I. „Vaterland Bundesrepublik“? Ein beispielhafter Konflikt
Im August 1960 entbrannte in der Bundesrepublik eine öffentliche Kontroverse. Aus den Reihen der regierenden Christdemokraten gab es Bestrebungen, das angeblich mangelnde Nationalgefühl der Westdeutschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Man sprach hier und in der Öffentlichkeit verstärkt davon, daß die Bundesrepublik das „wahre Vaterland“ sei und bestritt deren provisorischen Charakter. Der Streit eskalierte, als Thomas Dehler, der impulsive liberale Vizepräsident des Deutschen Bundestages, den konservativen Erneuerern in die Parade fuhr und mehrmals kategorisch vor der Presse erklärte: „Die Bundesrepublik, der Rheinbund-Staat, die erweiterte Rheinische Republik, sie ist nicht das deutsche Vaterland.“ Daraufhin drohten einige CDU-Minister gerichtliche Schritte gegen Dehler an, falls die Zurücknahme „einer der schwersten denkbaren Beschimpfungen unserer Bundesrepublik“ nicht unverzüglich erfolge Eine „Endlösung Bundesrepublik“ war auch für die Sozialdemokraten undenkbar Damit würde nicht nur der Auftrag des Grundgesetzes mißachtet, sondern auch der nationale Zusammenhalt des deutschen Volkes aufgekündigt und nicht zuletzt die Zwei-Staaten-Theorie der DDR unterstützt.
Die sozialdemokratischen und liberalen Kritiker des Vorstoßes aus der CDU argumentierten folgendermaßen: Allein in der Bundesrepublik lebe die deutsche Nation mit ihrer Geschichte weiter, während das SED-Regime die historische Kontinuität gesprengt und die Nation durch das Proletariat und die Geschichte durch den historischen Materialismus ersetzt habe. Aus diesem Grunde existiere ein Paradoxon: Die Bundesrepublik sei nur in dem Maße mehr als ein Provisorium -nämlich die Nation selber -, in dem sie sich als provisorisch empfinde. Wenn die Bundesrepublik sich hingegen auf dem Status quo als Definitivum stabilisieren würde -worauf die CDU-Initiative hinauslief -, würde sie weniger sein, als sie tatsächlich war. Aus dieser paradoxen und komplizierten Situation zogen die Sozialdemokraten und die Liberalen einen einfachen Schluß: Unter keinen Umständen dürfe es ein bundesrepublikanisches Geschichtsbewußtsein in der Bevölkerung geben, sondern nur die Erinnerung an die gesamte deutsche Nation. Der Diskurs über ein „Vaterland Bundesrepublik“ war daher in ihren Augen äußerst gefährlich
Interessant und beispielhaft ist dieser Konflikt -der mit einem öffentlichen Sieg des Provisoriums-Diskurses der SPD und der FDP endete weil in ihm Geschichte zu einem Politikum wurde, es sich folglich um einen geschichtspolitischen Konflikt handelte. Denn der Kern der Auseinandersetzung war die Frage nach dem historischen Ort der Bundesrepublik, nach ihrem Selbstverständnis, nach den werthaften und normativen Inhalten ihres Gedächtnisses. Es ging letztlich um zwei unterschiedliche Varianten kollektiver Identität.
Im folgenden soll zunächst erörtert werden, was unter Geschichtspolitik in einer Demokratie zu verstehen ist. Die anschließenden Abschnitte widmen sich sodann den wesentlichen Phasen bundes-republikanischer Geschichtspolitik, wobei nach den Akteuren, ihren Intentionen, aber auch den gesellschaftlichen Wirkungen zu fragen sein wird
II. Was ist Geschichtspolitik?
Als Analysekategorie ist der Begriff „Geschichtspolitik“ wissenschaftlich noch nicht entfaltet und inhaltlich gefüllt worden. Er besitzt entweder einen eher diffamierenden Charakter in aktuellen historisch-politischen Kontroversen oder gerinnt zur bloßen Aufmacher-Floskel ohne Erkenntnisgewinn Verwendet wird der Begriff allenfalls, um die Rolle der Geschichtswissenschaft in einer Diktatur zu beschreiben; mit Blick auf pluralistische Gesellschaften wird er bisher äußerst negativ bewertet Geschichtspolitik als ein Forschungsthema, das die Auseinandersetzungen um Geschichte als politisches Ereignis in Demokratien untersucht und das Erkenntnisinteresse vor allem auf die Motive der politischen Akteure richtet, steht erst am Anfang Die Diskussion in Deutschland gruppiert sich bislang um zwei andere Forschungskonzepte: Geschichtsbewußtsein und Geschichtskultur. Geschichtsbewußtsein ist als eine zentrale Kategorie eines neuen Ansatzes der Geschichtsdidaktik seit den späten siebziger Jahren ausgiebig diskutiert worden. In der „klassischen“ Definition von Karl Ernst Jeismann ist Geschichtsbewußtsein das Prägemuster aus dem Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive Das Geschichtsbewußtsein hat eine Orientierungsfunktion; mit ihm setzt sich eine Person, eine Gruppe, eine Gesellschaft in ein Verhältnis zu ihrer Vergangenheit und fundiert aufgrund bestimmter Erfahrungen ihr gegenwärtiges Selbstverständnis. Geschichtskultur hingegen wird erst seit Beginn der neunziger Jahre theoretisch reflektiert, und zwar als Folge einer kultur-wissenschaftlichen Öffnung der Gesellschafts-und Sozialgeschichte. Man kann in der Geschichtskultur die praktische Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft sehen bzw.den Gesamtbereich von Erinnerungsarbeit in einer Gesellschaft Geschichtskultur läßt sich in drei Dimensionen auffächern: in eine ästhetische, eine kognitive und eine politische.
Es ist nun auffällig, daß sich in bezug auf die umfassendere Kategorie Geschichtskultur in Deutschland gravierende Schieflagen herausgebildet haben: Die erste läßt sich als Dominanz der historiographiegeschichtlichen Perspektive bezeichnen.
