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Massenkommunikation und individuelle Selbstbestimmung. Zur Entregelung staatlich-technischer Informationsprozesse | APuZ 40/1998 | bpb.de

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APuZ 40/1998 Massenkommunikation und individuelle Selbstbestimmung. Zur Entregelung staatlich-technischer Informationsprozesse Internet -neue Chancen für die politische Kommunikation? Die Herausforderungen des Staates in der Informationsgesellschaft Europa und die Informationsgesellschaft: wirtschaftspolitische Herausforderungen und regionalpolitische Chancen

Massenkommunikation und individuelle Selbstbestimmung. Zur Entregelung staatlich-technischer Informationsprozesse

Jörg Becker

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit langem orientieren sich Kommunikationsprozesse an den folgenden sechs Dimensionen: Artikulieren, Erinnern, Veröffentlichen, Unterschiede aufheben und Grenzen überwinden. Vernetzen ist in dieser Abfolge eine neue Phase, die sich am prägnantesten bei elektronischen Netzen wie dem Internet feststellen läßt. Der Beitrag fragt nach den individuellen wie nach den gesellschaftlichen Kosten, wenn man die gegenteiligen Dimensionen unberücksichtigt ließe. Konsequenterweise geht es also um ein positives Verständnis von Schweigen, Vergessen, Geheimhalten, Differenzen und Konturen beibehalten sowie kommunikativer Abkoppelung. Wer diese Dimensionen nicht berücksichtigt, leistet einer Verschiebung von Kommunikation über die Medien zu ökonomischem Wettbewerb Vorschub. Bei einer solchen Verschiebung geht es dann freilich kaum noch um soziale Beziehungen, sondern um technische, unpersönliche, vermittelte und formale Kommunikation. Aus politischen, kulturellen, moralischen und verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 1-3) sind Korrekturen gegen die Zunahme derartiger Entfremdungsprozesse dringend geboten.

I. Grenzenlos bornierte Kommunikation

Dimensionen menschlicher Kommunikation

Die „Lieblingsredensart“ von Pastor Hirte, einem Lehrer des jungen Thomas Buddenbrook, lautete: „grenzenlos borniert!“ Dem fügte Thomas Mann in seinem Roman über den Verfall einer Familie aber sofort augenzwinkernd hinzu: „Es ist niemals aufgeklärt worden, ob dies ein bewußter Scherz war.“ Dem Autor gelang mit dieser Wortkombination mehr als ein Scherz, vielmehr eine dialektische Erkenntnis von scheinbar Gegensätzlichem. Eingerahmt, aber auch eingeklemmt zwischen dem Polnischen und dem Französischen hat das Deutsche sowohl das Wort „Grenze“ als auch das der „Borniertheit“ als Lehnwörter übernommen. „Grenze“ ist ein slawisches Lehnwort (polnisch granica) und kam in den kriegerischen Konflikten der deutschen Ordensritter mit der polnischen Bevölkerung um die Mitte des 13. Jahrhunderts in die deutsche Sprache -„Borniertheit“ kommt aus dem Französischen, dort heißt „borner“ beschränken, mit einem Grenzstein versehen. Im übertragenen Sinne meint „borniert“ abwertend engstirnig, eingebildet, unbelehrbar.

Grenzenlos bornierte Kommunikation? Engstirnige Kommunikation ohne Ende? Wo sind die Grenzen von Kommunikation? Läßt sich Kommunikation überhaupt begrenzen oder eingrenzen?

Wo immer zur Zeit über Medienpolitik geschrieben und gehandelt wird, da geht es meistens um Wettbewerbspolitik, kaum noch um inhaltliche Fragen. Und wo immer zur Zeit über Medienfragen geschrieben und gehandelt wird, da geht es kaum noch um die Inhalte von Kommunikation -also um das, wozu sie überhaupt da ist bzw. gebraucht wird. Statt dessen geht es fast ausschließlich um mediale oder technische, um unpersönliche, vermittelte, formale Kommunikation.

Auch wenn solche Ansätze in pragmatischer Hinsicht richtig und notwendig sind, bedürfen sie dennoch aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht einer Korrektur. Das „Ganze“ von Kommunikation als einem sozialen, dialogischen Prinzip lebt auch aus Gegensätzen, Konflikten und Widersprüchen. Insofern ist auch Nicht-Kommunikation ein wichtiges Moment von Kommunikation. Ein Großteil der Medien-und Kommunikationsforschung blendet allerdings aufgrund eines unzureichenden Verständnisses von Kommunikation deren folgende Dimensionen aus: Schweigen, Vergessen, Mündlichkeit, Geheimnis, Gerücht, Geräusch, Lärm, Gestik, Mimik, Haptik. Könnte es eventuell sein, daß die Nichtbeachtung dieser Dimensionen strukturell dazu führt, daß Mißverständnisse oft eher das Normale von Kommunikation sind? Johann Peter Hebels „Kannitverstan" (1809) als Dauerzustand von Kommunikation?

II. Artikulieren versus Schweigen

Das in der Kommunikationswissenschaft nach wie vor beliebte Modell von Kommunikation orientiert sich an einem linearen Schema von Sender-Botschaft-Empfänger. In Anlehnung an die diesem Modell zugrundeliegenden mathematischen und nachrichtentechnischen Vorstellungen zur Informationstheorie kann die Abwesenheit von Signalübertragung nur als Nicht-Kommunikation definiert werden. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann es Nicht-Kommunikation aber gar nicht geben, und Schweigen ist ein sozial höchst bedeutender kommunikativer Akt. Daß dem so ist, erhellt allein aus vielen alltagssprachlichen Redewendungen: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ „Wer schweigt, klagt sich an“. „Si tacuisses, philosophus manisses -Wenn Du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben“ oder „Da schweigt des Sängers Höflichkeit“.

