Die ostdeutsche Identität -Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie | APuZ 41-42/1998 | bpb.de
Die ostdeutsche Identität -Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie
Detlef Pollack/Gert Pickel
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Zusammenfassung
Auch wenn die materielle Vereinigung im Laufe der letzten acht Jahre bedeutende Fortschritte gemacht hat, vollzieht sich die Herstellung der inneren Einheit nach wie vor sehr viel langsamer. Noch immer ist die Bewertung der Leistungen der Demokratie, der politischen Institutionen und ihrer Vertreter im Osten Deutschlands deutlich schlechter als im Westen. Die dominante Erklärung für die Unterschiede im Niveau der Akzeptanz der politischen Ordnung der Bundesrepublik greift auf die Sozialisationsthese zurück. Aufgrund der sozialistischen Prägung in den Jahren des Bestehens der DDR seien die Ostdeutschen auch acht Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch nicht in der Lage, die Demokratie in gleichem Maße wie die Westdeutschen zu akzeptieren, die mehrere Jahrzehnte Zeit gehabt hätten, die Funktionsprinzipien des westlichen Systems zu verinnerlichen. Dies scheint kaum überzeugend, denn nachdem die DDR fast zehn Jahre nicht mehr existiert, wird man die heutigen politischen Einstellungen nur schwer auf sozialisatorische Prägungen zurückführen können, die inzwischen durch weitaus nachhaltigere neue Erfahrungen überlagert worden sind. Diese neuartigen Erfahrungen mit dem westlichen System sind es -so lautet die These -, die die heutigen Einstellungen zu Demokratie und Politik vor allem prägen. Ein Einfluß sozialistischer Prägungen ist damit nicht gänzlich bestritten. Wir gehen aber davon aus, daß die unmittelbaren Folgen der Vereinigung und deren subjektive Verarbeitung, etwa die wirtschaftliche Lage, das subjektive Gefühl der Benachteiligung oder die Fremdheit gegenüber den Landsleuten im anderen Teil Deutschlands, heute in höherem Maße als die sozialisatorischen Prägungen die Bewertung der Demokratie und der politischen Institutionen der Bundesrepublik beeinflussen.
I. Vorbemerkungen
So sehr die vielbeschworene Identität der Ostdeutschen in der deutschen Öffentlichkeit präsent ist, so wenig scheint sie doch gegenständlich zu greifen zu sein. In der Kommunikation zwischen Ost-und Westdeutschen ist sie allenthalben mit im Spiel, die Mißverständnisse zwischen ihnen zeugen von ihr. Natürlich bemüht sich inzwischen fast jeder darum, auf sie Rücksicht zu nehmen. Worin sie freilich besteht, ist nicht so recht klar.
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Tabelle 3: Übereinstimmung mit demokratischen Prinzipien (in Prozent)
Tabelle 3: Übereinstimmung mit demokratischen Prinzipien (in Prozent)
Angesichts dieser Allgegenwart und Ungreifbarkeit der ostdeutschen Identität kann man schon einmal zornig werden. Die Kennzeichnung der Ost-Identität von heute als „Arme-SchweineKult", wie sie Volker Zastrow kürzlich in der EA. Z. vornahm mag überzogen und beleidigend sein; irgendwo trifft sie aber auch zu. Sie trifft die unredliche Unart vieler Ostdeutscher, sich als Opfer zu stilisieren und gleichzeitig alle Segnungen des geschmähten Kapitalismus in Anspruch zu nehmen und darüber hinaus noch weitere Forderungen zu stellen. Die rücksichtslose Aufforderung an die Ostdeutschen, das Jammern aufzugeben und anzuerkennen, daß es ihnen heute im großen und ganzen weitaus besser geht als vor zehn Jahren, ist, auch wenn sie von den Ostdeutschen natürlich als unverschämte Ignoranz zurückgewiesen werden muß, irgendwie näher an der ostdeutschen Realität als jene verständnisvolle Altväterlichkeit, der man im Umgang mit den ostdeutschen Befindlichkeiten ansonsten allenthalben begegnet. Dieser gönnerhafte Paternalismus deutet das Jammern der Ostdeutschen als eine Reaktion auf die durch die deutsche Einheit ausgelösten Umstellungsprobleme, die die Ostdeutschen überfordern würden. Daß sich die Ostdeutschen mit der deutschen Einheit schwertun, ist nach dieser Lesart das Natürlichste von der Welt.
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Tabelle 4: Zustimmung zur Idee der Demokratie (in Prozent)
Tabelle 4: Zustimmung zur Idee der Demokratie (in Prozent)
Geprägt durch einen bevormundenden Versorgungsstaat und eine totalitäre Diktatur, müßten sie es erst lernen, sich in der Freiheit zu bewegen und Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Auch die Westdeutschen hätten schließlich mehrere Jahrzehnte benötigt, ehe sie die Demokratie der Bundesrepublik innerlich angenommen und akzeptiert hätten.
Abbildung 9
Grafik 5: Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie im vereinigten Deutschland, 1990-1996 (in Prozent)
Grafik 5: Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie im vereinigten Deutschland, 1990-1996 (in Prozent)
Nein, eine solche auf sich selbst fixierte Art des Verstehenwollens bleibt unpräzise. Die Ostdeutschen sind längst in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angekommen. Auch wenn sich für sie vieles seit der Wende geändert hat -ihr Verhältnis zur Bürokratie, zum Mitmenschen, zur Arbeit, zum Geld, zur Zeit, ja sogar zum eigenen Körper -, so haben sie die Probleme der Umstellung doch inzwischen weitgehend gemeistert. Kaum einer will zurück zur alten DDR. Man vermißt sie nicht und trauert ihr nicht nach, auch wenn man vieles, was es damals gab, nicht so schlecht findet, wie es heute gemacht wird. Die bundesdeutsche Wirklichkeit ist zur selbstverständlichen Alltagsnormalität geworden, mit der man fertigwerden muß und fertigwerden will Wenn die Ostdeutschen jammern, dann wollen sie damit ihre antiwestlichen Ressentiments ausdrücken und daraus weitergehende Ansprüche ableiten. Jammern ist eine Form der Selbstinszenierung. Es ist das Mittel der Ohnmächtigen, sich mit den Verhältnissen abzufinden und sie doch noch ein wenig zu den eigenen Gunsten zu verändern. Dieses Instruments haben sich die Ostdeutschen auch schon zu DDR-Zeiten bedient und sind damit gar nicht so schlecht gefahren. Es geht den Ostdeutschen heute besser, als sie wahrhaben wollen. Aber gerade in der Tatsache, daß sie es nicht akzeptieren wollen, scheint irgendwo der Kern der ostdeutschen Identität verborgen zu liegen. Wie in der Öffentlichkeit, so wird auch in der Wissenschaft der Diskurs über Wesen und Merkmale der ostdeutschen Identität geführt. Und wie dort scheinen auch in der wissenschaftlichen Diskussion zwei unvereinbare Positionen aufeinanderzutreffen. Während die einen behaupten, daß der Prozeß der Herstellung der deutschen Einheit weitgehend gelungen sei, die Differenzen in den Werthaltungen zwischen Ost-und Westdeutschen politisch unbedeutend und das Gemeinsame zwischen ihnen stärker als das Trennende sei, vertreten andere die Meinung, daß die Differenzen in den Einstellungen und Wertpräferenzen zwischen Ost-und Westdeutschen gravierend seien, sich seit 1990 teilweise sogar verstärkt hätten und die Ostdeutschen, die ihre in der DDR erworbenen Prägungen nicht so schnell abstreifen könnten, nach wie vor enorme Anpassungsprobleme zu bewältigen hätten. Wie tief sind die Risse in den Einstellungen und Verhaltensweisen zwischen Ost und West? Worin bestehen sie? Und was sind ihre Ursachen? Das scheinen die Fragen zu sein, denen sich die Diskussion über die Spezifika der ostdeutschen Sondermentalität stellen muß.