Die Forschungen dazu vermitteln den Eindruck, daß es sich bei geschichtskulturellen Auseinandersetzungen allein um disziplininterne Historikerdebatten handelt Ein Blick auf den „Umgang mit Geschichte“ etwa in den neuen Demokratien Ostmitteleuropas genügt jedoch, um zu erkennen, wie verengt diese Perspektive ist. Wenn Geschichte zu einem Medium der Konstruktion politischer und nationaler Identitäten wird, sind die Historiker keineswegs mehr unter sich. Der zweite spezifische Aspekt geschichtskultureller Forschungen in Deutschland hängt mit der doppelten Diktaturerfahrung des Nationalsozialismus und des SED-Regimes zusammen. Die Forschung tendiert -soweit sie sich überhaupt dem politischen Gebrauch der Geschichte zuwendet -dazu, lediglich den Komplex „Geschichte als Propaganda“ zu betonen Auch die dritte Schieflage ist unübersehbar, führt man sich die zahlreichen Beiträge über die „Historische Faszination“ -Museen, Theater, Tourismus, Werbung -vor Augen: Die ästhetische Dimension der Geschichtskultur hat hier ein überaus starkes Interesse gefunden Insgesamt sind somit bisher die politischen Aspekte fast völlig ausgeblendet worden. Daß jedoch Darstellung wie Interpretation von Vergangenheit immer auch hochgradig politisch umkämpft sind, daß also der wissenschaftliche Wahrheitsgehalt einer historischen Aussage selten allein deren öffentliche Wirkung bestimmt, dürfte unbestreitbar sein. In pluralistischen Gesellschaften wird ständig Geschichtspolitik betrieben, denn politische Eliten -als gewichtiger Teil der Deutungseliten -gestalten und definieren das für einen politischen Verband konstitutive Ensemble von grundlegenden Vorstellungen, Normen, Werten und Symbolen.
Geschichtspolitik ist daher, erstens, ein Handlungs-und Politikfeld, auf dem verschiedene politische Akteure die Vergangenheit mit bestimmten Interessen befrachten und in der Öffentlichkeit um Zustimmung ringen Dabei bestehen vielfältige Interdependenzen zwischen Politik, Publizistik, Wissenschaft und öffentlicher Meinung. Moderne Demokratien werden durch Deutungszusammenhänge mobilisiert; Geschichte kann hier ein wichtiges Vehikel sein, um Zusammenhänge zwischen diffusen Gruppen zu schaffen, Auseinandersetzungen zu polarisieren, Skandale zu provozieren oder den politischen Gegner zu delegitimieren. Die Reichweite der politischen Präsentation von Geschichte ist viel größer als die historiographische -dafür verantwortlich sind u. a. ein privi-'legierter Zugang zu den Medien sowie die zur Verfügung stehenden Informationsapparate der Parteien und verschiedener Institutionen In dieser Forschungsperspektive zur Geschichtspolitik ist nicht die Frage nach dem wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt des vermittelten Geschichtsbildes entscheidend, sondern die Frage, wie, durch wen, mit welchen Mitteln, welcher Absicht und welcher Wirkung Erfahrungen mit der Vergangenheit thematisiert und politisch relevant werden.
Geschichtspolitik ist darüber hinaus, zweitens, eine politisch-pädagogische Aufgabe. Denn Geschichte ist bei einer gesellschaftlich-politischen Selbstverständigung immer präsent. Die ständige Arbeit an der Geschichte, vor allem der Zeitgeschichte, gehört zu den Aufgaben einer politischen Führung und bedarf -wie die politische Kultur -in pluralistisch verfaßten Gesellschaften der Pflege. Von daher gesehen erscheint es äußerst verkürzt, Geschichtspolitik als Analysekategorie nur einseitig negativ zu werten. Viel sinnvoller ist ein offener Blick; denn aufklärerische, kritische Geschichtspolitik ist ebenso möglich wie legitimatorisehe und regressive.
Geschichtspolitik zeichnet sich, drittens, vor allem durch ein Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik aus. Zwischen diesen beiden Sphären bestehen zwar Wirkungszusammenhänge, aber Politik und Wissenschaft gehen unterschiedliche Wege. Mit dem Wissenschaftsanspruch von Geschichtsschreibung verbinden sich Vernunftpotentiale. Die Fachöffentlichkeit wacht über die Standards des Fachs. Nur was ihrer Kritik standhält, kann sich wissenschaftlich behaupten, und Wahrheitsansprüche werden an Wissenschaftlichkeit gebunden. Demokratische Machthaber hingegen sind potentielle Rechthaber; Politik arbeitet mit (notwendigen) Vereinfachungen und Verkürzungen.
Geschichtspolitik greift, viertens, viel weiter aus als „Vergangenheitsbewältigung“, die lediglich auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus abzielt sie läßt sich zudem sinnvoll von dem neuen Begriff „Vergangenheitspolitik“ abgrenzen. Dieser meint den Umgang mit dem institutioneilen und dem personellen Erbe eines überwundenen (diktatorischen) Systems. Im Zentrum des Interesses von vergangenheitspolitischen Forschungen stehen nicht Diskurse über allgemeine Geschichtsbilder, nicht öffentlich symbolisches Handeln, sondern justitielle, legislative und exekutive Maßnahmen, die in einem relativ engen zeitlichen Rahmen getroffen werden
Bundesrepublikanische Geschichtspolitik fand, fünftens, vor dem Hintergrund einiger Besonderheiten statt, die ihr den charakteristischen Stempel aufdrückten. Dazu gehörte die kontrastive Bezugnahme auf den überwundenen Nationalsozialismus genauso wie die ständige Abgrenzung ge-genüber der „negativen Vergleichsgesellschaft“ DDR (M. Rainer Lepsius). Die Teilung Deutschlands und die systemische Rivalität der beiden deutschen Staaten führte in bestimmten Bereichen zu einer „geteilten Vergangenheit“, was vor allem hinsichtlich des Widerstands gegen Hitler deutlich wird Außerdem brachte die Einbindung in die jeweiligen Blöcke neue Erfahrungen, Geschichtsbilder und Erinnerungen hervor; sie ließ bestimmte Elemente der historischen Identität verblassen, dagegen gewannen andere an Farbe Diese Überlegungen müssen hier genügen; betrachten wir nun einzelne Phasen und Kontroversen der bundesdeutschen Geschichtspolitik.
III. „Geschichtslose Zeit“ und Gründungsmythen der Bundesrepublik 1948-1953
Es ist immer eine eminent politische Frage, welche historischen Bezugsereignisse für eine gesellschaftlich-politische Selbstverständigung gewählt werden. Aber gerade in der formativen Phase der Bundesrepublik spitzte sich dieses Problem zu, weil die Traditionsbestände nicht unerschütterlich vorgegeben waren, sondern allesamt neu erstritten werden mußten -infolge der Verbrechens-und Kriegspolitik des „Dritten Reiches“, durch totale Niederlage und bedingungslose Kapitulation, durch Besatzungszeit, Souveränitätsverlust und durch die doppelte Staatsgründung. Die liberale Demokratie westlicher Prägung war der normative Maßstab für das Grundgesetz und die Verfassungsorgane der Bundesrepublik. In der „Kernstaat-These“ mit erhoffter Magnetwirkung auf Ostdeutschland und dem Alleinvertretungsanspruch, der 1955 als Hallstein-Doktrin offiziell formuliert werden sollte, fand der Gründungsmythos des neuen Staates seinen Ausdruck. Dieser antizipierte die politische Sinngebung in der Form des Postulats der Wiedervereinigung „in Frieden und Freiheit" Damit war der neue Staat in gewisser Weise auf eine Funktion festgelegt, die dem 19. Jahrhundert entstammte -nämlich die nationale Einheit zu vollenden.