Wie wichtig das Konzept von Schweigen als Kommunikation ist, wird vergleichend klar, wenn man sich in andere Kulturkreise begibt, insbesondere in die des Buddhismus. Nicht nur kennt das Japanische eine sprachlich viel größere Differenziertheit, um unterschiedliche Situationen und Stadien des Schweigens auszudrücken, als europäische Sprachen, und nicht zufällig gibt es dort soziale Konzepte von Meditation und In-sich-Versenken. Die außerordentliche Relevanz des Schweigens gilt auch für andere asiatische Kulturkreise: So kommunizierte der Heilige Meher Baba mit seinen Anhängern in Indien zwischen 1926 und 1969 dadurch, daß er völlig schwieg, und von dem chinesischen Philosophen Lao-Tse wird folgendes Gedicht überliefert: „Keep your mouth shut, Guard the senses, And life is ever full. Open your mouth, Always be busy, And life is beyond hope.“

Daß es einen Gegensatz zwischen „Leben“ und „Reden“, zwischen „Sein“ und „Schein“ gebe, dieser Topos findet sich nicht nur in Asien, sondern auch im christlichen Raum. Eine bewußte Enthaltung vom Sprechen gilt auch im Christentum als besonders intensive Form des Betens, also der Kommunikation mit Gott. Als Zeichen einer inneren Sammlung und Vertiefung üben die Mitglieder des katholischen Trappistenordens stetes Stillschweigen aus -in asketischer Weise gekoppelt mit vegetarischer Nahrung und harter Feldarbeit.

Thomas Merton (1915-1968), Trappist in der Gethsemane-Abtei im US-amerikanischen Staat Kentucky, gilt als der beeindruckendste Gegenwartsphilosoph der „solitude“, einer heilenden Kraft des Schweigens im Erinnern: „Tu alles, was Du kannst, um das Vergnügen und den Krach der Menschen zu meiden . . . Sei froh, wenn Du Dich dem Radio, den Zeitungen, den oberflächlichen Liedern und den Bildern in Magazinen entziehen kannst. . . Wenn Du in einer Stadt lebst und zwischen Maschinen arbeitest und an einem Ort Dein Essen einnimmst, wo Dich das Radio mit verlogenen Nachrichten taub macht, so akzeptiere die heilende Kraft des Schweigens in Deiner Seele: Sie wird Dir helfen, mit dieser Situation und der darauf folgenden fertig zu werden.“

Und an anderer Stelle schreibt er zum Verhältnis von Reden und Schweigen: „Worte stehen zwischen Schweigen und Schweigen: zwischen dem Schweigen der Dinge und dem Schweigen unseres Seins, zwischen dem Schweigen der Welt und dem Schweigen Gottes. Wenn wir die Welt wirklich im Schweigen berührt und erkannt haben, trennen uns die Worte nicht länger; weder von der Welt, weder von den Mitmenschen, weder von Gott noch von uns selbst, weil uns bewußt wird, daß wir von der Sprache nicht in allem erwarten können, daß sie die ganze Wirklichkeit einfängt.“

Solches Nachdenken über Reden und Schweigen ist alles andere als idealistische Weltvergessenheit. Nicht nur wurden seit Ende der sechziger Jahre gerade Schweigemärsche zu einem essentiellen Bestandteil der Alternativ-und Protestkultur, vielmehr können bzw. müssen Schweigen und Privatheit auch als wichtiger Bestandteil von öffentlicher demokratischer Kultur begriffen werden. Das sei an drei Beispielen dargestellt: 1. Es war der sandinistische Priesterrevolutionär und spätere Kultusminister von Nikaragua, Ernesto Cardenal, der als Novize bei Merton gelebt hatte und der die trappistische Mystik von Schweigen und Kontemplation stets als Basis für seine aktionsorientierte Theologie der Befreiung verstanden wissen wollte. 2. In der interkulturellen Kommunikation zwischen Nord und Süd sind Ungleichgewichte und Dependenzen zuungunsten des Südens nach wie vor systemimmanent. Und genau deswegen ruft Pamela Mordecai, eine Poetin aus Jamaika, den Menschen in den Industrieländern zu: „Vielleicht beginnt ihr den Dialog damit, nicht mehr so laut zu sprechen -wir haben die Nase voll von eurem Lärm!“ Daß der starke Partner in einem Dialog zunächst schweigen möge, damit der Schwache auch etwas sagen kann, könnte durchaus zu einer politisch-moralischen Maxime im Nord-Süd-Dialog werden. Daß Schweigen darüber hinaus zum prioritären Prinzip bei jeglicher Form von Wissensaneignung avancieren sollte, darauf macht ein islamischer Philosoph aus dem Mittelalter aufmerksam: „Um zu Wissen zu kommen, muß Du erstens schweigen. Zweitens mußt Du zuhören,drittens erinnern, viertens nachdenken und fünftens reden.“ 3. 1988 entschied das Oberlandesgericht Stuttgart, daß Werbung von politischen Parteien per Telefon rechtswidrig sei, da das Persönlichkeitsrecht des Angerufenen verletzt werde. Ähnlich argumentierte der Bundesgerichtshof ein Jahr später, als er mit gleicher Begründung unerbetene Werbung am Telefon untersagte. Das diesen beiden Urteilen zugrundeliegende allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 1 und 2 GG erstreckt sich also nicht mehr wie früher ausschließlich auf das Recht, sich frei entfalten zu können, sondern ebenso auf sein Gegenteil, nämlich in Ruhe gelassen zu werden, schweigen zu dürfen und zu können. Jan Freese, der erste schwedische Datenschutzbeauftragte, brachte dieses Recht auf die griffige Formel „The Right to be Alone“

III. Erinnern versus Vergessen

„Erinnern“ als Wiederhervorbringen von Bewußtseinsinhalten und „Vergessen“ als Nichtwiedererkennen bzw. Verdrängen früherer Bewußtseinsinhalte bedingen sich gegenseitig und müssen ferner auch im Kontext der vier sogenannten kognitiven Revolutionen der Menschheit gesehen werden (Sprache, Schrift, Druck, Computer). Bereits Platon dachte im „Phaidros“ über die kulturellen Folgen beim medialen Wechsel von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit nach: „Denn die Schrift wird Vergessenheit in den Seelen derer schaffen, die sie lernen, durch Vernachlässigung des Gedächtnisses; aus Vertrauen auf die Schrift werden sie von außen durch fremde Gebilde, nicht von innen aus eigenem sich erinnern lassen. Also nicht für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern hast du ein Elixier erfunden. Von der Weisheit aber verabreichst du den Zöglingen nur den Schein, nicht die Wahrheit; denn vielkundig geworden ohne Belehrung werden sie einsichtsreich zu sein scheinen, während sie größtenteils einsichtslos sind und schwierig im Umgang -zu Schein-Weisen geworden statt zu Weisen . . . Und jedes Wort, das einmal geschrieben ist, treibt sich in der Welt herum -gleichermaßen bei denen, die es verstehen, wie bei denen, die es in keiner Weise angeht, und es weiß nicht, zu wem es sprechen soll und zu wem nicht.“

Platon führt also zwei Argumente gegen den medialen Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit an: Zum einen argumentiert er, daß schriftlich Erinnertes dem Subjekt nur äußerlich bleibt, daß nur die im direkten, persönlichen Wechselgespräch erworbene Erinnerung dem Individuum angehört. Zum anderen weist Platon darauf hin, daß Schrift nicht über sich hinausweisen könne und nur im Dialog neue Gedanken entstehen könnten.

