I. Die Osterweiterung der Europäischen Union
Am 1. Januar 1999 übernimmt die Bundesrepublik Deutschland turnusgemäß die halbjährige Rats-präsidentschaft in der Europäischen Union. Zum letzten Mal wird eine deutsche EU-Ratspräsidentschaft vom bisherigen Regierungssitz Bonn aus organisiert. Melancholie legt sich dennoch nicht über das bevorstehende Geschehen, denn der Berg an Aufgaben, die es zu bewältigen gilt, verpflichtet unweigerlich zur Aufbruchstimmung. Im Mittelpunkt der Erwartungen und Anforderungen, die an die Bundesrepublik Deutschland gestellt werden, steht die Fortsetzung des Prozesses, der zur Osterweiterung der Europäischen Union führen soll. Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen Mittelost-und Osteuropas sind die rhetorischen Formeln auf seiten aller beteiligten Länder dem nüchternen Prozeß der Beitrittsverhandlungen gewichen. Damit nimmt die Osterweiterung Zug um Zug konkrete Formen an. Zugleich nehmen die möglichen und teilweise unvermeidlichen Spannungen auf seiten aller Beteiligten zu.
Der Europäische Rat vom 12. /13. Dezember 1997 in Luxemburg hatte den Startschuß zu einer neuen Erweiterungsrunde der Europäischen Union gegeben. Auf der Basis der Empfehlungen der Europäischen Kommission in ihrer im Juni 1997 veröffentlichten AGENDA 2000 wurden Anfang April 1998 die Verhandlungen mit jenen Ländern aufgenommen, die aus Sicht des Europäischen Rates in ihren Transformationsprozessen am weitesten fortgeschritten sind. In der AGENDA 2000 waren die Reformanstrengungen aller Beitrittskandidaten gewürdigt worden, zugleich wurde jedoch festgestellt, daß bisher keiner der Beitrittskandidaten die Bedingungen zufriedenstellend erfüllt hat, die die EU 1993 in ihren Kopenhagener Beschlüssen zur verbindlichen Grundlage einer Vollmitgliedschaft erklärt hatte. Äußerst problematisch blieben die Beschlüsse des Europäischen Rates hinsichtlich des Beitrittsantrages der Türkei. Er wurde verworfen, wenngleich die Türkei als möglicher Beitrittskandidat anerkannt wurde. Das Debakel um die schwer belasteten Beziehungen der EU zu dem strategisch sehr wichtigen Land an der Südostperipherie Europas konnte durch die Europa-konferenz, die im Februar 1998 in London stattfand, nicht aufgefangen werden. Die im Grunde allein für die Türkei konzipierte Konferenz fand ohne die bitter enttäuschten Türken statt.
Dennoch haben die Beschlüsse des Europäischen Rates vom Dezember 1997 dem notwendigen und sinnvollen Prozeß der Erweiterung der EU Richtung und Dynamik gegeben. Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen nimmt das neue Europa konkretere institutioneile Konturen an, die auf dem Prinzip der Selbstbestimmung und einem respektvollen Miteinander großer und kleiner Staaten gründen. Der bevorstehende Prozeß der Beitrittsverhandlungen dient dazu, die Reformentwicklungen in den fünf ausgewählten Staaten Mitteleuropas -Zypern ist in dieser Hinsicht ein Sonderfall -in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft konsequent zu fördern und in die volle europäische Integration münden zu lassen. Viel Arbeit muß derzeit bewältigt werden: Der gemeinschaftliche Rechts-bestand, der acquis communautaire, umfaßt 200 000 Textseiten Rechtsvorschriften mit 14 000 Rechtsakten. Mit den Ländern Mitteleuropas, mit denen die Beitrittsverhandlungen begonnen haben, wurden bereits Anfang der neunziger Jahre „Europaabkommen“ geschlossen. Seitdem vollzieht sich ein beispielloser Prozeß der Rechtsangleichung. Die sogenannten Reformländer haben bereits ein großes Stück ihres Weges zurückgelegt, wenngleich in vielerlei Hinsicht eine Angleichung an die gewohnten und rechtlich verbindlichen Verhältnisse innerhalb der EU noch bevorsteht.
Dabei sind die Beitrittsverhandlungen im Grunde keine „Verhandlungen“ im strengen Sinne des Wortes. Schon mancher Spitzenpolitiker der Reformstaaten hat diese Lektion anläßlich eines Besuches in Brüssel zu seiner großen Überraschung -oder auch mit Bitternis -erfahren müssen: Die EU „verhandelt“ im Grunde genommen nicht, sondern erwartet die vollständige Übernahme des acquis communautaire. Insofern sind die „Verhandlungen“ kein partnerschaftliches Geben und Nehmen. Inwieweit die Anerkennung der Bedingungen der EU in den Kandidatenländern noch zu europaskeptischen oder gar europa-feindlichen Gegenreaktionen führen könnte, bleibt einstweilen abzuwarten. Jedenfalls wird die EU unzweifelhaft darauf insistieren, daß, wer der Union beitreten will, die in ihr erreichten Standards anerkennen und seinerseits anstreben muß. Bestenfalls wird die EU mit sich über Ausnahme-regelungen oder Übergangsregelungen sprechen lassen. Die dafür in Frage kommenden Materien umfassen maximal einen Anteil des acquis communautaire von fünfzehn Prozent.