Gesellschaftlich betrachtet, kennzeichnete die frühe Bundesrepublik eine prekäre Desorientierung. Die Gesellschaft befand sich im Umbruch, soziale Wandlungsprozesse hatten sich beschleunigt, auf der individuellen Ebene konnte man einen Rückzug ins Private feststellen Die (West-) Deutschen waren nach der Zerstörung des „Dritten Reiches“, das sich in seiner Hybris als Vollen-der der deutschen Geschichte verstanden hatte zutiefst verunsichert. Als Zeitdiagnose dominierte in der professionellen Geschichtswissenschaft die Metapher von der „geschichtslosen Zeit“ und der Sinnlosigkeit deutscher Geschichte Im Bereich der Politik herrschte Ratlosigkeit; der erste Bundespräsident Theodor Heuss fragte bange, wo die „ein Volk miternährende Kraft der Geschichte“ gefunden werden könne Waren nicht so gut wie alle deutschen Traditionen hinfällig oder mißbraucht worden? Zeugte die „deutsche Katastrophe“ nicht von einem einzigartigen verhängnisvollen historischen Irrweg?
Die ersten zögerlichen Versuche, das Gründungsgeschehen des neuen Gemeinwesens Bundesrepublik den aus dem Nationalsozialismus gekommenen Bürgern geschichtspolitisch begreifbar zu machen, waren bezeichnenderweise Fehlschläge. An der Arbeit des Parlamentarischen Rates nahm die Öffentlichkeit keinen Anteil. Die Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 prägte sich im Bewußtsein der Menschen weniger stark ein als die Währungsreform von 1948. Von frühen Überlegungen, den 8. Mai als historisch-politischen Gedenktag -als Gedächtnisort -zu etablieren, wurde rasch Abstand genommen, weil die DDR ihn als „Tag der Befreiung“ und gegen die Bundes-republik gerichtet inszenierte. Die Erinnerung an den 20. Juli 1944 war ebenfalls alles andere als populär; den Hitler-Attentätern haftete in der breiten Masse der Bevölkerung noch lange das Stigma von „Landesverrätern“ an So war es ein Ausdruck großer Verlegenheit, daß der 7. September als „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ ausgerufen wurde -der Tag, an dem sich Bundestag und Bundesrat 1949 konstituiert hatten. Diesem Symbol fehlte nämlich, wie es Heuss treffend ausdrückte, der „dramatische Geschichtsakzent“ Die Wiedereinführung des Volkstrauertages 1951/52 hingegen erwies sich als äußerst zwiespältig, denn dieses wichtige Symbolfeld nährte künftig die Legende vom „normalen Krieg“ der Wehrmacht. Den ehemaligen Soldaten wurde so die Möglichkeit erhalten, in ihrem oft opferreichen Einsatz einen Sinn zu erkennen -auf Kosten der historischen Wahrheit
Politisch vorangetrieben wurde der Aufbau von historischen Forschungseinrichtungen, von denen zwei besonders bedeutsam waren: das Münchner Institut für Zeitgeschichte sowie die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn. Die erste Einrichtung sollte vorrangig den Nationalsozialismus erforschen. Sie trug nicht nur zur „Geburt der westdeutschen Zeitgeschichte aus dem Geist der Vergangenheitsbewältigung“ bei sondern unterstrich die Grundlage des neuen Selbstverständnisses: die kontrastive Absetzung vom „Dritten Reich“. Die zweite Institutsgründung hatte ihren Ursprung bereits in Überlegungen, die zur Jahrhundertfeier des Paulskirchenparlaments 1948 von Politikern und Wissenschaftlern angestellt worden waren. Sie forderten, daß die deutsche Parlaments-und Parteiengeschichte intensiv und öffentlichkeitswirksam gepflegt werden müsse, um das seit dem Scheitern der 48er Revolution in Deutschland gestörte Verhältnis zwischen Bürger und Parlament zu überwinden Verfassungsstaat und Parlamentarismus -dies sollten die beiden Pfeiler der Brücke sein, die die Bundesrepublik mit der Paulskirche verband. Aus diesem positiven historischen Bezugspunkt sollten gegenwärtige Normen und Werte geschöpft werden.
IV. Die symbolische Konstruktion gesamtnationaler Identität bis zum Mauerbau 1961
Neben diesem normativen Basiskonsens existierten während der gesamten fünfziger Jahre aber auch erhebliche gründungsmythische Dissonanzen über Sinn und Zweck der Bundesrepublik, deren Ausläufer bereits im einleitenden Beispiel deutlich wurden: War dieser Staat, wie es den Vorstellungen von SPD und FDP entsprach, auf dem „Rück-weg“ zur nationalen Wiedervereinigung, oder war er auf dem neuen Weg in ein supranationales Europa, so die Option des überzeugten Antinationalisten Konrad Adenauer und seiner Anhänger? Seit den Stalin-Noten vom März 1952 und dem 17. Juni 1953 ist darum gestritten worden, ob in dieser Zeit die letzte Chance zur Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates vor 1989/90 vergeben worden sei Der Aufstand in der DDR wurde zum nachgerade alles überwölbenden geschichtspolitischen Schlüsselereignis dessen Darstellung, Analyse und Deutung die bundesdeutsche Geschichtskultur bis Mitte der sechziger Jahre prägte.
Mit dem „Tag der deutschen Einheit“ erhielt die Bundesrepublik unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 auf Initiative und Druck der oppositionellen Sozialdemokraten einen nationalstaatlichen Gedächtnisort. Zu einem Zeitpunkt, als die Westintegration verbindliche Formen annahm und sich die Republik infolge dieser Weichenstellungen vom Provisoriumsvorbehalt entfernte, fand somit paradoxerweise ein Rekurs auf die Gesamtnation statt. Die Sozialdemokraten wollten sich den Primat einer aktiven Wiedervereinigungspolitik symbolisch verbriefen lassen. Aber der Aufstand in der DDR bescherte nicht ihnen oder Gustav Heinemanns Wiedervereinigungspartei GVP, sondern Konrad Adenauer bei der Bundestagswahl im September 1953 einen hohen Wahlsieg. Pointiert gesagt, war somit die ostdeutsche Erhebung nichts Geringeres als der eigentliche Gründungsakt der Bundesrepublik -und durfte es zugleich nicht sein. Im sozialdemokratischen Geschichtsbild bedeutete der 17. Juni einen Arbeiteraufstand für die Einheit der Nation sowie eine Art sozialdemokratische Doppelrevolution gegen die SED-Diktatur im Osten und die „kleinstdeutsche“, „klerikalrestaurative" Kanzlerdemokratie im Westen. Während die Liberalen den 17. Juni als Fortführung der freiheitlich-nationalen Volkskämpfe seit den Befreiungskriegen 1806-1813, vor allem aber seit der Revolution von 1848 deuteten, unterstellte ihn Konrad Adenauer -unter Protest des gesamtdeutschen Flügels der Union um Jakob Kaiser -seinen außenpolitischen Leitlinien.