Wie insbesondere der Jesuit Walter Ong herausgearbeitet hat entspricht der traditionalen mündlichen Gesellschaft eine strukturelle Amnesie (d. h. Gedächtnisstörung): Sie memoriert selektiv nur das, was für sie wichtig ist -und das in hohem Maße, da die „Speichermöglichkeiten“ des einzelnen sehr begrenzt sind. Allerdings ist die Erinnerungsqualität desjenigen, der keine Schrift kennt, besser, da er das Erinnerte in sich aufnehmen, verinnerlichen muß. Schriftliche Texte bewahren dagegen Tradition unbegrenzt -sie können nichts vergessen. Freilich können sich Texte auch nicht erinnern, denn dazu bedarf es der Bewußtseinsarbeit des einzelnen.

Platons Problemstellung hat sich nach der Einführung des Drucks und des Computers radikalisiert. Durch die zunehmende Entpersonalisierung, Universalisierung und Enthistorisierung von Wissens-beständen reduziert sich Sprache auf Syntax und eine zur Nomenklatur gewordene Semantik Damit aber vergrößert sich der Spagat zwischen „Erinnern“ als unendlicher, nicht enden wollender Anhäufung von kontextfreien, beliebigen Informationen in elektronischen Datenbanken oder Expertensystemen und „Erinnern“ alssubjektiv, gelebtes Hervorbringen von bewußtem Wissen und Weisheit. Gleichermaßen verwandelt sich die Dimension von „Vergessen“. Hier gibt es die zunehmende Schere zwischen „Vergessen“ als der beliebigen Programmierung digitaler Signale bis zur Unkenntlichmachung dessen, was original und authentisch sein könnte, und „Vergessen“ als bewußter Selektionsfähigkeit eines Individuums zur Unterscheidung von guten, richtigen und wah-ren von schlechten, falschen und unwahren Wissensbeständen. Wo sich Informationen per elektronischer Vernetzung kontextfrei (ohne Semantik und ohne Intentionalität) und in immer dynamischerer Quantität vermehren, da schwinden die Kriterien zur Qualitätsbestimmung. Genau die aber werden immer nötiger, um in positivem und befreiendem Sinne vergessen zu können. In einer Informationsüberflußgesellschaft, in der der einzelne den allergrößten Teil seiner Zeit damit zubringt, Informationen zu speichern, weiterzuleiten und zu verarbeiten, könnte eine Strategie des Vergessens zur wichtigsten Überlebensstrategie werden.

Vergessen in diesem Sinne meint nicht eine staatlich-repressive Medienmanipulationsstrategie, wo -wie exemplarisch unter der Herrschaft Stalins -das Bild von in „Ungnade“ gefallenen Politikern nachträglich aus offiziellen Fotografien wegretuschiert wurde meint selbstverständlich auch nicht eine Strategie des Verdrängens, Nichtaufarbeitens und Unter-den-Teppich-Kehrens. Auch wenn dem Begriff „Vergessen“ in Deutschland stets der Hinweis auf den Holocaust folgt, so bleibt es doch offen, ob Trauerarbeit oder Vergessen der jeweils bessere Umgang mit einer belastenden Vergangenheit ist. Für das Argument, Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung leisten zu müssen, gibt es gerade in Deutschland drei Motive. Da gibt es erstens ein moralisches Motiv, nach dem Erlösung nur über den Weg der Erinnerung gehen könne. Des weiteren gibt es die politische Hoffnung, daß eine Wiederholung des Übels nur dann zu vermeiden sei, wenn kollektive Erinnerungen wachgehalten würden. Drittens gibt es die psychologische Theorie, daß erinnernde Trauerarbeit die einzige Garantie dafür sei, daß die Vergangenheit bewältigt werden könne.

Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat soeben eine Arbeit vorgelegt in der er nachzeichnet, daß die meisten Länder -außer Deutschland -im Umgang mit belastender Geschichte eine Strategie des Vergessens der einer Aufarbeitung vorgezogen haben. Ash verweist dabei auf zahlreiche europäische Friedensverträge, die explizit eine Position des Vergessens kennen. Als frühe Beispiele nennt er den Teilungsvertrag von Verdun 843 zwischen Lothar L, Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen, die französischen Verfassungen von 1814 und 1830 oder den Vertrag von Lausanne 1923. Diese Beispiele ließen sich beliebig ergänzen, zumal in diesem Jahrhundert.

In der essayistischen und philosophischen Publizistik gibt es zahlreiche Versuche, den Zeitgeist bestimmter historischer Epochen mit den für sie typischen Volkskrankheiten oder Seuchen zu parallelisieren. So steht die Pest für den verfaulenden Feudalismus, die Syphillis für den Imperialismus des 19. Jahrhunderts sowie Krebs und Aids für den Spätkapitalismus. Könnte es, solchen Konzepten entsprechend, sein, daß die zunehmende Alzheimer-Krankheit das psychosomatische Pendant zur sogenannten Informationsgesellschaft ist? Alzheimersche Desorientierung, Gedächtnisstörung und Vergessen als strukturelle Amnesie einer Gesellschaft, die nur noch eine Anhäufung von Informationen, aber kein Wissen mehr kennt?