Für die Beitrittsverhandlungen, die mit Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik, Slowenien, Estland und Zypern begonnen worden sind, wird gewöhnlich ein Zeitraum von drei bis fünf Jahren angesetzt, orientiert an den Erfahrungen bisheriger Beitrittsverhandlungen. Der Verhandlungsprozeß ist so flexibel angelegt, daß 1999 noch weitere Beitrittskandidaten dazustoßen könnten -Litauen, Lettland, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien streben ebenfalls die EU-Mitgliedschaft an und wurden einstweilen in eine Art Warteschleife geschickt („pre-ins“). Es ist theoretisch nicht ausgeschlossen, daß eines der Länder, mit denen der Verhandlungsprozeß später aufgenommen wird, am Ende dennoch mit größerer Geschwindigkeit als andere die Beitrittsbedingungen einlösen könnte. In allen Kandidatenländern werden in der nächsten Zeit die Parlamente damit beschäftigt sein, die Gesetzesänderungen zu vollziehen, die zu den gebotenen EU-Rechtsstandards führen sollen. Von dort bis zu einer Situation, in der in der Realität des politischen und gesellschaftlichen Lebens von einer „Angleichung an die EU-Standards“ gesprochen werden kann, ist es indessen noch ein langer Weg.
Damit rücken politische Fragen in den Vordergrund des Verhandlungsprozesses, und es wird Entscheidungsbedarf jenseits der Fachfragen geben: Wie intensiv muß die reale Angleichung gediehen sein, um die Beitrittsfähigkeit eines Landes billigen zu können? Kann es angehen, daß kleinere und periphere Länder früher in die EU aufgenommen werden als andere, die, wie das strategische Schlüsselland Polen, eventuell noch längere Zeit benötigen, um den acquis communautaire umzusetzen und die Realitäten so zu ändern, daß die Verhandlungsergebnisse in allen Parlamenten der EU-Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament erfolgreich ratifiziert werden? Welche Dispute um Ausnahmeregelungen und Übergangsfristen sind noch zu erwarten, geführt mit den unterschiedlichsten Argumenten -sei es von denen, die längere Übergangsfristen aus Schutzgründen für einzelne Branchen der Transformationsökonomien befürworten, sei es von denen, die eben diese Übergangsfristen möglichst begrenzt halten wollen, um die Dynamik der Transformation nicht zu bremsen?
Am wichtigsten wird -vermutlich -schließlich die Frage werden, ob und inwieweit sich die Europäische Union im Verlauf der nun begonnenen Verhandlungen ihrerseits „erweiterungsfähig“ wird machen können: Noch immer herrscht in nicht wenigen Kreisen der EU-Länder prinzipielle Skepsis über Sinn und Auswirkungen einer EU-Osterweiterung. Befürworter einer vertieften europäischen Integration äußern die Sorge, daß die erreichten EU-Standards auf keinen Fall durch neu hinzugekommene Staaten unterhöhlt werden dürften; Empfänger der unterschiedlichen EU-Finanzprogramme befürchten, ihr Förderanteil könnte zugunsten der mitteleuropäischen Neumitglieder reduziert werden.
Weitergehend steht die Frage im Raum, ob die Osterweiterung eine Art Selbstzweck der EU sein wird oder ob im Zusammenhang mit dieser Frage eine längst überfällige Erörterung der „Idee Europa“, der Frage nach den Zielvorstellungen und Zweckbestimmungen des Integrationsprozesses insgesamt, begonnen werden kann. In diese Diskussionen könnten auch die künftigen Neumitglieder mit deutlichen Akzenten eingreifen.
Die politische Sachlage zu Beginn der Beitrittsverhandlungen ist eindeutig: Die Osterweiterung ist politischer Wille der EU und insofern ein Aspekt ihrer Zweckbestimmung und Zukunftsorientierung. Beides aber kann sich darin nicht erschöpfen, wenn dem Auftrag des Amsterdamer Vertrages entsprochen werden soll, die EU auf Dauer als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ weiterzuentwickeln. Noch ist nicht erkennbar, was damit gemeint ist, was die Europäische Kommission oder die Regierungen der Mitgliedsländer der EU darunter verstehen und mit dieser Formel anstreben.
Die EU wird sich jedenfalls auf Fragen nach der konkreteren Ausgestaltung der Amsterdamer Formel einstellen müssen.
II. AGENDA 2000 -die institutioneile Weiterentwicklung der EU
Überlagert werden Grundsatzdebatten dieser Art durch die Unausweichlichkeit einer Reihe interner Reformerfordernisse, die die Europäische Union in ihrem gegenwärtigen Zustand belasten. Deren Verwirklichung wird weder durch eine neue Erweiterung noch durch abstrakte Visionsdebatten ersetzt werden. Die Europäische Kommission hat in ihrer AGENDA 2000 vom 16. Juli 1997 die entsprechenden Stichworte gegeben und diese mit den Legislativvorschlägen vom 18. März 1998 präzisierend weitergeführt. Nicht jede Passage dieser Dokumente ist gleichermaßen überzeugend und widerspruchsfrei. Immerhin aber hat die AGENDA 2000 der EU-Reformdebatte eine Richtung gegeben, die über die Ergebnisse und Umstände der in Amsterdam im Sommer 1997 beendeten Regierungskonferenz der Jahre 1996/97 hinausführt. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft muß vom Europäischen Rat und anschließend vom Europäischen Parlament über die AGENDA 2000 und die Umsetzung ihrer Zielvorstellungen-entschieden werden. Diese Aufgabe ist zur wichtigsten Weichenstellung auf dem Weg zu einer erfolgsorientierten Osterweiterung geworden und mithin zur größten Herausforderung an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft.