Im Schutz des 17. Juni, den er zum Aufstand für die Westbindung erklärte, trieb der Kanzler die supranationale Integrationspolitik voran. Hier ließ sich eine klare Entscheidungssituation definieren: Bewahrung und Weiterentwicklung der freiheitlich-demokratischen Ordnung an der Seite der Europäer und der Amerikaner als Königsweg eines neuen, aus der Geschichte Lehren ziehenden Deutschlands; oder die Rückkehr zum deutschen Sonderweg und zur verhängnisvollen Schaukelpolitik zwischen Ost und West durch ein Eingehen auf die Neutralitätsofferten der Sowjetunion, die gerade gezeigt hatte, was von ihr zu halten war.
Wenngleich die antikommunistisch unterfütterte, supranationale Politik des Kanzlers durch ein eindrucksvolles Wählervotum sanktioniert wurde, so prägte sich doch bis Mitte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik am „Tag der deutschen Einheit“ ein geschichtspolitischer Kult um den deutschen Nationalstaat aus Dessen Träger waren Adenauers deutschlandpolitische Gegner -neben kleineren Gruppen vor allem die SPD, die FDP, die Gewerkschaften, die Vertriebenenverbände, aber auch der Kaiser-Flügel der CDU. Im Kuratorium „Unteilbares Deutschland“ fand dieser Kult eine bedeutsame institutionelle Stütze. Ziel war es, mit Hilfe einer symbolischen Politik die Erinnerung an den gesamtdeutschen Nationalstaat in den Grenzen von 1937 aufrechtzuerhalten, eine Politik „gegen die Verwestlichung der Bundesrepublik“ zu treiben und alles zu tun, was half, sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik „abzuschaffen“ In einer stark parteipolitisch geprägten Festkultur versuchte man, gesamtdeutsche Identität rituell zu konstruieren, etwa durch Feuer-Inszenierungen von der Insel Helgoland bis zur Zugspitze, mit Stafettenläufen der Jugend an die „Zonengrenze“ und anderen Massenveranstaltungen, an denen sich jährlich mehrere Millionen Menschen beteiligten, bis der Kult wenige Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer -als die Wiedervereinigungsidee in eine tiefe Krise geriet -fast vollständig zusammenbrach.
Jenseits der parteipolitischen Konfrontation bot der „ 17. Juni“ die Chance, die Nation als Wert wieder emotional darstellbar zu machen und von ihr zu reden, ohne vom Nationalsozialismus sprechen zu müssen. Er galt, viel stärker als der gesellschaftlich noch kaum akzeptierte 20. Juli 1944, als eine „Rehabilitierung“ der deutschen Nation vor den Augen der Welt. So konservierte dieses Schlüssel-ereignis nicht nur einen auf den Nationalstaat fixierten Historismus auf Seiten der Geschichtswissenschaft, sondern der Aufstand gegen die SED-Herrschaft wurde im geschichtspolitischen Diskurs parteiübergreifend gleichsam als Beweis für die antitotalitäre Gesinnung der Deutschen und „der bewältigten Vergangenheit in unserem Volk“ herausgestrichen Das „Dritte Reich“ klammerte man aus der historischen Kontinuität aus, die Sicht vom „Betriebsunfall“ und die „Outlaw-Theorie“ bestimmten das reduktionistische NS-Bild in der Öffentlichkeit Den Deutschen bescheinigten ihre Politiker von rechts bis links, daß sie im „Dritten Reich“ Opfer, nicht Täter waren und nun auch noch das „Unrecht“ der Teilung erleiden mußten, für das man allein die Sowjetunion verantwortlich machte. Die ständigen, aus den Ostblockländern kommenden Diffamierungen der Bundesrepublik als „revanchistisch“ verstärkten diesen Trend noch. Die Totalitarismustheorie erhielt im Klima des Kalten Krieges eine immer stärkere Prägung durch das Bild der Sowjetunion und der DDR. Dies hatte zur Folge, daß der Nationalsozialismus als deutsche Form einer europäischen Erscheinung des Einparteienstaats interpretiert und die Frage nach den historischen deutschen Sonderentwicklungen in den Hintergrund gedrängt werden konnte, was nicht zuletzt auch in den „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht“ greifbar wurde, die die Kultusminister der Länder 1962 -ohne daß es kontroverse Diskussionen gegeben hätte -als verbindlich für den Schulunterricht verabschiedeten
V. Der Paradigmenwechsel seit Mitte der sechziger Jahre
Dieses geschichtspolitische Gebäude hatte immer schon Risse gezeigt, doch erst Mitte der sechziger Jahre stürzte es ein. Ausschlaggebend dafür waren mehrere, sich überschneidende Entwicklungen: Die Veränderungen der internationalen Lage durch eine zuerst noch zaghafte Entspannungspolitik spielte eine Rolle, ebenso die neuen deutschlandpolitischen Konzepte der Parteien nach dem Mauerbau, die zu einer Neufokussierung der deutschen Frage führten Wichtig wurde indes vor allem, daß im deutschen Geschichtsbild tiefgreifende Revisionen einsetzten und zudem die nationalsozialistische Vergangenheit die Deutschen einholte. Bereits 1960 hatte der Philosoph Karl Jaspers einen medienwirksamen Skandal vom Zaun gebrochen, der die Republik erschütterte. Jaspers machte allein die Deutschen für die Teilung ihres Landes verantwortlich und bezeichnete sie sogar als gerechte Strafe für die Heraufführung der Weltkatastrophe. Ihm zufolge war der deutsche Nationalstaat Bismarckscher Prägung an den Deutschen selbst -und zwar unwiederbringlich -gescheitert. Wer selber jedes Recht vernichtet hatte, dem stand es Jaspers zufolge nicht zu, aus der Vergangenheit noch irgendwelche Rechtsansprüche abzuleiten. Eine Wiedervereinigung zu fordern hielt er nicht nur für irreal im politischen Sinne, sondern aus moralisch-ethischen Gründen auch für ungebührlich. Nach Jaspers durfte es nur darum gehen, für die Ostdeutschen die Freiheit zu fordern, nicht aber nach einem gesamtdeutschen Staat zu streben. Der öffentliche Aufschrei war groß; der Philosoph wurde des Verrats der Nation bezichtigt Wie niemals zuvor seit der Entstehung der Bundesrepublik stand trotzdem der Nationalstaat der Deutschen von 1871 bis 1945 in der Schußlinie der Kritik. Doch erst die Fischer-Kontroverse zwischen 1961 und 1965 über die Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg gab den philosophischen Höhenflügen die wissenschaftliche Substanz. Vor allem aber barg sie erhebliche politische Implikationen, die der Historiker gar nicht beabsichtigt hatte: Sie war der Türöffner für eine neue Sonderwegsthese von links und verband sich mit neuen sozialliberalen Axiomen in der Innen-und Außenpolitik.