II. Positionen der Forschung
Abbildung 2
Grafik 1: Verteilungsnormen und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1994 (in Prozent) Datenbasis: Allbus 1991, 1994 (Allbus - Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, hrsg. vom Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln).
Grafik 1: Verteilungsnormen und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1994 (in Prozent) Datenbasis: Allbus 1991, 1994 (Allbus - Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, hrsg. vom Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln).
In der Forschung zur ostdeutschen Mentalität werden auf diese Fragen ganz unterschiedliche Antworten gegeben. Der Mainstream der Forschung geht davon aus, daß die mentalen Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen grundlegend seien, und führt diese Unterschiede vor allem auf die unterschiedlichen politisch-kulturellen Prägungen zurück, denen die Menschen in Ost und West in den letzten 45 Jahren ausgesetzt waren.
Abbildung 10
Tabelle 5: Zusammenhänge zwischen der Beurteilung der Funktionsweise des politischen Systems und der subjektiv empfundenen Verteilungsgerechtigkeit sowie der Distanz zum anderen Teil Deutschlands
Tabelle 5: Zusammenhänge zwischen der Beurteilung der Funktionsweise des politischen Systems und der subjektiv empfundenen Verteilungsgerechtigkeit sowie der Distanz zum anderen Teil Deutschlands
Wolfgang Schluchter zum Beispiel vertritt die Auffassung, daß die Gesinnungen, Gewohnheiten und Ideen der Ostdeutschen mit dem schnellen und gründlichen Austausch der Institutionen, wie er sich im Zuge der Wiedervereinigung vollzog, nicht mitzuhalten vermochten und sich die DDR-Bevölkerung daher im Augenblick der Vereinigung plötzlich unter ein ihr fremdes und unbekanntes Ordnungsgefüge gestellt sah Dieses neue Ordnungsgefüge sei durch Marktwirtschaft und Demokratie charakterisiert, die Mentalitäten der Ostdeutschen aber hätten ihre Prägung durch das untergegangene System der sozialistischen Betreuung und Überwachung erhalten Daraus erkläre sich, warum sich die Werthaltungen und Einstellungen der Ostdeutschen von denen der Westdeutschen auch heute noch unterschieden. Während die Westdeutschen eher eine leistungsbezogene Verteilungsgerechtigkeit -„jeder nach seinen Fähigkeiten“ -bevorzugten, neigten die Ostdeutschen eher zu einer versorgungsbezogenen Gerechtigkeitsvorstellung -„jedem nach seinen Bedürfnissen“ Die einen seien eher ich-, die anderen eher kollektivorientiert. Auch hinsichtlich der Erwartungen an den Staat, der Zuschreibung der Verantwortung für die eigene soziale Lage und der Akzeptanz der politischen Institutionenordnung macht Schluchter bedeutsame Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen aus. Anders als die Westdeutschen hätten die Ostdeutschen noch nicht genug Zeit gehabt, sich an die politische und wirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik zu gewöhnen. Der plötzliche und radikale Institutionenwandel fechte Gewohnheiten so an, „daß sie einem bewußt und teuer werden und sich gerade dadurch gegen den Strom der Zeit verfestigen“ Wenn sich die Ostdeutschen heute ihrer DDR-Vergangenheit wieder zuwendeten, so sei eine solche Reaktion auch ein Abwehrmechanismus, ein Akt der Selbstverteidigung, der Notwehr
Abbildung 11
Tabelle 6: Einflüsse auf die Beurteilung der Funktionsweise des politischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland
Tabelle 6: Einflüsse auf die Beurteilung der Funktionsweise des politischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland
Die These prinzipieller Wertedifferenzen zwischen Ost-und Westdeutschen vertritt auch Dieter Fuchs Er macht sie vor allem an den unterschiedlichen Demokratieauffassungen in Ost-und Westdeutschland fest. Was die Ostdeutschen präferierten, sei nicht das in der Bundesrepublik implementierte Modell der liberalen Demokratie, sondern das eines demokratischen Sozialismus. Dieses Modell unterscheide sich von der politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik vor allem durch zwei Merkmale: durch eine stärkere Betonung von Gleichheitsvorstellungen und eine stärkere Hervorhebung der umfassenden und direkten Bürgerbeteiligung an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten Dabei interpretiert Fuchs die Orientierung der Ostdeutschen an den Prinzipien direkter Bürgerbeteiligung und egalitärer Güter-Verteilung als eine unmittelbare Folge der Sozialisationserfahrungen, die sie in der DDR als einem paternalistischen Versorgungsstaat gemacht hätten. Aus dieser Orientierung erkläre sich, daß die Ostdeutschen die Demokratie der Bundesrepublik mehrheitlich nicht unterstützten, so daß zwischen der implementierten politischen Institutionenordnung und der politischen Kultur der Ostdeutschen eine Inkongruenz bestehe, die die Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik langfristig bedrohe Zwar war die Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform, wie Fuchs einräumt, unter den Ostdeutschen kurz nach Einführung der Demokratie erstaunlich hoch. Dies aber sei nur eine auf der Überlegenheit des westlichen Systems beruhende oberflächliche Unterstützung gewesen. Eine wirkliche Akzeptanz der Implikationen der Demokratie lasse sich „nur durch schwierige und langwierige Lernprozesse“ erlangen Deshalb müsse man damit rechnen, daß sich die normativen Standards zur Bewertung der Demokratie der Bundesrepublik, die sich durch die Sozialisationsprozesse in der ehemaligen DDR herausgebildet hätten, nicht so schnell änderten
Demgegenüber stellt Hans-Joachim Veen die These auf, daß die innere Einheit Deutschlands bereits weitgehend erreicht sei Wo es Einstellungsdifferenzen zwischen Ost-und Westdeutschen gebe, so etwa wenn die Ostdeutschen mehr Staat und mehr Gleichheit forderten als die Westdeutschen, sei dies nur ein Ausdruck unterschiedlicher akuter Problemlagen, nicht aber ein Indiz für prinzipielle sozialisatorisch bedingte Differenzen Die Behauptung einer nachhaltigen frühen Prägung der politischen und sozialen Grundüberzeugungen, wie sie die ältere Sozialisationstheorie aufstelle, ignoriere die Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen rational zu verarbeiten. Sie lege den Menschen auf einmal erworbene Einstellungen und Verhaltensweisen fest, sehe an seiner Vernunftbegabung und Flexibilität vorbei und ideologisiere damit die durch das sozialistische System geprägten Wertorientierungen der Ostdeutschen
Ebenso wie Hans-Joachim Veen geht auch Claudia Ritter davon aus, daß die kognitiven und mentalen Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen nicht so groß seien, wie oft behauptet Die Herausbildung einer ostdeutschen Identität, die Claudia Ritter nicht bestreitet, beruhe nicht auf grundlegenden Wertdifferenzen zu den Westdeutschen. Vielmehr handele es sich um eine Abgrenzungsidentität, die die Gemeinsamkeiten mit den Westdeutschen ebenso leugne wie die Heterogenität innerhalb der eigenen Gruppe Die Ostdeutschen hätten eine solche Abgrenzungsidentität entwickelt, um sich nicht mit dem, was sie mit den Westdeutschen verbindet, nämlich mit der schuldbeladenen deutschen Geschichte auseinandersetzen und damit ihrer eigenen geschichtlichen Verantwortung stellen zu müssen. Der tiefgreifende politisch-kulturelle Abgrenzungsbedarf der Ostdeutschen sei keine zwangsläufige Folge des staats-sozialistischen politisch-kulturellen Erbes, sondern aus den Bedingungen der deutsch-deutschen Vereinigung hervorgegangen