Im Kern der AGENDA 2000 stehen folgende Überlegungen und Vorschläge der Kommission zu den Themenfeldern Finanzverfassung, Gemeinsame Agrarpolitik, institutionelle Reformen und Osterweiterung:
Der EU-Haushalt für die Jahre 2000 bis 2006 soll in einer Höhe von 1, 27 Prozent des Bruttosozialproduktes der EU-Mitgliedsstaaten konstant bleiben. Die Haushaltsansätze für die Strukturfonds sollen für den Zeitraum 2000 bis 2006 in einer Höhe von 0, 46 Prozent des Bruttosozialproduktes der EU-Mitgliedsstaaten festgeschrieben werden, woraus folgt, daß für den Zeitraum 2000 bis 2006 210 Milliarden ECU zur Verfügung stehen werden. Der durch den Maastrichter Vertrag 1991 eingeführte Kohäsionsfonds soll in seiner derzeitigen Form mit einer Mittelausstattung von 20, 3 Milliarden ECU für den Zeitraum 2000 bis 2006 weitergeführt werden, wobei jene Mitgliedsstaaten Zugang haben sollen, deren Bruttosozialprodukt pro Kopf unter 90 Prozent des EU-Durchschnitts liegt und die an der dritten Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion teilnehmen. Für die Agrarpolitik wird empfohlen, die 1992 begonnenen Reformen „durch die weitere Abwendung von der Preisstützungspolitik und Hinwendung zu den Direktzahlungen sowie die Entwicklung einer kohärenten Politik für den ländlichen Raum“ voranzutreiben; konkret heißt dies, daß der Interventionspreis für Getreide im Jahr 2000 gegenüber dem Stand von 1997 nochmals um 20 Prozent gesenkt und die je Tonne Durchschnittsertrag gewährte Ausgleichszahlung von 45 auf 66 ECU erhöht werden soll. Die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik soll vorangebracht werden, indem „schrittweise ein integriertes Konzept für die Außenbeziehungen“ entwickelt wird, wobei die Kommission vor allem betont, daß die EU als außenpolitischer Akteur sichtbarer in Erscheinung treten solle. Für die Arbeitsorganisation der Kommission selbst wird „eine grundlegende Neubewertung der Durchführungs-und Verwaltungsfunktion“ vorgeschlagen, die sich an den Stichworten „Dezentralisierung, Rationalisierung und Vereinfachung“ orientieren solle. Schließlich entwickelte die Kommission eine intensivierte „Heranführungsstrategie“ für die EU-Bcitrittskandidaten unter Betonung von „Beitritts-partnerschaften“, in deren Rahmen die EU für die Beitrittskandidaten diverse Formen der „Heran-führungshilfe“ aufbringen soll. Durch die Aufnahme mittel-und osteuropäischer Staaten werden die Interessenkonflikte und die Belastungen für eine solide Dauerfinanzierung der EU, die im Einklang mit den Grundsätzen der AGENDA 2000 stehen soll, weiter zunehmen. Dies ist kein Argument gegen die Osterweiterung. Die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Sachverhalten ist vielmehr eine notwendige Bedingung ihres Erfolges. In der AGENDA 2000 wurde in einer Wirkungsanalyse der Mitgliedschaft der beitrittswilligen Länder Mittel-und Osteuropas auf die zentralen Aspekte im Hinblick auf die Politikfelder der EU hingewiesen: Die zehn Beitritts-kandidaten Mittel-und Osteuropas liegen mit ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt heute erst bei 32 Prozent des EU-Durchschnitts und damit zugleich weit hinter den vier strukturschwächsten Staaten der heutigen EU zurück. Würden die derzeit gültigen Finanzierungsinstrumente linear fortgeführt, so würde die Bevölkerung, die Anspruch auf Förderhilfen durch die EU erheben könnte, auf einen Anteil von sechzig Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ansteigen. 22 Prozent der Erwerbstätigen in den Beitrittskandidaten-Staaten sind nach wie vor in der Landwirtschaft tätig (insgesamt 9, 5 Millionen Menschen), während es in den heutigen EU-Staaten lediglich fünf Prozent (8, 2 Millionen Menschen) sind.
