I. Minderheitenschutz in der Geschichte
Derzeit gibt es in der Welt der 186 Staaten etwa 3500 verschiedene Ethnien. Doch diese wollen und können nicht alle ihren eigenen Staat schaffen. Das bedeutet • allerdings nicht, daß sie auf ihre Identität, ihre Traditionen, ihre Kultur und Sprache verzichten und sich dem Assimilierungsdruck der jeweils dominanten Zivilisation unterordnen wollen. Viele Ethnien werden diesem Schicksal ausgeliefert sein. Vielen könnte jedoch ihr Untergang durch Schutzvereinbarungen der Staaten erspart bleiben.
Die Bemühungen um einen derartigen Schutz religiöser, sprachlicher und ethnischer Minderheiten setzten seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ein, als sich die westliche Zivilisation faktisch über den ganzen Globus ausbreitete Zunächst ging es in Europa selbst um den Schutz religiöser Minderheiten, wie er beispielsweise im Augsburger Religionsfrieden von 1555 angestrebt wurde. Zur gleichen Zeit sicherten sich die europäischen Mächte in Verträgen mit den Staaten des Nahen und Fernen Ostens, die außerhalb des europäischen Völker-rechts und des Christentums standen, das Privileg der Gerichtsbarkeit über ihre eigenen Staatsangehörigen, welches sie oft mit einem Interventionsrecht verbanden. Seit 1535 waren derartige Verträge zwischen dem türkischen Sultan und den christlichen Staaten üblich. Die Berliner Kongreßakte von 1878 verbriefte das Prinzip der religiösen Freiheit und Gleichberechtigung für alle Untertanen des Sultans und umgekehrt für die nichtchristlichen Minderheiten in den neu entstandenen Staaten Bulgarien, Montenegro, Serbien und Rumänien. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Regeln zugunsten religiöser Minderheiten in Friedensschlüssen u. a. in den Bestimmungen des Westfälischen Friedens aufgenommen. Mit dem Wiener Kongreß breiteten sich dann erstmals Schutzbestimmungen für nationale Minderheiten aus. So versuchte die Wiener Schlußakte von 1815 den Polen einen Schutz ihrer Nationalität zu geben und der Berliner Vertrag von 1878 den Armeniern in der Türkei sowie den Türken, Rumänen und Griechen in Bulgarien.
Dringlich wurde die internationale Anerkennung und Regelung der Rechte von Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg, der insbesondere in Ost-und Südosteuropa die Staatenwelt neu gestaltete Es war vor allem der US-amerikanische Präsident Wilson, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches in der Französischen Revolution eine zentrale Rolle gespielt hatte, wiederaufnehmen und zu einem verbindlichen völkerrechtlichen Prinzip durch Verankerung in der Satzung des Völkerbundes machen wollte. Das gelang ihm aber ebensowenig wie die Aufnahme eines Rechtsgrundsatzes zum Minderheitenschutz nicht nur für religiöse, sondern vor allem für ethnische Gruppen.
Allerdings mußten sich die besiegten Staaten Österreich, Ungarn und die Türkei in den Friedensverträgen zu einem minderheitenrechtlichen Mindestschutzprogramm verpflichten. Ähnliche Verpflichtungen wurden den neugeschaffenen Staaten Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien und den vergrößerten Staaten Rumänien und Griechenland auferlegt. Die Baltischen Staaten und Albanien mußten 1922/23 entsprechende Erklärungen abgeben, um in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Auch das Deutsche Reich, das durch die Gebietsabtretungen fast alle ethnischen Minderheiten verloren hatte, wurde 1921 verpflichtet, in Oberschlesien die gleichen Bestimmungen für die polnischstämmige Bevölkerung anzuwenden. In zahlreichen bilateralen Abkommen der Nachkriegszeit tauchten Schutzbestimmungen für Minderheiten auf, z. B. im Älandabkommen zwischen Finnland und Schweden von 1920 oder im Oberschlesienabkommen zwischen Polen und dem Deutschen Reich von 1922. Einige Abkommen sahen sogar einen zwangsweisen Minderheitenaustausch vor (wie die griechisch-türkische Konvention von 1923). * Die Schutzbestimmungen dieser Verträge verboten nicht nur die Diskriminierung in bezug auf die allgemeinen Freiheitsrechte und die Assimilierung, sondern räumten zum Teil erhebliche Sonderrechte für Schul-, Kultur-, Sozial-und Religionseinrichtungen ein. Gleichzeitig wurden diese Verträge unter die „Garantie“ des Völkerbundes und des Ständigen Internationalen Gerichtshofes (StIGH) gestellt. Die Schutzpflicht des Staates äußerte sich konkret in der Weise, „daß jedes Mitglied des Rates befugt ist, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung oder jede Gefahr einer Verletzung irgendeiner dieser Verpflichtungen zu lenken, und daß der Rat befugt ist, alle Maßnahmen zu treffen und alle Weisungen zu geben, die nach der Lage des Falles zweckmäßig und wirksam erscheinen.“ Jedes Mitglied des Rates war aktiv legitimiert, „im Falle einer Meinungsverschiedenheit mit dem zum Minderheitenschutz verhafteten Staat“ diese Streitigkeit dem StIGH zur Entscheidung vorzulegen In der Praxis allerdings versagte dieser Schutz, da die Mitglieder des Rats keinen Gebrauch von ihren Garantierechten machten. So verzichteten das Deutsche Reich und Polen 1934 beim Abschluß ihres bilateralen Abkommens auf die Inanspruchnahme des Völkerbundes. Polen lehnte ebenfalls jede Kontrolle des Minderheitenschutzes durch internationale Organisationen ab.