Dieter Walz und Wolfram Brunner wiederum stellen zwar ebenso wie Veen heraus, daß es keine innere Mauer zwischen Ost-und Westdeutschen gebe, anders als Ritter bestreiten sie jedoch, daß intellektuell-mentalen Aspekten überhaupt bei der Herstellung der inneren Einheit eine größere Bedeutung zukommt Die Herstellung der inneren Einheit sei in erster Linie eine Frage der Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse. Wenn die Ostdeutschen sich als Bürger zweiter Klasse fühlten, dann sei dies vor allem ein Ausdruck ihrer ökonomisch prekären Lage, weniger eine Folge von Anerkennungsproblemen und Abgrenzungsbedürfnissen. Darauf würde der Anstieg des Gefühls, Bürger zweiter Klasse zu sein, seit 1995 hindeuten, denn seitdem hätten sich auch die negativen Wirtschaftserwartungen im Osten verstärkt, und außerdem sei es seit dieser Zeit auch zu einer Erhöhung der Arbeitslosenquote und zu einem Einbruch der Konjunktur gekommen
III. Die Fragestellung
Abbildung 3
Grafik 2: Verteilungsnormen und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1994 (in Prozent) Datenbasis: Allbus 1991 1994
Grafik 2: Verteilungsnormen und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1994 (in Prozent) Datenbasis: Allbus 1991 1994
Die Fragen, die sich aus dem kurzen Durchgang durch die sozialwissenschaftliche Forschung zur Sondermentalität der Ostdeutschen ergeben, lauten also: Gibt es mentale Unterschiede zwischen den Ost-und Westdeutschen, und wie bedeutsam sind sie; worin bestehen sie, betreffen sie mehr politische, mehr ökonomische oder mehr alltags-weltliche Dimensionen, und schließlich, wodurch sind sie, wenn sie denn existieren, bedingt? Bezüglich der letzten Frage stehen sich zwei Hypothesen gegenüber. Die Sozialisationshypothese führt die Einstellungs-und Wertorientierungsunterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen vor allem auf die unterschiedlichen Sozialisationseinflüsse zurück, denen die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten ausgesetzt waren. Die Situationshypothese macht für diese Unterschiede stärker soziale Differenzen zwischen Ost-und Westdeutschland in der Gegenwart verantwortlich: unterschiedliche soziale Lagen, Einkommens-und Lohndifferenzen, unterschiedliche Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit, aber auch Unterschiede im öffentlichen Meinungsbild von Ost-und Westdeutschen, in der Darstellung ihrer Vergangenheit, in der jeweiligen Fremdbeurteilung usw.
Welcher der beiden Hypothesen man zuneigt, ist nicht ohne Belang, denn wenn man die mentalen Besonderheiten von Ost-und Westdeutschen auf sozialisatorische Einflüsse zurückführt, geht man davon aus, daß sie tief verinnerlicht sind und sich in nächster Zukunft nicht wandeln werden. Erklärt man sie dagegen aus den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, dann impliziert dies, daß sie sich mit dem Wandel dieser Bedingungen relativ rasch ebenfalls verändern können. Dabei ist anzumerken, daß kaum ein Vertreter der Sozialisationshypothese situative Einflüsse vollkommen ausschließt, wie auch kaum ein Vertreter der Situationshypothese sozialisatorische Effekte grundsätzlich negiert. Der Streit geht um das unterschiedliche Gewicht der jeweiligen Einflußfaktoren, nicht um ein Entweder -Oder.
Um uns mit der Frage, ob es bedeutsame Unterschiede in den Wertorientierungen zwischen Ost-und Westdeutschen gibt und auf welche Ursachen die auszumachenden Unterschiede zurückzuführen sind, auseinanderzusetzen, wollen wir uns im folgenden auf zwei Vorstellungen konzentrieren, die für die westliche Institutionenordnung grundlegend sind. Zum einen wollen wir uns mit der Akzeptanz sozialer Ungleichheit als einem wesentlichen Prinzip der Marktwirtschaft beschäftigen, zum andern mit der Akzeptanz der Demokratie. Der Sozialisationshypothese zufolge dürften beide Vorstellungen unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer in Ostdeutschland nicht stark akzeptiert gewesen sein, da es den Ostdeutschen an Erfahrungen mit der Marktwirtschaft und der Demokratie gefehlt habe. Nach ihren Prämissen dürften sich die Vorstellungen zwischen den Ost-und Westdeutschen 1990 am stärksten unterschieden haben und sich erst im Laufe der Zeit einander annähern. Der Situationshypothese zufolge, die die Einflüsse der DDR-Sozialisation nicht so hoch bewertet, dürfte eine hohe Akzeptanz von sozialer Ungleichheit und Demokratie unmittelbar nach dem Ende des Staatssozialismus nicht ausgeschlossen werden können. Ihre Annahmen legen es nahe, davon auszugehen, daß sich in der Folgezeit die Akzeptanz dieser beiden Werte in starker Abhängigkeit von der sozialen Lage und den Vereinigungsfolgen entwickelte. Bei einer positiven Entwicklung müßte die Akzeptanz eher steigen, bei einer negativen eher sinken.
IV. Die Akzeptanz sozialer Ungleichheit
Abbildung 4
Tabelle 2: Freiheit und Gleichheit 1989/90 und 1992 in Deutschland (in Prozent) Datenbasis: Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, München 1993, S. 573.
Tabelle 2: Freiheit und Gleichheit 1989/90 und 1992 in Deutschland (in Prozent) Datenbasis: Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, München 1993, S. 573.
Bei der Beschäftigung mit Vorstellungen von sozialer Ungleichheit müssen zwei Ebenen unterschieden werden. Die eine bezieht sich auf die Frage der Legitimation sozialer Ungleichheit, die andere auf die Wahrnehmung realer Formen sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft. Im ersten Fall geht es mehr um die Idee, die man von sozialer Ungleichheit hat, im zweiten mehr um die Einschätzung der sozialen Wirklichkeit, wobei man auch seine eigene Stellung in dieser sozialen Wirklichkeit verortet, was ebenfalls einen Einfluß auf deren Einschätzung hat. Die Legitimation sozialer Ungleichheit und ihre Wahrnehmung in der sozialen Realität lassen sich nicht streng voneinander trennen, denn natürlich beeinflußt die Idee, die jemand von sozialer Ungleichheit hat, auch seine Wahrnehmung der realen Unterschiede, wie auch umgekehrt das normative Ungleichheits-und Gerechtigkeitsbild, das jemand hat, nicht unabhängig von seiner Beobachtung der erfahrbaren Ungleichheiten in einer Gesellschaft ist. Dennoch sind beide Ebenen nicht einfach identisch, sondern müssen zum Zwecke der Analyse auseinandergehalten werden.1. Normative Bewertungsmaßstäbe von Ungleichheit Die Legitimation sozialer Ungleichheit kann anhand unterschiedlicher Kriterien erfolgen. Sie kann auf Leistungsunterschiede oder auf Bedürfnisdifferenzen abstellen. Während das erste Legitimationskriterium als typisch für die Marktwirtschaft angesehen wird, gilt das zweite als typisch für das sozialistische Verteilungsmodell. Den Ostdeutschen werden im allgemeinen egalitärere Grundüberzeugungen als den Westdeutschen unterstellt Eine Akzeptanz von Ungleichheit als Folge von Leistungsdifferenzen hätte sich bei ihnen nicht ausbilden können. Bedingt durch die Gewöhnung an die Leistungen des sozialistischen Versorgungsstaates würden sie mehr eine Gleichheit der Resultate befürworten.