III. Zukünftige Struktur-und Agrarpolitik
Auch wenn in Rechnung gestellt wird, daß durch die Aufnahme aller Beitrittskandidaten über 100 Millionen Verbraucher zusätzlich in den EU-Binnenmarkt eintreten würden, bleiben Anpassungserfoidcrnisse für die Finanzordnung und die Agrarpolitik der EU bestehen, die weit über die Reformnotwendigkeiten früherer Jahre hinausgehen. Mitte März 1997 hat die Kommission ihre Reformvorschläge konkretisiert. Sogleich brachen Interessenkonflikte innerhalb der EU aus, die im Angesicht der Zielsetzungen der AGENDA 2000 zu erwarten gewesen waren. In bezug auf die Strukturpolitik strebt die Kommission sowohl eine geographische Konzentration als auch eine inhaltliche Bündelung der Strukturförderung an. Die bisherigen sechs sollen auf drei Ziele reduziert werden: Ziel 1 wäre die Förderung der Regionen mit den größten Entwicklungsrückständen, Ziel 2 soll neben der Förderung von Regionen mit alten Industriezweigen die Hilfen für städtische Problemzonen umfassen, Ziel 3 soll den Bogen zum Beschäftigungskapitel des Amsterdamer Vertrages spannen und Fördermaßnahmen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit beinhalten. Insgesamt soll der Anteil der EU-Bevölkerung, der in den Genuß von Strukturhilfen kommt, von bisher 51 auf höchstens 40 Prozent sinken. Vor dem Hintergrund der Folgen, die die Realisierung der Vorschläge der Kommission auch für Deutschland hätte -zwar sollen die neuen Bundesländer bis 2006 in der höchsten Förderstufe (Ziel 1) verbleiben, jedoch würden nach den Kriterien des Kommissionsentwurfes nurmehr einige wenige Landkreise förderungswürdig sein -, bleibt es widersprüchlich, wenn hierzulande einerseits eine großzügige Unterstützung von Mittel-und Osteuropa gefordert, andererseits aber eine Neuausrichtung der Strukturpolitik, die schließlich nicht nur zu Lasten deutscher Regionen gehen müßte, verworfen wird. Darüber hinaus ist eine Diskussion über den Beitragsanteil des Landes am EU-Gesamtbudget aufgebrochen -1999 wird er 27, 7 Prozent betragen-und läge damit um 1, 5 Prozent über dem deutschen Anteil am Gesamtbruttosozialprodukt der
EU. Ähnlich stellt sich die Situation in bezug auf die „Gemeinsame Agrarpolitik“ dar. Die Vorschläge der Kommission gehen nicht weiter, als derzeit opportun erscheint. Fachleute haben kritisiert, daß eine vollständige Entkoppelung der Ausgleichszahlungen für Ackerkulturen sinnvoll gewesen wäre, da mit der Bindung der Ausgleichzahlungen an bestimmte Produkte ein problematischer Anreiz zur Weiterproduktion bestehenbleibt. Zugleich wurde beklagt, daß für den Milchmarkt bis zum Jahr 2006 die Quotenregelung beibehalten werden soll. Vor allem aber wurde in diversen Stellungnahmen auf die Widersprüche hingewiesen, die zwischen den Kommissionsvorstellungen zur Agrar-und zur Strukturpolitik bestehen. Während einerseits die Agrarpolitik durch eine Entwicklungsförderung aller ländlichen Räume flankiert werden soll, wird andererseits bei den Vorschlägen zur Strukturpolitik das Prinzip einer selektiven Förderung ländlicher Räume postuliert, nicht aber aller in Betracht kommenden ländlichen Räume. Vor allem in den reicheren Mitgliedsstaaten, deren ländliche Räume zu großen Teilen aus der EU-Förderung herausfallen würden, wird sich der Widerstand organisieren. Wieder einmal könnte es zu EU-Kompromissen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner kommen.
Vorsorglich hatte es schon in der AGENDA 2000 geheißen, daß „radikale Lösungen wie drastische Preiskürzungen und eine schnelle Abschaffung des Quotensystems“ nicht gerechtfertigt seien und von der Kommission abgelehnt würden. Kritiker befürchten, daß minimale Lösungen am Ende weder den Reformerforddrnissen innerhalb der EU noch den Anforderungen aus der bevorstehenden Osterweiterung genügen würden. Vornehm hatte die Kommission in der AGENDA 2000 angedeutet, daß es derzeit -unabhängig von den Auswirkungen der Erweiterung -„nicht zweckmäßig“ sei, die Methoden der Agrarpolitik neu zu bestimmen, „doch könnte diese Frage noch vor 2005 wieder aufgegriffen werden“. Drastisch und undiplomatisch formuliert: Die Vorschläge der AGENDA 2000 und die von der Kommission vorgelegten Legislativvorschläge sind bestenfalls ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ob es allerdings einfacher wird, grundsätzliche Veränderungen der „Gemeinsamen Agrarpolitik" im Sinne eines Subventionsabbaus und einer verbraucherfreundlichen. da preisreduzierenden Liberalisierung desWettbewerbs nach der ersten Osterweiterung durchzusetzen, bleibt dahingestellt. Denn kein Neumitglied wird sich als zweitklassig abkanzeln lassen, wenn es erst einmal Teil der EU geworden ist und seine Bauern die Vorteile der Agrar-und Strukturpolitik der EU genießen. Zehn Staaten mit rund 100 Millionen Bürgern haben an die Tür der EU geklopft. In den kommenden Jahren stehen sie in der Pflicht, sich an den acquis communautaire anzupassen, das heißt, ihre Gesetzgebung gemeinschaftskonform zu machen. Offen bleibt dann noch immer die Frage, in welchem Verhältnis die formelle Übernahme des Gemeinschaftsbestandes zur tatsächlichen Realität in den Beitrittsländern und ihren Gesellschaften stehen wird: von den Hygienebedingungen der Schlachthöfe bis zur Sicherheit und dem Umweltschutz im Energiesektor. Während des nun beginnenden Verhandlungsprozesses muß über diese Sachfragen hinaus immer wieder eine neu aufflackernde Debatte über die Frage erwartet werden, warum und zu wessen Gunsten die Osterweiterung der Union überhaupt realisiert werden soll. Die Solidaritätskraft des integrierten EU-Raumes mit den Reformstaaten Mittel-und Ost-europas scheint eher geschwunden zu sein, wenngleich die Richtung an sich beim Luxemburger Gipfel im Dezember 1997 unumkehrbar festgelegt werden konnte. Das letzte Wort über Nutzen und Risiken der Osterweiterung ist aber wohl noch nicht gesprochen. Die Befürworter Mittel-und Osteuropas sollten sich darauf einstellen, wenn es im Zuge der Beitrittsverhandlungen nicht länger um wohlfeile Absichtserklärungen, sondern um konkrete Detailansprüche und Interessenkollisionen gehen wird. Beitritts-und Integrationsvorbehalte gibt es sowohl im Kreis der jetzigen EU-Mitgliedsländer als auch, eher mit zunehmender Tendenz, in den Kandidatenstaaten.