II. Definition von Minderheit und Minderheitenschutz
Mangels völkervertraglicher Definition eines Minderheitenbegriffs hat es in der Literatur und den Kommissionsarbeiten der Vereinten Nationen immer wieder Definitionsversuche gegeben. Schließlich haben sich eine Reihe von Elementen herausgebildet, die allgemein akzeptiert werden und das Gerüst einer Minderheitendefinition ergeben Als Minderheit gelten Personengruppen -mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl, -die zahlenmäßig kleiner als die Mehrheit sind und durch ethnische, religiöse oder sprachliche Besonderheiten gekennzeichnet werden, die sie bewahren möchten, -und die die Staatsangehörigkeit der Mehrheit haben.
Dabei war das Merkmal der Staatsangehörigkeit lange Zeit umstritten. Und es sprechen in der Tat inhaltlich gute Gründe dafür, auch die „neuen Minderheiten“ der Wander-und Gastarbeiter, Flüchtlinge und Asylbewerber in den Minderheitenschutz mit einzubeziehen. Art. 27 des UN-Paktes schließt eine solche Interpretation auch nicht aus. Doch sind alle Versuche, im UN-Menschenrechtsausschuß eine derartige Erweiterung des Minderheitenbegriffs durchzusetzen, bisher gescheitert Diese nichtnationalen Minderheiten werden also nach wie vor vom Ausländer-und Einwanderungsrecht erfaßt. Doch wäre es sinnvoll, in dieses Recht die Standards des modernen Minderheitenschutzes aufzunehmen. Es gab ferner immer wieder Stimmen, die von der Minderheit die Zusicherung von Staatsloyalität verlangen. Dagegen ist jedoch das Argument einzuwenden, daß auch eine oppositionelle und illoyale Gruppierung, die eventuell separatistische Neigungen besitzt (heute z. B. die Basken in Spanien), eine Minderheit darstellt. Nicht zu den Minderheiten gehören damit allerdings diskriminierte Gruppen wie Schwule und Lesben, da sie nicht durch ethnische, sprachliche oder religiöse Besonderheiten gekennzeichnet sind. Ihr Schutz muß über die in fast allen Verfassungen kodifizierten Diskriminierungsverbote und Gleichberechtigungspostulate garantiert werden.
Als Inhalt des Minderheitenschutzes werden nunmehr allgemein folgende Elemente akzeptiert: Schutz vor Assimilierung, Förderung der Identität, Garantie von Gleichberechtigung und Partizipation. Einigkeit besteht auch darüber, daß Minderheiten kein Sezessionsrecht haben, um einen eigenen Staat zu gründen Hiervon muß allerdings das Selbstbestimmungsrecht unterschieden werden.
III. Minderheitenschutz im Rahmen der UNO
In der Charta der Vereinten Nationen spielt der Minderheitenschutz ebenfalls keine Rolle. Man war der Ansicht, daß die anstehenden Probleme mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 1 Z. 3 lösbar seien, in dem es heißt: „Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: ... 3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“ Der Wirtschafts-und Sozialrat der UNO übertrug 1946 den Schutz der Minderheiten der von ihm eingerichteten Menschenrechtskommission, die ermächtigt wurde, zwei Unterausschüsse zur Bekämpfung der Diskriminierung und zum Minderheitenschutz einzurichten. Die Menschenrechtskommission begnügte sich mit der Bildung einer „Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und für Minderheitenschutz“. Auf den Vorarbeiten dieser Unterkommission beruht die Formulierung des Art. 27 des Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte von 1966, die bis jetzt die einzige universelle Regelung für den Minderheitenschutz geblieben ist: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“
Im Vordergrund steht die Bekämpfung der Diskriminierung ohne die Einräumung von Sonderrechten. Auch die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom März 1966 läßt Sonderrechte zur Förderung für bestimmte Gruppen nur zeitlich beschränkt zu, steht also grundsätzlich auf dem Standpunkt der gleichberechtigten Integration aller Individuen in eine Gesellschaft. Art. 27 bestimmt das einzelne Individuum innerhalb der Minderheit zum Träger des Menschenrechts. Es ist allerdings allgemein anerkannt, daß diese Rechte notwendigerweise kollektiv ausgeübt werden müssen, ohne den Rechten jedoch selbst einen Kollektivcharakter zuzugestehen, wie es beim Selbstbestimmungsrecht der Fall ist. In erster Linie sind die Vertragsstaaten verpflichtet, jegliche Maßnahmen zu unterlassen, die einen Integrations-oder Assimilationsdruck ausüben. Verpflichtungen zu positiven Diskriminierungen {affirmative action) werden allgemein abgelehnt.