Fischers These einer aktiven, von einer Interessen-kontinuität konservativer Gesellschaftsschichten getragenen Hegemonialpolitik vor und nach dem Ersten Weltkrieg brach in radikaler Weise mit dem bestehenden Geschichtskonsens, der den deutschen Selbstbehauptungscharakter der Politik 1914/18 betont hatte und damit einen dicken Trennungsstrich zwischen dem „guten“ Kaiserreich und dem „schlechten“ Dritten Reich, zwischen einem „maßvollen“ Nationalismus vor 1933 und einem „pervertierten“ danach ziehen konnte Das Bewußtsein von der relativen oder gar absoluten Unschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg spielte im (west-) deutschen Nationalbewußtsein eine zentrale Rolle. Daß beide Katastrophen des 20. Jahrhunderts Glieder ein und derselben Kette von Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte darstellen könnten, schien im Westen Deutschlands aus geschichtspolitischen Motiven heraus undenkbar -denn diese Sicht entsprach dem kommunistischen Geschichtsbild des SED-Regimes.
Dementsprechend massiv fiel die politische Reaktion auf Fischers Thesen aus. Über den Deutsch-landfunk versicherte der neue Bundeskanzler Ludwig Erhard den Bürgern im August 1964, daß 1914 bei keiner Regierung ein bewußter Wille zum Krieg zu finden gewesen sei Nicht nur mit verbalen Mitteln und ihren zur Verfügung stehenden Informationsapparaten focht die Regierung gegen Fischers „Alleinschuld-These“ an. Aber die langfristige Wirkung der Kontroverse konnte sie nicht mehr rückgängig machen: Begleitet von einem Generationswechsel in Wissenschaft und Politik wurde das bisherige nationalapologetische Geschichtsbild einer grundsätzlichen Revision unterzogen. Die „deutsche Frage“, so Ralf Dahrendorf 1965 programmatisch, „ist die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie“ Somit bildete sich eine neue Sicht vom Sonderweg aus, die nicht mehr -wie die konservative -am gesellschaftlichen Status quo orientiert war, sondern auf den Prozeß einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft zielte. Diese neue Vorstellung vom deutschen Sonderweg bzw. vom Ende des alten deutschen Sonderwegs im Jahre 1945 beinhaltete eine wichtige Funktion: Sie förderte -in längerer Perspektive gesehen -die republikanische und demokratische (Neu-) Begründung der Bundesrepublik und damit erstmals einen von „links“ ausgehenden Prozeß der Selbstanerkennung dieses Staates.
Darüber hinaus konfrontierten die parlamentarischen Debatten über eine Verjährung von NS-Verbrechen, die 1961 begannen und 1965, 1969 sowie 1979 fortgeführt wurden, ferner die spektakulären NS-Prozesse zwischen 1961 und 1966 -besonders der Eichmann-Prozeß in Jerusalem -, die bundesdeutsche Öffentlichkeit erstmals umfassend mit den Verbrechen des „Dritten Reiches“. Der bisherige politische Opfer-Diskurs wurde immer stärker von einem Täter-Diskurs abgelöst. Deutsche als Täter, nicht bloß als Opfer im „Dritten Reich“ -auch dies veränderte das historisch-politische Koordinatensystem der Bundesrepublik Deutschland
Schließlich verlangten Politiker und Publizisten gleich welcher Couleur seit Mitte der sechziger Jahre die Pflege eines bundesrepublikanischen Staatsbewußtseins. Auch die Sozialdemokraten hatten mittlerweile die Westbindung als Staatsräson der Bundesrepublik anerkannt. Erich Ollenhauer bezeichnete es als eines der wichtigsten politischen Nahziele, „daß sich die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland mit unserem sozialen Rechtsstaat, mit unserer Demokratie identifizieren“ Hinter diesen Überlegungen von links und von rechts stand der Gedanke, daß der Westen dem Historischen Materialismus des Ostens eigene Grundüberzeugungen entgegenstellen und den grassierenden, einer Fortschrittseuphorie geschuldeten Geschichtsverlust überwinden müsse. Die politische Bildung in der Bundesrepublik erfuhr nun eine erhebliche Ausweitung. Der Geschichtsunterricht an den Schulen sollte nach dem Willen der Kultusminister als politische Bildungsaufgabe in der Demokratie begriffen werden
Dieses geschichtspolitische Konzept war ursprünglich als eine Art „ideelle Magnettheorie“ gegenüber dem Osten gedacht, es entfaltete aber eine erhebliche Eigendynamik in Richtung auf ein teilstaatsbezogenes Geschichtsbewußtsein. Denn mittlerweile gewann die „Erfolgsgeschichte“ der Bundesrepublik zunehmend an Eigengewicht und bestimmte den Wahrnehmungs-und Erfahrungshorizont der Bürger. Die Wiederaufbauleistungen bekamen eine immer stärkere Prägekraft als der Provisoriumsvorbehalt, und die Republik verfügte über populäre Gründungsmythen, wie das Wirtschaftswunder, die D-Mark, die soziale Sicherheit, die Westintegration, die Wiederbewaffnung und die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen. Der Stolz der Bürger auf die „Nation“ bezog sich immer mehr auf Leistungen und Merkmale des politischen Gemeinwesens Bundesrepublik
VI. Geschichtspolitische Implikationen der Neuen Ostpolitik
Die Neue Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel seit 1969 barg aus mehreren Gründen -vor allem aber aus zwei -entscheidende geschichtspolitische Dimensionen, die alle nachfolgenden Kontroversen in der Bundesrepublik beeinflußten: Zum einen erinnerte diese Politik an die Wurzeln des deutschen Unheils, das 1933 bei Hitler lag bzw. noch früher in den Strukturproblemen des Deutschen Kaiserreichs. Dies führte zu einer politischen Polarisierung, wie man sie seit Adenauers Westpolitik nicht mehr gekannt hatte. Sie erklärt aber auch ihren -nicht zuletzt psychologischen -Erfolg im Osten, weil dort das zeitgeschichtliche Denken, wenn auch oft politisch instrumentalisiert, immer um das Trauma des nationalsozialistischen Deutschland kreiste. Zum anderen mündete diese neue Politik in einer geschichtspolitisch abgestützten Neubegründung der Bundesrepublik, die in eine -nach der christdemokratischen Ära -„zweite formative Periode“ (Richard Löwenthal) eintrat.