Dispute sind in der nächsten Zeit aber auch denkbar zwischen jenen Ländern, die als erste in die EU hineingelangen, und den anderen Beitrittskandidaten. Nach den Vorstellungen der AGENDA 2000 würden jene Länder, die als erste in die EU aufgenommen werden, ein doppelt so hohes Zugangsrecht zu EU-Mitteln erhalten wie jene, die in der ersten Runde noch nicht dabeisein werden. Unabhängig von den Beschlüssen des Luxemburger EU-Gipfels, die Strategie für die Heranführung aller Beitrittskandidaten an die EU-Standards zu verbessern und jenen Ländern besondere Aufmerksamkeit zu widmen, die vor den größten Transformationsaufgaben stehen, wird bereits heute über die Frage diskutiert, welche Wirkungen eine differenzierte, gestaffelte Integration, die sich faktisch abzeichnet, auf die Kapital-und Investitionsströme in den Reformstaaten haben wird.
Die AGENDA 2000 der Europäischen Kommission wurde im Juli 1997 veröffentlicht. Im März 1998 folgten die Ausführungen zu den einzelnen Reformvorhaben, wobei es unbefriedigend geblieben ist, daß die Frage nach den erfolgversprechenden Umsetzungsstrategien offengelassen wurde und nun allein dem freien Spiel der politischen Willensbildung in den EU-Staaten preisgegeben wird; Verwässerungen der Kommissionsvorschläge, die manchem schon als unzulänglich genug gelten, sind vorprogrammiert.
Dabei sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung, die im Zusammenhang mit dem künftigen Finanzrahmen der EU stehen: 1. Gefragt ist in der EU der Wille zur Anpassungsbereitschaft überall dort, wo allein auf diesem Wege die Mitgliedschaft der ersten mitteleuropäischen Transformationsländer um das Jahr 2002 herum unter erfolgversprechenden Bedingungen möglich werden kann. Auf dem Weg dorthin gibt es bisher Widersprüche und Mängel: Einerseits spricht die Kommission davon, daß mindestens 100 Milliarden EURO aufgebracht werden müssen, um die Umweltstandards in den Kandidaten-ländern auf EU-Niveau anzuheben. Andererseits wurden auf dem Luxemburger EU-Gipfeltreffen im Dezember 1997 lediglich insgesamt 70 Milliarden EURO für die Heranführung der Kandidatenländer beschlossen, und dies für die gesamte dafür projektierte Zeitspanne bis 2006. Es ist offenkundig, daß diese beschlossenen Summen unter keinen Umständen ausreichen werden, um die Heranführungsstrategien erfolgreich zu realisieren. Wer aber ist willens und in der Lage, weitere Mittel für die Beitrittskandidaten aufzubringen? Noch wichtiger als die Beantwortung dieser Frage dürfte es in der kommenden Zeit werden, endlich wieder vermehrt von den Chancen der Osterweiterung zu sprechen und nicht allein von ihren Risiken und ihren Kosten. 2. Die Perspektive einer in ihrem Finanzrahmen reformierten EU kann realistischerweise nur darin bestehen, die Ausgabenseite zu verändern. Bei den Einnahmen lassen sich Spielräume der Erhöhung kaum vorstellen. Daher muß auch die deutsche Debatte um die sogenannte Nettozahlerposition Deutschlands auf ihren realistischen Kern zurückgeführt werden: Es kann nicht um eine Senkung der EU-Beiträge, sondern bestenfalls um eineUmstrukturierung der EU-Ausgaben gehen, wenn eine Verbesserung der deutschen Position erreicht werden soll.
Es ist nicht überzeugend, rhetorisch Solidarität mit den Beitrittskandidaten zu üben und beispielsweise zugleich das Ausgleichsprinzip zwischen den gegenwärtigen Mitgliedsstaaten in Zweifel zu ziehen. Erst wenn pauschale Absichtserklärungen konkretisiert werden, macht es Sinn, über mögliche Verbesserungen zugunsten Deutschlands mit den anderen EU-Partnern zu reden. Beispiel Strukturfonds: Die Kommission hat vorgeschlagen, Strukturfonds künftig nur mehr jenen Regionen zuteil werden zu lassen, deren Wohlstands-niveau niedriger als 75 Prozent des EU-Durchschnitts ist. Zugleich aber sollen jene Regionen, die bisher als besonders bedürftig in die Kategorie von ,; Ziel-l-Gebieten“ gefallen sind, bis 2006 weitergefördert werden. Nach den Vorschlägen der Kommission stünden bis 2006 rund zwei Drittel der für den Strukturfonds vorgesehenen rund 220 Milliarden EURO für diese „Ziel-1-Gebiete“ zur Verfügung. Weitergefördert würden dann aber auch beispielsweise Regionen wie Cantabria mit mittlerweile 75, 6 Prozent des EU-Wohlstands-durchschnitts, Flevoland mit 77 Prozent, Ostberlin mit 77, 7 Prozent, Hainaut mit 81 Prozent, Korsika mit 82, 3 Prozent, das ganze Irland mit 83 Prozent, die Region Lissabon mit 88, 4 Prozent.