Wie sehen nun die Ungleichheitsvorstellungen der Ostdeutschen im Vergleich zu denen der Westdeutschen tatsächlich aus? Wie Tabelle 1 zeigt, liegt die Akzeptanz von sozialer Ungleichheit als Ergebnis von Leistungsdifferenzen im Osten Deutschlands 1995 nur knapp unter den Werten in Westdeutschland. In den Jahren zwischen 1991 und 1993 entsprachen sich die Werte in den beiden Landesteilen in etwa. 1990 dagegen war die Akzeptanz leistungsabhängiger Ungleichheit im Osten Deutschlands sogar deutlich höher als im Westen. Wenn die Vertreter der Sozialisationshypothese im Recht wären, müßte die Entwicklung von 1990 bis 1995 genau umgekehrt verlaufen sein: von einer niedrigen Akzeptanz sozialer Ungleichheit zu einer hohen. Die hohe Akzeptanz leistungsabhängiger Ungleichheit im Jahr 1990, also unmittelbar nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes, spricht gegen die Gültigkeit der Sozialisationshypothese.
Ziehen wir andere Daten zur Legitimation sozialer Ungleichheit heran, so bestätigt sich das gewonnene Bild. Auch in den Grafiken 1 und 2 sehen wir, daß die Bereitschaft der Ostdeutschen, soziale Differenzen zwischen den Menschen zu rechtfertigen, im Zeitverlauf abnimmt. 1991 lag die Akzeptanz leistungsabhängiger Ungleichheit in Ostdeutschland noch relativ nahe an den Werten für Westdeutschland. 1994 hat sich der Abstand zwischen den beiden Teilen Deutschlands erheblich vergrößert. Er ist von 8 auf 22 bzw. von 6 auf 18 Prozentpunkte angewachsen. Zwar war die Akzeptanz sozialer Ungleichheit in der ostdeutschen Bevölkerung auch im Jahre 1991 bereits nicht so hoch ausgebildet wie in der westdeutschen. Dabei muß man aber bedenken, daß im Jahr 1991 bereits ein Jahr seit der Wiedervereinigung vergangen war und die Einstellungen der Ostdeutschen zu Ungleichheitsfragen, wie Tabelle 1 ausweist, in der Zeit zwischen 1990 und 1991 ihre stärkste Wandlung durchliefen.Betrachten wir nun umgekehrt die Zustimmung zu den sozialistischen Verteilungsnormen, so sehen wir, daß die Unterschiede zwischen Ost und West sowohl 1991 als auch 1994 minimal sind (vgl. Grafik 3). Als Vertreter eines liberalen Wirtschaftsmodells wird man daran Kritik üben wollen, daß so viele einer Gleichheitsnorm zustimmen, die die Bedürfnisse zum Kriterium einer gerechten Verteilung macht. Diese Norm trifft man freilich in Ost-und Westdeutschland gleichermaßen an. und die Westdeutschen hatten immerhin über vier Jahrzehnte Zeit zu begreifen, daß es einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht entspricht, so zu denken. Wiederum steht die Sozialisationshypothese auf schwachen Füßen, und nun nicht nur in bezug auf die Bürger aus der ehemaligen DDR, sondern auch in bezug auf die Bürger aus dem anderen Teil Deutschlands.
Gehen wir im Rahmen unserer Betrachtungen über die Bejahung der Normen sozialer Ungleichheit nunmehr auf die Einstellung der Ostdeutschen zu Gleichheit und Freiheit ein. Diese Gegenüberstellung wird von vielen Forschern mit Vorliebe benutzt, um die egalitären Grundüberzeugungen der Ostdeutschen nachzuweisen Aber auch hier sehen wir (vgl. Tabelle 2), daß Freiheit bei den Ostdeutschen 1990 noch vor Gleichheit rangierte und sich das Verhältnis der beiden Werte erst in der Zeit danach umkehrte. Immerhin fiel die Verortung der Freiheit vor dem Wert Gleichheit bei den Ostdeutschen auch 1990 nicht so deutlich aus wie bei den Westdeutschen. Dies stellt eine gewisse Bestätigung der Sozialisationshypothese dar. Aber daß die Ostdeutschen 1990 noch Freiheit über Gleichheit stellten, spricht eher für die Situationsais für die Sozialisationshypothese.
Auch der Wandel der Einstellungen von der Freiheits-zur Gleichheitspräferenz ist besser mit der Situationshypothese vereinbar, denn der Sozialisationshypothese zufolge hätte sich das Gewicht von den sozialistischen Gleichheitsnormen immer mehr zu den bürgerlichen Freiheitsnormen hin verschieben müssen. Wenn sich aber der Einstellungswandel in umgekehrter Richtung vollzieht, dann ist dies am leichtesten dadurch zu erklären, daß der Wert Gleichheit in dem Maße, wie die Erfahrung von sozialer Ungleichheit gemacht wird, an Bedeutung gewinnt, während der Wert Freiheit in dem Maße, wie er als selbstverständlich gesichert gelten kann, an Bedeutung verliert Die Bevorzugung des Wertes Freiheit gegenüber dem Wert Gleichheit durch die Westdeutschen müßte dieser Interpretation zufolge dann vor allem damit Zusammenhängen, daß die Erfahrung von sozialer Ungleichheit im Westen Deutschlands nicht jene alltagspraktische Relevanz besitzt wie im Osten. 2. Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit in der gesellschaftlichen Realität Damit sind wir bei unserem nächsten Punkt angelangt: bei der Beschäftigung mit der Wahrnehmung der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in der sozialen Realität. Stellt man zunächst die Frage, wie das Ausmaß der Ungleichheit in der Bevölkerung beurteilt wird, so stoßen wir bei 98 Prozent der Ostdeutschen und immerhin auch bei 84 Prozent der Westdeutschen auf die Meinung, die Einkommensunterschiede in Deutschland seien zu groß Diese Frage wurde im Rahmen des International Social Survey Programme (ISSP) auch in 16 weiteren Ländern gestellt. In keinem anderen der in die Befragung einbezogenen Länder, ausgenommen in Bulgarien, war diese Überzeugung so verbreitet wie in Ostdeutschland. Bedenkt man darüber hinaus, daß nur 46 Prozent der Westdeutschen, aber fast 90 Prozent der Ostdeutschen annehmen, daß sie sich bei einer Nivellierung der Einkommensunterschiede persönlich verbessern würden, so wird deutlich, daß die ostdeutschen Befragten dabei in erster Linie an die Einkommensdifferenzen zwischen Ost und West denken Anscheinend fühlen sich die Ostdeutschen mehrheitlich gegenüber den Westdeutschen unterprivilegiert.
Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man die Deutschen in Ost und West danach fragt, ob sie glauben, daß sie im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, ihren gerechten Anteil erhalten. Bei der Beantwortung dieser Frage vertreten fast zwei Drittel der Ostdeutschen die Auffassung, daß sie weniger als den gerechten Anteil erhalten (vgl. Grafik 4). In Westdeutschland ist es nur ein Drittel, das so denkt. 1992 und 1991 waren es sogar über vier Fünftel der Ostdeutschen, die meinten, daß sie nicht den Anteil erhielten, der ihnen gerechterweise zustehen würde, während es 1990 noch 64 Prozent waren, die dies von sich behaupteten.
Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es vor allem diese Erfahrung zunehmender Ungleichheit war, die die 1990 noch erstaunlich hohe Bereitschaft der Ostdeutschen, soziale Ungleichheit zu akzeptieren, untergraben hat. Natürlich kann man das subjektive Gefühl der Ostdeutschen, ungerecht behandelt zu werden, auch auf ihre hohe Gleichheitsorientierung zurückführen. Da diese 1990 jedoch nur schwach ausgeprägt war, ist es plausibler, den umgekehrten Kausalzusammenhang anzunehmen. Wenn das richtig sein sollte, dann wäre die nach 1990 einsetzende stärkere Präferenz Gleichheitswerte nicht ein für Relikt sozialisatorischer Prägungen aus der DDR-Zeit, sondern eine Form, Ansprüche auf Gleichberechtigung einzuklagen. Die Ostdeutschen nehmen offenbar als kollektiv Benachteiligte wahr. Und offenbar ist der Maßstab für die Beurteilung der eigenen Lage nicht mehr die frühere DDR, sondern das Lebensniveau in den alten Bundesländern.