Und ein weiterer Gedanke zu einer positiven Theorie des Vergessens sei hier genannt. „Glücklich ist, wer vergißt“: Dieses Lied aus der Strauß-sehen „Fledermaus“ (1874) ist nicht unschwer als sentimental und ideologieträchtig zu entlarven. Allerdings -und darauf verweist Helmut Thielen zu Recht -ist jeglichem Kitsch ein Moment von Ambivalenz eigen, eine Gratwanderung zwischen Affirmation des Bestehenden und der Utopie auf eine Überwindung der schlechten Wirklichkeit. Dem Vergessen des jetzt Schlechten wohnt stets ein, wenn auch nur vages, Hoffen auf ein potentiell Gutes inne.

IV. Veröffentlichen versus Geheimhalten

Daß das Konzept von Öffentlichkeit im Mittelpunkt einer aktiven konfliktfähigen, dynamischen und lernenden Demokratie steht, ist als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Und daß bei einem solchen Verständnis Massenmedien ein wichtiger Transmissionsriemen für demokratische Öffentlichkeit sind, ist ebenso selbstverständlich und charakterisiert Form und Inhalt der in Art. 5 GG geschützten Meinungs-und Pressefreiheit. Aus demokratietheoretischer Sicht der „Diskursgesellschaft“ scheinen den positiv besetzten Begriffen Öffentlichkeit, Meinungsfreiheit und Transpa-renz die Begriffe Geheimnis und Geheimhaltung zu widersprechen; sie erscheinen geradezu als Relikte einer feudalen, vordemokratischen Gesellschaftsordnung.

Gestützt auf eine umfangreiche Arbeit des Münsteraner Kommunikationswissenschaftlers Joachim Westerbarkey über die kommunikative Bedeutung des Geheimnisses lassen sich freilich solche Dichotomien kaum noch aufrechterhalten. Wer sich demokratisch engagieren will, tut gut daran, Öffentlichkeit und Geheimnis, Transparenz und Vertraulichkeit zu wollen.

Eine demokratietheoretische Begründung für die Notwendigkeit von privater Kommunikation gründet im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft. Geheimnisse sind ein höchst wichtiges Moment zur Herausbildung von Individualisierung. Jedes Individuum braucht ein Informationsreservat, also exklusive Räume mit Wissen über sich selbst. Dazu gehören die eigenen Gedanken und Absichten, Selbstwahrnehmungen, autobiographische Merkmale und Verhaltensweisen. Es sind genau solche Momente, die das Bundesverfassungsgericht, gestützt auf die in Art. 1 gewährleistete Würde des Menschen, 1983 dazu führten, ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu formulieren. Wenn ein Bürger jederzeit wissen können muß, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß, dann gibt diese Rechtsauffassung jedem Bürger das selbstverständliche Recht an die Hand, „geheime Kommunikation“ zu betreiben. Einbrüche in solche private Sphären wären allergröbste Verletzungen der individuellen Identität und des Selbstbestimmungsrechts. Wie geradezu schamlos Öffentlichkeit als Prinzip sein kann, macht gegenwärtig die mediale Ausbeutung der privaten Beziehungen zwischen US-Präsident Clinton und einer Mitarbeiterin im Weißen Haus mehr als deutlich.

Das Karlsruher Urteil über die informationeile Selbstbestimmung ist nicht zufällig vor dem Hintergrund rasanter Entwicklungen in der Informationstechnologie zu sehen. Galt die Würde des Individuums in früheren Zeiten als ein Rechtsproblem im zwischenmenschlichen Bereich, so erhielt der Gedanke des Persönlichkeitsschutzes mit dem Aufkommen der Datenverarbeitung sowie der Massenmedien gesamtgesellschaftliche Relevanz. Durch ihre allgemeine Verbreitung konnten die Massenmedien die persönliche und intime Sphäre des einzelnen nachhaltig beeinflussen, ja gefährden. Informationstechnologien wie Kameras, Tonbandgeräte, EDV, PCs und Netztechnologien haben maßgeblichen Anteil daran, daß die Möglichkeiten des Eindringens in den persönlichen Bereich des Individuums auf einer weiteren Ebene von technologischer Dynamik angewachsen sind.

Das von der Verfassung abgesicherte Recht auf private Kommunikation als Konkretisierung eines demokratischen Rechts auf Selbstbestimmung -genau das ist die Essenz des Urteils von 1983. Dieses Urteil läßt sich als Höhe-und Wendepunkt der Normierung informationeller Grundrechte begreifen. Hatte man bis dahin den Schutzumfang des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach der Sphärentheorie bestimmt, wonach die Schutzintensität von der Intimsphäre bis hin zur Öffentlichkeitssphäre stufenartig abnimmt, so gilt diese Theorie seit 1983 nicht mehr. Ein Recht auf informationeile Selbstbestimmung liegt einerseits jenseits solchen Sphärendenkens, bildet andererseits freilich den Endpunkt einer verfassungstheoretischen Debatte, die vor der Wirklichkeit elektronischer Netzwelten der Gegenwart allerdings nicht mehr bestehen kann.

Dritte grundsätzlich von vertrauter Kommunikation auszuschließen folgt dem liberalen Postulat, persönliche Belange als schutzwürdig zu erklären. Als formalisierte Kommunikationsregel ist solche private Kommunikation im Beicht-, Brief-, Telefon-, Anwalts-, Notar-, Arzt-, Apotheker-, Hebammen-, Betriebs-, Geschäfts-, Bank-, Steuer-und Wahlgeheimnis enthalten. Die Wirklichkeit der elektronischen Netzwelten berührt schon jetzt und erst recht in Zukunft jedoch auch diese bislang geschützten Kommunikationsbereiche in vieler Hinsicht sehr erheblich.