Insgesamt besteht nach Berechnungen der Kommission schon heute kein ökonomischer Grund ipehr für die Weiterförderung von Regionen, in denen insgesamt 12 Millionen EU-Bürger leben. Würden die dorthin fließenden Mittel zugunsten der wirklich bedürftigen Regionen neu verteilt, könnten beispielsweise mehr Fördermittel in die neuen Bundesländer (ohne Ostberlin) fließen; dort ist der EU-Wohlstandsdurchschnitt noch lange nicht erreicht. Eine unmittelbar wirksame strenge Einhaltung des 75-Prozent-Kriteriums für alle Regionen der EU würde zudem erhebliche Mittel freisetzen, die den wirklich bedürftigen EU-Regionen zugute kommen könnten. Es bleibt abzuwarten, ob die deutsche Präsidentschaft in der Lage sein wird, Koordinator des Prozesses, der zur Kompromißlösung bei der AGENDA 2000 führen soll, zu sein und zugleich Eigeninteressen so zu artikulieren, daß diese den Konflikt mit den Interessen anderer Partner aushalten und bestehen können. Zweifel sind angebracht.
Dies gilt ebenso für die Chancen, die Kohäsionsfonds -so wie es bei ihrer Einführung 1991 gedacht war -für jene Länder wieder einzustellen, die seit dem 1. Januar 1999 an der Einführung des EURO beteiligt sind. Politische Erwägungen, das heißt das taktische Kalkül, alle nur denkbaren Interessen unter einen Hut zu bringen, werden es wahrscheinlich verhindern, daß der Kohäsionsfonds eingestellt wird. Die finanzielle Organisation der Aufgaben der EU in den kommenden Jahren wird wohl auch weiterhin ein Gegenstand des Taktierens und Handelns auf der einen Seite und der Verzweiflung über die Unzulänglichkeit der Zustände auf der anderen Seite bleiben. Zynisch könnte man anfügen, daß sich die EU darin nicht von der Politik in den meisten ihrer Mitgliedsstaaten unterscheidet. Dies ist aber wohl nur ein schwacher Trost, denn im Kern steht die EU weiterhin unter stärkerem Legitimierungszwang als alle ihre Mitgliedsstaaten. Daher kommt einer seriösen und wirkungsvollen Umsetzung der AGENGA 2000 erhebliche Bedeutung für den weiteren Weg der Legitimierung der EU zu.
IV. Die Beitrittsperspektiven der Türkei und Zyperns
Schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen hätte die AGENDA 2000 breitere Diskussionen verdient, die über die Frage der Osterweiterung -„Startlinienmodell“, „Stadionmodell“, „intensivere Heranführungsstrategie“, „Europakonferenz“ -hätten hinausgehen können; denn auf diesen Aspekt schien sich 1997/98 zunächst die Frage nach der Weiterentwicklung der EU zu konzentrieren. Andererseits hätte die Kommission ihrerseits gut daran getan, von Anfang an die Problematik der Beitrittsanträge aus Zypern und aus der Türkei nicht in der Weise zu singularisieren, wie dies in der AGENDA 2000 geschehen ist -um den Preis, daß das Jahr 1998 zu einem Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei'wurde, sowie um den Preis, daß die Zypern-Dispute, die in einem weiteren Debakel enden könnten, noch bevorstehen. Die Kommission widmete den Themen Zypern und Türkei am Ende des Kapitels „Die Erweiterung als Herausforderung“ jeweils eine eigene Textpassage, die in beiden Fällen eine präzise Strategie vermissen ließen. Die Folgen für das Verhältnis zwischen der EU und Zypern sind bekannt. Hinsichtlich der Zypern-Frage brachte die AGENDA 2000 lediglich die Hoffnung zum Ausdruck, daß allein durch die Perspektive eines Beitritts „dessen politische und wirtschaftliche Vorteile nun sowohl für die türkischen als auch für diegriechischen Zyprioten offenbar werden“. Der Anreiz könnte dadurch wachsen, daß sich beide Seiten auf institutionelle Regelungen im Sinne einer Föderation aus beiden Gemeinschaften und mit zwei Zonen einigen mögen. Tatsächlich aber scheint die Perspektive des Verhandlungsbeginns der EU mit der Republik Zypern einstweilen die Teilung der Insel zu verfestigen. Unvorhersehbar sind die Reaktionen in den Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten und im Europäischen Parlament, wenn dort eines Tages über einen erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit der Republik Zypern entschieden werden muß -sofern es bis dahin nicht zu einer Überwindung der gegenwärtigen Lage auf Zypern gekommen sein sollte. Vieles spricht für eine solche skeptische Erwartung. Verwunderlich aber ist, daß die Europäische Kommission und auch der Luxemburger EU-Gipfel sich ausgesprochen planlos verhalten haben: Von Strategieüberlegungen für den Fall einer erfolgreichen Beitrittsverhandlung