Willy Brandt, der das „andere Deutschland“ verkörperte, unterließ nichts, um seine Koalition mit dem Pathos des Neuanfangs zu umgeben. Durch die Überhöhung des Machtwechsels als historische Zäsur, gepaart mit dem moralischen Gestus, den der Kanzler pflegte und damit die Opposition reizte, verstärkte sich die Polarisierung in der Bundesrepublik. Brandt verstand sich „als Kanzler nicht eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschland“ Hitler, so erklärte er kurz nach der Wahl, habe nun endgültig den Krieg verloren. Am 8. Mai 1970 nahm erstmals eine Bundesregierung im Deutschen Bundestag offiziell zum Ende des Zweiten Weltkrieges Stellung und warb um Aussöhnung mit dem Osten und den Opfern. Die CDU/CSU-Opposition versagte ihre Zustimmung zu dieser „Kapitulations-Würdigung“; Niederlagen könne man nicht feiern
Der Kniefall Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos verdichtete den moralischen Aspekt der Aussöhnung mit dem Osten. Die sozialliberale Koalition erklärte den Warschauer Vertrag zu einem historischen Wendepunkt der europäischen Geschichte, vergleichbar nur mit der Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen Am Abend nach der Unterzeichnung des Vertrages ermahnte Brandt über das Fernsehen seine Landsleute: Sie müßten jetzt beweisen, daß sie ein klares Geschichtsbewußtsein hätten. Nicht die sozialliberale Koalition, sondern die Reichsregierung Hitlers habe den deutschen Osten auf dem Gewissen. Mit dem Moskauer Vertrag gehe nichts verloren, und mit dem Warschauer Vertrag werde nichts preisgegeben -so parierte er die Angriffe der Opposition und der Vertriebenenverbände -, was nicht längst verspielt worden sei, „verspielt von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus"
Hinter der Neuen Ostpolitik stand die Prämisse, daß die Teilung Deutschlands das durch Deutsche selbstverschuldete (aber nicht zwangsläufig unaufhebbare!) Urteil der Geschichte darstellte. Das Unheil begann in dieser Lesart nicht erst 1945 durch die Entscheidungen der Alliierten, sondern 1933, und dieses Katastrophendatum wiederum stand in der Kontinuität der deutschen Geschichte seit 1870/71. Die Positionslichter der Kontroverse waren die Daten 1848 und 1871. Der Grundlagen-vertrag mit der DDR von 1972, so spitzte die CDU/CSU-Opposition ihre Ablehnung der Anerkennung der faktischen Zweistaatlichkeit zu, bedeute die Liquidierung des Bismarckreiches im 101. Jahr seines Bestehens. Sie forderte ein Festhalten an der deutschen Staatsnation, wie sie sich seit 1871 entwickelt hatte (freilich in den Grenzen von 1937). Am Grabe Bismarcks in Friedrichsruh betonte der CDU-Vorsitzende Kurt Georg Kiesinger, daß die Reichsgründung zwar nicht mit demokratischen Mitteln geschehen sei, gleichwohl aber dem Willen des deutschen Volkes entsprochen habe Die Koalition hingegen argumentierte mit dem Begriff der Kulturnation. Die historischen sowie vor allem demokratischen Wurzeln des deutschen National-verständnisses wurden im Jahre 1848, kaum dagegen im Datum der Reichsgründung gesehen. 1848 war in dieser Sicht so bedeutsam, weil erstmals die deutsche Nation als politische Willensgemeinschaft in Erscheinung trat. Die Substanz der Nation sollte bewahrt werden, aber eine Nation mußte nicht auch im gleichen Staate leben.
Zwischen 1969 und 1974 wurde in der Bundesrepublik mit Hilfe von Historie und Tradition ein Neubegründungsprozeß vorangetrieben. Im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik sollten die eigenständigen freiheitlich-demokratischen, auch revolutionären Traditionen belichtet werden. An dieser bisher sträflich vernachlässigten Front war zudem der Deutungskampf um das nationale Erbe mit der DDR auszutragen, für welche die „progressive“ Geschichte eine kostengünstige Ressource versuchter Legitimitätsschöpfung im deutschen Sonderkonflikt war. Der Bruch mit dem Deutschen Reich und die „Ausbürgerung“ Bismarcks aus der schwarz-rot-goldenen Ahnenreihe brachten in der Bundesrepublik einen kontrastiven Katastrophendiskurs hervor: „Hundert Jahre Deutsches Reich“ -so Bundespräsident Gustav Heinemann 1971 vor Millionen von Fernsehzuschauern -, „dies heißt eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation.“ Die Zerschlagung des Reiches bedeutete nichts weniger als die notwendige Voraussetzung für eine endlich erfolgreiche Demokratie in (West-) Deutschland.
Die Bundesrepublik wurde historisch neu verortet. Anstelle nationaler Bezugspunkte hob man viel stärker auf die freiheitlichen ab. Die Freiheitsbewegungen aus den breiten Schichten des Volkes -die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert, das Hambacher Fest von 1832, die Revolution von 1848/49 -galten als Wurzeln der Demokratie in Deutschland, und als deren bislang höchster Ausdruck erschien die Bonner Republik der sozialliberalen Ära Denn in ihr sei es zu einer historischen Symbiose von rechtsstaatlichem Liberalismus und sozialradikaler Demokratie gekommen. Freiheitlich-demokratische Traditionen, Bürgertugenden, soziale und emanzipatorische Bewegungen -daran habe es in der Ära Adenauer gemangelt; nicht nur die Rechts-, sondern auch die Sozialstaatlichkeit müsse nun ernst genommen werden. Die zweite deutsche Demokratie stand, so legte es die Koalition nahe, erst am Anfang einer wirklich freiheitlichen Periode deutscher Geschichte. Den Höhenflug dieser historisch rückgebundenen Reformeuphorie begrenzten freilich die Mühen des Alltags und eine starke Opposition. So scheiterte beispielsweise 1974 das Vorhaben, den „nationalpatriotischen“ Tag der deutschen Einheit -der von einem ehedem „linken“ zu einem „rechten“ Feiertag geworden war -durch einen verfassungspatriotischen Feiertag am 23. Mai -dem Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 -zu ersetzen.