Es ist der ökonomische Imperativ dessen, was eine Medien-und Kulturindustrie eben industriell macht, daß nämlich Standardisierung und Homogenisierung, Wiederholung und Einförmigkeit des Immer-Gleichen, daß Mainstream und Middleof-the-Road-Geschmacksmusterzu dominanten Trends werden müssen Dieses festzustellen wärenur dann als kulturpessimistisch zu denunzieren, würde man den ökonomischen Kontext nicht beachten. Ein transnationaler Informationskonzern wie Bertelsmann muß seine Produkte und Dienstleistungen standardisieren, weil er ökonomisch sonst gar nicht in der Lage wäre, die Synergie-Effekte und Größenvorteile (economies of scale) zu realisieren, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist: nämlich zum weltweit größten Informations-, Medien-, Unterhaltungs-und Kulturkonzern. Daß neue Technologien auch im Informations-und Medienbereich eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Abkehr von den Größen-vorteilen in der Kultur-und Unterhaltungsproduktion zulassen, macht die Argumentation für die ökonomische Notwendigkeit von Standardisierung und Homogenisierung keinesfalls hinfällig, sondern verschiebt sie lediglich auf ein anderes Niveau. Nun können die Muster von Wiederholung und Einförmigkeit auch in den Nischenbereich und den der kleinen Zielgruppen vordringen. Nebenbei bemerkt: Die absolute Vorherrschaft des Angloamerikanischen -nicht nur bei der Begriffsbildung -in der Medien-und Informationstechnologie, vor allem aber in der Unterhaltungsindustrie, sollte Europa allmählich zu denken geben. Wieso akzeptieren wir es, daß auf den meisten Sendern rund um die Uhr angloamerikanische Popmusik und auf den TV-Kanälen Endlosserien gleicher Herkunft ausgestrahlt werden? Gibt es nicht auch Popmusik und Unterhaltungsserien in den vielen europäischen Ländern? Ferner: Wie soll Europa politisch zusammenwachsen, wenn es dies nicht auch emotional tut -und die Massenmedien sind dafür die wichtigste Voraussetzung, die wir leider ungenutzt lassen.

Aus dem ökonomischen Zwang, kulturelle Unterschiede aufzuheben bzw. nicht zu beachten, folgt für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang u. a. folgendes:

1. Die Vereinheitlichung von Unterschieden untergräbt den Wettbewerb und die Konkurrenz. 2. Eine Reduktion von Unterschieden lähmt Kreativität und Innovation -sie aber sind sowohl ökonomisch als auch kulturell höchst sensible und knappe Ressourcen.

3. Eine Abnahme von Pluralismus und Vielheit gefährdet die publizistische Vielfalt und rührt damit an das Grundverständnis von demokratischer Öffentlichkeit.

Das Beibehalten von Unterschieden, von Anders-artigkeiten und Alternativen, besser noch: die bewußte Aktivierung solcher Differenzen -all dies sind dringend notwendige Energien, um einer gesamtgesellschaftlichen Lähmung und Vereinheitlichung vorzubeugen.

VI. Grenzen überwinden versus Konturen beibehalten

Sieht man die neuen Medien unter historischer Perspektive, fragt man also nach dem jeweils neuen Moment der alten Medien, dann fallen gerade in bezug auf das Thema des Grenzüberschreitens vielfältige Gemeinsamkeiten auf. Hier sei nur auf eine Parallele zwischen den Funkamateuren in den zwanziger Jahren und Computer-Hackern der Gegenwart aufmerksam gemacht.

1922 gab es in den USA etwa 25 000 Radio-und Funkamateure, die in Eigenregie mehr als 30 Radiosender betrieben. Ihre Losung „Internationale Wellenfreiheit“ stand für eine radikallibertäre Sichtweise der ungeregelten und ungehinderten Techniknutzung durch jedermann. Sie waren die wesentliche soziale Pressure-group, die dem Radio zum offiziellen Durchbruch verhalf.

Der damaligen Forderung nach „Internationaler Wellenfreiheit“ entspricht heute eine Hacker-Ethik mit ihrem Credo „Alle Informationen sollen frei und unbeschränkt sein“. Diese Forderung aus den achtziger Jahren korrespondiert mit den grenzenlosen Visionen des Internet in den neunziger Jahren. Exemplarisch sei hier aus einigen Internet-Resolutionen zitiert: „There are no borders in Cyberspace“ (The Global Internet Liberty Campaign). „Im Informationszeitalter sollten die Grenzen durchlässiger, die Nationalstaaten weltoffener und die Computernetze grenzenlos werden“ (Online Magna Charta).

Daß Kommunikation verbindet, eine Brücke zwischen den Völkern stiftet, Freundschaften herstellt oder gar friedensfördernd wirkt -all dies ist gängige (empirisch freilich kaum abgesicherte) Münze in Alltag und Politik, aber auch in der Medien-und Kommunikationswissenschaft. Ob Kommunikation solche sozialen Funktionen erfüllen kann, hängt jedoch von einer Vielzahl von Bedingungen ab. Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, zwischen den Begriffen Grenze und Kontur (ital.contorno, mit einer Linie einfassen) zu unterscheiden. Wenn es beim Über-Setzen von der einen Sprache in die andere, von einem Land ins andere, also um ein Grenz-Überschreiten geht, sowie darum, den anderen zu verstehen, dann können Grenzen sicherlich zunächst Barrieren darstellen. Grenzen sind dann wie Mauern; sie engen ein, sie isolieren, sie machen einsam, sie grenzen aus, sie schaffen Exklusivitäten. Medien-, Kultur-und Sprachgrenzen sollen und müssen aber überwunden werden; hier ginge es also um internationalen und interkulturellen Austausch In diesem Fall sind also Brükken über Grenzen nötig. Allerdings gilt auch das Folgende: Wird der Brückenbau zu intensiv betrieben, wird die Brücke mit derartig viel Verkehr und Kommunikation belastet, daß es schon bald keinen Unterschied mehr zwischen den Partnern auf beiden Seiten der Brücke gibt -und trocknet im Laufe der Kommunikation vielleicht sogar der Fluß unter der Brücke aus und versickert -, dann verlieren letztlich beide Partner ihre Eigenart, ihre Identität -also ihre Kontur. Grenzüberschreitende Kommunikation wäre also nur dann als völkerverbindend und harmoniestiftend einzuordnen, wenn sie dabei unterschiedliche Identitäten als solche beläßt. Denn wer ohne Identität ist, kann keine Brücken zum anderen bauen. Nur wer zu sich selbst sprechen kann, sich selber achtet, kann auch zum anderen sprechen und seine Eigenart achten..