Wenn der Anteil derer, die meinen, nicht den ihnen zustehenden erhalten, in -Anteil zu Ost deutschland zwischen 1992 und 1996 um 20 Prozentpunkte zurückgegangen ist, dann heißt das freilich auch, daß es in den letzten Jahren zu einer bemerkenswerten Annäherung in der subjektiven Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit zwischen Ost-und Westdeutschen gekommen ist. Diese Annäherung entspricht der Tatsache, daß die meisten der Ostdeutschen heute meinen, es gehe ihnen besser als früher Mit der zunehmenden Angleichung der Lebensverhältnisse an das westdeutsche Niveau dürfte auch das Gefühl der Verteilungsungerechtigkeit zurückgehen. Das zeigt noch einmal, in welch starkem Maße die Entwicklung des Sonderbewußtseins der Ostdeutschen situativ bedingt ist.
V. Die Akzeptanz der Demokratie
Abbildung 5
Grafik 3: Verteilungsnormen und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1994 (in Prozent) Datenbasis: Allbus 1991, 1994
Grafik 3: Verteilungsnormen und Rechtfertigung sozialer Ungleichheit 1991-1994 (in Prozent) Datenbasis: Allbus 1991, 1994
Bei einer Betrachtung des Verhältnisses der Ostdeutschen zur Demokratie muß wiederum die normative von der performativen Ebene unterschieden werden. Was man von der Idee der Demokratie hält, unterscheidet sich davon, wie man eine bestimmte demokratische Gesellschaft, etwa die Demokratie der Bundesrepublik, einschätzt, und die Wertschätzung der Idee der Demokratie ist noch einmal zu unterscheiden davon, wie man den aktuellen Politikprozeß beurteilt: das Funktionieren der politischen Institutionen, das Agieren der politischen Eliten, die Besetzung der führenden politischen Ämter usw. Wenden wir uns zunächst wieder der normativen Ebene zu. 1. Prinzipien der Demokratie Als minimale Bestandteile der Demokratie gelten im allgemeinen die Garantie von zwei Institutionen: die verfassungsmäßige Gewährleistung der liberalen Grundrechte und die konstitutionelle Garantie des pluralistischen Parteienwettbewerbs. Was man von der Idee der Demokratie hält, kann folglich anhand der Einstellungen zu diesen beiden Institutionen erfaßt werden. Die Einstellung zu den liberalen Grundrechten läßt sich anhand der Zustimmung zur Meinungsfreiheit und zum Demonstrationsrecht erfragen, die Einstellung zum pluralistischen Parteienwettbewerb anhand der Zustimmung zur Notwendigkeit einer politischen Opposition und zur grundsätzlichen Chance jeder demokratischen Partei, an die Macht zu kommen.
Wie Tabelle 3 ausweist, war die Akzeptanz dieser vier demokratischen Prinzipien sowohl 1991 als auch 1995 in den neuen Bundesländern genauso hoch wie in den alten.
Stellen wir die Frage nach der Wertschätzung der Demokratie als Idee direkt, dann zeigen sich zwischen Ost-und Westdeutschland zwar einige Differenzen (vgl. Tabelle 4). Im großen und ganzen muß man aber auch hier sagen, daß die Demokratie als Staatsform von einer deutlichen Mehrheit in Ost und West bejaht wird. Allerdings läßt sich an den Zahlen in Tabelle 4 beobachten, daß der Anteil derer, die die Demokratie bejahen, im Osten Deutschlands im Laufe der letzten Jahre etwas gestiegen ist. Dies dürfen wir als eine gewisse Bestätigung der Sozialisationshypothese auffassen. Aber auch 1991 lag der Anteil der Demokratiebefürworter bereits bei 70 Prozent. Nur 7 Prozent sprachen sich damals für eine andere Staatsform aus, die besser sei als die Demokratie, 23 Prozent konnten sich in dieser Frage nicht entscheiden. Betrachtet man die hohe Akzeptanz der vier angeführten demokratischen Prinzipien und die mehrheitliche Bejahung der Demokratie als Idee im Jahre 1991, so müßte dies eigentlich eine starke Infragestellung der Sozialisationsthese bedeuten, hatten die Ostdeutschen vor 1990 doch keine Gelegenheit, die demokratischen Prinzipien kennenzulernen und zu verinnerlichen. Allerdings könnte man den in Tabelle 4 ausgewiesenen, wenn auch geringen Abstand in der Demokratiebejahung zwischen Ost-und Westdeutschland im Jahre 1991 auch als gewisse, wenn auch schwache Bestätigung der Sozialisationshypothese lesen. 2. Zufriedenheit mit der Wirklichkeit der Demokratie im vereinigten Deutschland Von der normativen Ebene gehen wir nunmehr wieder über zur performativen Ebene. Wie beurteilen die Ostdeutschen im Vergleich zu den Westdeutschen die Leistungsfähigkeit der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland? Mit dieser Frage wird nicht mehr die Einstellung zur Demokratie als Regierungsform schlechthin erfaßt, sondern die Haltung zu den erfahrbaren Leistungen des demokratischen Systems in Deutschland.
Bei der Beurteilung der real erfahrbaren Funktionsweise der Demokratie zeigen sich seit 1990 ohne Ausnahme deutliche Diskrepanzen zwischen Ost und Westdeutschland (vgl. Grafik 5). Die Bürger in den neuen Bundesländern bewerten die Funktionsweise der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland durchgängig um etwa 20 Prozentpunkte schlechter als ihre westdeutschen Mitbürger. Dies gilt im allgemeinen als ein starkes Argument für die Sozialisationshypothese, denn die Unterschiede zwischen Ost und West waren auch schon 1990 bedeutend und blieben seitdem konstant. Es liegt nahe, diese unmittelbar nach der Wiedervereinigung sichtbaren und bis heute anhaltenden Unterschiede auf die Ergebnisse einer früheren und dauerhaft wirksamen Prägung zurückzuführen.
Kann diese Argumentation einer genaueren Prüfung standhalten? Zunächst muß festgehalten werden, daß die Beantwortung der Frage, wie man die Funktionsweise der Demokratie in der Bundesrepublik beurteilt, zu früheren sozialisatorischen Prägungen nicht in einem erkennbaren Zusammenhang stehen muß, denn auch wenn man der Idee der Demokratie aufgeschlossen gegenübersteht, kann man die Funktionsweise eines konkret erlebbaren demokratischen Systems durchaus kritisch beurteilen. Ja, eine kritische Einschätzung des erfahrbaren politischen Systems kann sogar als ein Indiz für eine besonders ausgeprägte Hochschätzung der Idee der Demokratie angesehen werden. Wenn die Ostdeutschen der bundesdeutschen Verwirklichung der Idee der Demokratie also kritischer gegenüberstehen als die Westdeutschen, dann kann dies auch ein Ausdruck ihrer -nachgewiesenen -Hochschätzung der Demokratie sein oder der schlechten Erfahrungen, die sie mit dieser Demokratie gemacht haben. Mit einer sozialistischen Vorprägung muß eine solche Einschätzung nichts zu tun haben.
Als ein Effekt jener wird diese aber in der Regel behandelt. Dahinter steht, wie unschwer zu erkennen ist, ein normatives Bild von der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Man hält diese offensichtlich für eine gelungene Realisierung der demokratischen Idee, obschon doch genau dies die an die Bevölkerung gerichtete Frage ist, und beurteilt dann von dieser normativen Festlegung her die Einschätzung der Bevölkerung als demokratie-adäquat oder nicht.
Doch stellen wir unsere Bedenken gegenüber der normativen Tendenz einer solchen Betrachtungsweise für einen Augenblick zurück und fragen wir mit unseren Demokratietheoretikern danach, obtatsächlich die DDR-Sozialisation ausschlaggebend für die im Vergleich zu ihren westdeutschen Landsleuten skeptischere Haltung der Ostdeutschen gegenüber der bundesdeutschen Demokratie ist. Von welchen Determinanten wird die Einstellung der Ostdeutschen zur Performanz der Demokratie, wie hier der politikwissenschaftliche Fachausdruck für die Funktionsweise der Demokratie lautet, beeinflußt?