Das Echo in der Geschichtswissenschaft, die sich Anfang der siebziger Jahre in einer Legitimationskrise befand war zwiespältig. Während die meisten älteren oder eher konservativ ausgerichteten Historiker sich weigerten, Geschichte nur nach dem praktischen Nutzen und der gesellschaftlichen Relevanz zu beurteilen oder Geschichtsschreibung lediglich als Vorgeschichte bundesdeutscher Gegenwart zu betrachten sah sich die jüngere Historiographie der kritischen Geschichtswissenschaft durch die Anstöße ermutigt Das Entscheidende aber war, daß der wissenschaftlich bedingte Zugewinn an Ambivalenz letztlich die Deutung der Freiheitsbewegungen aus den moralisch-politischen Instrumentalisierungen befreite.
VII. Die geschichtspolitische Tendenzwende seit Mitte der siebziger Jahre
„Auf die Ära der großen Erwartungen“, so hat Karl Dietrich Bracher seine Studie zu den Tendenzen des Zeitgeistes in den siebziger Jahren zusammengefaßt, „folgt die Zeit der großen Ernüchterungen und schließlich der Einbruch eines neuen Krisendenkens.“'’ In der Mitte des Jahrzehnts setzte unübersehbar eine Themenwende ein, entstand ein neuer Streit um Werte und Normen, bildeten sich vor dem Hintergrund einer sich zuspitzenden geistigen und politischen Polarisierung neue Wahrnehmungsmuster und Leitbilder aus, wandelte sich die politische Standortdebatte der Bundesrepublik grundlegend Innen-und außenpolitische Entwicklungen veränderten die Rahmenbedingungen, Stichworte müssen hier genügen: weltweite Diskussion über die Grenzen des Wachstums und die Zukunft der Industriegesellschaften, Entstehung neuer Protest-und Bürgerbewegungen, Ölkrisen, Terrorismus, Stagnation der deutsch-deutschen Entspannungspolitik, ins Stocken geratene europäische Integration.
Auf den überschießenden emanzipatorischen und demokratisch-kritischen Anspruch aus dem Geist der Studentenbewegung und des sozialliberalen Neugründungsprozesses der Bundesrepublik antworteten konservative Politiker und Intellektuelle mit Gegenidealen. Sie kritisieren den politisch„libertären“ Zustand der Bundesrepublik. Die Signalwörter: Emanzipation, Fortschritt, kritisches Bewußtsein, „Mehr Demokratie wagen“ und Entspannung wurden im politischen Diskurs einer umfassenden Kritik unterzogen. Die neue Krisen-stimmung förderte konservatives Denken: „Be-wahren“, nicht mehr „Verändern“ sollte nun die erste Bürgertugend sein. Anstelle von „Emanzipation“ avancierte „Identität“ zum geschichtspolitischen Modewort" ’ Im konservativen Gebrauch des Begriffs „Identität“ schwang dabei beides mit: die Vorstellung einer Ganzheit verbindlicher, nationaler, historischer Identifikationsmuster sowie die Kritik gegenüber einer linken, tendenziell subversiven Vergangenheitsbewältigung, die eine „endgültige“ Aufarbeitung der Vergangenheit verhindere und Identität somit unmöglich mache Dieser Identitätsdiskurs war nicht zuletzt ein Vor-hall auf die großen geschichtspolitischen Konflikte der achtziger Jahre bis hin zum „Historikerstreit“. Darüber hinaus wurde er aber auch von ganz links aufgefüllt: Im Spektrum der Neuen Linken sowie auf dem linken Flügel der SPD paarte sich ein Antiamerikanismus mit der Wiederentdeckung gesamtdeutschen Kulturgutes; die Westbindung avancierte zum Gegenbegriff einer diffusen deutschen Identität, eines Bedürfnisses „nach geschichtlicher Überwindung des Zustandes Bundesrepublik“
Die Suche nach der angeblich verlorenen Identität hatte einen wichtigen Grund in der neuen staatssozialistischen Geschichtskonstruktion der DDR, die im Westen als Bedrohung wahrgenommen wurde. Um den kulturnationalen Anspruch der sozialliberalen Deutschlandpolitik zu unterlaufen, war es in der DDR zur Erfindung der „sozialistischen Nation“ gekommen Die Theorie von der „Klassennation“, die eine kapitalistische Nation Bundesrepublik von einer sozialistischen Nation DDR unterschied, sich aber eine nationalkommunistische gesamtdeutsche Zukunftsoption offenhieit, bedeutete in den Augen vor allem konservativer Politiker deshalb eine große Gefahr, weil in der Bundesrepublik das nationale Bewußtsein seit dem Grundlagenvertrag offenbar durch ein bundes-republikanisches abgelöst worden war. Eine Reihe empirischer Studien kam zum Ergebnis einer zunehmenden „Bi-Nationalisierung“ Deutschlands Konnte also nicht eine politische Situation eintreten, in der die DDR ein geschichtliches Vakuum füllte und allein noch Kommunisten die Forderung nach deutscher Einheit erhoben?
Solche Bedrohungsszenarien bildeten den Hintergrund für den Beschluß der Kultusminister vom November 1978 über die „Deutsche Frage im Unterricht“ Das Problematische daran war, daß rechtspolitische Interpretationen des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag zur verbindlichen Basis für den Schulunterricht gemacht wurden. Der Beschluß sollte nicht auf eine „Wiedervereinigungslehre“ hinauslaufen, aber die Frage war, ob sich hochkomplizierte rechtspolitische Anliegen pädagogisch überhaupt vermitteln ließen. Linksliberale Kritiker geißelten den Beschluß der Kultusministerkonferenz als „Chauvinismus in der Schule“
VIII. Die Affirmation der Bundesrepublik 1982-1989
Die Tendenzwende zwischen 1975 und 1978 bedeutete eine geschichtspolitische Inkubationszeit für die achtziger Jahre. „Identität“ avancierte zum Kernbegriff sowohl im politischen Diskurs als auch in einer neuen Konjunktur der Geschichte, die viele Alltagsbereiche umfaßte und beispielsweise den Topos „Heimat“ als authentisches Erlebnisfeld wieder hervorbrachte Während in den fünfziger Jahren der „Verlust der Geschichte“ und die „Flucht aus der Geschichte“ beklagt wurden, sah man sich nun mit einem völlig gegenläufigen Prozeß einer „Faszination der Geschichte“ und einer „Flucht in die Geschichte“ konfrontiert Die Gegenwart war noch nie derart vergangenheitsbezogen. So entstanden in Form von Geschichtswerkstätten und der Alltagsgeschichte neue, vor allem lokale Geschichtsbewegungen. Auch eine florierende „Flohmarkt-Nostalgie“ wies auf ein eigentümliches, populäres Geschichtsinteresse hin; populärhistorische Darstellungen wurden bestsellerfähig, und als „Schaufenster in die Vergangenheit“ erfuhren historische Ausstellungen einen geradezu unglaublichen Boom Das neue Geschichtsinteresse in der Bundesrepublik korrespondierte überdies mit einer politisch motivierten Neuausrichtung der DDR-Historiographie unter dem Signum „Erbe und Tradition“, die zu einer emotionalen Fundierung der „Nation DDR“ beitragen sollte
Es ist sicherlich nicht falsch, in dieser modischen historischen Faszination eine Reaktion darauf zu sehen, daß utopische Potentiale verlorengegangen waren. Das Charakteristikum des gesamten Geschichtsbooms schien außerdem vielen Beobachtern im Fehlen politischer Traditionsbekenntnisse zu liegen. In ihren Augen war es zu einer Art Ökonomisierung des Gedächtnisses infolge der Geschäftstüchtigkeit der Erinnerungsindustrie gekommen Beides aber vernachlässigt den Aspekt, daß in den achtziger Jahren zugleich eine weitere Politisierung der Erinnerung stattfand. Nach der „Wende“ von 1982/83 wurde wiederum versucht, das Selbstverständnis der Bundesrepublik neu zu justieren. Die Folge davon war erneut ein „polarisiertes Geschichtsbild“ (Hans Mommsen). Unverkennbar war das Bemühen der Union und der ihr nahestehenden Publizisten, den Aufbruchsmythos des frühen Sozialliberalismus endgültig zu entzaubern. Vor allem über eine Apologie des offenbar kongenialen Gründungskanzlers Konrad Adenauer kehrten Versatzstücke der fünfziger Jahre in den politischen Diskurs zurück. Insgesamt verschönerte man die „Fünfziger“ mit Blattgold, erkannte in ihnen eine Zeit des gesellschaftlichen Konsenses, der Stabilität, Sinnerfüllung und Zukunftsgewißheit. Der Kampf um die Kontrolle der geschichtspolitischen Diskurse bezog sich jetzt darauf, die bundesrepublikanische „Erfolgsnation“ Adenauerscher Prägung in die Ära Kohl hinein zu verlängern und die Bundesrepublik für die Konservativen zu reklamieren.