Daß Markt und Kapital keinerlei Grenzen kennen, ist eine Binsenweisheit jeglicher Betriebs-und Volkswirtschaft. Daß die ungehemmten Markt-und Kapitalkräfte freilich im Bereich von Kommunikation, Kultur, Alltag und Psyche Konturen zerstören und somit aggressives gesellschaftliches Potential freilegen, ist vielfach belegt. Die von den ökonomischen Strukturen ausgehenden Tendenzen der Homogenisierung lassen sich vielfältig beobachten. Als Zerstörung von Identität macht sich Homogenisierung gerade dort am intensivsten bemerkbar, wo die drei Dimensionen menschlicher Identität berührt werden, die am ehesten „natürlich“ und am wenigsten „sozial konstruiert“ sind: nämlich Alter, Geschlecht und Ethnizität; es sind zugleich auch die drei Dimensionen, die sich einer bewußten Veränderbarkeit entziehen.

In bezug auf die Dimension von Kindheit und Alter ging Neil Postman bei seiner Analyse von Fernsehstrukturen schon Anfang der achtziger Jahre davon aus, daß Kindheit als eine deutlich abgegrenzte Reifungsphase im Schwinden sei Wenn Kinder über die Fernsehrezeption Zugang zu allen Informationsangeboten der Erwachsenen hätten, dann ginge Wesentliches der Kindheit verloren. Nicht zufällig ging es Postman schon damals um das Arkanum, also den Bereich des Geheimnisses und des Heimlich-Wundersamen. Seine These lautete, daß elektronische Medien Geheimnisse unmöglich machen, daß aber ohne Geheimnisse Kindheit nicht denkbar sei Knapp zehn Jahre vorher hatte der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in seinen Märchenanalysen die gleiche Auffassung vertreten: Kinder brauchen eine Welt der Verzauberung und der Privatheit. Ohne eine solche Phase, ohne die Erfahrung eines solchen Bereiches könne es später keine autonome, erwachsene Persönlichkeit geben.

Die Sorge vieler Eltern und Pädagogen vor einem grenzenlosen kindlichen Zugriff auf pornographische Angebote bei Pay-TV oder Internet mag konservativ und autoritär genannt werden, sie wird aber letztlich auch von der Frage bewegt, was Kindheit denn von der Erwachsenenwelt trenne, ob und welche Grenzen bzw. Differenzen zwischen beiden Identitäten sinnvoll seien. Der Versuch einer Antwort auf die Frage nach einer altersunabhängigen Medienkommunikation war das 1996 vom US-Kongreß verabschiedete Telekommunikationsgesetz mit seinem Communications Decency Act (CDA). Dieses Gesetz (das der Oberste Gerichtshof 1997 als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit aufhob) sah zwingend den Einbau sogenannter V-Chips (V steht für violence) in Fernsehgeräten ab 1998 vor. Gewalthaltige und pornographische TV-Angebote sollten durch einen solchen V-Chip aus Gründen des Kinderschutzes dann automatisch ausgeblendet werden, wenn er durch Eltern vorher aktiviert worden war.

Zahlreich sind die außermedialen Belege für eine Flexibilisierung von Altersphasen in unserer Gesellschaft -freilich ist eine oft begrüßenswerte Flexibilisierung mit Statusverunsicherung, Angst und Identitätskonflikten verbunden. Infantilisiert sich die Gesellschaft so, daß die Kleinen sich groß fühlen und die Großen kindisch (nicht: kindlich) werden dann verschwimmen viele Konturen. So verweist z. B.der Psychologe Gerhard Amendt auf die verhängnisvollen Konsequenzen einer zunehmenden Akzeptanz von Pädophilie oder der „kumpanenhaften Infantilisierung“ persönlicher Kommunikation auf der „Du-Du“ -Ebene auch in hierarchischen Berufsbezügen Amendt sieht hinter der Akzeptanz von Pädophilie und dem kumpelhaften Duzen ähnliche Kräfte und Tendenzen: Indem das Inzesttabu sowie das Scham-und Schuldgefühl gelockert werden, indem einem hedonistischen, unstrukturierten Sättigungsgewinn nicht nur das Wort geredet wird, brechen die unsere Wirklichkeit immer noch strukturierenden Konturen zusammen.

Was in bezug auf die Dimension des Alters entfaltet wurde, könnte gleichermaßen bei den beiden Dimensionen Geschlecht und Ethnizität gezeigt werden. Wo aber Konturen und Identitäten sich auflösen, da wird Kommunikation schwierig. „Communicare“ heißt ursprünglich „gemeinsam machen“, heißt „teilen“, heißt „mit-teilen". Teilen, Kommunizieren bedeutet aber mehr als nur Aufmerksamkeit in bezug auf den anderen und dessen Belange. Kommunizieren ist nicht nur ein dialogisches Prinzip zwischen zwei Menschen, es bedeutet darüber hinaus „in die Existenz des anderen einzutreten“, wie der dänische Philosoph und Theologe Sren Kierkegaard es einmal formuliert hat. Kommunizieren heißt also auch auf den anderen einzuwirken, und das geht nur, wenn er als anderer wahrgenommen wird. Wer jedoch identitäts-und konturenlos ist, wer von sich selbst nicht weiß, wer er ist, der ist kommunikationsunfähig. Wer -wie etwa der Pop-Star Michael Jackson -sein Alter, sein Geschlecht und seine Ethnizität aufgegeben hat, der kommuniziert nicht mehr mit den anderen -auch wenn all die Veränderungen der eigenen Identität nur diesem Zweck dienen sollen sondern nur noch mit sich selbst. Adel-bert von Chamisso hat diesen Identitätsverlust, die Gefahr der Selbstentfremdung in seinem „Peter Schlemihl" -der Mann, der seinen Schatten verkaufte -eindrücklich geschildert.