In einem ersten Schritt wollen wir den Einfluß einiger sozialstruktureller Merkmale wie Bildung, soziale Lage, Schichtzugehörigkeit, Ortsgröße und anderes auf den Unterschied in der Demokratie-zufriedenheit zwischen Ost-und Westdeutschen untersuchen. Beziehen wir die Determinanten Bildung, Ortsgröße, subjektive Schichteinstufung, persönliche Wirtschaftslage, Arbeitslosigkeitserfahrung und Kirchgang in unsere Betrachtung der Einstellungsunterschiede mit ein, dann verringern sich die Differenzen in der Einschätzung der Funktionsweise des politischen bzw.demokratischen Systems der Bundesrepublik zwischen Ost-und Westdeutschland für 1991 von 20 auf 10 Prozentpunkte und für 1996 von 20 auf 15 Prozentpunkte. Mit anderen Worten, wenn es die gegenwärtig realen sozialstrukturellen Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland nicht geben würde, dann wäre auch die Diskrepanz in der Beurteilung der Demokratieperformanz zwischen Ost-und Westdeutschen fast um die Hälfte geringer. Bleibt immerhin noch eine Differenz von 10 bis 15 Prozentpunkten. Wie läßt sich diese erklären?
Natürlich kann diese Differenz mit einer Fülle von Einstellungs-und Erfahrungsunterschieden zwischen den Landsleuten diesseits und jenseits der Elbe Zusammenhängen. Wir kommen zu unserem zweiten Schritt. In Tabelle 5 sind einige Einstellungsindizes zusammengetragen, die sich alle mehr oder weniger deutlich auf das Verhältnis der Befragten zum jeweils anderen Teil Deutschlands bzw. auf Gerechtigkeitsprobleme beziehen. So sind in die Betrachtung die Fragen aufgenommen worden, inwieweit man sich gerecht behandelt fühlt, ob man der Meinung ist, daß eher der Westen aus der Vereinigung Vorteile gezogen hat als der Osten oder umgekehrt, und wie fremd einem die Landsleute im anderen Teil Deutschlands sind. Diese Fragen wurden in Beziehung gesetzt zur Beurteilung der Performanz des politischen Systems und mit Hilfe einer Korrelationsanalyse auf ihre statistischen Zusammenhänge mit dieser Beurteilung geprüft. Je höher die Korrelationskoeffizienten ausfallen, desto höher ist der nachgewiesene Zusammenhang.
Daß die Beurteilung der Verteilungsgerechtigkeit mit der Einschätzung des politischen Systems korreliert, wundert uns nicht. Es leuchtet unmittelbar ein, daß man ein System positiver beurteilt, in welchem man das Empfinden hat, den einem zustehenden Anteil zu erhalten, als ein solches, in dem man dieses Gefühl nicht hat. Die Akzeptanz sozialer Ungleichheit befördert also die Zufriedenheit mit dem politischen System, in dem man lebt Umgekehrt heißt das, daß man, je ungerechter man sich behandelt fühlt, um so mehr dazu tendiert, das System kritisch zu beurteilen. Bedenktman, daß in Ostdeutschland der Zusammenhang zwischen dem Empfinden, gerecht behandelt zu werden, und der Systemakzeptanz deutlich höher ist als im Westen (. 24 bzw. . 26 versus . 14 bzw. . 17) und daß darüber hinaus der Anteil derer, die sich ungerecht behandelt fühlen, ebenfalls weitaus größer ist als im Westen (vgl. Grafik 4), dann kann man ermessen, wie stark das Gefühl der Unterprivilegierung in Ostdeutschland auf die Bejahung der bundesdeutschen Demokratie durchschlägt.
Einen Einfluß auf die Systembeurteilung hat auch die Entscheidung der Frage, ob man Vorteile aus der Wiedervereinigung vor allem für den Westen oder für den Osten sieht. In Westdeutschland ist der Zusammenhang zwischen der Akzeptanz der Funktionsweise des politischen Systems und der Beantwortung der Frage, ob die Wiedervereinigung mehr dem Westen oder mehr dem Osten zugute gekommen ist, gleichermaßen positiv (vgl. Tabelle 5). In Ostdeutschland dagegen fällt der Zusammenhang zwischen der Systemakzeptanz und der Wahrnehmung von Vorteilen für den Osten zwar positiv, der zwischen der Systemakzeptanz und der Wahrnehmung von Vorteilen für den Westen aber negativ aus (vgl. Tabelle 5). Offenbar haben die Westdeutschen zu den Folgen der Wiedervereinigung ein entspannteres Verhältnis. Selbst wenn man im Westen mehr Vorteile für den Osten wahrnimmt, schwächt das die Zufriedenheit mit dem eigenen politischen System nicht. Im Osten hingegen wirkt sich die Wahrnehmung von Vorteilen für den Westen negativ auf die Systembeurteilung aus, und die Bedeutung wahrgenommener Vorteile für den eigenen Landesteil ist hinsichtlich der positiven Bewertung des demokratischen Systems ungleich höher als im Westen. Wie es scheint, hat die Beurteilung des Abschneidens der Ostdeutschen im deutsch-deutschen Verteilungsprozeß unmittelbare Auswirkungen auf die Evaluation der Demokratie in Deutschland. Das Gefühl der Benachteiligung schlägt sich in einer systemkritischen Haltung nieder, das Gefühl der Bevorzugung in einer systemaffirmativen.
Dabei unterscheiden sich Ost-und Westdeutschland durchaus nicht im Ausmaß des Gefühls der Übervorteilung. Beide Seiten sehen gleichermaßen den jeweils anderen Landesteil als bevorzugt an. Etwa 75 Prozent der Westdeutschen nehmen mehr Vorteile für den Osten wahr, und fast ebenso hoch ist der Anteil der Ostdeutschen, der die Auffassung vertritt, daß die Wiedervereinigung vor allem dem Westen zugute gekommen ist Im Westen mag diese Einschätzung eher das Resultat eines abwägenden Evaluationsprozesses sein, im Osten dagegen scheinen sich hier hohe Erwartungen an die Wiedervereinigung und Enttäuschungen durch das neue System zu vermischen. Es ist kaum verwunderlich. daß sich solche enttäuschten Hoffnungen dann auch auf die Systemzufriedenheit auswirken.
Auch hinsichtlich der Verbreitung des Gefühls, daß die Bürger im anderen Teil Deutschlands einem fremd sind, unterscheiden sich die Ostdeutschen und die Westdeutschen nicht. Jeweils etwa 25 Prozent stimmen dieser Aussage zu Unterschiedlich sind aber wiederum die Auswirkungen dieser Einschätzung auf die Beurteilung der Performanz der Demokratie. Im Westen Deutschlands hat das Distanzgefühl gegenüber den Ostdeutschen nur eine schwache oder gar keine Auswirkungen auf die Demokratiezufriedenheit (vgl. Tabelle 5). Im Osten hingegen sind die Effekte von 1991 bis 1994 nahezu gleichbleibend deutlich negativ (vgl. Tabelle 5). Dort führt das Empfinden der Fremdheit der Westdeutschen und der eigenen Andersartigkeit, also eines gesteigerten Identitätsbewußtseins zu einer tendenziellen Abwertung des von den Westdeutschen repräsentierten demokratischen Systems. Ist dies ein Hinweis auf versteckt wirksame unkontrollierte Ressentiments? Wird hier die erfahrene Abwertung der eigenen Biographie kompensiert durch eine Geringschätzung des westlichen Systems
Zusammenfassend läßt sich sagen: Zwischen der Einschätzung der Verteilungsgerechtigkeit, der Wahrnehmung der Vorteile der Wiedervereinigung für Ost oder West, der Distanz gegenüber der Fremdgruppe einerseits und der Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland andererseits zeigen sich unübersehbare Zusammenhänge. Die Beurteilung der Systemperformanz ist in starkem Maße von situativen Faktoren abhängig.