mit der Republik Zypern bei gleichzeitigem Fortbestehen der Teilung der Insel zu hören, wäre jedenfalls wünschenswert gewesen. Die Folgen einer EU-Aufnahme von Zypern bei fehlender Lösung des Zypern-Problems wurden statt dessen auf die Schlußphase der Verhandlungen vertagt, ohne daß bis dahin Klarheit über die Richtigung der EU erkennbar sein dürfte. Dann könnten auch das beschwerlich gewordene Verhältnis zur Türkei und die Rolle der Türkei im Zypern-Konflikt wieder Anlaß zur Sorge geben. Im Verlaufe der nächsten Zeit dürfte die Türkei erkennen, daß ihre Position gegenüber der EU nach dem Luxemburg-Debakel paradoxerweise eher gestärkt worden ist. Die Emotionen darüber, ob die Türkei als muslimisches Land ein Anrecht auf EU-Mitgliedschaft habe oder nicht, wurden endlich einmal offen ausgesprochen und nicht, wie in der Vergangenheit immer wieder geschehen, nebulös hinter dem Berg gehalten. Emotionen hüben wie drüben waren unvermeidlich. Nun sind sie artikuliert worden und werden ihre polarisierende Wirkung Zug um Zug verlieren. Dann wird sich die Diskussion auf die faktisch relevanten Aspekte konzentrieren können, die sich aus den Kopenhagener Kriterien für die Beitrittsfähigkeit eines jeden Kandidaten ergeben, in bezug auf die Türkei also vor allem auf die Frage der inneren Demokratisierung des Landes am Bosporus und auf die Frage nach der Freizügigkeit aller Arbeitnehmer. Einstweilen bleibt festzuhalten, daß die EU auf ihrem Luxemburger Gipfel unzweideutig für eine weitere Annäherung der Türkei an die EU plädiert hat. Bei allen Dissonanzen verdient es festgehalten zu werden, daß die Türkei demgemäß als EU-Beitrittskandidat und Mitgliedsland prinzipiell in Frage kommt, vorausgesetzt, sie erfüllt die Mitgliedschaftskriterien der EU. Die Debatte über die Türkei dürfte vermutlich erst dann substantielle und positive neue Akzente erfahren, wenn die EU es in den kommenden Jahren ernst meinen sollte mit jenen Überlegungen, die die Europäische Kommission in der AGENDA 2000 über ,. Die Union und die Welt" angestellt hat. Der Appell, der Gemeinsamen Außen-und Siche, rheitspolitik (GASP) „schärfere Konturen“ zu geben, und die strategische Einsicht, daß die Einführung des EURO mehr Augenmerk auf die externe Bedeutung des Binnenmarktes lenken wird, damit aber auch auf die weltweiten wirtschaftlichen und politischen Risiken, wird es der EU unmöglich machen, in den kommenden Jahren an der für ihre eigene Zukunft immer wichtiger werdenden Bedeutung der Türkei vorbeizusehen. Einstweilen beschränkte sich die AGENDA 2000 darauf, in allgemeinen Worten auf die Verschiebung der Außengrenzen der EU aufgrund der geplanten Erweiterung hinzuweisen. Neben etwas genaueren Aussagen zu den Folgerungen aus diesem Sachverhalt für die Notwendigkeit, die Beziehungen zu Rußland, der Ukraine und den anderen GUS-Staaten „auf der Basis von Partnerschaftsund Kooperationsabkommen“ zu festigen, blieb die Erörterung der Folgen des Zugangs zum Schwarzen Meer -„was zu engeren Kontakten mit den Ländern des Kaukasus und Zentralasiens führen wird“ -eher lückenhaft; kein Wort zu der strategischen Bedeutung der Rohstoffressourcen in diesem Raum, kein Wort zur Bedeutung der Türkei als eines Stabilisators im Nahen Osten. Das Türkei-Dossier wird der EU früher oder später wieder vorliegen: Im Ergebnis wird es unumgänglich sein und sich als richtig erweisen, die Türkei als Kandidatenland zu akzeptieren.
V. Die Vertiefung der europäischen Integration
Die Zielsetzung einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der EU wird durch die Einführung des EURO möglicherweise mehr Schubkraft erfahren als durch alle bisherige, noch so wohlklingende politische Rhetorik. Wenn die Wirtschaft das Schicksal ist (Walter Rathenau) und diese Schicksale der Völker, die sich eine gemeinsame Währung geben, miteinander verbunden werden,so folgt daraus, daß die Suche nach einem echten Interessenausgleich und einer substantiellen Bestimmung gemeinsamer europäischer Interessen einen beachtlichen Schritt vorangekommen sein wird, wenn der EURO erst einmal eingeführt und zur Gewohnheit geworden ist. Der EURO wird kein Endpunkt des europäischen Weges sein. Selbst die rigidesten Materialisten, die dazu neigen, im EURO den Inbegriff Europas zu sehen, werden eines Besseren belehrt werden. Gerade weil der EURO als Identifikationssymbol unzulänglich bleibt, wird weiter nach der „Idee Europa“ gefragt werden.