Seit 1979 war die Unterkommission der Vereinten Nationen auf der Grundlage eines jugoslawischen Entwurfs mit der Erstellung einer Deklaration über Minderheitenrechte beschäftigt, die Anfang der neunziger Jahre zum Abschluß kam und 1992 mit der UNO-Resolution 47/135 erfolgreich verabschiedet wurde 7. In ihr werden die einzelnen Rechte der Angehörigen der Minderheiten als Individualrechte konkreter bestimmt, aber keine Definition dessen vorgenommen, was unter Minderheiten zu verstehen ist. Das liegt zum Teil daran, daß verschiedene Staaten wie z. B. Frankreich und die Türkei die Existenz von Minderheiten auf ihrem Territorium leugnen. Die Resolution enthält die Aufforderung an die Staaten, positive Maßnahmen zur Verwirklichung der Minderheitenrechte zu ergreifen Die Resolution ist allerdings lediglich eine Empfehlung und begründet keine Rechte und Verpflichtungen.
IV. Selbstbestimmungsrecht der Völker
Die Wurzeln des Selbstbestimmungsrechts liegen in den revolutionären Umbrüchen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in den USA und Frankreich, als die Befreiung von der Monarchie in einem doppelten Sinne verwirklicht wurde. Zum einen ging es um die Befreiung von der kolonialen Abhängigkeit unter der englischen Krone, zum anderen um die Emanzipation des Volkes von der königlichen Herrschaft, d. h. die Ablösung der monarchischen Souveränität durch die Volkssouveränität mittels des Selbstbestimmungsrechts des Volkes
Diese neue Souveränität umfaßte während der Französischen Revolution anfangs auch ein Interventionsrecht zugunsten jener Völker, die die alten Verfassungen mit ihren Feudallasten und Privilegien abschaffen wollten -aber nur dann, „wenn das unterdrückte Volk beginnt, seine Ketten zu zerbrechen“, wie der Konvent schon bald hinzu-fügte In der Verfassung von 1793 allerdings verankerte er dann das Prinzip der Nichtintervention, welches sich erst im späten 20. Jahrhundert voll als Rechtsprinzip durchsetzen sollte. US-Präsident Wilson räumte in seiner Baltimore-Rede vom April 1918, in der er die berühmten vierzehn Punkte darlegte, dem Selbstbestimmungsrecht einen prominenten Platz ein: Es sei das freie Selbstbestimmungsrecht der Nationen, auf dem die ganze Welt beruhe. Nicht seine Anerkennung, sondern seine Mißachtung sei für viele Kriege verantwortlich. Schon 1917 hatte Lenin in seinem ersten Dekret auf das Selbstbestimmungsrecht als eines der Fundamente des Friedens verwiesen. Dennoch fand es keinen Eingang in die Völkerbundsatzung nach dem Ersten Weltkrieg. In der UNO-Charta findet es im Verhältnis zu seiner prinzipiellen Bedeutung eine eher unscheinbare Erwähnung in Art. 1 Ziffer 2 und Art. 55. Das liegt vor allem daran, daß die nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründete UNO noch keinen endgültigen Schlußstrich unter die koloniale Erbschaft seiner Großmächte machen wollte. In Kapitel XI bis XIII werden die Kolonien als „Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“ bezeichnet und nicht etwa in die Unabhängigkeit entlassen, sondern in ein Treuhandsystem ohne Selbstbestimmungsrecht überführt. Die alten Kolonialmächte waren noch nicht bereit für die Dekolonisierung, sondern hielten an der Regelung und Verwaltung des Kolonialismus fest. Deshalb lehnten sie auch die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ab, da sie die Sprengkraft dieses Rechts im Hinblick auf das brüchige Kolonialsystem erkannten.