In den zahlreichen Interpretationskontroversen über das deutsche Geschichtsbild, über die „Natürlichkeit“ des Nationalstaats und über die „Normalisierung“ der Nation, die zwischen 1983 und 1989 die Geschichtskultur der Bundesrepublik prägten, war daher -jenseits gesamtdeutscher Deklamationen -die westdeutsche Republik als „Nation“ gemeint. Die Bundesrepublik sollte mit einem zustimmungsfähigen Traditionsreservoir ausgestattet werden. Eine „Entkriminalisierung“ der deutschen Geschichte sowie ein Ende der Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche „Dauerbüßeraufgabe“ wurde als notwendige Voraussetzung eines neuen Patriotismus gesehen, der auf einer positiveren Beziehung zur eigenen Vergangenheit basieren sollte.
Das geschichtskulturelle Zeitklima kam diesen Bestrebungen entgegen. Dies kann hier nur mit den wichtigsten Stichworten konstatiert werden: Es formte sich ein Neohistorismus aus, die Sonderwegsthese wurde einer scharfen Kritik unterzogen, geopolitische Denkströmungen erlebten eine Renaissance Nicht nur zwei parteipolitisch zunächst umstrittene Museen sollten eine bundes-republikanische Erinnerung strukturieren, sondern massenwirksamer noch waren die symbolischen Erinnerungsgesten aus der politischen Sphäre, die auf eine Aussöhnung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit zielten, etwa Helmut Kohls (oft absichtlich mißverstandenes) Wort von der „Gnade der späten Geburt“ von 1984 und vor allem die Bitburg-Affäre vom Jahr darauf. Ziel war es, die Diskurse um die Vergangenheitsbewältigung zu beenden und die Bundesrepublik nach fast vierzig Jahren erfolgreicher Demokratie mit dem positiven Gründungsmythos eines Rechtsstaates an der Seite des Westens unter möglichst weitgehender Ausklammerung der NS-Vergangenheit auszustatten und somit die letzten moralischen Überbleibsel der „Bewährungsfrist für eine historische moralische Schuld“ auszulöschen zumindest wurde dies von linksliberalen Kritikern unterstellt.
Im „Historikerstreit“ von 1986/87 als der letzten großen Kontroverse der „alten“ Bundesrepublik spitzte sich die Konfrontation zwischen den Vertretern einer kritischen „Holocaust-Identität“ und denen einer affirmativen „Normale-Nation-Identität“ zu. Nicht nur die „konservative“ Seite, auch die „linksliberale" betrieb in diesem Streit -der mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft nicht entscheidbar war -massiv Geschichtspolitik. Das Paradoxe war jedoch, daß beide Diskurse über den Stellenwert des Nationalsozialismus für das kollektive Gedächtnis letztlich auf eine Affirmation der Bundesrepublik hinausliefen: der „konservative“ Diskurs, indem er die „Normalität“ des Nationalstaats beschwor und die „verletzte Nation“ Bundesrepublik durch die bindende Identität des Nationalstaats kurieren wollte der „linksliberale“ Diskurs, indem er auf die „Logik“ der Geschichte rekurrierte Die gemäßigte Linke entdeckte im „Historikerstreit“ so nachhaltig wie nie zuvor die „alte“ Bundesrepublik als „ihre“ Republik. „Auschwitz“ blieb hier im Zentrum bundesdeutschen Werthorizonts, doch darüber hinaus entstand eine aus „Auschwitz“ abgeleitete Verzichtsethik, die die deutsche Teilung als „gerechte Strafe“ klassifizierte.
Daß sich in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1989 ein eigenes Traditionsfundament herausbildete, war also kein anonymer Vorgang und läßt sich auch nicht allein historiographiegeschichtlich erklären. Vielmehr ist dieser Prozeß in unterschiedlichen Phasen von verschiedenen politischen Kräften forciert oder gehemmt worden. Im Mai 1989 erreichte die Selbstanerkennung der Bundesrepublik ihre höchste Stufe. Die unzähligen politischen Reden zum vierzigsten Jubiläum der Republik, aber auch demoskopisches Material bestätigen daß die Bundesrepublik als „Nation“ akzeptiert war; sie galt gleichermaßen als das Werk Adenauers wie der Linken. Seinen vierzigsten Geburtstag feierte dieser Staat in einem Ausmaß, als handele es sich um ein gründungsmythisches Jahrhundertereignis. Ein Staat schien endlich angekommen und im Geschichtsbewußtsein seiner Bürger fest verankert zu sein -während gleichzeitig ungarische Grenzsoldaten damit begannen, den Eisernen Vorhang niederzureißen, sich in der DDR ein rapider Autoritätsverlust des SED-Regimes vollzog und sich -für die meisten unfaßbar -die „unverhoffte Einheit“ (Konrad H. Jarausch) anbahnte.