VII. Vernetzen versus Abkoppeln

Neben der sogenannten Netzgesellschaft gibt es soziale Netzwerke, das Internet vernetzt die Menschheit, und Computernetze verheißen uns das elektronische Schlaraffenland. Der Begriff „Vernetzung“ hat gute Chancen, zum sozialwissenschaftlichen Unwort der sogenannten Postmoderne zu werden. Es ist Gerhard Fröhlich zuzustimmen, daß das Netzwerkkonzept von bemerkenswerter Banalität ist, daß Computernetze weder räumliche Ungleichheiten aufheben noch einen freien Informationsfluß gestalten und selbstverständlich nicht den Wissenserwerb mühelos gestatten

Ideologiekritisch ist ferner zu fragen, welche politische Funktion es haben mag, wenn ein Wort wie „Vernetzung“ in seiner technomorphen Gestalt gesellschaftliche Verhältnisse eben nicht erhellt, sondern eher verschleiert. Als Metapher für soziale Kooperation und Verknüpfung steht Vernetzung zudem in der Tradition harmonistischer Gesellschaftsmodelle. Dem muß aber hartnäckig entgegengehalten werden, daß vor allem der Konfliktbegriff im Zentrum sozialwissenschaftlicher Theoriebildung wie gesellschaftlicher Praxis steht

Vernetzungsmodelle sind Teil von sozialwissenschaftlichen Assoziationstheorien sehr unterschiedlicher Couleur (melting pot, Anpassung, Angleichung, Integration, Kooperation, Partnerschaft, Harmonie, Interessenausgleich, Interdependenz usw.). Konflikttheoretische Überlegungen von Karl Marx bis zu Wilhelm Ketteier, von Rosa Luxemburg bis zu Ralf Dahrendorf oder von Sigmund Freud bis zu Horst Eberhard Richter sind ein erster Schritt zur Überwindung von Assoziationstheorien. Gegenwärtig erhalten darüber hinaus Theorien der konfliktiven Dissoziation oder Ab-koppelung Denkanstöße aus den unterschiedlichsten Gebieten: Reale Erfahrungen zeigen, daß Assoziations-und Integrationsmodelle oft nicht funktionsfähig sind. Sie sind z. B.deswegen in der Realität nicht zu verwirklichen, weil es sich in der Regel um gesellschaftlich sehr teure Modelle handelt. Als Divergenz-und Differenzbegriff geht es auch der sogenannten Postmoderne um Dissoziationen. Differenz, Dissoziation und Vielheit sind Voraussetzung für eine streitbare Demokratie.

Kommunikative Abkoppelung ergibt sich als Forderung notwendigerweise in Reaktion auf zunehmend verdichtete Kommunikationsprozesse. Ge- rade die technisch interaktiven Kommunikationsprozesse sind ihrer Art nach nie nur interdependent, sondern stets auch Dependenz schaffend. Das gilt insbesondere für das Internet, wo Millionen von individuellen Akteuren viele korporative Akteure gegenüberstehen. Sich von technologischen Sachzwängen abzukoppeln (temporär, bewußt, selektiv) kann Autonomiegrade erhöhen, unverletzbar machen. Auch aus demokratietheoretischen Überlegungen sind Abkoppelungen, Ent-Netzungen, Nicht-Verknüpfungen von Informationsflüssen nötiger denn je.

Parallel zum Urteil über die informationeile Selbstbestimmung durch das Bundesverfassungsgericht von 1983 entwickelte der Staatsrechtler Adalbert Podlech sein Konzept des Systemdatenschutzes Angesichts vernetzter Rechnertechnik forderte Podlech, daß staatliches Informationsverhalten nur unter folgenden Bedingungen geschehen solle: Transparenz für die Betroffenen, Beschreibbarkeit der Erforderlichkeitsrelation, Gebot der einfachen (nicht aber hyperkomplexen) Verwaltungstätigkeit, Gebot der Validität und Verbot der Kontextveränderung. Eine Verwirklichung dieser Komponenten heißt aber nichts anderes als die Nicht-Verknüpfung von Informationsflüssen. Abkoppelung erhält somit die Qualität einer informationellen Dimension von Rechtsstaatlichkeit.

Entsprechend kommt der erste hessische Datenschutzbeauftragte Spiros Simitis zu der Schlußfolgerung: „Eine Gesellschaft, in der die minutiöse Registrierung individuellen Verhaltens längst selbstverständliches Beiwerk ihrer technologischen Infrastruktur ist, kann ihren demokratischen Charakter nur bewahren, wenn sie Unkenntnis bewußt dort fördert, wo Kenntnis möglich wäre. Sie muß ... um der Kommunikations-und Partizipationspflicht des einzelnen willen die Risiken der Unvollständigkeit hinnehmen, den Informationsverzicht also, so schwer es fallen mag, aushalten. Unvollständigkeit ist, so gesehen, nicht Mangel, sondern Tugend, Informationsverzicht nicht Eskapismus, sondern freiheitssicherndes Prinzip.“

VIII. Kommunikative Dialektik

In der nachfolgenden Grafik sind die wesentlichen, bislang entwickelten Argumentationsstränge festgehalten. Alle sechs dort aufgezeigten Dimensionen von Kommunikation sind jeweils untereinander sowohl als Kontinuum als auch als Wechselwirkung zu verstehen. Das Verhältnis zwischen Artikulieren und Schweigen oder das zwischen Grenzen ziehen und Konturen beibehalten ist als fließender Prozeß zu sehen, nicht als das Gegeneinanderpositionieren absoluter und dichotomischer Größen.

Was freilich die linke von der rechten Begriffssäule in dieser Grafik unterscheidet, ist die jeweilige kommunikative Logik. Zunächst zur linken Begriffs-säule: Über die verschiedenen kommunikativen Phasen Artikulieren, Erinnern, Veröffentlichen, Unterschiede aufheben, Grenzen überwinden und Vernetzen intensiviert sich ein historischer Prozeß. Er begann mit der Sprache und erreicht mit der globalisierten elektronischen Vernetzung derzeit ein neues Stadium Es handelt sich bei dieser kommunikativen Logik auch um ein Diskursmodell von politischer Macht. Diese wird zunehmend vorherrschender, Individuen und Gruppen werden immer dichter und dynamischer vergesellschaftet, die auch noch so gut gemeinte kommunikative Assoziation wird vereinnahmend und erstickend -die Luft zum freien Atmen wird dünner.