Die Völker mußten sich das Recht auf Selbstbestimmung im wahrsten Sinne des Wortes selbst erkämpfen, denn seine Anerkennung als verbindliches Recht war nur das Ergebnis der Dekolonisation. Auf der Bandung-Konferenz von 1955 wurde das Recht auf Selbstbestimmung gefordert und dann durch den algerischen Befreiungskrieg auf die Tagesordnung der UNO-Generalversammlung gesetzt. Auf ihrer 15. Sitzung im Dezember 1960 verabschiedete die Versammlung mit überwältigender Mehrheit (89 Staaten ohne Gegenstimme bei neun Enthaltungen) die wegweisende Resolution 1514 (XV) „Über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker“, welche den Befreiungskampf auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker zum ersten Mal in einem offiziellen Dokument der UNO rechtfertigte. Darin heißt es: „ 2. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung: Kraft dieses Rechts bestimmen sie frei ihre politische Gestalt und streben frei nach wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung. 3. Alle bewaffneten Aktionen und Unterdrückungsmaßnahmen, gleich welcher Art, gegen abhängige Völker sind einzustellen, um ihnen die friedliche und freie Verwirklichung ihres Rechts auf volle Unabhängigkeit zu ermöglichen; die Unantastbarkeit ihres nationalen Territoriums wird beachtet.“ 1966 wurde das Selbstbestimmungsrecht in die Art. 1 der beiden Internationalen Pakte für politische und kulturelle sowie für wirtschaftliche und soziale Rechte mit fast identischem Wortlaut wie im Punkt 2 der Resolution 1514 übernommen. Als die UNO-Generalversammlung im Oktober 1970 das Selbstbestimmungsrecht in ihre bekannte „Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit im Sinne der Charta der Vereinten Nationen“, die sog. Prinzipiendeklaration, aufnahm und erklärte, „jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht im Einklang mit den Bestimmungen der Charta zu achten“, war damit endgültig der Zeitpunkt erreicht, von dem an man das-Selbstbestimmungsrecht als verbindliches und zwingendes Recht in den internationalen Beziehungen ansehen kann Schließlich wurde im Dezember 1973 auch noch das Recht auf Gewalt im Befreiungskampf durch die UNO-Generalversammlung anerkannt
Der deutsche Name „Völkerrecht“ ist eigentlich irreführend, da es sich immer nur um ein Recht der Staaten gehandelt hat. Sie allein waren Subjekte dessen, was englisch zutreffender international public law genannt wird. Mit der Durchsetzung und Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts jedoch wurden die Völker zum ersten Mal als Völkerrechtssubjekte anerkannt. Dadurch wurde es allerdings auch notwendig, sich genauer über eine Definition des Volkes zu verständigen, was jedoch ähnlich wie bei der Definition von Minderheit nur in Grundzügen gelang. Demnach sollten bei der Definition von „Volk" zwei Kritierien (in objektiver und in subjektiver Hinsicht) zutreffen
Ein Volk sollte -über ein angestammtes Territorium, gemeinsame Sprache, Religion und kulturelle Charakteristika verfügen und -den Willen zum Ausdruck bringen, seine Eigenheit zu bewahren.
Dieses subjektive Kriterium läßt sich vor allem an der Präsenz und der Artikulation einer politischen Repräsentation des Volkes erkennen. Ziel und Inhalt des Selbstbestimmungsrechts richten sich gemäß dem historischen Kontext des kolonialen Befreiungskampfes in erster Linie an der Staaten-bildung aus. In der bereits genannten Prinzipiendeklaration heißt es: „Die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Vereinigung mit einem unabhängigen Staat oder die freie Eingliederung in einen solchen Staat oder das Entstehen eines anderen, durch ein Volk frei bestimmten politischen Status stellen Möglichkeiten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch das Volk dar.“ Ist die Befreiung von kolonialer und rassistischer Fremdherrschaft abgeschlossen und der Status eines unabhängigen Staates erreicht, beschränkt sich das Selbstbestimmungsrecht auf die interne Autonomie, d. h. die Garantie eines Raumes für Selbstverwirklichung. Diese interne Autonomie ist in der Schlußakte der KSZE von Helsinki im Jahre 1975 und dann in Wien 1989 folgendermaßen umschrieben worden: „.. . haben alle Völker jederzeit das Recht, in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einwirkung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu bestimmen.“
In der modernen Staatenwelt finden sich in vielen Nationen Minderheiten. Man kann sogar davon ausgehen, daß ethnisch homogene Staaten unter den derzeit 186 Mitgliedern der UNO nicht sehr häufig sind. Aus einsichtigen Gründen der Stabilität und der Überlebensfähigkeit haben jedoch die UNO und die großen Regionalorganisationen wie die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU), die Arabische Liga (AL) und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) das Selbstbestimmungsrecht nach Abschluß der Dekolonisierung, die eine Vielzahl neuer Staaten hervorgebracht hat, auf die Verwirklichung innerer Autonomie beschränkt. Begründet wird dies auch mit dem Hinweis auf das völkerrechtliche Prinzip der territorialen Integrität, welche in Art. 2 Ziffer 4 der UNO-Charta garantiert wird. Das schließt die Sezession und die Bildung eines neuen, separaten Staates grundsätzlich aus, geht aber in den Anforderungen nach innerer Autonomie doch meist über das hinaus, was eine religiöse, sprachliche oder kulturelle Minderheit an Autonomie einfordern kann (vgl. etwa in Deutschland die Friesen, Sorben, Sinti und Roma).