In einem dritten Schritt wollen wir nun Sozialisationseinflüsse und Situationsbedingungen in ihrem Effekt auf die Demokratiebeurteilung gegeneinander abwägen. Wir bedienen uns dazu eines strengeren statistischen Verfahrens, der sogenannten multiplen Regressionsanalyse, die in der Lage ist, den Einfluß einzelner Determinanten auf eine abhängige Variable zu prüfen. Einbezogen in die Untersuchung sind einmal die unschon bekannten Determinanten „Akzeptanz sozialer Ungleichheit“ und „Fremdheit der Bürger im anderen Teil Deutschlands“. Darüber hinaus werden als Indikatoren für Sozialisationseinflüsse die Befürwortung der Idee des Sozialismus und die Einordnung auf einer Skala von politisch links bis politisch rechts herangezogen. Schließlich dient als weiterer Indikator für situative Einflüsse die Einschätzung der eigenen Wirtschaftslage. Die Idee des Sozialismus kann zwar im strengen Sinne nicht ausschließlich für Sozialisationseinflüsse stehen, da sich in der Befürwortung dieser Idee inzwischen auch eine Reaktion auf das negative Image des Sozialismus und der DDR, wie es sich im öffentlichen Meinungsbild zeigt, ausdrückt. Dennoch wollen wir hier in Ermangelung eines „reinen“ Indikators diesen Wert benutzen. Die Zustimmung zur Idee des Sozialismus ist im Osten Deutschlands seit 1991 mit leichten Schwankungen ungebrochen hoch. Sie liegt zwischen 58 und 72 Prozent Im Westen macht der Anteil derer, die der Idee des Sozialismus ihre Zustimmung geben, nur zwischen 30 und 35 Prozent aus. Ebenso verorten sich die Ostdeutschen mehr als die Westdeutschen auf der politischen Kontinuitätsskala eher links Was die persönliche wirtschaftliche Lage angeht, so fielen die Einschätzungen in Ost-und Westdeutschland 1991 eklatant auseinander. Trotz Annäherung haben sie sich bis heute noch nicht angeglichen
Betrachten wir die unterschiedlichen Einflüsse auf die Beurteilung der Funktionsweise des bundesdeutschen politischen Systems in Ostdeutschland (vgl. Tabelle 6), so sehen wir, daß zwar die Idee des Sozialismus als Indikator für Sozialisationseinflüsse einen eigenständigen Erklärungswert für die Beurteilung der Performanz des politischen Systems hat. Dieser ist aber unter allen angeführten Effekten außer der Links-rechts-Einstufung, die ebenfalls Sozialisationseinflüsse anzeigen soll, der geringste (-. 11 bzw. -. 7). Sowohl die persönliche Wirtschaftslage als auch die Distanz zu den Bürgern in Westdeutschland und die Akzeptanz der sozialen Ungleichheit tragen mehr zur Erklärung der Demokratiezufriedenheit bei. Das heißt, die wirtschaftliche Lage (. 20 bzw. . 18) wirkt -und dies übrigens mit gewissen Abstrichen auch in Westdeutschland (. 15 bzw. . 13) -nicht unmaßgeblich auf die Akzeptanz des bundesdeutschen politischen Systems ein. Auch das Gefühl von Identität und Fremdheit besitzt Relevanz für die Beurteilung der Demokratie, dies aber nur in Ostdeutschland -ein Hinweis darauf, wie stark das ostdeutsche Sonderbewußtsein die Systemakzeptanz mit beeinflußt. Ein besonderer Stellenwert kommt der Anerkennung sozialer Ungleichheit zu (. 18 bzw. . 19). In dem Maße, in dem der einzelne meint, daß er in der Gesellschaft der Bundesrepublik nicht den ihm zustehenden Anteil erhält, wird er auch dem politischen System dieser Gesellschaft seine Zustimmung verweigern. Der Bedeutung der subjektiv empfundenen Verteilungsgerechtigkeit wurde bislang in der Forschung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Demgegenüber sind die bislang stark beachteten Sozialisationseinflüsse, wie sie sich in der Zustimmung zur Idee des Sozialismus (-. 11 bzw. -. 07) und in der Linkseinordnung (. 09 bzw. n. s.) ausdrücken, zwar nicht zu vernachlässigen, aber vergleichsweise gering.
In einem vierten Schritt soll schließlich darauf aufmerksam gemacht werden, daß die positive Beurteilung der Systemperformanz unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Ostdeutschland am höchsten war. Damals lag sie bei über 50 Prozent (vgl. Grafik 5). Das heißt, daß zu einem Zeitpunkt, als die Nachwirkung des sozialistischen Systems am stärksten gewesen sein müßte, die Bejahung der westdeutschen Demokratie am höchsten war. Bedenkt man darüber hinaus, daß die Ostdeutschen den Prinzipien der Demokratie ebenfalls unmittelbar nach dem Untergang des Staatssozialismus genauso stark zustimmten wie die Westdeutschen (vgl. Tabelle 3) und daß ihre Befürwortung der Demokratie als Staatsform damals nur geringfügig unter der der Westdeut-sehen lag (vgl. Tabelle 4), dann fällt es schwer, die Sozialisationshypothese noch aufrechtzuerhalten.
Die Vertreter der Sozialisationshypothese reagieren auf diese Einwände, indem sie drei Gesichtspunkte geltend machen. Erstens weisen sie darauf hin, daß es über den Einfluß der Massenmedien, über Verwandtschaftsbesuche und andere Kontakte mit Bundesbürgern Formen des externen Lernens in der DDR gab, die die DDR-Bürger schon vor der Einführung der Demokratie mit dem westlichen politischen System bekannt gemacht hätten Zweitens stellen sie die These auf, daß es sich bei der hohen Demokratieakzeptanz unmittelbar nach der Wende nur um einen vorübergehenden Bedeutungsverlust sozialistischer Überzeugungen gehandelt habe. Diese seien während der sich überstürzenden Ereignisse der Wende kurzzeitig gewissermaßen in eine Latenzphase eingetreten, nach deren Ablauf sie sich aber wieder durchgesetzt hätten Drittens erklären die Vertreter der Sozialisationshypothese, daß das westliche System aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Überlegenheit eine besondere Attraktivität auf die Ostdeutschen ausübte, die sie für die Ordnungsprinzipien dieses Systems einnahm, auch wenn sie sie bislang persönlich nicht kennengelernt hätten
Der zuletzt genannte Hinweis ist völlig berechtigt, nur müßte er von den Vertretern der Sozialisationshypothese auch selber ernst genommen werden, bedeutet er doch, daß die Sozialisation in der DDR nicht ungebrochen gewirkt hat, sondern ihre Wirkung stets durch westliche Einflüsse konterkariert war. Wenn man aber die Gebrochenheit der Wirkung der DDR-Sozialisation anerkennt, dann ist es unsinnig, davon auszugehen, daß die Ostdeutschen durch diese Sozialisation derart geprägt worden wären, daß sie sich nur schwer von ihren Einflüssen zu lösen vermögen.