Die Verankerung der Reformstaaten Mittel-und Osteuropas gibt dieser Diskussion eine neue Dimension. Doch weder der EURO noch die Osterweiterung sind Selbstzweck und letztes Ziel der EU. Danach muß jenseits der Instrumente und Wege, um die EU zu festigen und um jene zu erweitern, denen bislang verwehrt war, dazuzugehören, gefragt werden. Der Amsterdamer Vertrag spricht von einer „Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, die angestrebt werde. Die Rede ist dort auch von der „Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene“ und von der „Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitglieds-staaten durch Einführung einer Unionsbürgerschaft“. In der AGENDA 2000 wurde weder von der Perspektive einer europäischen Armee noch von jener einer europäischen Verfassung gesprochen. Beide Visionen aber müssen über kurz oder lang auf der Tagesordnung der Europäischen Union stehen, wenn nach den konsequenten Instrumenten gefragt wird, die die EU benötigt, um jenseits der Erweiterung, die nun eingeläutet wird, ihre Vertiefung auf Dauer so vorzunehmen, daß die Debatte über die Ziele Europas jenseits von fiskalischen Erfordernissen und strukturpolitischen Interessenabwägungen lohnenswert geführt werden kann. Inwieweit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft des ersten Halbjahres 1999 sich den gebotenen neuen Visionen jenseits des EURO öffnen wird, bleibt abzuwarten.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft des ersten Halbjahres 1999 findet zu einem entscheidenden Zeitpunkt statt. Sie fällt zusammen mit der Einführung des EURO und wird doch nicht von dieser beherrscht, so wie dies in früheren Jahren der Fall gewesen ist. Im Kern der Herausforderungen an die deutsche Regierung steht dieses Mal die AGENDA 2000. Sie ist in weiten Passagen unbeliebt, nicht nur in Deutschland, sondern auch anderenorts. Dies ändert nichts an der Wichtigkeit ihrer Anliegen. Nur eine reformierte EU wird eine erfolgreiche Osterweiterung realisieren und sich dadurch insgesamt stärken können.
Für Pessimisten ist das Glas immer nur halb voll. Optimisten in bezug auf die europäische Integration finden Zuspruch aus der Erkenntnis, daß die Entwicklungsprozesse der EU in den vergangenen Jahren alles in allem bemerkenswert konsistent und von großen Erneuerungsschüben gekennzeichnet waren. Von der EWG-Gründung 1957 bis zur Revitalisierung der EG mittels der „Einheitlichen Europäischen Akte“ 1986 waren fast drei Jahrzehnte ins Land gegangen. Es folgte das ambitionierte Binnenmarktprojekt „EU 1992“ des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Schon kurz nach dem Zerfall der kommunistischen Diktaturen, des Warschauer Paktes und des COMECON gab der Maastrichter Vertrag von 1991 wegweisende Antworten auf Fragen, die in der EG bereits seit einigen Jahren intensiv diskutiert worden waren: Das Projekt einer Gemeinschaftswährung gab der Idee der Integrationsvertiefung einen Schub, der in seinen tiefgreifenden Konsequenzen erst im kommenden Jahrhundert vollständig realisiert werden wird. Schon sechs Jahre nach Maastricht folgte der Amsterdamer Vertrag von 1997. Er hat keineswegs alle Erwartungen erfüllt. In einem entscheidenden Punkt aber ist er bedeutsam: Wider allerlei Reserven hat er die Methode der europäischen Integration, den supranationalen Ansatz der Integration, bestätigt.
Die nächste Regierungskonferenz ist um das Jahr 2002 herum bereits vorprogrammiert. Sie wird die notwendigen institutioneilen Reformen vorantreiben müssen, die als Bedingung einer erfolgreichen Osterweiterung ebenso bedeutungsvoll sind wie die in der AGENDA 2000 behandelten Struktur-und Finanzfragen. In der nächsten Regierungskonferenz wird es um die Ausweitung des Mehrheitsprinzips gehen, um die Organisation der Kommission im Angesicht einer bevorstehenden Erweiterung auf möglicherweise 26 Mitgliedsländer und um die verbindliche Festlegung der Kompetenzen im Gefüge der europäischen Organe und Institutionen. Schon frühzeitig wird die Diskussion über die Einzelheiten und Kompromißspielräume beginnen. Das Verhältnis zwischen kleinen und großen, nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten wird dabei ebenso eine Rolle spielen wie die Frage nach den unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen, die sich in Finanz-, Wirtschafts-und Subventionsfragen artikulieren.
Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden mancherlei Erwartungen an Deutschland gerichtet und mancherlei Diskussionen inDeutschland geführt werden. Manche mögen technisch erscheinen und sind gleichwohl von elementarer Bedeutung für den weiteren Weg der Europäischen Union. Andere werden rhetorisch überhöht und bleiben in ihren Konsequenzen unwirksam. Ein Anliegen aber sollte bei allem europapolitischen Getöse nicht vernachlässigt werden: die Frage nach den Begründungen für das europäische Einigungswerk jenseits der Jahrtausendschwelle. Seit den fünfziger Jahren hat sich die europäische Integration als eine Union der Versöhnung nach jahrhundertelangen europäischen Bruderkriegen Zug um Zug bewährt, ln den kommenden Jahrzehnten wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob die europäische Integration sich als eine Union definiert, die die Aufgaben der Zukunft bewältigen kann und sich weltweit bewähren wird.
Europas Selbstverständnis und Stellung in der Welt wird präziser als bisher definiert werden müssen. Die embryonalen Ansätze einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik reichen dazu unter keinen Umständen aus. Vor einem praktischen politischen Schub bedarf es einer konzeptionellen Weiterentwicklung der Anforderungen, die sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten für die Europäische Union ei geben könnten. Damit kann und muß schon heute begonnen werden. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte hierzulande der Erörterung der Frage Auftrieb geben, in welcher Verfassung Europa sich heute befindet.