Doch besteht eine bedeutsame und äußerst wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz. Sollten das Recht auf interne Autonomie als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts sowie die anerkannten Grund-und Menschenrechte einem Volk eklatant und fundamental von den staatlichen Behörden vorenthalten werden und besteht in absehbarer Zeit keine Chance der Änderung dieses Zustandes massivster Diskriminierung, lebt das Recht auf Separation und eigene Staatsbildung wieder auf Hierin unterscheidet sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker vom Minderheitenrecht, welches den Angehörigen der Minderheit zwar alle Rechte aus den verschiedenen Kodifikationen der Menschenrechte zur Verfügung stellt, ihnen aber kein Sezessionsrecht erlaubt. Dieser erhebliche Unterschied darf bei der Betrachtung von Minderheiten-rechten und des Selbstbestimmungsrechts nicht unterschätzt werden
V. Minoritätenschutz im europäischen Rahmen: OSZE und Europarat
Betrachtet man die europäische Minderheitenpolitik, so sprechen hier viele von einer Lücke im europäischen System. Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 garantiert ein Recht auf Gleichheit bei „Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit“ nur im Rah-men eines Diskriminierungsverbots. „Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten muß ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse. Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gewährleistet werden." Dieser rein negative Schutz ist zu wenig. Es hat immer wieder Berichte über Minderheiten in Europa sowie Empfehlungen, Entwürfe und Bemühungen um ein Zusatzprotokoll zur EMRK gegeben, um eindeutige Standards einer europäischen Minderheitenpolitik zu definieren und verbindlich zu machen. Doch lange Zeit blieben die Bemühungen vergebens oder hatten nur partiellen Erfolg, wie z. B. die EuropäischeCharta der Regional-und Minderheitensprachen vom 5. November 1992. Die KSZE widmete in ihrem Dokument der Kopenhagener Konferenz über die menschliche Dimension vom 29. Juni 1990 die Art. 30-39 den Grundlagen des Minderheitenschutzes. Ein wichtiger Aspekt dieser nicht verbindlichen Empfehlung ist, daß die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit die Angelegenheit der persönlichen und subjektiven Entscheidung des einzelnen sein soll, die keinen Nachteil nach sich ziehen darf. Überdies wurde 1992 die Einsetzung eines Hohen Kommissars für Minderheiten gleichsam als Frühwarnsystem drohender Minderheitenprobleme beschlossen.
Schließlich wurde nach langen Vorarbeiten im Februar 1995 ein Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten aufgelegt Deutschland hat im September 1997 als zehnter Staat die Ratifikationsurkunde hinterlegt. Mit der 15. Ratifikation durch Finnland ist das Rahmenabkommen nunmehr am 1. Februar 1998 in Kraft getreten Es enthält zum ersten Mal detaillierte und konkrete Regelungen zu den Standards einer modernen demokratischen Minderheitenpolitik, die für die unterzeichnenden Staaten völkerrechtlich zwingend sind: Assimilierungsschutz, Diskriminierungsverbot, Gleichheitsgebot, Schutz der Freiheitsrechte für Minderheiten, Förderungsgebot. Allerdings werden diese Bestimmungen nicht unmittelbar anwendbar sein, sondern geben den Staaten lediglich die Richtung und den -allerdings verbindlichen -Rahmen an, in dem sie ihre Gesetze zum Minderheitenschutz zu fassen haben. Art. 3 Abs. 2 bestimmt, daß die Rechte und Freiheiten, die sich aus dem Rahmen-übereinkommen ergeben, sowohl individuell wie auch gemeinschaftlich mit anderen ausgeübt werden können. Der Unterschied zur Gewährung kollektiver Rechte wird damit klar ersichtlich. Es wird aber auch eine klare Grenze zum Selbstbestimmungsrecht gezogen, um allen Bestrebungen nach einer Abspaltung vorzubeugen.
Die Bundesregierung hat die Anwendung auf die dänische Minderheit, die Sorben, Friesen, Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit zugesagt. Eine Definition der „nationalen Minderheit“ befindet sich in dem Abkommen allerdings nicht, da sich die Staaten darauf nicht einigen konnten. Dafür steht in Art. 3 Abs. 1 die bereits aus dem Kopenhagener Dokument bekannte subjektive Zugehörigkeitsentscheidung: „Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht; aus dieser Entscheidung oder aus der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile erwachsen.“ Die genaue Lektüre des Passus besagt bereits, daß damit nicht jeder beliebigen Person die freie Entscheidung über ihre Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit überlassen bleibt, dafür sind nach wie vor objektive Merkmale ihrer Identität -Sprache, Religion etc. -maßgeblich. Die Angehörigen einer Minderheit dürfen lediglich frei darüber entscheiden, ob sie von den Rechten ihrer Zugehörigkeit Gebrauch machen wollen oder nicht.