Die Behauptung einer Latenz sozialistischer Ordnungsvorstellungen in der Wendezeit arbeitet, worauf schon Hans-Joachim Veen aufmerksam machte mit der Unterscheidung zwischen objektiver Prägung und subjektiver Stimmung und behandelt die in der Umbruchszeit zutage getretenen Einstellungen der Ostdeutschen als eine Art subjektive Verblendung. Es ist aber mit Nachdruck die Frage zu stellen, ob der Zusammenbruch des Sozialismus nicht solch einen starken Einschnitt für die Ostdeutschen darstellt, daß er mit einem tiefgreifenden Einstellungswandel einher-ging. Selbst dann, wenn danach quasisozialistische Vorstellungen wieder an Geltung gewinnen, haben diese doch eine ganz andere Bedeutung als die durch das DDR-System geformten Überzeugungen. Das Aufkommen dieser quasisozialistischen Vorstellungen stellt auch eine Form der Verarbeitung der Vereinigungsfolgen dar, nicht einfach eine Fortsetzung eingelebter Mentalitäten und Ideen. Selbst wenn sie ein ähnliches Erscheinungsbild aufweisen, haben sie in den kommunikativen Konflikten und Interessengegensätzen zwischen Ost und West nach 1989 eine ganz andere Funktion als in der Zeit davor.
Was schließlich den Hinweis auf die Demonstrationseffekte des westlichen Systems angeht, so ist zu wiederholen, was schon gegenüber dem ersten Hinweis geltend gemacht wurde: daß sich damit die Sozialisationstheoretiker selber widersprechen. Wenn die Überlegenheit des westlichen Systems so erdrückend war. daß sich viele der Ostdeutschen bereits vor dem Untergang des Sozialismus innerlich dem westlichen Gesellschaftsmodell und den von ihm repräsentierten Werten annäherten, dann heißt das, daß die Sozialisation in der DDR nur noch eingeschränkt zu greifen vermochte und daß die Sozialisationshypothese grundsätzlich revidiert werden muß.
Die historischen Ereignisse geben dem Hinweis auf die überwältigende Attraktivität des Westens recht. Mit den Demonstrationen im Herbst 1989 und mit der Wahl vom März 1990 votierten die DDR-Bürger für einen schnellen Anschluß an die Bundesrepublik. Nicht zufällig war es die Abwanderung Tausender DDR-Bürger, die dem SED-Regime den Todesstoß versetzte. Die DDR-Bürger verabschiedeten sich von der DDR. im Freudentaumel und mit dem festen Willen, nie wieder zu solchen Zuständen, wie sie sie 40 Jahre langerlebt hatten, zurückzukehren. Warum sollte dieser Abschied nicht gründlich und dauerhaft sein? Es ist überhaupt nicht ausgemacht, daß die bereits vor 1989 einsetzende Orientierung der Ostdeutschen an den westlichen Werten nicht intensiver war als ihre Übereinstimmung mit der DDR-Ideologie, auch wenn sie -und vielleicht sogar weil sie -nicht durch unmittelbare eigene Anschauung, sondern durch externes Lernen erworben wurde. Stellt man die Ostdeutschen heute vor die Wahl, ob sie irgendeine andere Staatsform der Demokratie vorziehen würden, so ist es nur eine verschwindende Minderheit, die dies wünscht Trotz aller Kritik und aller Unzufriedenheit ist die Überlegenheit des westlichen Systems gegenüber allen alternativen Ordnungen tief verinnerlicht.
VI. Schlußbemerkungen
Abbildung 6
Grafik 4: Gerechter Anteil am Lebensstandard
Grafik 4: Gerechter Anteil am Lebensstandard
Soll damit gesagt sein, daß es zwischen Ost-und Westdeutschen keine relevanten Einstellungsunterschiede gibt und die innere Einheit bereits erreicht ist? Nein, auch bei unserer Beschäftigung mit den Einstellungen der Deutschen zur sozialen Ungleichheit und zur Demokratie sind wir durchaus auch auf sozialisationsbedingte Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland gestoßen. Allerdings soll hier die These aufgestellt werden, daß der Graben, der sich heute noch vielerorts zwischen Ost-und Westdeutschen auftut, nicht auf diesen Wertdifferenzen beruht. Um eine ostdeutsche Identität begründen zu können, sind diese Wertdifferenzen viel zu gering. Max Kaase und Petra Bauer-Kaase haben in einer äußerst aufschlußreichen Untersuchung nachgewiesen, daß die Tatsache, ob die Ostdeutschen die Westdeutschen als Fremdgruppe geringschätzen oder nicht, nicht von ihrer Beurteilung der bundesrepublikanischen Demokratie und auch nicht von der Akzeptanz der Idee des Sozialismus abhängt
Das heißt, die zur Konstruktion einer positiven ostdeutschen Identität vorgenommene negative Distanzierung von den Westdeutschen, wie sie inzwischen charakteristisch ist für einen Großteil der ostdeutschen Bevölkerung, ist nicht bedingt durch Wertdifferenzen zwischen Ost-und Westdeutschen, sofern diese sich auf die Einstellung zur Demokratie oder zum Sozialismus beziehen.
Die Herausbildung einer ostdeutschen Sondermentalität, die mit der Behauptung geringer Wertdifferenzen nicht geleugnet werden soll, hat andere Ursachen. Sie ist vor allem ein Produkt der ökonomischen Unterschiede zwischen Ost und West -darin ist Dieter Walz und Wolfram Brunner recht zu geben. Allerdings spielen auch andere Faktoren mit hinein, denn den Ostdeutschen geht es inzwischen materiell deutlich besser als noch vor sieben oder acht Jahren -das geben sie übrigens auch zu aber der Anteil derer, die sich als Bürger zweiter Klasse fühlen und erwarten, es zu bleiben, ist dennoch nahezu unverändert hoch Die Ausbildung einer ostdeutschen Identität hat auch etwas mit der im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung eingetretenen Entwertung der ostdeutschen Biographien und der Ostdeutschen als sozialer Gruppe zu tun Die Rückwendung der Ostdeutschen zur DDR und die gleichzeitige Abwertung der Westdeutschen ist durchaus eine Form der Selbstbehauptung, aber nicht -wie Wolfgang Schluchter meint -aufgrund einer mentalen Überforderung durch das implementierte bundesdeutsche Institutionensystem, sondern aufgrund der Verletzung des merkwürdigerweise auch bei Ostdeutschen vorhandenen Gefühls der eigenen Würde und des Stolzes. Das Empfinden der Benachteiligung, aus dem sich die ostdeutsche Abgrenzungsidentität vor allem rekrutiert, ist also nicht nur ökonomisch bedingt, sondern auch kulturell. Beides ist wichtig, wenn man die Entstehung einer ostdeutschen Sonder-mentalität erklären will: sowohl der Einfluß der ökonomischen als auch der der kulturellen Unterprivilegierung. Insofern sollte man das ostdeutsche Gefühl der materiellen Schlechterstellung vielleicht ernster nehmen, als es Volker Zastrow in seinem F. A. Z. -Artikel vom 2. Mai diesen Jahres getan hat, aber vielleicht auch wieder nicht zu ernst. Die Ostdeutschen stilisieren sich gern als die großen Verlierer.
Aber sie haben auch gelernt, damit zu leben, daß sie Bürger zweiter Klasse sind und es auf längere Sicht bleiben werden. Es empört sie nicht mehr, wie das vor sieben oder acht Jahren noch der Fall war. Freilich hält sie das nicht davon ab, darüber immer wieder auch einmal zu jammern, denn man weiß nie, vielleicht ist es ja doch nicht ganz umsonst.
Detlef Pollack, Dr. theol., geb. 1955; seit 1995 Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder; 1996/97 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Religiöse Chiffrierung und soziologische Aufklärung: Die Religionssoziologie Niklas Luhmanns im Rahmen ihrer systemtheoretischen Voraussetzungen, Frankfurt am Main 1988; (zus. mit Irena Borowik und Wolfgang Jagodzinski) Religiöser Wandel in den postkommunistischen Ländern Mittel-und Osteuropas, Würzburg 1998. Gert Pickel, Dipl. -Soz., Dipl. -Pol., geb. 1963; seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für vergleichende Kultursoziologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Veröffentlichungen u. a.: Dimensionen religiöser Überzeugungen bei jungen Erwachsenen in den neuen und alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1995) 47; (Hrsg. zus. mit Susanne Pickel/Jörg Jacobs) Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Bamberg 1997.
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