwort ist der Multilateralismus: lokkere, aber geordnete und geregelte Zusammenarbeit. Am 1. Januar 1999 hat die Bundesrepublik die Ratspräsidentschaft der EU übernommen. Ihrer neuen Regierung fällt damit die große Chance zu, in die Diskussion um die zukünftige Machtfigur der Atlantischen Gemeinschaft ein neues -das richtige -Stichwort einzubringen.