Derartige Regelungen enthalten auch die bilateralen Verträge für deutsche Minderheiten mit der ehemaligen UdSSR und ihren Nachfolgestaaten (1990), Polen (1991) sowie Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien (1992) Sie stärken allerdings das subjektive Element gegenüber dem objektiven, wie etwa Art. 20 Abs. 3 des Deutsch-Slowakischen Vertrages: „Die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit in der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik ist die persönliche Entscheidung jedes einzelnen, die für ihn keine Nachteile mit sich bringen darf.“ Die persönliche Entscheidung definiert die Zugehörigkeit zur Minderheit und schafft den sogenannten Bekenntnisdeutschen.
VI. Volksgruppen-versus Minderheitenrechte
Mit Blickrichtung auf die ost-und südosteuropäischen Länder und deren deutschsprachige Minderheiten fällt der ansonsten nur selten gebrauchte Begriff der Volksgruppen (den es im Duden nicht mehr gibt) anstatt oder gemeinsam mit dem der Minderheit auf. Die starke Propagierung dieses Begriffs im wissenschaftlichen und politischen Umfeld der „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen“ und der „Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen“ (FUEV) läßt vermuten, daß damit auch eine andere inhaltliche Konzeption verfolgt wird. Der Begriff der Volksgruppe taucht schon 1960 in Vorlagen des Ministers Seebohm, Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, an Bundeskanzler Adenauer auf: „Der Begriff Volksgruppe hat den Begriff der nationalen Minderheit überholt. . . Insbesondere dürfen Volksgruppen (ethnische Gemeinschaften) nicht Minderheiten gleichgesetzt werden, weil sie in ihrer Wesenheit niemals mit zahlenmäßigen Ideengängen erfaßt werden können.“ Eine Volksgruppe unterscheide sich von anderen Bevölkerungsteilen nicht durch numerische Größe, sondern durch ihre ethnische Besonderheit. Der Begriff „Volksgruppe . .. (wird) in Verbindung mit der Vertreibung derjenigen deutschen Gruppen verwendet, die nach 1918 als Minderheiten in anderen Staaten zu leben gezwungen waren und sich schon seit 1918 als Volksgruppe bezeichnet haben“ Welches inhaltliche Konzept steht also hinter der Anwendung dieses Begriffs? „Volksgruppe“ ist keine Neuschöpfung, sondern hat insbesondere in der Geopolitik des Nationalsozialismus eine zentrale Rolle gespielt. Mag der Begriff auch bereits in den Anfängen der Weimarer Repu-blik entstanden sein, so hat er seine inhaltliche und strategische Bedeutung jedoch im Nationalsozialismus erhalten. Darauf hat Franz Neumann in seinem „Behemoth“ hingewiesen In einer Gegenüberstellung von Minderheitenschutz und Volksgruppenrecht arbeitet er den Unterschied deutlich heraus:
Internationaler Minderheitenschutz -zielt auf Gleichstellung aller Minderheitenangehörigen mit den übrigen Staatsbürgern ab;
-schützt Minderheiten durch internationale Garantie; -ist individualistisch, insofern er Minderheiten nicht als rechtliche Einheit, sondern nur die individuellen Rechte der Gruppenmitglieder anerkennt;
-sieht den bestimmenden Charakter einer Minderheit in einem objektiven Faktor (Rasse, Religion, Sprache) oder in dem subjektiven Faktor der bewußten Zugehörigkeit von Individuen zu einer Gruppe.
Volksgruppenrecht -zielt auf die Differenzierung des politischen und rechtlichen Status jeder einzelnen Gruppe nach deren spezifischer Eigenart ab;
-verankert den Schutz lediglich im Mutterland; -anerkennt die Gruppe als Einheit, nicht aber individuelle Rechte der Gruppenmitglieder;
-sieht den bestimmenden Charakter der Volksgruppe in dem objektiven Faktor der Rasse oder in dem subjektiven Faktor und in der Anerkennung eines Mitglieds durch die Gruppe
Wesentliches Merkmal dieser Volksgruppenkonzeption ist also, daß die Anerkennung deutscher Minderheiten als körperschaftlich organisierte Volksgruppen mit weitgehenden Autonomierechten den Schutz durch das deutsche „Mutterland“ mit Interventionsrechten erfordert. Nicht der Staat selbst oder die internationale Völkergemeinschaft ist für den Schutz und die Rechte der Volksgruppe zuständig, sondern das Mutterland. Damit wurde die Volksgruppe zum Brückenpfeiler des Deutschen Reiches im Nachbarstaat, und das war auch die Zielrichtung dieser Begriffskonstruktion.