Die rechte Begriffssäule kennt in ihren sechs Dimensionen von Kommunikation nicht die gleiche wie ihr Wohl Konsistenz linkes Gegenstück.

gibt es auch hier eine historische Intensivierungvom Schweigen zum Vergessen, vom Geheimhalten, Differenzen und Konturen beibehalten bis hin zur Abkoppelung -aber diese Intensivierung ist brüchiger und in sich weniger logisch. Die Kommunikationslogik der rechten Säule meint den besonderen, speziellen Trend, eher das Kleine jenseits des vorherrschend Großen. Geht es bei der linken Säule ganz wesentlich um politische Macht, so geht es bei der rechten Säule im wesentlichen um individuelle Autonomie, und -wo nicht mehr anders möglich -gilt es, diese Autonomie auch in der Form von Abkoppelung zu realisieren.

Eine kommunikative Dialektik würde beide kommunikativen Logiken nicht einander widersprechend definieren wollen. Wohl aber läßt sich mit guten Gründen und vielen empirischen Belegen festhalten, daß die kommunikative Logik der politischen Macht die der individuellen Autonomie zunehmend überdeckt. Die sozialen Kosten dieses Verdrängungsprozesses von individueller Autonomie dürften gewaltig sein. Aus ökonomischen, politischen, kulturellen, moralischen und verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 1-3 GG) sind daher Korrekturen dringend geboten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Berlin 1928, S. 67.

  2. Zit. nach Tom Bruneau, Communicative silence in crosscultural perspective, in: Media Development, (1982) 4, S. 8.

  3. Thomas Merton, Seeds of Contemplation, Norfolk, Con., 1949, S. 60 f.

  4. Ders., Meditationen eines Einsiedlers. Über den Sinn von Meditation und Einsamkeit, Zürich 1976, S. 116.

  5. Pamela Mordecai, Protest-Gedicht für alle Brüder, in: Vorgänge, Dezember 1981, S. 104.

  6. Zit. nach Franz Rosenthal, Knowledge triumphant. The concept of knowledge in medieval Islam, Leiden 1970, S. 258.

  7. Jan Freese, The Right to be Alone in Sweden, in: Trans-national Data Report, Dezember 1983, S. 447.

  8. Platon, Phaidros, Frankfurt a. M. 1963, S. 83 f.

  9. Vgl. Walter J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.

  10. Vgl. Brigitte Schlieben-Lange, Die Schrift und ihre Folgen, in: Peter H. Mettler (Hrsg.), Unkonventionelle Aspekte zur Analyse von Sprache, Kommunikation und Erkenntnis, Wiesbaden 1992, S. 61 -79.

  11. Vgl. David King, Stalins Retuschen. Foto-und Kunst-manipulationen in der Sowjetunion, Hamburg 1997.

  12. Vgl. Timothy Garton Ash, Diktatur und Wahrheit. Die Suche nach Gerechtigkeit und die Politik der Erinnerung, in: Lettre International, Nr. 40/1998, S. 10-16.

  13. Vgl. Helmut Thielen, Warum Blue Jeans schwarz geworden sind. Nachrufe auf den Zeitgeist der „Postmoderne“, Berlin 1998, S. 122 f.

  14. Vgl. Joachim Westerbarkey, Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991; vgl. auch Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, Stuttgart 1979.

  15. Vgl. Jörg Becker, Die Einfalt in der Vielfalt. Standardisierte Massenkommunikation als Problem der politischen Kultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/94, S. 21-28.

  16. Vgl. Jörg Becker, Internationale Sprachenvielfalt zwischen Barriere und Reichtum, in: Buch und Bibliothek, (1998) 2, S. 94-99.

  17. Vgl. Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt a. M. 1983.

  18. Mit Recht verweist Joachim Westerbarkey (Anm. 14) darauf, daß nicht zufällig die Zahl der Kinder-und Jugend-bücher, in deren Titel das Wort „geheim“ auftaucht, Legion sei.

  19. Vgl. Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, Stuttgart 1977.

  20. Vgl. Robert Bly, Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung, erwachsen zu werden, München 1997.

  21. Gerhard Amendt, Über Suzen und Diezen an der deutschen Reformuniversität, in: Leviathan, (1994) 3, S. 307-317; ders., Pädophilie oder: Über sexualwissenschaftliche Trivialisierungen inzestartiger Handlungen, in: Leviathan, (1997) 2, S. 159-172.

  22. Vgl. Jörg Becker, Die Ethnisierung der deutschen Medienlandschaft. Türkische Medien zwischen Assoziation und Dissoziation, in: Christine Lieberknecht (Hrsg.), Der Staat in der Informationsgesellschaft, Thüringer Ministerium für Bundesangelegenheiten, Erfurt 1998, S. 71-75.

  23. Vgl. Gerhard Fröhlich, Netz-Euphorien. Zur Kritik digitaler und sozialer Netz(werk) metaphern, in: Alfred Schramm (Hrsg.), Philosophie in Österreich 1996, Wien 1996, S. 292306.

  24. Vgl. als nach wie vor grundlegendes Werk Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 161 ff.

  25. Vgl. Adalbert Podlech, Individualdatenschutz -System-datenschutz, in: Klaus Brückner/Gerhard Dalichau (Hrsg.), Beiträge zum Sozialrecht. Festausgabe für Hans Grüner, Percha 1982, S. 451-462.

  26. Spiros Simitis, Lob der Unvollständigkeit. Zur Dialektik der Transparenz personenbezogener Informationen, in: Herta Däubler-Gmelin u. a. (Hrsg.), Gegenrede. Aufklärung -Kritik -Öffentlichkeit. Festschrift für Ernst Gottfried Mahrenholz, Baden-Baden 1994, S. 591 f.

  27. Vgl. Jörg Becker/Daniel Salamanca, Globalisierung, elektronische Netze und der Export von Arbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/97, S. 31-38.

Weitere Inhalte

Jörg Becker, Prof. Dr. phil., geb. 1946; 1987-1992 Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG); Geschäftsführer der KomTech. Gesellschaft für Kommunikations-und Technologieforschung mbH in Solingen. Veröffentlichungen u. a.: Informationstechnologie und Dritte Welt, Frankfurt a. M. 1984; Massenmedien im Nord-Süd-Konflikt, Frankfurt a. M. 1985; (Ko-Autor) Datenbanken und Macht, Opladen 1992; (Mithrsg.) Europe speaks to Europe. Telecommunications in a Common European House, Moskau -Frankfurt a. M. 1993; Mithrsg, der Jahresberichte zur Lage der Informationswirtschaft in den neuen Bundesländern, Hamburg 1994, 1996, 1998.