Wenn der Begriff der „Volksgruppe“ auch heute noch neben dem der „Minderheit“ einen Sinn haben soll, so muß ihm auch ein alternatives Schutzkonzept zugrunde liegen. Dabei führt es nicht nur in die Irre, sondern ist auch falsch, wenn man wie Rudolf Streinz behauptet: „Minderheitenschutz und Volksgruppenrecht werden heute im wissenschaftlichen Schrifttum weitgehend synonym gebraucht. Dabei wird dem Begriff Volksgruppe wegen des unschönen Klanges des Begriffs Minderheit der Vorzug gegeben." Denn im internationalen Schrifttum ist der Begriff kaum existent, in allen offiziellen Dokumenten wird von „nationalen oder ethnischen Minderheiten" gesprochen. Der Begriff „Volksgruppe“ beschränkt sich faktisch auf das deutsche Schrifttum. Ob der Begriff zudem einen besseren Klang hat als „Minderheit“, ist angesichts der deutschen Vergangenheit eine seltsame Empfindung und wohl mehr als eine Frage der politischen Ästhetik.
Hinter diesem Begriff steht die Gefahr der erneuten Ethnisierung der Politik, die auf der Vorstellung beruht, daß Volk, Nation und Ethnie als natürliche Wesenheiten anzusehen sind und durch objektive Merkmale bestimmt werden können. „Wer die Nation als ethnische Abstammungsgemeinschaft versteht, hängt einem ahistorischen und biologizistischen Weltbild an. Alle Staatsnationen sind gewachsene Einheiten, die durch jahrhundertelange Wanderungs-und Siedlungsprozesse zustande gekommen sind. Letzten Endes sind alle Europäer Einwandererkinder, deren Urahnen irgendeinmal mit einer Sprache, Religion und Kultur zugewandert sind.“
Es besteht daneben die Gefahr, mit dem Begriff der Volksgruppe Schutz-und Interventionsrechte durch das „Mutterland“ einzufordern, die die Souveränitätsgrenzen des anderen Staates zurückdrängen. Darüber hinaus könnte die Minderheit als „Volks“ -gruppe sich des Selbstbestimmungsrechts der Völker bemächtigen wollen und ein Sezessionsrecht verlangen. Denn wie bereits aufgezeigt, besteht der Unterschied zwischen Minderheitenschutz und Selbstbestimmungsrecht gerade darin, daß sich die Selbstbestimmungsforderung bei Minderheiten auf interne Autonomie beschränkt, während sie sich bei Völkern in Fällen äußerster Diskriminierung und Rechtsverletzung zur Forderung nach eigener territorialer Souveränität erweitern kann. Wird diese Unterscheidung aufgegeben, führt dies notwendigerweise zur Forderung nach Grenzrevisionen in Osteuropa, wie dies Georg Brunner propagiert . Sein juristisches Hilfsmittel ist die Anbindung des Selbstbestimmungsrechts an die Volksgruppen: „Gemeinsames Ziel des Minderheitenschutzes und des Selbstbestimmungsrechts ist es, daß die jeweilige Volksgruppe ihre ethnisch-kulturelle Identität in freier Selbstbestimmung bewahrt und entwickelt. Dies ist um so schwieriger, je größer die ethnisch-kulturelle Distanz zwischen der Volksgruppe und der Staatsnation ist. Folglich muß auch dieser Gesichtspunkt in den Abwägungsvorgang einbezogen werden, und zwar dergestalt, daß dem Sezessionsrecht gegenüber der Souveränität mit zunehmender kultureller Distanz ein immer stärkerer Vorrang einzuräumen ist. . . Wird die Sezession zum Zwecke der Errichtung eines unabhängigen Staates erstrebt, so muß die minoritäre Volksgruppe für sich allein staatsfähig sein. Strebt sie hingegen den Anschluß an einen bereits bestehenden Nationalstaat an, so genügt es, daß sie zusammen mit dem Stammvolk staatsfähig ist.“ So ist wohl auch Rainer Hofmanns Kritik an der Minderheitendeklaration der UNO, Resolution 47/135, mit gleicher Intention zu verstehen: „Minderheiten, die als Volk und damit als Träger des Selbstbestimmungsrechts anzusehen sind. .., (kann) ein Recht auch auf Sezession zuwachsen.“ Beide Autoren haben wohl die deutschen Minderheiten in Osteuropa im Sinn, die mit einer Option auf Sezession erheblichen Sprengstoff für die politische und territoriale Stabilität darstellen würden. Weniger Beachtung findet dabei die Minderheit der Kurden in der Türkei, die auf Grund der eklatanten und dauernden Verweigerung ihrer Grund-und Menschenrechte in der Tat ein Recht auf Separation von dem Staat reklamieren könnten, der ihnen diese elementaren Rechte vorenthält.
VII. Fazit
Die Minderheitenproblematik ist eine durchaus explosive Problematik. Dies erleben wir nicht nur aus der kontinentalen Distanz in Afrika oder Asien, sondern täglich in unseren Nachbarländern, selbst oder gerade wenn sie die Existenz von Minderheiten leugnen, wie Frankreich oder die Türkei. In Europa sind allerdings meines Erachtens die Rechte der Minderheiten weniger gefährdet als die territoriale Integrität der Staaten. Die Beispiele Jugoslawien, Belgien, Italien und Spanien zeigen uns das bei genauerer Analyse. Würden den Kurden in der Türkei die gleichen Rechte gewährt wie den Basken in Spanien, gäbe es in Kurdistan zweifellos keinen Krieg. Doch nicht jedes Minderheitenproblem läßt sich auf derart rationale und politisch beispielhafte Weise lösen wie der Status der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol, die Sezessionsbestrebungen der französischsprachigen Kanadier von Quebec oder der Föderalisierungsprozeß in Belgien zwischen Flamen und Wallonen. Und es ist nicht sicher, ob der hohe Grad an demokratischer Konfliktregulierung in diesen Staaten auch in Zukunft eingehalten werden kann. Doch müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die zunehmenden Renationalisierungs-und Ethnisierungsprozesse in den Bahnen friedlicher Konfliktlösung zu halten.
Dazu sollten einige grundlegende Voraussetzungen und Bedingungen erfüllt werden, die zum Ende angedeutet werden sollen: -Es bedarf zunächst einer genauen völkerrechtlichen Fixierung der Rechte und des Schutzes von Minderheiten im Rahmen der regionalen Völkergemeinschaft, wie sie jüngst in dem Rahmenübereinkommen des Europarates erfolgt ist. Dieses muß für alle europäischen Staaten verbindlich anerkannt und in deren Gesetzgebung integriert werden.
-Es darf keine Aktivitäten zur Destabilisierung der Staaten durch einseitige Einmischungen der sogenannten Mutterländer geben. Der Begriff der Volksgruppen könnte dabei zur Durchsetzung von Grenzrevisionen und territorialen Umschichtungen benutzt werden. Bereits die gezielte politische, kulturelle und vor allem ökonomische Unterstützung nationaler Minderheiten durch die „Mutterländer“ (z. B. die massive materielle Unterstützung deutschsprachiger Minderheiten in den osteuropäischen Ländern durch die Bundesrepublik) gefährdet die Gleichberechtigung, stört die Balance zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und kann die Integration dieser „Inseln des Wohlstandes“ in eine ärmere Umgebung behindern.
-Die Garantie von Minderheitenrechten ist in erster Linie die Aufgabe des Staates, in dem sich die Minderheiten befinden. Sollte er eine solche Garantie nicht gewährleisten können, darf sie nur im Rahmen kollektiver Sicherung -wie etwa der OSZE -eingefordert und durchgesetzt werden. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die Garantie der Minderheitenrechte auf der bilateralen Verabredung und Kontrolle durch Nachbarstaaten beruht wie in den Fällen Dänemark/Deutschland sowie Italien/Österreich. Die historische Belastung vieler europäischer Nachbarschaftsbeziehungen (insbesondere die Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn) lassen es jedoch nicht zu, dem „Mutterland“ die Kontrolle und eventuelle Durchsetzung der Rechte „seiner“ Minderheit im Nachbarland zu übertragen. Selbst bei Minderheiten ohne „Mutterland“ müssen die Rechte im Rahmen ausschließlich kollektiver Sicherung garantiert werden, um jegliche Instrumentalisierung der Minderheiten zur Destabilisierung eines Landes zu vermeiden. -Die Forderungen nach Gleichberechtigung und Diskriminierungsschutz aller anderen faktischen sozialen Minderheiten (Wanderarbeiter, Migranten, Flüchtlinge, Schwule, Lesben etc.)
sind durch spezielle Gesetze im Rahmen der jeweiligen Verfassungen zu erfüllen. Damit fallen allerdings ca. sieben Millionen Menschen in der Bundesrepublik nicht unter den Schutz und die Rechtsgewährleistungen des Rahmenabkommens des Europarats. Um dies jedoch zu erreichen, erscheint es derzeit -abgesehen von den politischen Widerständen -vordringlich, die Rechtsgarantien in die nationalen Ausländer-und Einwanderergesetze zu integrieren.
Die Erweiterung der Minderheitenregelung auf alle Ausländer hat derzeit keine Chance: Die rechtliche und faktische Unterscheidung zwischen EU-und anderen Ausländern müßte erst wieder fallen, um eine gemeinsame Regelung für nationale und ausländische Minderheiten sinnvoll zu machen.
Das zentrale Problem der Minderheitenpolitik liegt jedoch nicht im juristischen Bereich, sondern im nicht nur in der deutschen Gesellschaft auftretenden Rassismus und in den auch in Europa schärfer werdenden sozialen Auseinandersetzungen um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Damit in Zeiten ökonomischer Krisen und sinkender materieller Chancen der ohnehin begrenzte Haushalt an Toleranz, wechselseitiger Achtung und Solidarität zumindest erhalten bleibt, ist mehr notwendig, als es die Mittel des Völker-rechts vermögen. Dazu bedarf es gemeinsamer gesellschaftlicher Anstrengung in allen Ländern.